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Katholisch-Theologische Privatuniversität Linz
Institut für Kunstwissenschaft und Philosophie
Seminar: Religion als Thema in der Kunst und Philosophie der Gegenwart
Sommersemester 2013
Leitung: Prof.in Monika Leisch-Kiesl / Prof. Florian Uhl
Eine Betrachtung von
Van Goghs „Die Kirche“
mit der
kunstwissenschaftlichen Methode
der Ikonik
David Lang
Am Nordsaum 10
4050 Traun
26.10.2014
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Inhaltsverzeichnis
1 Einführung und einleitende Fragen 3
2 Die Ikonik 5
3 Das Bild 7
4 Studien zum Bild 11
5 Integration der Ikonographie und Ikonologie 17
6 Versuch eines theologischen Grundrisses 19
7 Biografisches 21
8 Religiöse Motive 23
9 Das weitere Schaffen des Künstlers 26
10 Eine Kunstgeschichte ohne Namen? 27
11 Resümee 29
Literaturliste 32
Abbildungsverzeichnis und Internet-Datei 33
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1. Einführung und einleitende Fragen
Abb. 1, Vincent van Gogh, Die Kirche, 1882
„Das Kunstwerk hat eine hermeneutische Dimension,
es lehrt uns, die Wirklichkeit zu verstehen“.1
Günter Rombold
1 Rombold, Günter, in: Schmied 14
4
Kann Kunst dem Menschen Wirklichkeit lehren? Wenn Kunst einen Weltzugang
und eine Erklärung der Wirklichkeit bietet, ist es lohnend, sich ihr zu widmen. Wir
würden in ihr und durch sie ähnliche Möglichkeiten vorfinden, wie in der Philosophie
und Religion.
Das Thema Kunst hat die Philosophie seit ihren Anfängen beschäftigt gehalten. Was ist
„schön“, und warum ist das Schöne schön? Ist Kunst ein schwacher Abglanz des
Schönen der Ideenwelt? Ist sie ein Medium, ein Träger einer Botschaft? Handelt es sich
bei der Kunst um Nachahmung der Natur? Kommt in der Kunst ein Allgemeines zur
Geltung? Gibt es dafür psychologische Gründe? Entfaltet sich in der Kunst der Geist
des Menschen? Keine bedeutende Strömung in der Philosophie konnte Fragen zur
Kunst übergehen.
Je vielfältiger die Fragen wurden, desto vielfältiger waren die Antworten. Die großen
Philosophen (sofern überhaupt eine solche Wertung angebracht erscheint) hatten nicht
nur ihre Auseinandersetzungen zu Themen des Seins, der Existenz und Bestimmung des
Menschen, oder welcher Weg zu wahrer Erkenntnis führen würde — ihre
Auseinandersetzungen betrafen und betreffen auch die Kunst.
Die Kunst im christlichen Abendland war über Jahrhunderte hinweg eine größtenteils
religiöse Kunst, eng verbunden mit dem Bau von Kirchen, mit der Darstellung religiöser
Szenen aus der Bibel durch Mosaik oder Bildern und der Verwendung religiöser
Symbole wie dem Kreuz. Als im Zuge der historischen Moderne im frühen 19.
Jahrhundert durch soziale Entwicklungen das Bürgertum die führende Funktion
übernahm, welche ehemals Adel und Kirche innehatten, änderte sich auch das
Verhältnis der Kunst zur Religion und zur Welt.2 Einem festen religiösen Weltbild
standen Künstler gegenüber, die jetzt die Welt auf ihre Art und Weise interpretierten.3
Besonders gegen Ende des 19. Jahrhunderts begannen Künstler, ihren Kunstwerken eine
persönliche Handschrift zu geben welche auf Traditionen und Dogmen irgendwelcher 2 Vgl. Bonnet 153 Vgl. Ders. 19
5
Art verzichtete. Dass zwischen christlicher Religion und der Kunst der Moderne ein
Spannungsverhältnis entstehen musste, scheint unausweichlich.
Bedeutete das allerdings, dass moderne Kunst, die Kunst der Avantgarde, anti-religiös
war? Wenn Kunst dem Menschen Wirklichkeit lehren kann, wie Günter Rombold
meinte, dann wären die Gründe, warum der Mensch Kunst schafft und warum er
Religion betreibt, einander ähnlich.
