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Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 12 (1989) 219-228 219

Brigitte Lohff

Die Franzosische Revolution im Spiegelbild

Die Reaktion der deutschen Arzte auf die Revolution und das Revolutionieren

Medicinische Ansicht der franzosischen Revolution - Wie muf3 sie kurirt werden - Ihr Heilungsplan - Wie werden wir indirecte durch sie kurirt? [Novalis']

Summary: The German physicans and medical scientists reacted to the French Revolu- tion in several ways, if you judge only from the medical literature: 1) At the beginning of the French Revolution, the scientist answered with still silence, whereas the young intellectual generation was filled with enthusiasm. But after the bat- tle of Valmy (1792) this enthusiasm vanished and they resigned to execute an equal revo- lution in Germany. 2) When, in the middle of the 1790s, scientists gave commentaries on revolutionary acts, they despised the revolution itself. This could only destroy the old - and even better - order. They argued that you can have recourse to science to avoid the political and socially deranged situation. 3) This rejection against the political revolution was combined with a rejection against the influences of natural philosophy on medicine. Schelling's philosophy plays the role as an scientific revolution with all negative aspects like the political one. In this sense, the science in the old scientific manner has to be an accepted refuge. 4) But in this retreat they developed ideas of German national science to conteract on the French influences. The consciousness of nationalism was supported by the scientists of romantic movements. 5) The following degree is characterized by a mental leap. Now, they argued, it will never be necessary to revolutionize the medicine: in science all the ideals of French Re- volution are realized - freedom, equality and fraternity. 6) Consequently, only in a formal sense did they respond to the French Revolution and so they avoided recognizing, that science is influenced politically and also science itself exercises on in a political way.

Schlusselworter: Arzt (unpolitischer), Franzosische Revolution, Medizin und Natur- philosophie, Medizin und Politik; XVIII. Jh.

Die Hoffnungen aber auch die Angste, die mit der Franzosischen Revolution verbunden wurden und mit der sich die Deutschen auseinanderzusetzen hatten, sind von Novalis in diesem Aphorismus verdichtet worden, in dem die Revolution als ,,Therapie" wirken kann, wenn sie - selber ,,geheilt" - wieder eine ,,gesunde" Revolution geworden ist.

War es nun die ,,Morgenrothe eines nahen lichterern Tages", wie Ludwig Borne in seiner Rezension zu Mansos Geschichte des Preuflischen Staates2 1820 schreibt, die man von dieser Revolution fur die geistige und politische Erneuerung Deutschlands erhoffte? Oder schatzte Jean Paul die Lage besser ein, wenn er 1793 an einen Freund schreibt3, dai3 in Deutschland nur eine ahnliche Revolution denkbar ware, wenn

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weit mehr Licht unter unsere Hirnschale und weit mehr Torturschwefeltropfen an unser Herz geworfen werden.

Bei der Flut von Neuerscheinungen, Artikeln, Kommentaren, Berichten und Veran- staltungen zur 200jahrigen Wiederkehr des Beginns der Franzosischen Revolution scheint sich zu bewahrheiten, was Kurt von Raumer 1980 schrieb4, dai3 die ,,Ausstrah- lungen der Franzosischen Revolution zu den verwickelsten Problemen der Epoche" ge- horen, die auch noch heute immer wieder Anla6 geben, sich mit den direkten und indi- rekten Auswirkungen dieses Ereignisses zu beschaftigen. Wahrscheinlich hat Goethe in weiser Voraussicht bereits die Lage der nachfolgenden Generationen von Historikern und Interpreten richtig eingeschatzt, wenn er 1792 unsere Probleme mit dieser Epoche wie folgt vorhersagt 5:

Hierdurch [als lebendiger Zeuge] bin ich zu ganz anderen Resultaten und Einsichten gekommen, als allen denen moglich sein wird, die jetzt geboren werden, und sich jene groge Begebenheit durch Biicher aneignen miissen, die sie nicht verstehen.

Wenn diese Feststellung zutreffend ist, dai3 die Zeitzeugen zu anderen Einsicht kom- men konnten als die Nachgeborenen, so durften gerade die Aussagen der Generation, die die Franzosische Revolution aus dem Nachbarland Deutschland erlebt haben, uns Aufschlui3 dariiber geben, ob gerade die Intellektuellen, wie Hajo Holborn6 meint, von den politischen Ereignissen nur wenig beriihrt wurden, oder wie Golo Mann' meint, dai3 sie davon nie mehr ganz loskamen und Denkstoff fur ihr Leben erhielten.

Kant vertrat im Streit der Fakultuten (1798) bereits die Auffassung8, dai3 eine solche Revolution gerade eine enthusiastische Teilnahme derjenigen hervorruft, die nicht an ihr direkt beteiligt sind und deshalb den Wunsch entwickeln, etwas Ahnliches zu versu- chen, da diese Ereignisse in den moralischen Anlagen des Menschengeschlechts ursach- lich begriindet seien. Damit wird, wie Karl Mannheim 1964 schreibt9, die Auseinan- dersetzung der Intellektuellen in Deutschland gleichsam ein Experiment dafur, was dann geschieht, wenn Ideen, die genuin aus einem entwickelteren Gesellschaftszustand erwachsen sind, in einen sozial unterentwickelten, geistig aber hochstehenden Lebensraum einflieaen.

Verwickelter noch wird die ganze Situation und werden die Aussagen, die sich aus einem solchen ,,Experiment" ableiten lassen konnten, dadurch, dai3 in Deutschland mit und durch die Ereignisse in Frankreich eine Bewegung in Gange gesetzt wird, die spater dann mit dem Epochennamen ,Romantik' belegt wurde lo. Es verknupften sich in die- ser Bewegung der Romantik die Widerspriichlichkeiten des preui3ischen Vernunftstaates rnit einer Gegenreaktion auf das iiberstrapazierte Vernunftprinzip der Aufklarung, die Ideale der Franzosischen Revolution rnit dem aufkeimenden Nationalempfinden und einer Demokratisierungsbewegung des aufkommenden Burgertums ll.

