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Deutsches Volksliedarchiv

Die Ballade von den Zwei Schwestern: Zwei bisher unbeachtete mitteleuropäischche FassungenAuthor(s): Klaus RothSource: Jahrbuch für Volksliedforschung, 13. Jahrg. (1968), pp. 71-84Published by: Deutsches VolksliedarchivStable URL: http://www.jstor.org/stable/846723 .

Accessed: 18/10/2014 05:20

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Die Ballade von den Zwei Schwestern

Zwei bisher unbeachtete mitteleuropiiischche Fassungen

Von KLAUS ROTH (Freiburg i. Br.)

Die vorliegende Arbeit stellt einen Beitrag dar zur Untersuchung eines Stoffes, der als Mdirchen, Sage oder Ballade iiber ganz Europa mit

grotier Variantenfiille verbreitet ist. Es ist die Geschichte von einem Mord, der durch das Spiel eines Mu- sikinstruments, das aus dem K6rper des Ermordeten angefertigt wird, ans Licht kommt.

In seiner Untersuchung dieses Stoffes kommt L. Mackensen' zu einer Einteilung des gesamten Variantenmaterials in 4 Kreise. Nach dem jeweils auftretenden wich- tigsten Instrument der Mordverkiindung nennt er den nach seiner Meinung fiir Europa urspriinglichsten Kreis den Baum(b)-Kreis, da ein iiber dem Grab des Er- schlagenen gewachsener Baum den Mbrder verrit. Der Knochen des Ermordeten, aus dem (meist) eine Fl6te geschnitzt wird, gab den Namen fiir den Knochen(k)- Kreis. Der Vogel(v)-Kreis kommt nur in

autiereuropiischen Varianten vor und

kann daher fiir diese Untersuchung ausgeklammert werden. In den Varianten des Harfe(h)-Kreises wird aus Kbrperteilen der Ermordeten eine Harfe oder Geige gefertigt, deren Spiel die M6rderin entlarvt.

Die Fassungen des b- und k-Kreises treten iiberwiegend in Gestalt von Mdirchen oder Sagen auf, in die sehr hiufig bei der Enthiillung des Mordes liedhafte Strophen eingeschaltet sind. Hingegen handelt es sich bei den Varianten des h-Kreises aus-

schlietlich um Balladen bzw. Balladenfragmente. Zu dieser Aufteilung in Mirchen,

Sagen und Balladen kommt eine andere, sehr eigentiimliche geographische Vertei- lung hinzu. Die Varianten des b- und k-Kreises auf der einen Seite und die Va- rianten des h-Kreises andererseits sind in ganz Europa komplementir verteilt. Mir- chen und Sagen des b- und k-Kreises finden sich in fast allen kontinentaleuropiischen Lindern einschlietlich Finnlands, wihrend

in allen skandinavischen Lindern ein-

schlietlich Schwedisch-Finnlands und in Grotibritannien lediglich Balladen des

h-Kreises, diese aber in grotier Zahl, gesammelt wurden. Die Variante des b-Kreises

aus Norwegen ist nach Mackensen2 eine sehr junge Ubertragung und kann fiir die Untersuchung ausgeschieden werden.

1 Lutz Mackensen, Der singende Knochen, FFC Nr. 49, Helsinki 1923. 2 ibid. S. 88.

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Dieses so einheitliche Bild wird nun allerdings gestirt durch zwei bisher kaum beachtete kontinentaleuropHische Varianten des h-Typus, die zu untersuchen Ziel dieser Arbeit ist. Beide Balladen sind aufgezeichnet worden am siid6stlichen Rand des deutschen Sprachraumes, die eine 1895 in der deutschen Sprachinsel Gottschee, die andere um 1900 an der slowenisch-6sterreichischen Grenze in dem Dorf Strmec. Beide Varianten finden weder in ihrer eigenen noch in einer benachbarten Volks- liedtradition eine Entsprechung.

Island

Norwegen FMirier 0 43h (ib) 14 h /

6 h Schwed. Schweden Fimnl. Finnland

11 h / lb

Gro3bri Estland lk+5b tn en D e-Litauen 3b 29 hmark

RuBland 4k+18b Holland Polen

15b+8k 12b

0 Frank- Deutsch- Tschechoslowakei reich land 2b

4b+15k 9b+14k Ungarn 3b

. Slovenien Spanien 2 h

Portugal Griechen- 4b nItalien

land

5b+6kI _)

1

Karte von Europa. b = Baum-Kreis, k = Knochen-Kreis, h = Harfe-Kreis.

Ober das Ursprungsland und die Entstehungszeit der ,Two Sister'-Ballade be- stehen widersprechende Theorien. Mit grotier Wahrscheinlichkeit jedoch sind P. G.

Brewsters und H. Parker4 im Recht, wenn sie als Ergebnis sehr eingehender Unter-

suchungen beide zu dem Schluti kommen, dati Norwegen als das Land anzusehen

ist, in dem der Stoff seine Ausformung als Ballade erfuhr und von dem aus er sich dann iiber ganz Nordeuropa verbreitete. Brewster kam zu diesem Schluti

3 P. G. Brewster, The Two Sisters, FFC Nr. 147, Helsinki 1953. 4 H. Parker, The Two Sisters-Going Which Way?, JAFL 64 (1951) S. 347-360.

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nicht zuletzt deswegen, weil mit wachsender Entfernung von Norwegen alle Va- rianten kiirzer und fragmentarischer werden.