Welche Möglichkeiten gibt es, bei einem Kunstwerk Spuren der Wirklichkeit zu
erkennen?
In der Folge möchte wir uns einem Gemälde widmen. Gibt es Wahrheiten, die dieses
Bild aufzeigt? Gibt dieses Bild Aufschluss über das Verhältnis der modernen Kunst zur
Religion? Annähern möchten wir uns diesem Kunstwerk mit der Methode der Ikonik.
2. Die Ikonik
Der Kunsthistoriker Max Imdahl entwarf eine Wissenschaft, die es sich zur
Aufgabe setzen sollte, die spezifische Aussagefähigkeit eines Bildes in den Mittelpunkt
zu stellen. Diese leidet, wenn beispielsweise dem geistesgeschichtlichen Hintergrund,
welcher zu der Zeit wirkte, als das Kunstwerk entstand, zu viel Aufmerksamkeit
geschenkt werden würde. Kunstwerke wären mehr als lediglich geistesgeschichtliche
Zeugnisse. Auch die Frage, wann wo welches Motiv es schon in der Kunstgeschichte
gab, könnte zu einer Entwertung des Kunstwerkes sowie zu Über-Interpretationen
führen, würde einem solchen Thema zu viel Aufmerksamkeit geschenkt werden.
Imdahl setzte es sich daher zur Aufgabe, das eigentliche Bildvermögen zu ergründen
sowie die bildsprachlichen Mittel eines Kunstwerkes zu verdeutlichen. Dies gelang ihm,
indem er, beispielsweise wie in seinem Werk über Giotto, Proportionen im Bild
veränderte um damit die Aussagekraft des Originals zu verdeutlichen.4
4 Vgl. Brassat, Kohle 77, 78 ff.
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Die Schlussfolgerung, die sich aus einer solchen Herangehensweise an ein Bild ergeben
kann, wirft allerdings weitere Fragen auf. Man könnte angesichts der Veränderungen am
Bild, oder falls man es seitenverkehrt darstellen würde, zu der Schlussfolgerung
gelangen, dass das eigentliche Kunstwerk so hat werden müssen, wie es geworden ist.
Das wiederum könnte die Frage aufwerfen, ob etwa das „richtige“ Bild ein Abbild von
etwas anderem wäre, und schon befinden wir uns einer Form des Platonismus, wo wir
das ideale Bild in der Welt der Ideen vermuten könnten. Provokant ausgedrückt, könnte
das Bild auch als eine Art religiöser Offenbarung betrachtet werden, als eine Art
unverrückbare Wahrheit.
Imdahl konzentrierte sich in seinen Bestrebungen auf ein „reines Sehen“, wie es schon
der Kunsttheoretiker Konrad Fiedler in radikaler Weise forderte: Ein Sehen, dass alle
Gedanken und Begrifflichkeiten ausblendet, ein Sehen um des Sehens willen.
Kunstvermittlung findet allerdings auf Basis der Sprache statt. Durch Sprache und
Verwendung von notwendigen Begriffen entstehen allerdings Einbußen in der
ästhetischen Wahrnehmung.
Wenn wir nun uns einem Kunstwerk annähern, versuchen wir vorerst, einfach nur zu
sehen, was es zu sehen gibt, und alles Wissen, das wir über das Kunstwerk zu haben
meinen, ausblenden. Auch werden wir die Frage ansprechen, welche Auswirkungen es
haben würde, wäre das Bild anders gemalt worden.
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3. Das Bild
Das Bild (Abb.1), dessen Titel wir vorerst nicht erörtern, zeigt die Darstellung
von zwölf Menschen. Wir können also etwas erkennen, was uns bekannt ist. Die
Körperhaltung lässt darauf schließen, dass die dargestellten Personen sitzen. Sie
befinden sich offensichtlich nicht im Freien sondern in einer Architektur, die darauf
ausgerichtet zu sein scheint, dass sich Menschen in ihr aufhalten und dort Platz nehmen.
Die Sitzenden sind aufgeteilt auf drei Reihen, denen der Rezipient im Bild frontal
gegenübersteht. Das Mobiliar, auf dem sie offensichtlich sitzen, ist verdeckt. In der
ersten Reihe sehen wir ein durchgehendes Pult oder eine Ablage. Offensichtlich ist
ähnliches Mobiliar auch in der mittleren und hinteren Sitzreihe in Verwendung.