Gerade weil, wie Novalis 1789 schreibt 12, jeder Gelehrte es sich zur Pflicht macht, die Schwarmerei zu verdammen, wird von der junge intellektuelle Generation ,,uber die Folgen ihrer Ausrottung [der Schwarmerei] und den Nutzen, den sie fur die gesammte Menschheit hat", nachgedacht. Und was konnte mehr zu dieser Schwarmerei Anlai3 ge- ben, als die Ideale, die sich mit dieser Revolution verknupfen lassen!

In einem Staat, in dem die alte Ordnung im Geschaft blieb, aber der Geist sich ver- fliichtigt hatte, wie Manso - auch ein Zeitzeuge - uber die Zeit des Jahre 1789 schreibt, griffen die Ereignisse der Revolution ein. Es wurde ein gemeinsamer Schwur geleistet 13)

das Schwerste zu bestehen, und das Harteste zu erdulden. Die Prinzen und die Grogten d a Reiches fiihlten die Vednderung so tief, dai3 sie in Scharen iiber die Grenze zogen und bald ein Frankreich auger Frankreich

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sich bildete. [... Auch unter den Gelehrten machte sich eine neue Hoffnung breit, wenn diese auch] mehr im Reich des Moglichen als des Wirklichen lebten [. . .], es gab wenige, die gleichgiiltig zusahen oder mifibilligen, was geschah. Fast alle rneinten, es werde die Trennung von Schule und Leben aufhoren und, was tot liege in Begriffen sich gestalten zur That.

Doch die mehr auf das Politische gesetzten Hoffnungen verflogen, ,,so rasch als der Rausch, den der Wein jenes Landes gibt" 14.

Dai3 diese Revolution in allen Bereichen Spuren hinterlassen wird und auch in den Wissenschaften Veriinderungen bringen wird, sah Robert Malthus 1798 voraus 15:

. . . die Franzosische Revolution, die wie ein flammender Komet dazu bestimmt scheint, entweder frisches Leben und neue Kraft hervorzurufen oder die verschreckten Erdbewohner zu versengen, zu verderben: all dies hat zusammengewirkt, urn viele urteilsfihige Kopfe zu der Ansicht kommen zu lassen, dad wir am Beginn eines neuen Zeitalters stehen, dad Vednderung von weitreichender Bedeutung mit sich bringen wird.

Mit all diesen Hoffnungen und dem unmittelbaren Bewdtsein, dai3 man am Beginn eines neuen Zeitalters stehen wiirde, liei3en sich ahnliche Reaktionen bei den Arzten ver- muten. Zusammenfassend zeigt sich, dai3 ihre Reaktion - sofern sie dazu iiberhaupt Stellung nehmen - zuriickhaltend bis ablehnend ist. Stillschweigen, Warnungen vor einem Ubergreifen revolutionarer Idee in den Bereich der Medizin und nationalistische Tendenzen sind hier vornehmlich zu verzeichnen.

Dies konnte sich zum Teil dadurch erklaren lassen, dai3 die ,,ideale Zeit" l6 der Fran- zosischen Revolution nur 1789- 1793 wahrte und zudem wissenschaftliche Publikatio- nen mehr Zeit in Anspruch nehmen. Bedenkt man jedoch, dai3 die Vorreden und Einlei- tungen haufig erst kurz vor der Veroffentlichung geschrieben werden und allgemeine und somit auch politische Bemerkungen nur in diesen Anschnitten geaui3ert werden, so ist in den Werken aus den Jahren 1789-1793 kein deutlicher Hinweis auf die Revolu- tion zu finden. Erst wesentlich spater, ab 1810, als Deutschland unter der Besetzung Na- poleons zu leiden hatte, sind deutliche Stellungnahmen zu verzeichnen 17.

Einige wenige Bemerkungen aus den 1790er Jahren zeigen eine vorwiegend ablehnen- de Haltung gegenuber der Revolution als solcher auf. So formuliert Carl Casper Crkve, 1796 a. 0. Professor fur Medizin aus Frankfurt, ein allgemeines Nachtrauern dem verlo- rengegangenen Zeitalter vor der Revolution

Man suchl sogar mit Gewalt sich von jenem goldenen Zeitalter zu entfernen, wo ein allgemeines Bestreben nur einen einzigen Zweck zu erreichen sucht [. . .] Vervollkommnung der Wissenschaft. [. . .] Dessen ungeach- tet sehen wir taglich Menschen einander wiirgen. Leidenschaften, diese groden zu allen Zeiten priviligirten Morder, zerstoren mit und ohne Kunst ganze Generationen.

Wenn auch seine Aussagen nicht nur auf die Franzosische Revolution zu beziehen sind, so decken sie sich doch mit der Beschreibung des Berliner Gerichtsmediziners Jo- hann Ludwig Casper, wenn er meint 19, dai3 vor der Revolution nur noch der Geist fehlte, der alles vereinigte [.. .,] doch der Geist der Neuerung ergriff plotzlich alle Kopfe; alle Formen wurden zertriimmert, alle Gesetze umgeworfen, alle Institutionen vernichtet und die Fackel der Freyheit und Gleichheit drauf auch zerstorend in das friedliche Reich der Medizin getragen.