I. DIE VARIANTEN

1. Skandinavien (nach Brewster, S. 93 f.)

a) Ddinemark: 23 Varianten, GDA-GDY, alle abgedruckt in ,Danmarks gamle Folkeviser' unter Nr. 95.

b) Schweden: 11 Varianten, GSA-GSK, abgedruckt in ,Svenska Folkvisor' (ABE) unter Nr. 16, in Hylten-Cavallius' Samling (CDIJ) und bei Arwidson II, 139; Wigstrim, 4; Rancken 10 f. sowie auf einem Flugblatt.

c) Schwedisch-Finnland: 14 Varianten, GSFA-GSFN.

d) Norwegen: 43 Varianten, GNA-GNR2, abgedruckt bei Bugge (16 Var.), Lindeman (4 Var.), Moe (5 Var.), Liestol (3 Var.), Greve (2 Var.) sowie in 14 weiteren Sammlungen.

e) Farier: 6 Varianten, GFA-GFF.

f) Island: 2 Varianten: GIA-GIB.

Die islindischen und die f~ir6ischen wie auch die schwedisch-finnischen Varianten kommen fiir diese Untersuchung nicht in Betracht, da sie Endpunkte der Verbrei- tung darstellen. Ihre extreme geographische Lage scheidet von vornherein die M6g- lichkeit einer Verbindung zu den beiden kontinental-europiischen Varianten aus.

Ahnliches gilt fUr die anglo-amerikanische Tradition: 2. Grotibritannien und die USA (nach Brewster, S. 94-96)

a) England und Schottland: GEA-GEE2, A-Y bei Child Nr. 10, A2 bei Greig, Nr. 6; B2--D" in JFSS I, 253 und II, 283; E2 bei Ord, 430-432.

b) Nordamerika: 123 Varianten, GAmA-GAmX5. Bis auf wenige Ausnahmen weisen alle anglo-amerikanischen Varianten das Motiv des miller's, der die Leiche der Ertrunkenen aus dem milldam fischt, auf. Auch sonst unterscheiden sich die Varianten so sehr von der Gottscheer und der sloweni- schen Variante, dati auf eine genauere Untersuchung verzichtet werden kann. 3. Mitteleuropa

a) Deutschland, Sprachinsel Gottschee: 1 Variante GGA, abgedruckt bei A. Hauffen, Die deutsche Sprachinsel Gottschee, Graz 1895, S. 263 f., Nr. 53.

b) Slowenien: 1 Variante SSIA, abgedruckt in: Stare zalostne, izbral in priredil Jofa Glonar, Ljubljana 1939, S. 45 "Mrtva sestra se oglasi".

Die beiden letzten Varianten sind weniger leicht zuginglich; sie sollen daher im Originaltext zum Abdruck kommen. (Der Gottscheer Text liegt in der von A. Hauffen benutzten Transskription vor, die mit der heute jiblichen nicht mehr iiber- einstimmt.)

5 op. cit. S. 166 f.

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a) 53. Von zwei K6nigstaichtern.

I A d 0 F I I Dlr A"-- nik hot g_ - hot zboi feach - fr - lain.

Dvr k1-nik hot g~ - hot zboi leach - fr - lain.

Dar kinik hot gahot zboi teachtrlain, Shai hont (haben) ole poida barwarlain (Werber). Dai eltara hot da pafirischen (biurischen), Dai jingara hot da hearischan.

5 Bia zoarnik bir6t dai eltara, Shai richtant uan shneabaisai bascha, Shai geanotan baschan zan proitan mere, Zan proitan mere, zan tiafm sheaba. Asho do schprichat dai eltara:

10 ,,Hoi shbeschtrle, shbeschtrle, dii liabas main, Trit har, trit har auf da gribm (grauen) schtoin. I brt diar ubaschan da wiaslain (Fiifichen) bais, As (dass) di daina barwarlain n6ch liabr hont." Shi gabat iar an oinigan schtoas.

15 Shi ischt in gawl6chan (geflogen) ins tiafa mar. UJnd hintrshi ziachat dai eltara. Ash6 do schprichat dr wuatr (Vater) tr: ,,Hoi, t6chtr, bo'scht (wo hast) dai jingara?" ,W6n baitan dort ischt a schefle gashbum (geschwommen),

20 Atin hent gabin (darin sind gewesen) Tr da barwarlain, Shai hont sha gan6m ahin mit in (mitgenommen)." Unt wlr do ziachant da gaigarlain. Drmaran (melden) tiat shi's in an proitan mera, In an proitan mera, in an tiafm sheaba:

25 ,Hoi gaigarlain, gaigarlain, iar liabm main, Namt auisn, namt ausn main shaidain huar (Seidenhaar) Wir aiar shaitlain (Saiten), as shai pesr brnt schpil. Hoi gaigarlain, gaigarlain, iar liabm main, Namt auisn, namt

auisn maina negalain (Finger),

30 Gaprichat sha (gebraucht sie) iar wor da schraifnegalain (Wirbel), Sh6 geat iar gaign woar kinik shain tir: As dar kinik hot gahot zboi teachtrlain, Dai eltara hot dai jingara ins mer gaschtoasn!" Shai gaig6tn d6rt wor kinik shain tlr.

35 Und dos drhearat dar kinik juink, Ash6 do schprichat dar k"nik jfink: ,,Hoi wraka, t6chtr, buas (was)

hoschtui gatuan."

(Jeder Vers wird wiederholt.) V. 37 wraka, Teufelin, von slov. vrak

(Aufgezeichnet von) Perz in Lichtenbach.

Der Aufzeichner ist der Oberlehrer Josef Perz, der bis 1895 eine grofie Zahl von

Balladen und Liedern in Lichtenbach und Umgebung im Siidosten der Sprachinsel sammelte.

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b) MRTVA SESTRA SE OGLASI Duie sestrie sta se po blazi skriegele. Ta star' tu mlajsi u srcie ubodla jie, uorgla ju je u no siuno jezero. Persu je ribic ribce luovit,

5 ujeu je nu 'udnu ribicu. ,Z ro'ic je naredu luokice, s perstu je naredu ?ravbice, z les'icu je naredu strunice, ne bieli grad je guosti seu.

