Wenn du die Seiten dieses Buches durch die Finger laufen
lässt, fängt der kleine Drachen rechts unten an zu tanzen.
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Mein Leben ist im Eimer. Aber so was von
im Eimer!
Also erst mal für die nächsten drei bis sechs
Wochen. Aber das ist ja im Prinzip ’ne Ewig-
keit. Und alles bloß wegen der Bachmeise.
Frau Doktor Gerda Bachmeise.
Die Bachmeise ist die Ärztin von meiner
Mutter. Und weil meine Mutter mit mir und
meinen Geschwistern so viel zu tun hat, soll
sie jetzt auf Kur. Mindestens drei Wochen lang.
Vielleicht sogar länger.
Mutter-Kind-Kur nennt sich das. Weil die
Kinder nämlich mit kuren sollen. Will ich ja
aber gar nicht! Ich hab zwei kleine Schwes-
tern. Die müssen mit! Aber ich, ich bin schon
elf. Fast zwölf! Und ich hab so lange Theater
gemacht, bis meine Eltern gesagt haben: „Na
schön, du musst nicht mit.“
Da war ich dann zufrieden.
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Allerdings nur für zwei Tage. Denn dann
sagten meine Eltern, sie hätten gute Nach-
richten! (Das ist ja schon sehr verdächtig!)
Nämlich: Ich könnte zu Opa Ignatz für die Zeit,
in der Mama und meine Schwestern auf Kur
sind. Denn dann sind ja Sommerferien.
Ja, klasse! Was soll ich denn bitteschön bei
Opa Ignatz? Der lebt in ’nem winzigen Kaff in
Bayern. Eigentlich ganz nett da. So für ’nen
Nachmittag mit Kaff eetrinken. Aber dann
fahren wir immer gleich wieder heim. Und
plötzlich soll ich da mindestens drei Wochen
wohnen? Geht’s noch???
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Tja. Meine Eltern meinten, entweder Kur oder
Opa Ignatz. Weil nämlich mein Papa in den
Ferien arbeiten muss und ich wäre noch nicht
alt genug, um die ganze Zeit allein zu Hause
zu bleiben. Klasse, oder? Ich hatte also die
Wahl zwischen Rotz und Schnotz. Und hab
mich für Schnotz entschieden. Drei Wochen
Bayern. Mindestens. Mit Opa Ignatz.
Vielen Dank, Frau Doktor Bachmeise! Das
werden sicher wunderbare Ferien! Morgens
reinigen wir Opa Ignatz’ Gebiss. Mittags kochen
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wir Nudelsuppe und abends gehen wir um
halb 6 ins Bett, damit wir morgens wieder fi t
sind fürs Gebissputzen.
Wie schon gesagt: Mein Leben ist im Eimer.
***Mein Name ist übrigens Julius.
Nein, ohne Cäsar! Den Witz könnt ihr euch
sparen, den habe ich schon oft genug gehört.
Julius Sommer. Julius Ignatz Wilhelm Sommer,
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wenn ihr’s genau wissen wollt. Aber die zwei
anderen Namen sind streng geheim. Die habe
ich von meinen beiden Opas geerbt und zwar
zu ’ner Zeit, als ich mich noch nicht dagegen
wehren konnte. Wer will schon Ignatz Wilhelm
heißen? Ich nicht! Also sag ich’s keinem und
damit ist das Problem soweit gelöst.
Dieses Buch hier habe ich übrigens von
meinem Opa Wilhelm bekommen. Opa Wil-
helm wohnt im selben Ort wie wir. Er hat mir
das dicke Buch in die Hand gedrückt und ge-
sagt, in Bayern hätte ich dann genug Papier
für mein Gekritzel.
Was er damit sagen will ist, dass ich gerne
zeichne. Ich zeichne dauernd. Zu Hause, im
Unterricht, im Restaurant. Meine Hand macht
das von ganz alleine. Ich kritzel so rum und
dann kommen Bilder aus dem Stift. Wenn ich
zeichne, kann ich besser zuhören und mich
besser kon zen trie ren.
Meine Lehrer und meine Eltern fi nden das
nicht ganz so klasse, weil in jedem Heft, in
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jedem Schulbuch und auf jedem Block Zeich-
nungen von mir sind. Ich weiß manchmal gar
nicht so genau, wo die herkommen. Schwupp-
diwupp Kartoff elsupp sind sie da. Und dann
gibt’s meistens Ärger, weil man natürlich die
Hefte und Bücher nicht vollkritzeln sollte . . .
Tja, jedenfalls dachte Opa Wilhelm, ich
könnte das Papier für drei bis sechs Wochen
Bayern dringend gebrauchen. Vermutlich hat
er recht. Was soll man auch sonst in dem Kaff
anfangen? Außer der Sache mit dem Gebiss
fällt mich echt nix ein. Ich hab beschlossen,
dass ich in das Buch nicht nur zeichnen werde,
sondern auch schreiben.