Eine ahnliche Ubertragung des Zustandes der politischen Revolution auf den inneren Zustand der Medizin lieferte bereits 1796 ein Artikel uber die Krtheidigung der rutionef- Len Arzneiwissenschaft20. Dabei parallelisiert der Autor die aus den politischen Verhalt- nissen entstandenen Paradoxien mit den Paradoxien, die aus der Sucht, standig neue me- dizinische Systeme zu entwickeln 21, entstanden sind2?

Welch Wunder! Wenn nun ein Arkesilas am Ende des 18. Jahrhunderts, das so reich an Revolutionen und Paradoxien ist, aufstehet, den Arzten von neuem den Krieg ankiindigt und sie vor das Revolutionstribunal schleppen will.

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Bemerkenswert ist hierbei nicht nur, dai3 der Autor ,,moderne" Sprachbilder der Zeit verwendet, sondern dai3 er hier politische Revolutionare und solche, die die Medizin revolutionieren wollen, mittels eines ,,Psychogramms" klassifiziert 23:

Die Triebfeder dieser Revolutionare waren verschieden: die einen litten an einem eingewurzelten Spleen, wa- ren mit sich und aller Welt unzufrieden. Die anderen waren selbstsiichtige, aufgeblasene Kraftgenies, die alles verachteten und verhohnten, was sich nicht unter ihr Scepter beugt oder nicht selbst ihres Geistes Kind ist. [. . .] Eine dritte Klasse sind verungliickte Arzte, die in der Medizin nicht ihre Rechnung und ihre Wiinsche befriedigt fanden.

Die negative Einschatzung dieses Autors ist uniibersehbar. Verquickt wird nun diese ablehnende Haltung gegeniiber der Revolution noch bei einigen Autoren rnit einer Ab- lehnung der Lavoisierschen Oxidationstheorie, die zudem noch 1789 formuliert wurde! Neben der inhaltlichen Ablehnung dieser neuen wissenschaftlichen Theorie, die ja vol- lig neue Einsichten auch innerhalb der Medizin verlangte, wird rnit ihr eine Revolutio- nierung der Wissenschaft befurchtet. Deshalb lacht ein ernsthafter Deutscher ,,iiber die papierenden Scheiterhaufen, wozu eine Frankreicherin das alte System verdammte" 24.

Deshalb jag ein Deutscher diesen ,,Hirngespinsten" einer neuen Theorie der chemi- schen Materie nicht nach und verwahrt sich lieber gleich vor moglichen Fehldeutungen.

Joachim Dietrich Brandis, der Kieler Professor fur Medizin, fiihlt sich zum Beispiel 1795 aufgerufen, folgenden Hinweis in der Einleitung seines Buches Versuche iiber die Lebenskraft vorauszuschicken 25:

Es wiirde sehr kriinkend fur mich seyn, wenn mein Versuch jenen Machtansprkhen einiger Freybeuter des franzosischen Systems der antiphlogistischen Chemie beigezahlt werden sollte, die mit ahnlichen, obwohl nicht so scharfen und siegreichen Waffen, dieses System zur Grundlage alles menschlichen Wissens machen wollen, als eine andre Art Freybeuter eines andern franzosischen Systems das Ihrige zur Grundlage aller menschlichen Gliickselikeit zu machen gedachte.

Die Ablehnung der aus Frankreich kommenden politischen und wissenschaftlichen Revolution und die befiirchteten Folgen fur die deutsche Wissenschaft und Politik, las- sen sich durch die Verwendung einzelner zeittypischer Begriffe nachvollziehen. So wird etwa, bezogen auf die Auseinandersetzung iiber die Grundlagen der Medizin, von der ,Jacobiner Wut und Ungezogenheit" geredet. Oder es wird vor der Verdummung des medizinischen Publikums durch falsche Meinungen gewarnt, da diese gleichsam wie ,,Marat um die Jacobinerhorde mit Trugschliissen in ihren Journalen das Volk elektrisi- ren" 26. Die vorherrschende Tendenz in dem letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts ist dadurch zu umschreiben, dai3 darauf hingearbeitet wird, Ruhe in den medizinischen Wissenschaften zu bewahren und sie vor Ubergriffen revolutionarer Ideen - was immer auch darunter verstanden werden mag und sich meistens nur als Vefanderung des alten Zustandes oder als andere Meinung gegeniiber der vorherrschenden beziehungsweise der eigenen charakterisieren lai3t - zu schiitzen.

So verfai3t der Landshuter Professor fur Pathologie Heinrich Marie von Leveling 1804 noch eine Abhandlung mit dem Titel Wie konnen medicinische Wissenschaften auch fur andere Staatsdiener auf Akademien und Universitaten nutzlich und anwendbar gemacht werden. Darin redet Leveling einer obrigkeitsorientierten Ausbildung das Wort. Ziel die- ser Ausbildung soll es sein, dem Studierenden eine Norm fur zukiinftiges Verhalten im Staat zu vermitteln, die vornehmlich dazu dienen soll, eine Sicherung des Eigentums zu gewahrleisten, wenn alles Studieren so angelegt wird, dem Vaterland niitzlich zu wer- den und seine Pflichten zu erfullen2'.

Der Versuch, das Alte zu bewahren und sich vor den Ubergriffen der neuen Ideen - sowohl im Politischen als auch in den Wissenschaften - zu schiitzen, gelingt nicht. Die

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Veriinderung in der durch die Franzosische Revolution bedingten Sichtweise uber Hier- archien und Obrigkeitsdenken greift auf die Sicht von der Medizin uber. Sie betrifft vor allem die Einstellung zur Wissenschaft und ihren Lehrmeinungen. August Friedrich Hecker etwa beschreibt diese Phase rnit folgenden skeptischen Worten 28:

In unsern Tagen mugten wir sehen, wie groge politische Ereignisse [sich] in wenigen Jahren, ja selbst in Monaten zusammenddngten; Zerriittung und neue Schopfungen folgten im Fluge auf einander und sie konn- ten nicht ohne entscheidenden Einfluf3 auf den Gang der Wissenschaften bleiben [...I. Man kann also sagen, dat3 sie gleichzeitig mit der burgerlichen und politischen Verfassung von vier Welttheilen, eine das ganze Ge- baude erschiitternde und zum Theil zerstorende Revolutionsphase durchlaufen habe.