10 On je zacieu milo guosti, an starsi, sestra milo jokati.

Anm. auf S. 239: V Strmcu pri Logeh v Kotu zapisal Josko Velikonja.

Obersetzung der slowenischen Fassung durch Dr. Z. Kumer, Ljubljana, die auch zum Text und seiner Verbreitung in Slowenien wichtige Erliuterungen mitteilte.

Die tote Schwester meldet sich.

Zwei Schwestern zerzankten sich des Gutes (der Giiter) wegen. Die il1tere stach die jiingere in das Herz, warf sie in einen gewaltigen See. Es kam ein Fischer Fische fangen,

5 er hat gefangen einen seltsamen (wunderlichen) Fisch. Aus den Armchen machte er Bigen, aus den Fingern machte er Wirbel (Schrauben), aus den H~irchen machte er Saiten, auf das weifle Schlofg ging er geigen.

10 Er fing riihrend an zu geigen, und die Eltern, die Schwester bitterlich zu weinen.

Anm. S. 239: In Strmec bei (den beiden) Log auf (dem Hof) Kot zeichnete es auf Josko Velikonja.

Das Dorf Strmec liegt unterhalb des Berges Mangrt in den Julischen Alpen, nicht weit von der Ssterreichisch-slowenischen Grenze. Jolko Velikonja war dort Lehrer und hat das Lied etwa um das Jahr 1900 aufgezeichnet.

Die bisherige Beriicksichtigung der beiden Varianten

Obwohl schon 1895 ver6ffentlicht, fand die Gottscheer Variante in allen iiber die ,Two Sisters' erschienenen Abhandlungen entweder unzureichende oder gar keine Beriicksichtigung.

L. Mackensen5 fiihrt zwei deutsche Varianten vom h-Typus an, auf die er seine Herkunftstheorie begriindet. ,,Deutschland birgt, so sahen wir, diese Urform noch in einigen Fassungen, hier ist auch die Ballade geschaffen worden, die dann den Weg nach Skandinavien antrat, wo sie erst ihre rechte Ausbildung und Verbreitung er- fuhr"'. Mackensen stiitzt sich einmal auf die Gottscheer Variante (bei ihm Dhl), zum anderen auf eine alemannische Variante (Dh2), fiir die er als Quellen angibt: F. K. von Erlach, Die Volkslieder der Deutschen, Mannheim 1835, IV, 397 ff.;

6 ibid. S. 74.

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Hoffmann v. Fallersleben, Gedichte, Leipzig 1834, II, 263 ff. sowie Schnezler, Badisches Sagenbuch, Karlsruhe 1846, I, 184 ff.

Hoffmann v. Fallersleben, Gedichte II ist die ilteste Quelle, von der Erlach und Schnezler das Gedicht ebenso ungepriift als alemannische Ballade iibernahmen wie

spiter L. Mackensen. Es handelt sich jedoch bei diesem Gedicht um eine wdrtliche

Obersetzung Hoffmanns v. Fallersleben der schwedischen Variante GSA, die schon 1814 von Gejer-Afzelius in den Svenska Folkvisor als Nr. 16 A veriffentlicht wor- den war. In der 2. Auflage der Svenska Folkvisor 1880 findet sich ein Hinweis auf

diese literarische lbersetzung7; auch R. KShler8 und A. Hauffen' bemerkten diesen

Zusammenhang. Gestiitzt allein auf die Gottscheer Variante, lifMt sich L. Mackensens Herkunftstheorie jedoch sicher nicht aufrechterhalten. P. G. Brewster iibernimmt noch 1953 diese Ofbersetzung als deutsche Variante von Erlach1o und iibersieht andererseits die zuverlissige Gottscheer Variante. Auch bei H. Parker und in anderen kiirzeren Abhandlungen iiber die ,Two Sisters'-Ballade findet sich kein Hinweis auf die Gottscheer Ballade.

Die slowenische Variante wurde erst lange nach ihrer Aufzeichnung 1939 ver-

iffentlicht in einem Biichlein, welches nicht als wissenschaftliche Edition angelegt war. Im Kriege diente diese Sammlung als Liederbiichlein der Partisanen und Soldaten. So nimmt es nicht Wunder, dagf diese Ballade von nur 11 Zeilen bislang wissenschaftlich keine iiber Slowenien hinausgehende Beachtung gefunden hat.

II. UNTERSUCHUNG DER GOTTSCHEER UND DER SLOWENISCHEN VARIANTE

1. Die Gottscheer Variante

Die deutsche Sprachinsel Gottschee, die iiber 600 Jahre in einer slowenischen

Umwelt vom deutschen Sprachgebiet weitgehend isoliert war, ist in der Volkslied-

forschung bekannt geworden als ein fast klassisches Beispiel eines Riickzugsgebietes, in dem Hiltere Volksliedschichten erhalten blieben, die im deutschen Sprachraum verloren gegangen sind11. Es ist also kein Zufall, wenn gerade hier ein Lied auf-

gezeichnet worden ist, fiir das im gesamten deutschen Sprachgebiet bisher keine

Parallelen bekannt geworden sind. Die Variante ist vollstindig im Gottscheer Dia-

lekt aufgezeichnet; sie hat ,,in Stil, Mundart, Metrum alle die Gottscheer Eigen- thiimlichkeiten und viele besondere

Ziige...."12.

Svenska Folkvisor, 2. Aufl. 1880, Bd. II, S. 81. 8 R. K6hler, Aufsitze iiber Mirchen und Volkslieder, Berlin 1894, S. 79.