In der ersten Reihe sitzen drei Frauen, sie sind in ihrer Körperhaltung mit ihrem Gesicht
nach vorne, zum Rezipienten hin, ausgerichtet.
Die erste von links unterscheidet sich von allen anderen Personen in diesem Bild in der
erscheinenden Gesichtsfarbe sowie in den vom KünstlerIn (welche(n) wir auch noch
nicht erörtern) relativ klar dargestellten Gesichtszügen. Die Gesichtsfarbe dieser Frau ist
einerseits blass, andererseits auch dem Farbtongebung des gesamtes Bildes angepasst.
Diese ältere Frau blickt auf ein vor ihr liegendes aufgeschlagenes Buch. Ihr
Gesichtsausdruck ist nachdenklich und traurig. Während ihr Gesicht relativ klar in
Erscheinung tritt, erscheint manches am sichtbaren Oberkörper, welcher mit Mantel und
Schal bekleidet sein dürfte, verwaschen.
Die Frau in der Mitte der ersten Reihe scheint zu schlafen, zumindest sind ihre Augen
geschlossen. Ihr Gesichtsausdruck ist nicht nur der einer müden, vielleicht schlafenden
Person. Auch hier ist ein gewisses Deprimiert-Sein erkennbar. Sie hat ebenfalls vor sich
ein Buch liegen, dieses ist allerdings geschlossen. Die Frau trägt eine fast strahlend
weiße Kopfbedeckung. Sie ist eingehüllt in eine Art grüner Umhang, welcher durch
seine Farbgebung im Bild auffällt. Was auch auffällt, ist der möglicherweise
8
provokative Versuch des KünstlersIn, dem grünen Umhang dieser Frau ein kariertes
Muster zu verpassen. Mit groben, weißen Pinselstrichen erscheinen unfertige,
rechteckige Raster auf dem grünen Umhang und erwecken den Eindruck einer
„Unfertig-keit“.
Die dritte Person in der ersten Reihe, vom Rezipienten aus gesehen die erste von rechts,
ist wiederum eine Frau. Sie hat fülliges, schwarzes Haar und trägt keine
Kopfbedeckung. Sie scheint jünger zu sein, als die anderen dargestellten Frauen auf
dem Bild. Ihr Kopf ist vom Rezipienten aus gesehen nach rechts geneigt. Im Gegensatz
zu den anderen beiden Frauen in der ersten Reihe liegt vor ihr kein Buch, ihr Arm liegt
auf dem Pult jenes Mobiliars, auf dem bereits zwei Bücher liegen. Sie stützt mit ihrer
linken Hand ihren Kopf. Die Augen dürften geöffnet sein. Die Frau wirkt müde,
deprimiert und gelangweilt.
Die Personen in der Reihe in der mittleren und hinteren Reihe müssten zwar vom
Mobiliar her, welches parallel zum Mobiliar der ersten Reihe zu verlaufen scheint,
ebenfalls in ihrer Vorderansicht sichtbar werden. Allerdings fällt hier auf, dass diese
Menschen vom MalerIn in der Seitenansicht dargestellt werden. Möglicherweise ist ihre
Aufmerksamkeit (sofern diese Begrifflichkeit passend erscheint) auf etwas außerhalb
des Bildes gerichtet.
In der zweiten Reihe sitzen fünf Menschen, drei erwachsene Männer, eine ältere Frau
und ein junger Mensch, möglicherweise ein Jüngling.
Die erste Person links, ein Mann im reifen Alter mit leichten Bart und Halbglatze, trägt
als einziger aller Dargestellten eine Brille. Obwohl die Brille deutlich erkennbar ist,
„vergisst“ der MalerIn auf die Augen des Mannes. Sind sie geschlossen, oder vielleicht
gar nicht gemalt? Die Haltung seines Kopfes könnte zur der Vermutung führen, dass er
Dargestellte als Einziger eine gewissen Aufmerksamkeit dem entgegenbringen zu
scheint, was offensichtlich außerhalb des Bildes geschieht.
