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Page 1: Die Allgegenwärtigkeit von allem in allem

INDIEN

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Die Allgegenwärtigkeit von allem in allemAnalyse Die Globalisierung hat Inder bewogen, die Koffer zu packen und sich auf Weltreise zu begeben

WASEEM HUSSAIN

Längst sind es nicht mehr nur indischeInformatiker, die von sich reden ma-chen. Neu hören wir von einem indi-schen Unternehmer namens LakshmiMittal, der den europäischen Stahlkon-zern Arcelor gekauft hat. Wir hören vonSchweizer Firmen, die ihre Konsumpro-dukte an 140 Millionen kaufkräftigeund qualitätsbewusste Inderinnen undInder bringen wollen. Wir hören, nurals ein weiteres vieler möglicher Bei-spiele, von einem Markt für Mobiltelefo-ne, der jährlich um 55 Prozent wächst.Zu den bereits bestehenden 150 Millio-nen Handyabonnementen kommenmonatlich rund 6,5 Millionen hinzu, so-dass wir auf einmal den Gedanken ha-ben: Indien, das muss das neue Land derunbegrenzten Möglichkeiten sein!

Vielleicht ist es diese Grenzenlosig-keit Indiens, die den einen Westeu-ropäer fasziniert, den andern aber ab-stösst. Fragt man Indienreisende, wieIndien ihnen gefallen habe, gibt es zweitypische Antworten. Die einen sagen:«Wenn ich könnte, würde ich sofort wie-der hinfliegen!» Sie sind verzückt, ver-

zaubert, verliebt. Und die andern: «Amliebsten wäre ich ins nächste Flugzeuggestiegen und in die Schweiz zurückge-kehrt. Nie wieder gehe ich nach Indien!»Diese Reisenden hat Indien mit seinerMasslosigkeit überflutet, sie fühlen sichüberwältigt, überfordert.

Es ist gut möglich, dass wir in derSchweiz einem indischen Touristen be-gegnen. Er kauft eine teure SchweizerUhr, übernachtet in einem Vierster-nehotel, gibt Geld auf unseren Berg-bahnen aus und legt seine Dollarmillio-nen auf unseren Banken an. Für einenganz kurzen Moment sagen wir uns in-nerlich: «Dieser Inder passt zu mir. Erist gebildet und wohlhabend wie ich.»Uns gefällt seine bescheidene, höflicheArt. Wir kommen mit ihm und seinerFamilie ins Gespräch, und am Ende un-serer Begegnung lädt er uns spontanzur Hochzeit seiner Tochter ein.

Als wir in Indien ankommen, erfah-ren wir, in was für einem unvorstellba-ren Luxus unser Gastgeber lebt. DasHochzeitsfest ist ein einziger Pomp unddie Buffets sind verschwenderisch. Am

nächsten Tag aber, als wir durch dieStadt gehen, sehen wir Menschen, diefür einen Hungerlohn arbeiten. Sie kön-nen weder lesen noch schreiben, denntrotz der allgemeinen Schulpflicht für 6- bis 14-Jährige beträgt die durch-schnittliche Alphabetisierungsrate nurrund 65 Prozent. Viele Inderinnen undInder haben in ihrem Land politischnichts zu melden, werden von Polizis-ten misshandelt, von Beamten schika-niert und vom Kastensystem geknech-tet. Wohlgemerkt, ihr Land ist die grösste Demokratie der Welt mit 400Millionen Wahlberechtigten. Eine De-mokratie aber, die sich – zwar nicht deiure, aber de facto – den Luxus eines star-ren Kastensystems leistet. Wir könnenuns nicht vorstellen, dass das Schicksalihnen je eine Chance geben wird, etwasaus ihrem Leben zu machen.

Wir schlucken leer und merken,dass Wut in uns aufsteigt, und zwar aufunseren kultivierten, charmanten Gast-geber. All die Dinge, die wir bis hierhinan ihm reizend fanden, passen unsnicht mehr. Wir sehen nur noch eineselbstgefällige Fratze unseres Maharad-schas und schlagen uns auf die Seite derArmen, die er – davon sind wir über-zeugt – ausbeutet, wie wenn es das Nor-malste auf der Welt wäre.

Auf unserer Heimreise, als der Jetüber Mumbai abhebt und unter uns dieWellblechhütten kleiner werden, ahnenwir, dass diese Erlebnisse uns noch eineZeit lang beschäftigen werden.