9 A. Hauffen, Die deutsche Sprachinsel Gottschee, Graz 1895, Anm. zu Nr. 53, S. 411. 10 op. cit. S. 65. 11 Noch in diesem Jahr beginnt die vom Deutschen Volksliedarchiv Freiburg heraus-

gegebene Sammlung ,Gottscheer Volkslieder' zu erscheinen. Bd. I umfa1ft simtliche Balladen der Sprachinsel. Vgl. R. W. Brednich, Jahrb. f. Volksliedforschung 11 (1966) 123-130.

12 A. Hauffen, op. cit. S. 411.

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Viele Zeilen sind entweder Gottscheer Volksliedtopoi oder aber sie sind noch in

einigen anderen Balladen in gleicher oder aihnlicher Form nachzuweisen. Gemein- verse sind insbesondere die Z. 6-9 ,Shai richtant uan shneabaisai bascha, II shai

gean6tan baschan zan proitan mera, ' zan proitan mera, zan tiafm sheaba.' Die

Einleitung einer direkten Rede durch die Formel ,Ash6 do schprichet...' ist in Gottscheer Balladen die Regel (vgl. hier Z. 9, 17, 36). Ahnliche formelhafte Elemente sind Z. 16 ,int hintrshi ziachat...', Z. 22 ,int wir do ziachant..', Z. 23 ,drmaran

toat shi's..', Z. 35 ,ind dos drhearat dar...' etc. Ebenso typisch sind die zahl- reichen Diminuative wie Z. 1 ,teachtrlain', Z. 2. ,barwarlain', Z. 12 ,wiaslain', Z. 19

,schefle' usw., wie auch die Wiederholungen in der Anrede; so Z. 10 ,Hoi shbeschtrle, shbeschtrle,...' oder Z. 25 ,Hoi gaigarlain, gaigarlain,.. .'. Bezeichnend fiir die Gottscheer Lieder ist auch die Stellung des Possessivpronomens und des Adjektivs hinter dem Substantiv, so Z. 10 ,.. du liabas main', Z. 11 ,.. da wiaslain bais', Z. 17

,.. dr wuatr 'r' oder Z. 35 .... dr kinik jink'. Der Wortschatz des Liedes ist fiir die Gottschee durchaus typisch; lediglich die ,schraifnegalain' (Wirbel) in Z. 30 und ,shaitlain' (Saiten) in Z. 27 sind selten vorkommende W6rter. Wie in fast allen

ilteren Gottscheer Balladen sind die Verse einzeilig, ohne Reim und uneinheitlich im Metrum und in der Linge. Von der Melodie kann mit Sicherheit gesagt werden, dal sie fiir die Gottschee nicht fremdartig oder neu, sondern eher typisch ist. Perz und Hauffen haben - der damals gingigen Auffassung vom Volkslied gemit -

versucht, den freieren Rhythmus in ein regelmditiges Taktgeriist zu zwingen. Trigt die Ballade schon in Stil, Wortschatz, Metrum und Melodie unverkennbar

starke Gottscheer Merkmale, so ist es vor allem die Ausgestaltung der einzelnen

Ziige und Motive, die den Schlul gestatten, dal die Ballade schon sehr lange Zeit in der Gottschee gelebt haben mug. Von besonderem Interesse sind dabei jene Ziige, die der nordeuropHischen Tradition fremd sind, bei denen es sich also um spaitere Einschiibe handeln mug. Tatsfichlich finden sich fiir alle diese Einschiibe Parallelen in einer oder in mehreren anderen Balladen, z. T. sind es Topoi, wie schon oben angedeutet wurde:

(a) Der Vater der Schwestern ist Kdnig; (b) beide Schwestern haben Werber, die

iltere die biurischen, die jiingere die herrischen. Zu (a) und (b) vgl. die Ballade ,Die Kdnigstdchter im Kloster'13 V. 1-4: 1. ,Es hiat a Kenik zbuai Teachtarlain, 2. Shai 'nt olla puaida Barvarlain. 3. Dr K&nik shinnot lai hin int har, i buas sh6ll ar mochan mit shain Teachtarlain. 4. Gait ar sha a Huachan, 'scht shi a Laitn- schindarin; I1 gait ar sha a Paiar, 'scht shi a Laidarin.' Das Motiv der reichen und der armen Werber begegnet uns auch in der Ballade ,Die verstolene Tochter'4. (c) Beide Schwestern richten die Wische an und gehen zum Waschen ans Meer; vgl. hierzu besonders die sehr verbreitete ,Meererin'-Ballade15, doch handelt es sich hier schon um einen Topos. (d) Die Entfiihrung (Z. 19-21) als Begriindung fUr das Ver- schwinden der jiingeren Schwester ist in den Gottscheer Balladen als Motiv sehr

13 Handschriftliche Aufzeichnung im Besitz des Deutschen Volksliedarchivs (DVA) unter A 155 482, aufgezeichnet von W. Tschinkel.

14 DVA A 109 707; Hauffen Nr. 112, S. 348. 15 Hauffen Nr. 47, S. 253-255; DVA A 109 726; A 134 889 u. a. m.

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haufig, so in der ,Meererin'" ,Am M&ra do shbimmat oin Schiffle kloin, 11 atinna do shizant drai jinga Herrn', und in einer anderen Variante17 ,V6n baitan d6rt shahat shi a Schifflain shbimm, |1 zbean ji6nga Herrn atinna drin', oder in der Bal- lade ,Brautwerbung'18. (e) Der Leichnam der jiingeren Schwester meldet (drmarat) sich aus dem Meer und fordert die vorbeiziehenden Geiger auf, aus den Fingern und den Haaren ein Musikinstrument anzufertigen und auf diesem vor dem Kdnig zu

spielen. Dieses Motiv des ,lebenden Leichnams' tritt eigenartigerweise auch in 4 bri- tischen Varianten auf (Child Nr. 10 NOPQ). Zugrunde liegt der in Europa ver- breitete Glauben, dag ein gewaltsam Ermordeter iiber seinen Tod hinaus die Un- tat zu richen versucht. In der Gottschee ist dies ein hdufiges Motiv; meistens wird der Leichnam durch das Wort ,drmarat shi' angekiindigt. In etwas abgewandelter Form finden wir. das Motiv in der Ballade ,Der beleidigte Totenschdidel'l9. In den Balladen ,Der Vorwirt'", ,Die zwei armen Waisen '21 und ,Das neue Grab'"2 meldet sich ebenfalls ein Toter aus dem Grabe. (f) Die Reaktion des Kbnigs (Z. 35 bis 37) erinnert sehr an den Schlu3 der Gottscheer Ballade ,Der Meierin Sohn'23