Die letzten Worte des Julius Sommer. Oder
so.
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Normalerweise sind die letzten Tage vor den
Sommerferien genial. In der Schule ist kaum
mehr was los. Hier noch ’n Sportfest, da noch
’ne Party. Und dann sind sie da, die Ferien.
Sechs wunderschöne lange hausaufga-
ben-freie Wochen. Lange aufbleiben. Freibad.
Lagerfeuer. Ferien am Meer . . .
Dieses Jahr waren die letzten Tage eine
Qual. Alle sind aufgeregt und freuen sich wie
blöde. Auf Italien. Spanien. Schweden. Ein
Zeltlager. Ne Fahrradtour.
Und ich? Ich freu mich auf Opa Ignatz so
sehr, wie ich mich gefreut habe, als mein
Zahnarzt mir den vorderen Schneidezahn zie-
hen musste, weil jemand beim Hockey mit
dem Schläger zu weit ausgeholt hatte . . . Ich
war sieben Jahre alt und es war zum Glück
noch ein Milchzahn, aber oh Mann, das war
vielleicht übel.
Meine Kumpels packen ihre Badeklamotten
und Luftmatratzen ein. Zwei meiner Freunde
dürfen sogar auf ein Fußballcamp! Und ich?
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Ich fahr nach Bayern. Spitze . . . Papa hat mich
die ganze Woche versucht zu trösten. Er
meint, dass viele Leute in den Sommerferien
nach Bayern fahren. Und dass es dort wirklich
schön sei. Und dass er ja schließlich auch mal
dort gelebt hätte. In meinem Alter . . .
Ja. Is klar. Aber als Papa so alt war wie ich,
war Opa Ignatz ja auch noch kein Opa, son-
dern bloß Papa. Er hatte bestimmt noch
alle seine Zähne und brauchte kein Gebiss.
Er konnte noch kicken, schwimmen und radeln.
Aber Opa Ignatz heute? Das ist ja wohl mal
voll krass was anderes! Wenn wir heute bei
Opa Ignatz sind, dann gehen wir höchstens
zum Entenweiher und werfen Brotkrümel rein.
Meine Schwestern fi nden das klasse. Die sind
vier und sechs Jahre alt.
Klar, als ich vier war, fand ich das auch
spitze. Aber hallo? Ich bin fast zwölf!!! Ich ver-
suche dann, mit den Brotkrümeln die Enten
abzuwerfen. Aber mit Krümeln lässt sich blöd
zielen . . .
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Jetzt ist es dann gleich soweit. Papa fährt
mit mir heute zu Opa Ignatz und seinem
Entenweiher. Ich schreib dann heute Abend
weiter . . .
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Mama ist mit meinen Schwestern zu Hause
geblieben. Die fahren erst übermorgen und
haben mit dem Koff erpacken alle Hände voll
zu tun. Also hat nur Papa mich gefahren. Ich
fand’s echt doof, dass Mama nicht mitfahren
konnte. Es gibt so Zeiten, da braucht ein Junge
eben auch seine Mama. Groß und tapfer und
vernünftig sein ist dann halt mal nicht so an-
gesagt. Auch wenn man im Frühling schon
zwölf wird. Mama fand das glaub ich auch. Wir
haben heimlich ein bisschen zusammen in der
Küche geheult. Aber wirklich nur kurz.
Die Fahrt ist immer ziemlich lang. Zum
Glück sind wir zweimal (!) auf ’ne Raststätte
und haben Burger verdrückt. Zu Hause gibt’s
so was nicht! Wir haben Hörbücher gehört
und gequatscht. Ich durfte sogar vorne sitzen.
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Sonst sitzt da immer meine Mutter. Die ganze
Zeit hab ich mir vorgestellt, wir machen bloß
’nen kleinen Ausfl ug und kommen abends
wieder heim. Aber natürlich wusste ich ganz
genau, dass das nicht stimmt.
Nach einer Ewigkeit sind wir dann ange-
kommen. Na ja gut, also nach über vier Stun-
den. Weil wir so viel Stau hatten. Opa Ignatz
hat sich gefreut wie Bolle. Und ich mag ihn
echt gern. Aber halt nicht für so lange. Allein.
Papa blieb noch zum Kaff eetrinken (wie im-
mer) und ist dann gleich wieder zurück nach
Hause. Und jetzt bin ich hier. In Bayern. Und
ich könnte schreien! Mach ich natürlich nicht.
Ich bin ja ach so groß und vernünftig.
Mein Zimmer ist das frühere Kinderzim-
mer von meinem Papa und Onkel Josef. Na-
türlich stehen hier keine Kinderbettchen und
so mehr drin. Aber in dem alten Schrank, bei
dem die Türen immer klemmen, liegen noch
Papas Comicsammlung, ein altes selbstge-
bautes Segelschiff chen und uralte Brettspiele.