Auch wenn Hecker dabei nicht angibt, in welcher Richtung die Erschutterungen in den Wissenschaften verlaufen sind, so verbindet sich seine Einschatzung von 1810 - als Gegner der naturphilosophischen Einflusse in den Wissenschaften - mit der von Lorenz Oken - als Verteidiger dieser neuen Auffassung, wenn er 1806 ~ c h r e i b t ~ ~ :

Leider sind die Tempel zertriimmert, keine Saulenreihe kundigt die Heiligkeit und Kraft der Priester an, die die Haupter der Menschheit [. . .] beseelt; der riihrende Glanz der alten Religion m d t e erloschen, die Wei- sen wurden in alle Welt zerstreut.

Ein Merkmal dieser Ve~nderung besteht fur einige Arzte darin, dai3 Lehren und Mei- nungen sowie Ansichten zur Medizin nunmehr von Nichtmedizinern ungestraft geau- i3ert werden durfen30:

Auch der Arzneykunst ist es wie der Staatskunst und Politik ergangen. [. . .] Dey Antheil mitzusprechen bei Politik und theoretischen und practischen Arzneywissenschaften ist gestiegen. Uberall wollen Nichtkenner mitreden. [. . .] Die Sucht zu revolutioniren hat sich von Seiten der Layen aus auch an die Arzneykunst gewagt und sonderbar, dass hier oder gerade solche Leute das Revolutioniren in der Medicin unternommen und be- gunstigt haben, welche als sehr begutert vortreffliche Unterthanen und die kfiftigsten Vertheidiger der Rechte und Pdrogative, oder Aufseher der alten Gesetze sind. [. . .] Die Arzneywissenschaft [scheint] ein Feld, wo sie ungestraft umstossen, umwerfen und nach Gefallen neu organisiren konnen.

Mit dieser Betrachtung des Trierer Gynakologen Johann Christian Gottfried Jorg aus dem Jahr 1822 bestatigt sich Mannheims These, dai3 die von aui3en kommenden Einflus- se in einem sozialen und politisch andersartigen Lebensraum ,,umgebogen" werden - das heiflt eine Metamorphose im geistig Intellektuellen erfahren 31. Bemerkenswert ist zudem, dai3 hier zusatzlich auch die These Mannheims unterstutzt wird, dafl dieses Re- volutionieren von der ,,Bourgeoisie" - im weitesten Sinne einer besitzenden Klasse - erfolgte 32, wenn Jorg klagt, dai3 solche in den Arzneiwissenschaften mit revolutionaren Ideen eindringen, die begiitert und ansonsten vortreffliche Untertanen seien. Dennoch reagieren die Arzte mit Unbehagen auf diese ,,Revolutionare", und es entwickelt sich eine Gegenreaktion, die ausschliefllich dam dient, sich gegen das ungerichtete Veriin- dernwollen in dieser Wissenschaft zur Wehr zu setzen.

Eine Reaktion sowohl auf die Folgeerscheinungen der Franzosischen Revolution als auch auf die als revolutionar empfundenen Ideen, wie dieses seitens der Mediziner emp- funden wurde, die durch die Aufklirung geschult waren und nun mit ansehen mufiten, dafl die von der Naturphilosophie begeisterten jungeren Intellektuellen sich anschick- ten, neue - das heiflt im Vergleich zu den vorherrschenden Lehrmeinungen revolutio- nare - Ideen in die Heilkunde hineinzutragen, war der Ruckzug in das ,,Refugium Wis- senschaft". In diesem Refugium herrscht noch eine Ordnung, die tragfahiger zu sein versprach als die politische Ordnung.

Dieser Ausweg wurde von Goethe unmiflverstandlich in seinem Bericht uber die Bela- gerung von M a i m (1793) aufgezeigt. Er selbst sah es als den einzig richtigen Weg an33, voriibergehend

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in seiner stillen Werkstatt zu verharren, und das heilige Feuer der Wissenschaft und Kunst, und ware es auch nur als Funke unter der Asche, sorgfaltig zu hewahren, damit nach voriibergehender Kriegsnacht bei einbre- chenden Friedenstagen es an dern Promethischen Feuer nicht fehle. Der Ruckzug in das ,,Buch der Natur" wird als Schutzschild gegen die aui3eren chaoti- schen Zustande beniitzt, da das Buch der Natur immer des Forschens wiirdig ist, aber nicht die ,,Biicher der Menschen", die sie mit ihrer Geschichte schreiben, wie der Berli- ner Arzt Karl Georg Neumann 1815 ~ e r m e r k t ~ ~ .