(Z. 20 ff.) ,Und dos darhearat dar Gr6fa schian. JI Drzirn twat shi dr Herra schian: I ,Hoi vraka! Vraga, bues hoscht di gatuan?" Eine Kontamination scheint bei so genauer Obereinstimmung die einzig plausible Erklirung zu sein.

Bei dem Versuch, die Gottscheer Variante in Beziehung zu setzen zu der nord-

europiischen Tradition, erscheint es vorab notwendig, diese besonders fiir die Gott- scheer Balladen bezeichnenden Eigenheiten auszuscheiden, um so den minimalen Be- stand an Ziigen und Motiven zu erhalten, der in die Gottscheer Tradition von au3en hereingekommen ist. Dabei ergibt sich folgendes Bild: Ein K6nig (Mann) hatte zwei T6chter. 11 Die jiingere Schwester hatte Freier, 1 die iltere hatte keine. 11 Die

iltere war daher sehr zornig. I 5 Sie gingen beide waschen ans Meer, II und dort

spricht die iltere Schwester: 11 ,Tritt her auf den grauen Stein, 11 ich werde dir

deine wei3en Fii3e waschen, I (damit dich deine Freier noch lieber haben).

|t 10 Sie gibt ihr einen Stoi, und sie fliegt ins tiefe Meer. I1 Voriiber ziehen

(mehrere) Geiger. I1 (Diese finden die Leiche am Strand) |1 Sie nehmen ihr seide-

nes Haar 11 15 und machen daraus die Saiten. 11 Sie nehmen ihre Finger i und machen daraus die Wirbel. 1i Sie gehen geigen auf des Kinigs Schlofg (den Hof des

Vaters). 1 Dort fingt die Geige an zu spielen, der Kinig habe zwei Tdchter

gehabt, I die iltere habe die jiingere ins Meer gesto3en. 1 Das hirt der Kinig 1I (und bestraft die iltere Schwester).

16 K. J. Schrier, Germania 14 (1869) S. 334-336. 17 K. J. Schr6er, Weitere Mitteilungen iiber die Mundart von Gottschee, Sitzungsberichte

Wien, phil.-hist. Ki., 65 (1870) S. 443.

18 DVA A 109 721, aufgezeichnet von W. Tchinkel.

19 DVA A 109 774, aufgezeichnet von W. Tschinkel; vgl. auch L. Petzoldt in diesem Jahr- buch Bd. XII (1967) S. 103-142.

20 DVA A 109 765, aufgezeichnet von W. Tschinkel. 21 DVA A 109 760, ebenfalls W. Tschinkel. 22 DVA A 109 753, ebenfalls W. Tschinkel. 23 France Marolt, in: Kocevski Zbornik. Ljubljana 1939, Nr. 5 D, S. 249.

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Als Ergebnis dieser kurzen Analyse ist festzuhalten, (1) dai die Ballade nach Stil, Wortschatz, Metrum und besonders der typischen Ausformung einiger Motive schon sehr lange Zeit in der Gottschee gesungen worden sein mui und (2) dai die von der nordeuropHischen Tradition abweichenden Ziige ein typisch Gottscheer Ge-

prige tragen und wahrscheinlich spitere Einschiibe (z. T. aus anderen Balladen) dar- stellen.

2. Die slowenische Variante

Wegen ihrer Kiirze ist es bedeutend schwieriger, iiber die slowenische Variante

Aussagen von aihnlicher Schliissigkeit zu machen. Die Ballade enthalt zwar fast die

ganze Fabel, doch ist sie ohne jede Ausschmiickung in den Details. Die Handlung wird schnell vorangetrieben, kein Wort ist iiberfliissig. Die knappe Diktion erlaubt nur wenige Topoi und Wiederholungen: ,siuno jezero' (gewaltiger See) und ,bieli grad' (weiles Schlogf) sind Topoi der slowenischen Volksdichtung; die Wiederholun-

gen in Z. 6-8 geh6ren zum Kern der Geschichte24. Fir diese Ballade gibt es in Slowenien keine Parallele, weder als Lied noch als

Prosastoff. Eine gewisse Ahnlichkeit mit dem Anfang hat die Ballade Strekelj Nr. 117, in der eine Schwester sich weigert, den Freier der anderen zu heiraten; ver- mutlich sind Z. 2 (,Die Altere stach die Jiingere in das Herz') und Z. 5 ,Cudnu ribicu' (seltsamer Fisch) sowie Z. 10 ,milo jokati' (bitterlich weinen) als Entlehnun-

gen aus der slowenischen Volksdichtung anzusehen. Wie in den meisten slowenischen und Gottscheer Balladen sind die Verse einzeilig, ohne Reim und frei im Metrum; eine Melodie fehlt. Die Sprache ist mundartlich. Z. 7 ,sravbice' ist ein deutsches Lehnwort. Der Herkunftsort der Variante, die Einmaligkeit in der slowenischen

Volksdichtung und das relativ geringe Auftreten typisch slowenischer Eigenheiten legen den Schlui nahe,

da, die Ballade aus dem deutschen Sprachraum eingewan-

dert ist, wahrscheinlich zu einem spiteren Zeitpunkt als die Gottscheer Variante.

