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Page 1: Editorial: Lesen in irdischen Archiven

| E D I TO R I A L

Licht in das Dunkel seiner eigenen Vergangenheit zu brin-gen, ist eines der Urbestrebungen des Menschen. Dies

betrifft einerseits die Evolution des Lebens und damit dieEntwicklung des Menschen. Andererseits bilden Entstehungund Wandel der Erde,und damit der Lebenssphäre des Men-schen, einen weiteren Forschungsschwerpunkt. Wissen-schaftliches Arbeiten auf diesem Gebiet verlangt notwen-digerweise Altersbestimmungsmethoden.

Geologen entwickelten zum Ende des 18. Jahrhundertseine erste relative Zeitskala durch den Vergleich von

Gesteinsschichten und deren Fossilien. Das tatsächliche Alter der Erde und die Dauer der verschiedenen Erdzeit-alter konnten sie aber nur schätzen. Eine Berechnung LordKelvins von 1862 ergab zum Beispiel für das Erdalter einenBereich von 20 bis 40 Millionen Jahren. Nach der Ent-deckung der Radioaktivität im Jahre 1896 wurden radio-metrische Methoden zur Altersbestimmung entwickelt, diees zum ersten Mal erlaubten,die relativegeologische Zeiteinteilung absolut zu datieren.Weitere physikalische und che-mische Methoden folgten rasch nach.Aber für die Datierung von archäologi-schen Funden aus der Zeit vor den er-sten schriftlich überlieferten Quellengab es weiterhin kaum geeignete abso-lute Methoden. Daher löste die Einführung der Radiokar-bonmethode 1948 durch Williard F. Libby eine Revolutionaus. Zum ersten Mal waren in dem für die Menschheitsge-schichte so wichtigen Zeitraum der letzten 50000 Jahre Altersbestimmungen möglich.

Physiker spielten bei der Entwicklung und Anwendungneuer Datierungsmethoden häufig die treibende Rolle.

Damit ist dieser Zweig der Forschung ein hervorragendesBeispiel für eine echte multidisziplinäre Zusammenarbeit,die eine Fülle interessanter Ergebnisse geliefert hat.Dies istauch der Grund,warum Physik in unserer Zeit dem Gebietder Archäometrie immer wieder Platz bietet. Beispiele ausder jüngeren Zeit sind: Röntgenanalyse in der Kunst (Aus-gabe 2/03), Xerxes falsche Tochter (1/03), Klimaarchiv imGrundwasser (4/02), Isotopenthermometer im ewigen Eis(3/01) und Sortieren von Atomen One by One (5/00). Auchin diesem Heft finden Sie einen Aufsatz aus diesem Gebietvon Günther A. Wagner und Kollegen. Hinter dem Titel Kaltes Leuchten erhellt die Vergangenheit verbergen sichdie vielfältigen Möglichkeiten, die Thermolumineszenz zur

Altersbestimmung von Mineralien und Keramiken einzu-setzen.

Was aber haben alle diese Artikel gemeinsam? Warumist die Kenntnis der Vergangenheit für uns Menschen

so wichtig, dass Naturwissenschaftler die vielfältigsten Methoden ersinnen, um Licht in das Dunkel zu bringen?

Die genannten Artikel beschäftigen sich alle mit unter-schiedlichsten „Archiven“ aus der Vergangenheit, wie

Inlandeis, Gletscher, Holz, Knochen Sedimente, Korallen-riffe oder Grundwasser. Die wissenschaftlichen Untersu-chungen dieser Archive fußen alle auf den gleichen oderähnlichen Verfahren. So werden unter anderem chemischeAnalysen durchgeführt und die Isotopenzusammensetzungermittelt.Wird, wie im Falle von Gletschereis-Bohrkernen,das Verhältnis der stabilen Sauerstoffisotope bestimmt,so er-möglicht dies eine Rekonstruktion der Temperatur und da-

mit der Erdklimageschichte der letzten500000 Jahre.

Und dies, so zeigt sich immer mehr,dient nicht nur dem bloßen akade-

mischen Interesse. Die Vergangenheit istmanchmal auch der Schlüssel zur Zu-kunft. So sollen die dem Kyoto-Protokoll

zu Grunde liegenden numerischen Klimamodelle diezukünftige Entwicklung des Weltklimas vorhersagen. DieZuverlässigkeit der Modelle prüft man an Hand der Fähig-keit, die ein Modell hat, das Verhalten des vergangenen Kli-mas ohne den menschlichen Einfluss korrekt wiederzu-geben. Infolgedessen werden gesellschaftspolitische Ent-scheidungen, die uns alle angehen, auf Grundlage dieserForschungsergebnisse gefällt.

Vielleicht sollten Sie diesen Hintergrund im Kopfbehalten,wenn Sie den Artikel über das Kalte Leuchten

aus der Vergangenheit lesen.Der dem anatomisch modernenMenschen mehr als nahe stehende Neandertaler musste,bedingt durch natürliche Umweltveränderungen, aus-sterben. Vielleicht haben wir mehr Glück, wenn wir mitunserem Wissen die Möglichkeit haben, die Vergangenheitals Schlüssel zur Zukunft zu nutzen.

Lesen in irdischen Archiven

Dr. GerhardMorgenroth istfür die Radio-karbon-Datierungan der UniversitätErlangenverantwortlich.

DIE VERGANGENHEIT

IST AUCH EIN SCHLÜSSEL

ZUR ZUKUNF T

Nr. 4 | 34. Jahrgang 2003 | Phys. Unserer Zeit | 151

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