Dieses ,,heilige Feuer der Wissenschaft" dient aber nicht nur als Schutzschild gegenuber den aui3eren politisch chaotischen Zustanden, sondern wird mit zu einer Keimzelle fur das Bewui3tsein uber die Rolle der nationalen Wissenschaft in den Befreiungsbewegungen gegen die aus Frankreich kommenden politischen Ideen und die Unterdriickung durch die Napoleonische Herrschaft. Dai3 Brandis sich gegen die ,,Freybeuter der antiphlogisti- schen Chemie" 35 wandte, deutet auf diese Nationalisierungstendenz in den Wissenschaf- ten hin. Fur Oken ist es eine ,,Schande fur Teutschland", dai3 die ansonsten in den meisten Wissenschaften iiberlegenen Deutschen in der Tierkunde 36 den Franzosen unterlegen sind. Wenn sich das nicht bald andere, wiirden die Zoologen ,,gezwungen sein [. . .,I die Sprache der Franzosen zu reden"37. Doch in der weiteren Argumentation ist eine bedeut- same Wende zu verzeichnen: Sind die Aui3erungen von Brandis und Oken unter anderem erst einmal ein Hinweis dafiir, die Bedeutung der deutschen Wissenschaft gegeniiber der franzosischen bewui3tzumachen und deutlich hervorzuheben, so werden in Opposition gegen das franzosische Element in den Wissenschaften Begriffskategorien aus der Revolu- tion verwandt. So benutzt Oken folgende Argumentation, urn den Wert der Naturge- schichte fur die Deutschen herauszustreichen 38:

Der hochste, letzte und einzige Werth der Naturgeschichte ist endlich die Erhehung eines Volkes zur allseiti- gen Bildung, die durch jene allein vollendet wird. Hier bedient sich Oken der Sprache der Revolutionare, wenn er fordert, dai3 nicht nur ,,ein Stand" - d. h. der Gelehrtenstand - , sondern das game Volk an den Vorteilen der Bildung teilhaben soll. Nur die mangelhafte Bildung habe bisher eine ,,undurch- dringliche Scheidewand zwischen beyden Standen" errichtet. Die Auslander, die Fran- zosen, haben bereits durch ,,heroische Resignation nach der Einsicht" erkannt, dai3 der Staat nicht seinen ,,Orient verlieren", der Gelehrte ,,Wissenschaft nicht zum Tagelohn" betreiben, der ,,Adel nicht verbauert" und der ,,Geistliche nicht burgerlich" werden darf39. Zu diesen Einsichten gelange man auch uber die Wissenschaft und eine richtige Umsetzung der Erkenntnis, die man aus der Betrachtung der Natur gewinnen konne. Dieses ist ein weitgestecktes Ziel, wobei Oken durch eine doppelte Negation zu den Idealen der Revolution gelangt.

Wesentlich haufiger ist eine andere Reaktion, die darin besteht aufzuzeigen, dai3 es einer Revolutionierung der Wissenschaften gar nicht bedarf, da in ihr bereits die Ideale der Revolution verwirklicht worden sind, wie es dem Titelzitat des Journals der Erfn- dungen, Theorien und Widerspriiche aus dem Jahr 1796 zu entnehmen ist40:

Die Medicin ist eine der wenigen Wissenschaften, deren Natur es mit sich hringt, daf3 eine ungeschiinkte Denkfreiheit in ihr Start findet; und es ist gewis der lacherlichste Despotismus von der Welt, nicht einem jeden volle Erlaubnif3 zuzugestehen, uber jeden Gegenstand derselben zu sagen, was er davon halt.

Ein viertel Jahrhundert spater sieht sich der Bonner Professor Moritz Ernst Adolph Naumann noch dazu veranlah, darauf hinzuweisen, dai3 sich die Wissenschaft des Vor- zuges erfreuen kann, dai3 in ihr kein Despotismus aufkommen kann oder Gewalt in ihr regiert 41:

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. . . in der Wissenschaft gibt es keine Fiirsren aus Zufall und Bettler, kein blinder Gehorsam und Furcht. Deshalb hatten sich die medizinischen Revolutionare den falschen Ort ausgesucht, da

sie nicht erkannt hatten42, dai3 es in der Arzneywissenschaft keine obersten Priester, kein gebotenes Dogma, aber auch keine Feudalrechte, iiber- haupt nichts gibt [. . .], was die Revolution in der politischen Welt eingeleitet hat, sondern vollige Freyheit zum Denken. Deshalb kann Harless auch das Ideal eines ,,wissenschaftlichen Republikanismus", 1819, beschreiben. Darunter versteht er 43 eine Republik des geistigen und kiinstlerischen Le- bens, die sich durch gegenseitige innere Anerkennung auszeichnet und die die Freiheit und Gleichheit unter dem Gesetz, gemeinschaftlicher Genuss der durch gemeinsamen Betrieb er- worbenen Besitzthiimer, Rechte und Vortheile zu einer Gesellschaft ohne Oberhaupt und ohne Archonten vereinigt.

Dieses sind Harless' Ausfuhrungen am Beginn seiner Bonner Lehrtatigkeit, in der er den Wunsch noch hinzufugt, dai3 die deutsche Universitat sich als eine Republik von Gelehrten darstellen sollte, damit, wie es den Deutschen eigen sei, durch die Universita- ten eine griindliche und umfassende Bildungsinstitution angeboten wird, die im Gegen- satz zu ,,den Specialschulen, wie sie hie und da nach franzosischer Sitte und Zersplitte- rung wollten aufgedrungen werden", stehe 44.

Auch wenn es sich bei den erwahnten Autoren teilweise um die Abwehr der Ideen der Naturphilosophie in der Medizin oder um die Uberfrachtung mit immer neuen Sy- stemen handelte, wenn sie von ,,Revolutionfiren" oder ,,Despotismus" sprechen oder die Denkfreiheit in den Wissenschaften beschworen 45, so zeigt sich doch in der Argumen- tationsweise und den darin verwandten Bildern, dai3 hier Ubertragungen aus dem Politi- schen in das Wissenschaftliche ubernommen worden sind. Diese Parallelisierung lai3t auf die Einstellung der Arzte zu der Franzosischen Revolution oder zum Revolutionie- ren als solchem Ruckschlusse zu: In den verwandten Bildern und Metaphern artikuliert sich diese Haltung. Immer wieder wird von den Autoren darauf hingewiesen, dai3 der Weg zu verniinftigen Reformen in der Medizin, die dann sogar zu einer besseren menschlichen Gesellschaft beitragen k o r ~ n e n ~ ~ , nur uber den Weg der Denk- und Handlungsfreiheit sowie der Autoritatsunabhangigkeit zu erreichen sei.