Zur indischen Grenzen- und Masslo-

sigkeit gehört, dass dort nichts fernscheint, sondern nah. Sehr nah! Men-schenmassen, wo man hinsieht. Tierenicht nur im Dschungel, sondern auchauf den Hauptstrassen. Fahrzeuge über-all, immer zu dem ewig im Crescendo er-klingenden Hupkonzert beitragend.Selbst in der kleinsten Stadt irgendwo imHinterland läuft ein knatternder, häm-mernder, zischender Apparat, und sei esim Leerlauf. Aber immerhin, er läuft! Ge-gessen wird vieles, und dies üppig undoft. Geglaubt ebenso, die Gottheiten sindso farbig und animierend wie das damp-fende Mittagessen von einem der unend-lich vielen fliegenden Händler.

Und es wird geboren und gestorben.Auch dies auf Schritt und Tritt, sodasses manchmal fast ein wenig rücksichts-los wirkt. Ohne Vorwarnung drückt In-dien seine Freuden und Leiden gegenuns, sein Glück und Unglück, seineStärke und seine Schwäche, seine un-durchdringliche Spiritualität wie sei-nen radikalen Rationalismus.

Die Globalisierung hat Inder und In-derinnen dazu bewogen, die Koffer zupacken und sich auf Weltreise zu bege-ben. Unter der Schirmherrschaft ihrerRegierung haben sie es sich vorgenom-men, eine führende Nation zu werden.Dies jedoch nicht besitzergreifend wieihre ehemaligen Kolonialherren, son-dern als Botschafter ihres Innerstenund Eigenen: das Indischsein als Mar-kenprodukt. Wenn am 15. August, demindischen Unabhängigkeitstag, Staats-präsident und Premierminister ihre An-sprachen halten, fehlt nie das Mantrader Selbstbehauptung. Schliesslich

schickt es sich für eine führende Nati-on, dass sie erhobenen Hauptes an dieTüren fremder Länder klopft. Nicht alsBittsteller, sondern als Anbieter eineskostbaren, begehrenswerten Schatzes,den sie als kulturelles Gepäck mit sichträgt: Indien, die Summe von allem,was man sich vorstellen und auch nichtvorstellen kann.

Begegnete man vor zehn Jahren ei-nem indischen Geschäftsmann, kam eseinem so vor, als entschuldigte sich die-ser dafür, so zu sein, wie er war. Heutebegegnet man indischen Geschäftsleu-ten, die zielbewusst und herausfor-dernd sind und wissen, was sie wollen.Es ist dieses Selbstbewusstsein, das sichheute in so vielen Dingen zeigt wie zumBeispiel dem Nuklearprogramm, demMitbestimmen in internationalen Gre-mien oder der Filmindustrie Bol-lywood. Wer kennt sie nicht, die drei-stündigen, farbenfrohen indischen Fil-me mit den üppigen Tanz- und Ge-sangsszenen, den schönen Menschenund sentimentalen Geschichten!Während Bollywood-Filme direkt aufunsere Gefühle zielen, möchtenSchweizer Filme, dass wir über etwasnachdenken. Es sind nun sechzig Jahreher, seit sie sich unabhängig gemacht

haben von ihren europäischen Koloni-alherren. Eine Zeit, deren Grossteil siekulturell in sich gekehrt und wirt-schaftlich abgeschottet verbracht ha-ben, um dort anzuknüpfen, wo sie sicheinst stark fühlten. 1989/90 war Indienin eine tiefe, hausgemachte Wirt-schaftskrise geraten. Das Liberalisie-rungsprogramm, das seither im Gangeist, umfasst jedoch nicht nur die Wirt-schaft, sondern soll nach und nach alleBereiche des Lebens beeinflussen. DerBegriff der Liberalisierung wird alsowörtlich verstanden, nämlich als Be-freiung von allem, was Indien auf sei-nem Weg zu einer führenden Nationbehindern könnte.

Gerade als Schweizer kann es durch-aus sein, dass man sich vor dem gros-sen, sich aufdrängenden Indien beson-ders klein fühlt. Man sorgt sich um sei-ne eigene Grösse, um seine Identität.Man möchte sich daran erinnern, wasder Inhalt des eigenen kulturellenGepäcks ist, das uns in den Augen desFremden zum Fremden macht. ZumExoten, mit dem man sich arrangierenmuss, weil er etwas Besonderes ist. Mitdem roten Pass in der Hand ein Flug-zeug mit einem roten Heckflügel zu be-steigen, ist nur noch in der Vergangen-heitsform der Rede wert.