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Der Jüngling, die zweite Person von rechts in der zweiten Reihe, ist völlig zur, vom
Rezipienten aus gesehen, rechten Seite geneigt. Er hat das einzig sichtbare Auge
geöffnet und hat einen gleichgültigen Gesichtsausdruck.
Der ältere Mann rechts von ihm, in der Mitte der zweiten Reihe, trägt eine
Kopfbedeckung, der Kopf ist zur Seite sowie nach unten geneigt. Das für dem
Rezipienten lediglich angedeutete Auge könnte geschlossen sein. Selbst wenn dem nicht
so ist, wirkt der Mann auf jeden Fall müde.
Die Frau neben ihn scheint sich an den nächsten Mann anzulehnen. Sie trägt eine
Kopfbedeckung. Falls kein Anlehnen an den nächsten Mann dargestellt wird, macht sie
doch einen gebückten Einruck. Sie wirkt müde und traurig.
Der Mann neben ihr, der erste von rechts in der mittleren Reihe, kahl am Kopf und mit
Doppelkinn, macht so wie die Frau vor ihm in der ersten Reihe einen nachdenklichen
Eindruck.
Die dargestellten Personen in der dritten, hinteren Reihe, ähneln in ihren Darstellungen
denen in den beiden Reihen davor.
Links sehen wir als ersten ebenfalls einen Mann mit Mütze, den Blick nach unten
gerichtet.
Der zweite Mann von links ebenfalls mit einem kahlen Kopf, Bart und etwas mehr dem
Rezipienten zugewandt, mit einem offenen Auge, das andere Auge ist eher angedeutet
als deutlich erkennbar.
Der dritte Mann von links in der letzten Reihe trägt einen Zylinder. Er erscheint mit
einem großen, glatten Gesicht. Er schläft möglicherweise. Die Frau neben ihn, die erste
Person von rechts in der letzten Reihe, blickt besorgt und ernst.
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Grundsätzlich kann gesagt werden, dass das Bild in den Raum geht, allerdings können
Zweifel entstehen, ob die Größenverhältnisse der dargestellten Personen realistisch
dargestellt werden. So erscheint der Mann mit dem Zylinder als größte Person, obwohl
er eigentlich ganz hinten sitzt.
Das Kolorit des Gemäldes zeichnet sich durch Düsterheit aus, es überwiegen die Braun-
Töne, zudem kommen Schwarz, Weiß und Grau. Die spärlich vorkommenden Farben
Blau und Grün spielen in der Gesamtkomposition eine eher untergeordnete Rolle. Das
Licht findet im Gemälde ebenfalls keine echte Beachtung, es ist davon auszugehen, dass
sich die Szene bei Tageslicht abspielt. Hier muss allerdings beachtet werden, dass eine
Bewertung des Kolorit nur unvollständig sein kann, wenn man nicht vor dem Original
steht. Durch ein Medium, wie einem Buch, kann die Farbtongebung eben auch nur
übertragen und mit Defiziten weitergegeben werden.
Keine der dargestellten Personen scheint sich in einer Interaktion mit einer anderen, auf
dem Bild dargestellten Person zu befinden. Sie blicken einander nicht an. Aufgrund des
Gedrängt-Seins auf dem Bild kann zumindest teilweise ein Körperkontakt vermutet
werden.
11
4. Studien zum Bild
Abb. 2, Studie zu „Die Kirche“ , Thema: Dichte (1)
12
Abb. 3, Studie zu „Die Kirche“, Thema: Dichte (2)
Diese Studien sollen zeigen, wie sehr dieses Dicht-Gedrängtsein der dargestellten
Personen, sowie die Düsterheit wichtige Elemente des Kunstwerks sind. Da der
Ersteller dieser Zeilen und der Studien kein Grafiker ist, empfiehlt es sich, die Augen
bei der Betrachtung der Studien leicht zu schließen (natürlich nicht vollständig!), um
besser den dahinter liegenden Sinn der Versuche wahrnehmen zu können. Einerseits soll
durch die ersten beiden Studien (Abb. 2 und 3) gezeigt werden, wie sehr das dichte
Gedränge der dargestellten Menschen aus der Ganzheit des Bildes nicht wegzudenken
ist.