Durch diese Aui3erungen 1513t sich bei den Amen folgende Reaktion auf die Auswir- kungen der Franzosischen Revolution verzeichnen: Einerseits wird die Medizin durch uberwiegendes Stillschweigen gegenuber diesen weltpolitischen Ereignissen innerhalb der wissenschaftlichen Literatur vom Politischen freigehalten. Wird dieses Stillschwei- gen aufgegeben, so werden die politischen Ereignisse dafiir benutzt, sich gegen das Revo- lutionieren - gleichgiiltig in welcher Form - zu verwahren und solche Unternehmun- gen als vollig verfehlt fur die Medizin abzulehnen. Der Zustand der medizinischen Wis- senschaft dient ihnen als Gegenposition zu der politischen und sozialen Wirklichkeit. Sie wird als Refugium, als Ort der Realisierung aller Denk- und Handlungsfreiheiten stilisiert. Zur Charakterisierung dieses Refugiums bedienen sie sich der Sprachbilder, die durch die Franzosische Revolution hervorgebracht worden sind. Damit integrieren sie formal Ideen der politischen Ereignisse in die Medizin und entziehen sich damit der Auseinandersetzung.

Da stets nur abstrakt von ,,der Medizin" geredet wird, treten ihre Akteure - die Arzte - in den Hintergrund. Indirekt wird damit aber die Rolle des ,,unpolitischen Arztes" stabilisiert. Die Auseinandersetzung iiber die Medizin als eine gesellschaftlich beeinflus- sende und beeinflui3te Wissenschaft bleibt aus 47. Insofern konnte die Reaktion der

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deutschen Arzte auf die Folgen der Franzosischen Revolution - die ja in vielfaltigen Facetten erfolgte - als Bestatigung der Thesen von Karl Mannheim interpretiert wer- den. In Deutschland trafen die Ideen aus einem bereits entwickelten Gesellschaftszu- stand auf einen geistig hochstehenden, aber gesellschaftlich noch unterentwickelten Le- bensraum. Diese Einflusse wurden zwar voriibergehend versucht abzuwehren, sie wur- den dann aber in einer Weise umgebogen, dai3 sie dazu dienen konnten, die bestehende Ordnung in der Medizin zu rechtfertigen. Andererseits erfolgte durch das ,,plotzliche Ereignis" der Schellingschen Naturphilosophie 48 eine Revolution im Philosophisch- Weltanschaulichem, gegen das sich die ,,Medizin" letztlich nicht abschirmen konnte. Durch die Philosophie Schellings - und in bestimmten Bereichen auch durch Kants Kritische Philosophie 49 - wurden Grundfragen der medizinischen Wissenschaft be- riihrt, die zur Uberwindung der Grundlagenkrise der Medizin im ausgehenden 18. Jahr- hundert beitrugen 50.

1 Novalis zitiert nach J. Hegener: Die Poetisierung der Wissenschaft bei Novalis, dargestellt am ProzeB der Entwicklung von Welt und Menschheit. Studien zum Problem enzyklopadischen Welterfahrens. (Abhand- lungen zur Kunst-, Musik- und Literaturwissenschaft, 170) Bonn 1975, S. 373.

2 Ludwig Borne: Samtliche Schriften. Neu bearbeitet und herausgegeben von Inge und Peter Rippmann. Bd 2, Dreieich 1977, S. 617: Kritiken: u. C. Fr. Manso,] Geschichte des PreuBischen Staates vom Frieden zu Hubertusburg bis zur zweiten Pariser Abkunft [1820].

3 Jean Paul, zitiert nach G. de Bruyn: Das Leben Jean Paul Friedrich Richter. Eine Biographie. Frankfurt am Main 1978, S. 114.

4 Kurt von Raumer: Deutsche Geschichte um 1800: Krise und Neugestaltung 1789 bis 1815. (Kurt von Rau- mer/Manfred Botzenhart: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Teil 1 [Handbuch der Deutschen Ge- schichte, 3/11) Wiesbaden 1980, S. 24.

5 Johann Wolfgang von Goethe, zitiert nach Hans Georg Gerlach/Otto Herrmann (Hrsgg.): Goethe erzahlt sein Leben. Frankfurt am Main 1982, S. 391.

6 Vgl. dazu Hajo Holborn: Geschichte in der Neuzeit. Bd 2: 1790-1871. Miinchen 1970, S. 52. 7 Vgl. dazu Golo Mann: Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Frankfurt am Main 1959, S. 61. 8 Vgl. dazu Immanuel Kant: Streit der Fakultaten in drey Abschnitten [1798]. In: Werke in 10 Banden. Hrsg.

von Wilhelm Weischedel. Darmstadt 1975; hier Bd 9, S. 267-393, insbesondere S. 358ff. 9 Karl Mannheim: Das konservative Denken [ 19271. In: derselbe: Wissenschaftssoziologie. Auswahl aus dem

Werk. Hrsg. von Kurt H. Wolff. 2. Aufl. (Soziologische Texte, 28) Neuwied 1964, S. 449. 10 Vgl. dazu Richard Brinkmann: Romantik a l s Herausforderung. Zu ihrer wissenschaftsgeschichtlichen Re-

zeption. In: derselbe (Hrsg.): Romantik in Deutschland. (Sonderband der ,Deutschen Vierteljahrschrift fur Literatur und Geistesgeschichte', 52) Stuttgart 1978, S. 7-37.