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Daneben sind viele freie Regalböden. Da darf
ich meine Klamotten reinpfeff ern. Hab aber
gerade keinen Bock. Ehrlich gesagt: Solange
das Zeug noch im Koff er liegt, habe ich das
Gefühl, ich wäre nur auf der Durchreise.
Oh Mann, ich glaube, ich hatte noch nie
in meinem Leben so bescheuerte Sommer-
ferien! Meine Freunde sitzen jetzt im Flugzeug
oder schon am Strand. Und ich? Ich sitze in
dem alten Kinderzimmer meines Vaters.
Ganz, ganz toll . . .
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Die erste Nacht in ’nem fremden Zimmer ist im-
mer komisch. Die Bettdecke fühlt sich anders
an. Das Kissen riecht nicht so wie zu Hause.
Und dann die Geräusche! Da kratzt irgendwas
auf dem Dach. Und Opa Ignatz schnarcht so
laut, dass ich ihn bis ins Kinderzimmer gehört
habe. Dabei schläft er am anderen Ende des
Flurs! Vielleicht ist sein Schnarchen deshalb so
laut, weil er nachts das Gebiss rausnimmt. Da
ist ja dann viel mehr Platz im Mund und das
hallt dann so, wie der Fahrradtunnel auf mei-
nem Schulweg.
Zum Frühstück gab es frische Brötchen.
Opa Ignatz ist extra zum Bäcker geradelt. Echt
nett. Wie gesagt: Ich mag meinen Opa. Aber
Sommerferien sind Sommerferien. Und Opas
sind eben . . . tja, Opas.
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Beim Frühstück meinte er dann: „Kannst ja
mal mit dem Radel zum Weiher!“
Ich: „Äh, und was soll ich da?“
Er: „Schwimmen!“
Ich: „Was? In der Entenplörre?“
Er: „Davon ist noch keiner gestorben.“
Ich: „Ja . . . klar! Ihr Bayern seid dagegen
wahrscheinlich immun!“
Er: (lacht) „Genauso ist es!“
Ich sehe das schon genau vor mir: Wie ich
im See schwimme und diese riesige Ente an-
kommt und frech grinst, bevor sie klamm-
heimlich ins Wasser pupst. Aber mit dem Rad
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mal die Gegend abfahren ist vielleicht gar
keine schlechte Idee . . .
***Ich war dann tatsächlich auch am Entenwei-
her. Und was mir da passiert ist . . . das glaubt
mir keiner! Echt jetzt! Aber ich fange mal lie-
ber von vorne an.
Habe also meinem Opa gesagt, dass ich mit
dem Rad ein bisschen rumkurven will. Was ich
vergessen hatte war, dass mein Opa nur so
eine uralte Klapperkiste besitzt. Das Ding ist
brutal schwer, hat nur einen einzigen Gang
und die Schutzbleche wippen auf und ab,
wenn man über den Bordstein fährt. Aber im-
merhin: Es fährt! In Opas Kaff gibt’s nicht viel
zu sehen. Da gibt’s den Bäcker, den Getränke-
fuzzi, ’ne Werkstatt und ’nen kleinen Super-
markt, der gleichzeitig die Post ist. Der Ort sel-
ber hat vielleicht 15 Straßen. Fährt man fünf
Minuten in die eine Richtung (egal in welche),
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ist man aus dem Dorf schon wieder draußen.
Tja, was soll ich sagen. Hat man quasi schnell
gesehen.
Aber direkt hinter Opas Haus ist ein kleiner
Weg. Der führt an Wiesen entlang über einen
Hügel und dann in einen kleinen Wald. Wenn
man da immer weiterfährt, kommt man zum
Entenweiher. Und da bin ich dann doch hin.
Auch wenn ich gar nicht schwimmen wollte.
Ich rumpel also über die Wege und die
Schutzbleche klappern so vor sich hin und da
hör ich was. Erst dachte ich, es wäre ein Tier.
Aber dann war da so ein Gurgeln und spitze
Schreie. Ziemlich unheimlich. Ich hab, ehrlich
gesagt, ziemlich Schiss bekommen und wollte
schon umkehren. Aber dann war da die Neu-
gier und ich bin vom Rad gesprungen, hab’s
zwischen die Bäume gepfeff ert und bin zum
Weiher geschlichen. Und auch, wenn ich das
vermutlich niemals jemandem erzählen kann
– weil mich alle für total durchgeknallt halten
würden –, schreibe ich es wenigstens auf:
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Die Schreie und das Gurgeln kamen von
einem . . . äh . . . winzigen Wesen. Dieses „Ding“
schwamm mitten auf dem Weiher. Na ja,
schwamm ist vielleicht übertrieben. Es ging
nämlich gerade unter. Und dabei machte es
’ne Menge Lärm und spritzte und schimpfte
und gurgelte.
Ich konnte einfach nicht erkennen, was es
war und ging etwas näher ran. Aber sehen
konnte ich nur Blasen und Wassergespritze.
Tja, und so bin ich dann doch noch schwim-
men gewesen. In der Entenplörre.