Wird die Dichte aufgelöst, indem sechs Personen aus dem Bild überdeckt werden, geht
eine wesentliche Eigenheit der ursprünglichen Darstellung verloren. Andererseits mag
auch deutlich werden, dass, egal, ob nun alle zwölf oder nur sechs Personen gezeigt
werden, jeder doch auch alleine, für sich und möglicherweise zur Einsamkeit neigend
13
auf dem Bild dargestellt wird. Wenn weniger Menschen auf oder in dem Mobiliar Platz
nehmen, wird es nicht gemütlicher und die Menschen sehen auch nicht fröhlicher aus.
Das Dicht-Gedrängt-Sein im Original verstärkt die Stimmung eines Unwohlseins bei
den abgebildeten Menschen, welche sich harmonisch in die gesamte Bildkomposition
einfügt.
Abb. 1, Van Gogh, Die Kirche, 1882 Abb. 2, Studie zu „Die Kirche“
Abb. 1, Van Gogh, Die Kirche, 1882 Abb. 3, Studie zu „Die Kirche“
Die bereits angesprochene Düsterheit des Bildes ist ein weiteres wesentliches Element
des Gemäldes. Man stelle sich die Gruppe Menschen im Sonnenlicht vor. Die dritte
14
Studie (Abb. 4) verändert das Bild nur dahingehend, dass mit Hilfe eines
Bildbearbeitungsprogramm Lichtquellen in das Bild hineinleuchten, beispielsweise die
Sonne, wenn sie durch Fenster scheint. Das sonnige Tageslicht passt nicht wirklich zu
den darstellten Gesichtern und deren Gemütsausdrücke.
Abb. 4, Studie zu „Die Kirche“, Thema: Licht
Abb. 1, Van Gogh, Die Kirche, 1882 Abb. 4, Studie zu „Die Kirche“
Wie verhielte es sich, wenn kräftige, grelle Farben im Bild vorkommen würden? Studie
15
vier (Abb.5) soll in bewusster Übertreibung verdeutlichen, wie sehr kräftige und grelle
Farben die Komposition des Originals verändern. Studie fünf (Abb. 6) soll noch einmal
die Themen Farbe und Licht zusammen thematisieren. Durch Licht und kräftigere
Farben entsteht ein anderes Bild.
Abb. 5, Studie zu „Die Kirche“, Thema: Kolorit
Abb. 1, Van Gogh, Die Kirche, 1882 Abb. 5, Studie zu „Die Kirche“
16
Abb. 6, Studie zu „Die Kirche“, Thema: Kolorit und Licht
Abb. 1, Van Gogh, Die Kirche, 1882 Abb.6, Studie zu „Die Kirche“
17
5. Integration der Ikonographie und Ikonologie
Eine Zugangsweise zu einem Kunstwerk, welches sich ausschließlich auf das
Sehen eines Bildes beschränkt, stößt an diesem Punkt auf ihre Grenzen. Bei der
Besprechung bisher bedienten wir uns allerdings auch nicht mehr des „reinen Sehens“,
sondern verwendeten Begrifflichkeiten, die wir selbst aus dem Bild gar nicht entnehmen
konnten. Diese Begrifflichkeit war und ist bereits vorausgesetzt und dem Sehen
vorgelagert — sonst wäre es uns ja gar nicht möglich, darüber zu sprechen, was wir
sehen. Wir erwähnten noch nicht, wer dieses Bild wann gemalt hat. Würden wir zeitlich
bereits jetzt zu einer Schlussfolgerung kommen, in welchem kunstgeschichtlichen
Zeitabschnitt wir dieses Bild anberaumen könnten, so könnten wir dies
genaugenommen auch nicht aus dem Bild selbst entnehmen, sondern deshalb, weil wir
andere Bilder bereits kennen. Wir erfahren aus dem Bild auch nichts über den MalerIn.
Allerdings ist es auch nicht im Sinne der Ikonik, auf weitere Informationen zu einem
Bild zu verzichten. Die Ikonik integriert wertvolle ikonographische und ikonologische
Erkenntnisse und Interpretationen.5
Schon durch den Titel des Bildes werden viele Gedanken und Assoziationen angeregt.