11 Vgl. dam Henri Brunschwig: Gesellschaft und Romantik in PreuBen im 18. Jahrhundert. Die Krise des preuflischen Staates am Ende des 18. Jahrhunderts und die Entstehung der romantischen Mentalitat. Frankfurt am Main 1976; sowie K. von Raumer (wie Anm. 4); S. Haffner: PreuBen ohne Legende. Mun- chen 1981, darin Kap. 3 und 4; F. Schnabel: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Bd 2: Monarchie und Volkssouvednitat. Freiburg 1949. Eine Besratigung dieser modernen Geschichtsinterpretationen gibt Manso in seiner Geschichte des PreuBischen Staates, worin er als ,Zeitzeuge' das Ende des Aufklarungsstaa- tes miterlebt hat (vgl. dazu Anm. 2).

12 Novalis: Werke, Tagebiicher und Briefe. Hrsg. von H. J. Mahl und R. Samuel. Bd 1, Miinchen 1978, S. 100. 13 Manso, zitiert nach L. Borne (wie Anm. 2), S. 612. 14 L. Borne (wie Anm. 2), S . 617. 15 Th. R. Malthus: Vermehrungskraft und Lebensraum. In: G. Altner (Hrsg.): Der Darwinismus. Darmstadt

1981, S. 67. 16 Nach dem Sieg der Revolutionsarmee bei Valmy (20. September 1792) und dem Aufstieg der ,,Bergpartei"

mit Marat, Danton und Robespierre trat eine Wende in der revolutionaren Bewegung ein. Die daran an- schlieaenden Kampfe zwischen den einzelnen Gruppierungen, der Terror und die Verfolgungen fiihrten bei den Deutschen - zuerst begeisterten Verfechtern fur die Revolution - zu einer tiefen Resignation. J. Paul vermerkt zum Beispiel: ,,Goethe war weitsichtiger als die ganze Welt, da er schon den Anfang der Revolution so verachtete als wir das Ende" (ziriert nach G. de Bruyn [wie Anm. 31, S. 115).

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17 Politisch gesehen ist es die Zeit zwischen der Schlacht von Austerlitz/PreBburg (18O5/06) und der Volker- schlacht bei Leipzig (1813), in der Deutschland unter der Napoleonischen Herrschaft zu leiden hatte. Die Stimmung in Preui3en stand gegen das Konigshaus, welches um Neutralitat bemuht war. Es regten sich zunehmend Widerstande gegen diese Fremdherrschafr. Dai3 es moglich ist, sich gegen die bestehenden poli- tischen Zustande zur Wehr zu setzen, zu revolutionieren, war durch das franzosische Modell vorgelebt worden. Insofern ist es berechtigt, in diesem Zusammenhang auch von den ,,Auswirkungen" der Franzosi- schen Revolution zu sprechen, da in Deutschland zu dieser Zeit eine konkrete Auseinandersetzung mit dem Revolutionieren als solchem stattfand.

18 C. CrCve: Vom Metallreiz einem neuentdeckten untriiglichen Priifmittel des wahren Todes. Leipzig 1796, s. 2.

19 J. L. Casper: Charakteristik der franzosischen Medizin mit vergleichenden Hinblicken auf die englische. Leipzig 1822, S. 2.

20 Die medizinisck Fehde begann 1795 mit einem anonym verfai3ten Artikel im Neuen Teutscben Merkur mit dem Titel ,,Uber die Medicin. Arkesilias an Ekedemus". Als Autor wurde spater der Roschlaub-Schii- ler Johann Benjamin Erhard ermittelt. Heftige Kritik erfolgt durch Hufeland (1795) und dem Herausgeber des Merkur C. M. Wieland (1796). Dieser Streit setzt sich im Journal der Erfindungen, i'heorien und Wider- sprucbe (1796) fort. Inhaltlich geht es urn die Kritik an der herrschenden Medizin allgemein, ihrer System- losigkeit und ihrer mangelnden Wissenschaftlichkeit.

21 Vgl. dazu das Kapitel ,Das System als Einheit und Ordnung" in Brigitte Lohff: Die Suche nach der Wissen- schaftlichkeit der Physiologie in der Zeit der Romantik. Ein Beitrag zur Erkenntnisphilosophie der Medi- zin. (Medizin in Geschichte und Kultur, 17) Stuttgart 1989, S. 183-202.

22 Anonymus: Verteidigung der rationellen Arzneywissenschaft gegen die Angriffe auf dieselbe im Neuen Teutschen Merkur. Journal der Erfndungen, i'heorien und Wider5priicbe 5, 18. Stuck (1796), 71.

23 Anonymus (wie Anm. 22), S. 73. 24 A. W. Hecker: [Einleitungsartikel zum 1. Band]. Journal der Erfndungen, Theorin? und Widersprucbe 1

25 J. D. Brandis: Versuche iiber die Lebenskraft. Hannover 1795, S. XII. 26 Anonymus (wie Anm. 22), S. 107. 27 Vgl. H. von Leveling: Wie konnen medizinische Wissenschaften auch fur andere Staatsdiener auf Akademi-

28 A. Fr. Hecker: Allgemeine Betrachtungen iiber die gegenwartige Lage der Medicin, der Wissenschaft und

29 L. Oken: Entwicklung der wissenschaftlichen Systematik der Thiere. In: Derselbe/D. G. Kieser: Beitrige

30 J. Chr. G. Jorg: Critische Hefte fiir Arzte und Wundarzte. Heft 1, Leipzig 1822, S. 27-28. 31 Vgl. dazu Anm. 9. 32 Mannheim hebt in seiner Analyse hervor, dai3 in Preui3en auf das Revolutionieren des ,dritten Standes'

in Frankreich, mit einer ,Revolutionierung der Bourgeoisie' geantwortet wurde. In Preui3en offnete sich der Landadel und der biirgerliche Stand diesen Ideen, weil ,,die burgerlichen Elemente damals in Deutsch- land am wenigsten aktionsfahig waren" (K. Mannheim [wie Anm. 91, S. 450); ebenso K. von Raumer (wie Anm. 4), S. 28 ff.