3. Gegeniiberstellung der Gottscheer und der slowenischen Variante.

Befreit von den nur fuir ihr engeres Verbreitungsgebiet spezifischen Ziigen und Motiven, weisen die beiden Balladen in vielen Punkten grogfe Ahnlichkeit auf. So stimmen iiberein (1) die Hauptpersonen: zwei Schwestern; (2) der Vater: K6nig (in der slow. Variante durch ,bieli grad' angedeutet); (3) die Tatursache: Streit der Schwestern; (4) die Todesart: Ertrdnken; (5) der Ort des Mordes: tiefer See, Meer bzw. siuno jezero; (6) das Instrument: Geige; (7) die Teile der Geige: Wirbel aus den Fingern, Saiten aus den Haaren; (8) das Vorspielen: vor dem K6nig, bzw. auf dem weigfen Schlogf; (9) das Verkiinden des Mordes: ,Shai gaig6tan d6rt wor kinik shain tir' und ,On je za'ieu milo guosti' sind in der Aussage fast gleich.

Demgegeniiber weichen die beiden Fassungen in folgenden Punkten voneinander ab (a = Gottschee, b

- slowenisch): (1) Grund des Streites: a: (verschiedene) Wer-

24 Die Auskiinfte iiber die slowenische Fassung verdanke ich Frau Dr. Zmaga Kumer, Glasbeno narodopisni institut, Ljubljana, der ich an dieser Stelle herzlich danken mochte.

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80 Klaus Roth

ber, b: Giiter; (2) Mord: a: nur durch Ertrinken, b: Erstechen und Ertrinken; (3) Finder der Leiche: a: mehrere Geiger, b: ein Fischer; (4) Fund der Leiche: a: diese meldet sich, b: Fischer fischt einen ,wundersamen Fisch'; (5) Teile der Geige: nur b hat als drittes Teil Bogen aus den Armen; (6) Reaktion der Eltern: a: Vater ver- flucht seine Tochter, b: Eltern (und Schwester) weinen bitterlich.

Da die beiden Varianten aus reimlosen Einzeilern bestehen und zudem ein hohes Alter besitzen, ist ein Abweichen in vielen Punkten nur allzu natiirlich. Sicher gilt dies fuir Punkt (1), zumal auch in der nordeurophischen Tradition der Grund des Zwistes zwischen den Schwestern sehr variiert. Sicher eine Hinzufiigung ist das Er- stechen der Jiingeren in der slowenischen Fassung. Die Unterschiede in Punkt 4 er-

geben sich aus der schon erwihnten Auffassung vom ,lebenden Leichnam' in der

Gottschee. In der slowenischen Fassung wird jedoch durch das Wort ,Cuden' (seltsam, wunderlich) auf das Obernatiirliche hingewiesen. Der Schlufg (6) ist in beiden Va- rianten fragmentarisch. Von Bedeutung fUr den Vergleich sind die Punkte 3 und 5; wenn man nicht annimmt, dagf der Fischer als Finder der Leiche und der Arm als drittes Teil zum Bau der Geige spitere Anderungen und analoge Ausschmiickungen sind, sondern vielmehr zum Grundbestand der slowenischen Variante geh6ren, so

bereitet die Einordnung der Variante erhebliche Schwierigkeiten. Beide Ziige, der ,Fischer' und der ,Arm', sind Bestandteile der skandinavischen

Tradition. Zudem erreicht der slowenische Text gerade bei der Aufzdhlung der

Teile eine festere und regelmiifige Form, die sich auf die Erhaltung des Textes eher positiv auswirkt; unwahrscheinlich ist, dagf bei einer so kurzen Variante noch ein

K6rperteil hinzuerfunden wird, welches in der skandinavischen Tradition schon

vorhanden war. Vieles spricht also dafiir, daf der ,Arm' als dritter Teil der Geige wie auch der ,Fischer' schon zu der Ballade gehirten, als diese nach Slowenien kam.

In diesem Fall ist es wenig wahrscheinlich, daf die Gottscheer und die slowenische

Variante direkt auf eine gemeinsame iltere deutsche Fassung der Ballade zuriick- gehen. Daraus wiirde folgen, dagf zumindest zwei deutsche Varianten neben- oder

nacheinander die dufgere siidistliche Ecke des deutschen Sprachgebietes erreicht

haben; eine relativ weite Verbreitung der Ballade in Deutschland wahrend friiherer

Jahrhunderte wire damit durchaus m6glich.

III. VERGLEICH DER BEIDEN MITTELEUROPAISCHEN VARIANTEN

MIT DER NORDEUROPAISCHEN TRADITION

Schon ein oberflichlicher Vergleich der beiden Varianten mit skandinavischen, besonders dinischen, schwedischen und norwegischen Varianten zeigt sofort nicht

nur eine ziemliche 1Obereinstimmung in dem Grundgeriist der Geschichte, sondern

auch in den einzelnen Ziigen und Motiven. Bei genauerer Untersuchung ergibt sich,

daf die besseren dinischen Fassungen alle Motive und auch die meisten Ziige enthalten, die zum Kernbestand der beiden mitteleuropiischen Varianten gehbren;

dariiber hinaus werden in den dinischen Varianten nur noch die Bitten der Ertrin-

kenden, die Aufdeckung des Mordes und die Bestrafung der Mirderin eingehend

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Die Ballade von den zwei Schwestern 81

behandelt. Mit der Gottscheer Variante ist die dinische Tradition zudem, wie sich zeigen wird, noch durch eine Reihe nur fiir diese beiden Traditionen spezifischer Ziige verbunden. Eine Gegeniiberstellung der Gottscheer (a) und der slowenischen