Dieses Bild trägt den Titel „Die Kirche“. Immerhin wissen wir jetzt, wo sich die
Menschen gerade befinden. Denn aus dem Bild geht das nicht eindeutig hervor, so
finden wir keine kirchlichen Symbole. Jetzt klärt sich auch die Frage des Mobiliars. Das
Wissen über den Bildtitel lässt nichts anderes zu, als Kirchenbänke auf dem Bild zu
sehen, obwohl diese genaugenommen gar nicht sichtbar sind. Wir wissen auch, wer der
Künstler ist, das gibt uns Aufschluss über sein Geschlecht. Weiters haben einen
zeitlichen Anhaltspunkt.
Gemalt hat dieses Gemälde der holländische Maler Vincent van Gogh. Es stammt aus
dem Jahre 1882.
5 Brassat/Kohle 78
18
Der Bildtitel verrät uns, wo sich also die dargestellten Personen befinden sollen. Was
nicht ganz eindeutig feststellbar ist, ist die Art ihrer Beschäftigung. Warten sie auf
etwas, oder hören sie bereits einer Predigt zu?
Durch den gesenkten Blick der Dargestellten ist eher nicht davon auszugehen, dass sie
gerade eine Zeremonie beobachten. Sie sitzen, weshalb sie offensichtlich weder beten
noch singen. Sie scheinen möglicherweise einer Predigt zu zuhören, wenngleich nicht
ausgeschlossen werden kann, dass sie auf eine Aktion oder eine Predigt auch nur
lediglich warten. Allerdings lässt ihre Körperhaltung nicht darauf schließen. dass sie
davon ausgehen, in nächster Zeit aufstehen zu müssen. Die Art des Sitzen scheint bei
machen in eine Art Lümmeln überzugehen, weshalb eher von einem Zuhören
ausgegangen werden könnte. Falls es jemanden gibt, dem diese Menschen zuhören, ist
er offensichtlich nicht auf dem Bild dargestellt.
Das Eindeutige in diesem Bild, was über jeden Zweifel erhaben ist, ist allerdings die
Reaktion oder Erwartungshaltung in Verbindung mit dem, was sich in der Kirche
abspielt. Das ist insofern faszinierend, weil es ja nicht im Wesen des Bildes liegt, dem
Rezipienten etwas in akustischer Form mitzuteilen. Es kann uns Hörbares nicht hörbar
machen. Das ist dem Bild unmöglich, würde es das können, wäre es kein Bild mehr
sondern etwas anderes. Aber ein Bild kann Hörbares unter Umständen insofern sichtbar
machen, indem es zum Beispiel die Situation einer angeregten Unterhaltung darstellt.
Offensichtlich steht die Reaktion der dargestellten Personen in „Die Kirche“ mit dem in
Zusammenhang, was sie hören. Die Titelgebung zeigt, dass es dem Maler offenbar nicht
darum ging, eine spezielle Gemeinde, eine spezielle Predigt oder ein ganz bestimmtes
Ereignis festzuhalten, sondern auf ein Allgemeines hinzuweisen.
19
6. Versuch eines theologische Grundrisses
Was hören die Menschen in der Kirche im Allgemeinen? Es gibt viele Inhalte,
die in den Kirchen vermittelt werden, und wir werden nur kurz auf zwei eingehen.
Was ist die ureigenste Bedeutung des Wortes Evangelium? „Das griechische Wort
Euaggelion bedeutet gute Nachricht, frohe Kunde, die Grund zur Freude bietet und mit
Dankbarkeit und Lob angenommen sein will“6. Gründe zur Freude gäbe es gemäß der
christlichen Theologie zur Genüge, immerhin erwächst durch ein Glaubensbekenntnis
die Aussicht auf Rettung (Römer 10,9).7 Als Jesus seine Jünger bei einer Gelegenheit
aussandte, um in Städten und Ortschaften sein Kommen ankündigen zu lassen, kamen
die Jünger „voll Freude“ (Lukas 10,17) zurück und berichteten von all den Wundertaten,
die sie im Namen Jesu verrichten konnten. Diese Machttaten bestärkten sie in ihrer
endzeitlichen Erwartung. Doch gäbe es für die Jünger einen noch wesentlicheren Grund
zur Freude, denen ihr Herr ihnen wie folgt erklärte: „Freut euch darüber, dass eure
Namen im Himmel verzeichnet sind“ (Lukas 10,20). „Die Freude der Jünger Jesu
erwächst aus dem Zuspruch Gottes, der anbrechenden Zeit des Heils, dessen Stunde mit
dem Kommen Jesu geschlagen hat.“8 Es ist daher nicht verwunderlich, wenn der
christliche Apostel Paulus in seinem Brief an die Gemeinde in Philippi zu folgendem
auffordert: „Freut euch im Herrn zu jeder Zeit! Noch einmal sage ich: Freut euch!“
(Philipper 4,4). Freude wäre eigentlich ein wesentlicher Bestandteil der christlichen
Botschaft.