Die Allgegenwärtigkeit von allem inallem macht die Begegnung mit Indienzu einer Auseinandersetzung mit unsselbst. Mit unseren eigenen Wider-sprüchen und Extremen. Mit all dem,worin wir zahm und korrekt sind. Aberauch mit all jenem, wo wir vielleichtdoch noch wild und frei sind.

Da steigt eine Nation zurWirtschaftsmacht auf, undwir wundern uns: Ist Indiennicht das Land siechenderBettler, geknechteter Kin-der, heiliger Kühe und ver-brannter Witwen? Dasgrosse Land mit dem nachMärchen und Magie klin-genden Namen, das mar-kant ins Arabische Meerund in den IndischenOzean ragt, verändert sich.Indische Softwareprogram-mierer und der glamou-röse Auftritt am letztjähri-gen Weltwirtschaftsforumin Davos waren nur die Vor-boten dafür, dass mit demLand, wo die duftendenCurrys und die akrobati-schen Liebeskünste desKamasutra herkommen, zurechnen ist.

Waseem Hussain (40) stammt von ei-ner indischen Familie ab und wuchs inder Schweiz auf. Er ist Geschäftsführerder Zürcher Firma Marwas AG(www.marwas.ch) und leitet interkultu-relle Seminare zu Indien. Er spricht amdiesjährigen Forum der Aussenwirt-schaft in Zürich (27./28. März) über dieHerausforderungen schweizerisch-indi-scher Geschäftsbeziehungen.

MUMBAI (BOMBAY) Dieses Foto zeigt exemplarisch die Gegensätze in Indien. Gegensätze, die für viele Europäer schwer zu verstehen, zu ertragen, sind. BAB.CH

Vielleicht ist es dieGrenzenlosigkeitIndiens, die den einenWesteuropäer fasziniert,den anderen abstösst

Als Schweizer kann essein, dass man sich vordem grossen, sichaufdrängenden Indienbesonders klein fühlt

Indien imAufbruch

Eine MZ-Serie über den

Subkontinent, der immer

wichtiger wird.

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Stahlkonzern Tata «Signal für viele indische Firmen»Der indische Stahlkonzern TataSteel hat den Kampf um den deut-lich grösseren europäischen Kon-kurrenten Corus gewonnen. Die In-der stachen den brasilianischen In-teressenten Companhia Siderurgi-ca Nacional (CSN) aus.Tata erhielt nach monatelangemBieterstreit bei einer mehr als sie-benstündigen Internetauktion bei15,3 Milliarden Franken den Zu-schlag. Inklusive Schulden beläuftsich das Tata-Angebot für den bri-tisch-niederländischen Stahlkon-zern nach Angaben vom Mittwochauf rund 17,2 Milliarden Franken.Die Inder bieten nun knapp 34 Pro-zent mehr als ursprünglich ge-plant. Der Zukauf ist der bislang grösste

eines indischen Konzerns im Aus-land. Der Chef der Tata-Gruppe,Ratan Tata, sagte gestern in Bom-bay: «Der heutige Tag markiert dasEnde einer langen Reise, die vor ei-niger Zeit begonnen hat.» Nunkönne Tata-Steel seinen globalenAnsprüchen gerecht werden. Derindische Handelsminister KamalNath sprach von einer «grossen Er-rungenschaft eines indischen Kon-zerns». Der Kauf von Corus sei «einSignal für viele indische Firmen,voranzuschreiten». Nun entstehtder fünftgrösste Stahlkonzern derWelt.Am Markt in Bombay wurden dieNachrichten am Mittwoch indesnegativ aufgenommen: Tata-Aktienverloren fast zehn Prozent. Analys-

ten meinten, der zugesagte Preisfür Corus sei sehr hoch. Die Fusionkönnte Tatas Finanzen zumindestkurzfristig belasten. Tata wies dieseEinschätzung indes zurück.Corus setzte 2005 rund 10 Milliar-den Pfund um und erzielte einenGewinn von 451 Millionen Pfund.Tata Steel kam zuletzt auf einejährliche Produktion von 5,3 Millio-nen Tonnen und einen Umsatz von5 Milliarden Dollar. Laut der inter-nationalen Stahlvereinigung (ba-sierend auf den Produktionszahlenvon 2005) sieht die Rangfolge dergrössten Stahlproduzenten nachder Übernahme folgendermassenaus: 1. ArcelorMittal (Luxemburg).2. Nippon Steel (Japan). 3. Posco(Südkorea). 6. Tata (Indien). (SDA)

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