(b) Variante mit den dinischen (c) Varianten GDA-GDY ergibt folgendes Bild: 1. Zahl der Schwestern: durchgingig zwei. 2. Vater: a: K6nig, b: K6nig, o. d., c: Mann. 3. Streit der Schwestern: in allen Varianten. 4. Streitursache: a: hohe und niedere Freier, b: Giiter, c: Freier - keine Freier. 5. Zorn der Alteren: a: ja, b: implizit, c: ABEFGOPQRTU, sonst fast immer

angedeutet. 6. Grund, ans Meer zu gehen: a: Wische waschen, b: fehlt, c: Waschen, in allen

Varianten. 7. Waschen, um schiner zu werden: a: ja, aber Personen vertauscht, b: fehlt, c:

in BCEFHL. 8. Der Stein: a: grauer Stein, b: fehlt, c: ABDHRUVX haben ,breden sten',

LMO ,hviden sten'. 9. Stoi ins Wasser: in allen Varianten.

10. Bitten der Ertrinkenden: a: fehlt, b: fehlt, c: in allen Varianten. 11. Finder der Leiche: a: mehrere Spielleute, b: ein Fischer, c: in ABCDEFMO

QRU 2 Spielleute, sonst 1 oder 3. 12. Fund der Leiche: a: am tiefen See, Meer, b: am gewaltigen See, c: am Meeres-

strand (wenn erwihnt). 13. Instrument: Geige in allen Varianten (meist impliziert). 14. Teile der Geige: a: Finger, Haare, b: Arme, Finger, Haare, c: Arme (H), Fin-

ger (BCEFLNORSV), Haare (ABCEFHLNRSV). 15. Ort der Enthiillung: a: K6nigshof, b: Schlof des Vaters, c: Hof des Vaters. 16. Art der Enthiillung: in allen Varianten erfolgt die Enthiillung des Mordes so-

fort, ohne Steigerung. 17. Reaktion der Eltern: a: Vater verflucht (bestraft) seine Tochter, b: Eltern wei-

nen bitterlich, c: die Mirderin wird bestraft, meist durch Verbrennen (ABC FGILMOPRT).

18. Wiederbelebung der Ermordeten: nur in din. H, wo der Spielmann seine Fie- del zerschligt, angedeutet.

Die Gottscheer und die dinische Tradition zeigen weitgehende lbereinstimmung in den Punkten 1, 3, 5, 6, 8, 9, 11, 12, 13, 14, 16, in den Punkten 4, 7, 17 besteht grogfe Ahnlichkeit; 10 und 18 fehlen in der Gottschee, und die Verschiedenheit in Punkt 2 und 15 (Kinig und ,Mand') ist wohl auf den Einflugf anderer Gottscheer Balladen zuriickzufiihren, zumal ja fUr die Geschichte die Person des Vaters unwichtig ist. In Punkt 14 stimmt die Gottscheer Ballade mit dem gri6ften Teil der dinischen Va- rianten iiberein. Nur din. H hat ,Arm' als Teil der Geige und deutet am Schlufl die Wiederbelebung der Schwester an. H steht damit der norwegischen Tradition am

nichsten. Die Gottscheer Ballade stimmt somit in 14 von 18 Punkten gut iiberein mit der

dinischen Tradition. Von besonderer Bedeutung aber sind hier die Olbereinstimmun-

6 Jahrbuch f. Volksliedforschung XIII

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82 Klaus Roth

gen jener Motive und Ziige, die nur diesen beiden Traditionen eigen sind bzw. in anderen Traditionen sehr selten auftreten. Hierzu geh6rt sicher der ,brede sten', auf dessen Bedeutung schon Brewster" hingewiesen hat. Der Stein, von dem aus die Schwester ins Meer gestofen wird, hat lediglich in der dinischen und in der Gott- scheer Tradition ein Adjektiv (,breden sten', ,hviden sten', ,gruibm schtoin'). Brew- ster sieht als Vorbild fUr diese Form den dinisch-norddeutschen Volksliedtopos ,breiter Stein' an, der in vielen Liedern wiederkehrt. In drei dinischen Varianten

(EFL) und in der Gottscheer Variante treten mehrere Freier auf; es ist durchaus

m6glich, dai dieser Zug in der Gottschee dann unter dem Einflusf anderer Lieder

umgewandelt wurde. In den drei verglichenen Traditionen findet sich nur die

Geige als Instrument; eine Harfe, wie sie in den anderen Traditionen iiberwiegt, ist nie erwdhnt. Ebenfalls nur in den drei verglichenen Traditionen wird der Mord ohne Steigerung sofort enthiillt, sicher eine Verfallsform.

Die aufgefiihrten Griinde lassen mit ziemlicher Sicherheit den Schluf zu, dasf die Gottscheer Fassung der dinischen Tradition der Ballade ,The Two Sisters' am nich- sten steht und wahrscheinlich auch auf diese zuriickgeht. Unter den

vollstindigeren Fassungen zeigen besonders GDB und GDL die meisten Obereinstimmungen. Um

dieses zu veranschaulichen, folgt der Text von GDL (gesammelt um 1862) in deut-

scher Obersetzung26:

1. Da wohnte ein Mann in Odense, zwei hibsche T6chter hatte er.

2. Die Hilteste war so schwarz wie die Erde, die jiingste war so klar wie die Sonne.

3. Da kamen drei Freier in den Hof geritten, alle wollten die Jiingste haben.

4. Die Alteste sprach zur Jiingsten: ,Komm, lag3 uns hinunter zum Strand gehen.'

5. ,Ja, was sollen wir zum Strand (gehen), wir haben ja keine Kleider zu waschen?'