Sehen wir auf dem Bild Van Goghs interessierte, freudige Kirchenbesucher, welche mit
Mut und Hoffnung erfüllt sind? Vermitteln die dargestellten Personen, dass sie sich über
die Aufmerksamkeit Gottes und dessen Zuspruch sowie die Erlösung freuen? Die
Personen auf dem Bild wirken größtenteils ermüdet, desinteressiert, deprimiert und
hoffnungslos. Verstehen sie die christliche Botschaft nicht?
6 Lohe 117 Vgl. ders. 248 Lohe 43
20
Tatsächlich könnte es der Fall sein, dass die Dargestellten Personen im Bild Van Goghs
die christliche Botschaft sehr wohl verstehen, daran glauben, und gerade deshalb
ermüdet, deprimiert und hoffnungslos sind. Denn die „Gute Nachricht“ über die
Erlösung und das Bewusstsein der Gnade Gottes hat auch noch andere Aspekte.
Bibelkritiker thematisieren das Menschenbild der Bibel, in welchem demnach der
Mensch völlig recht- und bedingungslos der Gnade Gottes ausgeliefert wäre. Die
Willkür des neutestamentlichen Gottes, der liebt oder hasst, der sich dessen erbarmt,
wen er will, der aber auch jemanden verstockt und unempfänglich für die göttliche
Botschaft machen kann, wird besonders in Römer 9; 10-22, deutlich. Dem Menschen,
welcher dort mit einem willenlosen Tongefäß verglichen wird, steht es nicht zu, mit
Gott, seinem Töpfer, zu streiten, der ihn formt und passend macht zur Rettung oder zur
Vernichtung. Die Position des Menschen gegenüber seinem Schöpfer wird auch
dahingehend noch weiter abgewertet und geschwächt, indem der Mensch als sündig und
verdorben dargestellt wird (Römer 3; 9-12, 23). Durch eigene Anstrengungen wird der
biblische Mensch nie gut und gerecht. Es ist nie das eigene Verdienst oder das eigene
Handeln, dass den Menschen die Gunst und Gnade Gottes zukommen lässt — es ist
ausschließlich die unverdiente Güte oder Gnade Gottes (Titus 3; 4,5).9
Nun könnte man einwenden, man dürfe biblische Sätze nicht einfach so aus dem
Zusammenhang reißen und ohne theologische Hermeneutik gäbe es keine wirkliche
Erschließung dieser biblischen Aussagen. Diese Problematik muss tatsächlich im Auge
behaltet werden. Tatsächlich liegt in den verschiedenen Auslegungen und
Interpretationen biblischer Texte ein wesentlicher Grund für das Vorhandensein so vieler
verschiedener christlicher Denominationen. Dies wiederum könnte Kritik an der
biblischen Botschaft allerdings verstärken: Offensichtlich kommt die göttliche Botschaft
beim Empfänger so derart undeutlich an, dass darüber über Jahrhunderte hinweg eine
chaotische Unklarheit besteht, was denn mit den verschiedenen Aussagen denn nun
wirklich gemeint sei.10 Der Heilige Augustinus jedenfalls bringt seine christliche
Überzeugung über die Qualität des Menschen mit doch sehr deutlich Worten zum 9 Vgl. Buggle 17110 Vgl. ders. 59
21
Ausdruck: „Alle Menschen sind eine Sündenmasse, eine Masse der Verdammnis, die
unmündigen Kinder nicht ausgenommen“11 Van Goghs Gemälde „Die Kirche“ würde zu
diesem Aspekt der christlichen Lehre gut passen.