33 Goethe: Belagerung von Mainz (1793), zitiert nach P. Boerner: Johann Wolfgang von Goethe in Selbstzeug- nissen und Bilddokumenten. Reinbek bei Hamburg 1964, S. 88.

34 K. G. Neumann: Von der Natur des Menschen oder Belehrung uber den innern Organismus des gebilde- ten Korpers und seines Geistes fur alle gebildeten Menschenklassen. Bd 1, Berlin 1815, S. 3f.

35 J. D. Brandis (wie Anm. 25), S. XII. 36 Damit bezieht sich Oken auf die Fortschritte in der Biologie, die seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhun-

derts vorwiegend von Frankreich ausgingen. Seit 1799 hatte Georg Cuvier die Professur fur vergleichende Anatomie, Jean Baptiste Lamarck hatte 1794 den Lehrstuhl fur Systematik und Etienne Geoffroy St. Hi- laire 1793 den fiir Zoologie iibernommen. Die Biologie erhielt durch diese drei groi3en Biologen, die alle an dem neuen College de France unterrichteten, welches Zusammenhang mit der Umgestaltung des gesam- ten Ausbildungswesen durch die Franzosische Revolution gegriindet worden war, enrscheidend neue Im- pulse. In Frankreich wurde durch diese drei Forscher ein wichtiges Kapitel der ,,Vorgeschichte der Evoluti- onstheorie" geschrieben.

(1793), 15.

en und Universitaten niitzlich und anwendbar gemacht werden? Landshut 1804.

Kunst. Annalen der gesarnrnten Medicin 1 (1810), 14.

zur vergleichenden Zoologie, Anatom,ie und Physiologie. Heft 1, Bamberg 1806, S. I.

37 L. Oken (wie Anm. 29), S. VII. 38 L. Oken: Uber den Wert der Naturgeschichte besonders fiir die Bildung der Deutschen. Jena 1809, S. 11. 39 L. Oken (wie Anm. 38), S. 14.

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40 Journal der Elfindungen, 7heonen und Widerspruche 4, 14. Stuck (1796). 41 M. E. A. Naumann: Uber die Grenze zwischen Philosophie und Naturwissenschaften. Leipzig 1823, S. 111. 42 J. C. G. Jorg (wie Anm. 30), S. 29. 43 J. Chr. F. Harless: Der Republikanismus in der Naturwissenschaft und der Medicin auf der Basis und der

44 J. C. F. Harless (wie Anm. 43), S. 82. 45 Die Verwirrung oder die vehemente Ablehnung, die bei vielen Arzten zu verzeichnen war, als Schellings

System der Natuvphilosophie sofort nach seinem Erscheinen 1799 die Denkweise, Sprache und Interpreta- tion medizinischer Phanomene beeinfluke, spiegelte sich auch in dieser antirevolutionaren Begrifflichkeit wider. Vgl. dazu B. Lohff (wie Anm. 21) S. 47-57: Die Bezugnahrne auf Schelling in der physiologischen Literatur.

46 So wird 2.B. von Ignaz Dollinger 1814 hervorgehoben, dai3 die Naturlehre bzw. Physiologie zur Vervoll- kommnung der Menschheit beitrage. Gerade Anatomie und Physiologie bewahrten vor der Einseitigkeit des Denkens und triigen zur ,,kSftigen Ruhe im Staatsleben" bei; vgl. I. Dollinger: Ueber den Werth und die Bedeutung der vergleichenden Anatomie. Wurzburg 1814, S. 29f.; ahnliche Auffassungen sind bei meh- reren Autoren der Zeit der Romantik zu finden (vgl. dazu B. Lohff [wie Anm. 211, S. 32-34).

47 Fur das vollig andere Verhalten einiger Arzte wahrend der Revolution von 1848 bietet sich folgende These an: Moglicherweise hat das unpolitische Verhalten der Arzte auf die Franzosische Revolution als ein Ge- genmodell gewirkt und in der Folge ein Empfinden dafiir geweckt, dai3 auch der Arzt aufgerufen ist, zu den politischen Ereignissen Stellung zu beziehen. Gerade das Thema ,,der unpolitische Arzt" bedarf noch einer detaillierten soziologisch-historischen Analyse. F. Kudlien bereitet dariiber gerade eine grogere Studie vor.

48 Vgl. dazu H. Links Ausspruch: ,,ein iibertriebener Hang zur Speculation, der plotzlich sich vieler Schrift- steller in Deutschland bemachtigt hat" (H. Link: Ideen zu einer philosophischen Naturkunde. Breslau 1814, S. 1) oder von dem gleichen Autor: ,Man komrnt zwar mit Schelling leicht in das Absolute hinein, aber nicht so leicht wieder heraus" (Uber Naturphilosophie. Leipzig 1806, S. 118).

Aegide des Eclecticismus. Bonn 1819, S. 2.

49 Vgl. B. Lohff (wie Anm. 21), Kap. 4, S. 42-60. 50 Vgl. Nelly Tsouyopoulos: Andreas Roschlaub und die Romantische Medizin. Die philosophischen Grund-

lagen der modernen Medizin. (Medizin in Geschichte und Kultur, 14); B. h h f f (wie Anm. 21).

Anschrift der Verfasserin: PD Dr. Brigitte Lohff, Christian-Albrechts-Universitat, Institut fur Geschichte der Medizin und Pharmazie, Brunswiker Strai3e 2, D-2300 Kiel.

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