6. ,Wir werden uns weitf waschen,

dafg wir mehr wie Schwestern einander gleichen.' 7. Die Jiingste setzte sich auf einen weitgen Stein,

die Alteste stietg sie hinaus mit dem Bein. 8. Die Jiingste setzte sich auf den weigfen Sand,

die Alteste stietg sie hinaus ins Wasser. 9.-14. sind die Bitten der Ertrinkenden.

15. Da kamen drei Spielleute daher iibers Wasser, die sahen die Jungfrau, ans Land getrieben.

16. So nahmen sie ab ihre fiinf Finger und machten sich Spielwirbel daraus.

18. So nahmen sie ab ihr helles Haar, und machten davon kleine Saiten.

(Text: So ging es zum Hochzeitshaus...) 19. So spielten sie zum ersten,

datg die Braut ihre Schwester ertrdinkt hat.

25 op. cit. S. 19. 26 S. Grundtvig, Danmarks gamle Folkeviser, Nr. 95 L, S. 507 ff.

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Die Ballade von den zwei Schwestern 83

Schwieriger gestaltet sich der Vergleich der slowenischen Variante mit der dini- schen Tradition. In den Punkten 6, 7, 8, 10, 18 fehlt die Vergleichsbasis; in den Punkten 1, 3, 9, 12, 13, 14, 16 herrscht weitgehende O`bereinstimmung der Varianten. Der Unterschied in Punkt 2 und 15 ist - wie in der Gottscheer Fassung - durch die weniger wichtige Stellung des Vaters bedingt. Daf die Ursache des Streites zwi- schen den Schwestern (4) die Gilter und nicht die Freier sind, wird als eine slowe- nische Besonderheit angesehen werden miissen, wie schon weiter oben erwihnt. Ahn- liches gilt fuir die Reaktion der Eltern (17), doch lift sich hier nichts Sicheres sagen, da der Schlufi sehr fragmentarisch ist. Von Bedeutung sind hier wiederum die bei- den Ziige ,Fischer als Finder der Leiche' (11) und ,Arm als Bogen fiir die Geige' (14), in denen die slowenische Variante weniger mit den dinischen, als vielmehr mit einigen schwedischen und norwegischen Varianten iibereinstimmt. Den Arm hat nur GDH; aber insgesamt 12 norwegische, schwedische und fir6ische Fassungen erwdh- nen ihn. Brewster2' rechnet den Arm nicht zu den urspriinglichen Teilen der Harfe. Einen Fischer als Finder der Leiche kennt die dinische Tradition iiberhaupt nicht. Dafiir bringt ihn die schwedische Tradition 4mal (BDEJ) und die norwegische sogar 14mal (CFHIKLQTUX B2C2F2M2). GNC, um 1850 aufgezeichnet, vereinigt beide Ziige in sich, doch ist das wohl sicher zufillig. In den anderen Ziigen zeigt die slo- wenische Variante eine griSfere Ahnlichkeit mit den dinischen Varianten.

Endgiiltiges wird sich iiber die Herkunft der slowenischen Variante wohl nicht sagen lassen; als sicher kann nur gelten, daf auch sie - wie die Gottscheer Variante - auf eine verlorene deutsche Variante zuriickgeht. Ob diese nun wieder an eine verlorene dinische oder aber an eine norwegische Variante ankniipfte, ist aus dem heutigen Zustand der slowenischen Variante auf keinen Fall mit Sicherheit zu

erschliefen.

IV. ZUSAMMENFASSUNG

,,Das Ritsel kann wohl nicht anders gelist werden, als indem man annimmt, dagf auch in Deutschland vor Jahrhunderten eine Volksballade gleichen Inhalts bekannt war und spiter verloren gegangen ist", schreibt schon 1895 A. Hauffen"2 iiber die Gottscheer Variante der ,,Zwei Schwestern". Wohl aus Unkenntnis der dinischen Varianten hielt er allerdings die schwedische Fassung, die von Hoffmann v. Fallers- leben iibersetzt worden war, fuir die nichstverwandte Variante. Doch Hauffens Vermutung scheint durch die Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung entschei- dend bestirkt worden zu sein. Als gesichert darf gelten, daf die Gottscheer Variante zu den iltesten Schichten des Volkslieds in der Gottschee geh6rt und die Gottschee

miglicherweise wahrend oder kurz nach der Besiedelung im 14. oder 15. Jahrhun- dert erreicht haben mugf. Das deutsche Bindeglied auf dem Weg der Ballade von

Dinemark in die Gottschee ist - wie zahllose andere Balladen - verloren gegan-

27 op. cit. S. 30. 28 op. cit. S. 412.

6*"

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84 Klaus Roth

gen. Die dinischen Varianten, die mit der Gottscheer Ballade die meisten Ziige und Motive gemeinsam haben, sind GDL und GDB (beide abgedruckt bei Grundtvig unter Nr. 95).

Weniger eindeutige Ergebnisse liefert die Untersuchung der slowenischen Vari- ante. In vielen Punkten stimmt sie mit der Gottscheer Variante und auch mit der

dinischen Tradition iiberein, zeigt aber in zwei doch recht wichtigen Ziigen (Finder der Leiche und Arm als Teil der Geige) deutliche Abweichungen von den beiden anderen untersuchten Traditionen. Als sicher darf gelten, dasf auch die slowenische Ballade auf eine verlorene deutsche Fassung zuriickgeht, die aber wahrscheinlich mit der obenerwihnten deutschen Fassung nicht identisch ist. Dadurch erscheint es als miglich, dai die Ballade von den ,Zwei Schwestern' wihrend friiherer Jahr- hunderte in einer gr6fieren Zahl von Varianten in Deutschland verbreitet gewesen ist. Weitere Schliisse aus den beiden einzeln dastehenden Varianten zu ziehen ver- bietet jedoch die Kiirze und der relativ fragmentarische Zustand der zwei Balladen.

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