Ein Jahr, nachdem Van Gogh dieses Bild gemalt hatte, veröffentlichte Friedrich
Nietzsche den zweiten Teil seines poetisch-philosophischen Werkes „Also sprach
Zarathustra“. Mit einem nicht zu verkennenden Blick auf das Christentum sprach dort
Zarathustra, als er die Jünger und Priester eines Gottes erblickte, der an das Kreuz
geschlagen wurde:
„Bessere Lieder müssten sie mir singen, dass ich an ihren Erlöser glauben lerne:
erlöster müssten mir seine Jünger aussehen!“12
Einen erlösten Eindruck machen die Menschen auf dem Gemälde Van Goghs nicht.
Man könnte meinen, das, was Nietzsche schrieb, hat Van Gogh gemalt. Doch Van Gogh
schien ein gänzlich anderes Verhältnis zum Thema Religion gehabt zu haben, als
Friedrich Nietzsche.
7. Biografisches
Vincent van Gogh wuchs als Sohn eines Pastors auf (eine interessante Parallele zu
Friedrich Nietzsche) und war selbst, bevor er zu malen begann, unter anderem auch als
Laienprediger und Hilfspfarrer tätig.13 Kirchenbesucher müssen für ihn ein gewohnter
Anblick gewesen sein. Mit Sicherheit war er gut unterrichtet über die grundlegenden
Inhalte des christlichen Glaubens. Van Gogh scheint ein sehr gläubiger Mensch gewesen
zu sein. In seinen Briefen schreibt er immer wieder über Gott. So heißt es in einem Brief
an seinen Bruder Theo aus dem Jahre 1880:
11 Augustinus, De diversis quaestionibus ad simplicianum, zitiert nach: Buggle 17112 Nietzsche, Friedrich, Von den Priestern, in: Also sprach Zarathustra, 10313 Vgl. Gombrich 544
22
„Doch unwillkürlich möchte ich glauben, das beste Mittel, Gott zu erkennen, sei, viel zu
lieben. Liebe einen Freund, einen Menschen, eine Sache, was du willst - dann bist du
auf dem rechten Weg. [...] Das führt zu Gott, das führt zum unerschütterlichen
Glauben.“14
1888 schrieb Van Gogh in einem Brief an den Maler Emile Bernard über den Gründer
des Christentums:
„Christus allein unter allen Philosophen, Magiern usw. hat als fundamentale
Gewissheit das ewige Leben, die Unendlichkeit der Zeit, die Nichtigkeit des Todes, die
Notwendigkeit und die Berechtigung heiterer Gelassenheit und der Aufopferung
bekräftigt. Er hat in heiterer Gelassenheit gelebt, als größter aller Künstler, den
Marmor, den Ton und die Farbe verschmähend und in lebendigem Fleisch arbeitend.“15
Die „heitere Gelassenheit“ des Christus, wie Van Gogh sie beschreibt, hat jene
Menschen nicht erfasst, die der Künstler in seinem Bild „Die Kirche“ darstgestellt hat.
Offensichtlich liegt deren Freudlosigkeit aber nicht am Messias. Liegt es an der
Vermittlung oder an den Menschen selbst? Auch der Künstler selbst lebte sein Leben
nicht in „heiterer Gelassenheit“. Seine Briefe sind das Zeugnis eines einsamen, von
Selbstzweifeln geplagten Menschen. In dem bereits vorhin erwähnten Brief an seinen
Bruder Theo aus dem Jahre 1880 verteidigt er sich gegen den Vorwurf, ein „Nichtstuer“
(sic!) zu sein, ein Vorwurf, den er gewissermaßen an sich selbst richtete. So könne er
zwar als ein solcher gehalten werden, er wäre es aber nicht aus Charakterschwäche,
sondern weil es sich bei ihm so ähnlich verhielte, als säße er in einem Gefängnis und
könne deshalb nicht produktiv sein, weil sein Missgeschick es so gefügt habe. Fragen
über die Daseinsberechtigung waren es, die ihn bewegten, er spürte etwas in sich, aber
es konnte nicht zur Entfaltung kommen.16
14 Van Gogh, Vincent, zititert nach: Schmied 24015 Van Gogh, Vincent, ebenda 24116 Vgl. Schmied 240, 241
23
8. Religiöse Motive
Das Göttliche war ein wiederkehrendes Thema im Schaffen als Maler. So
beschrieb der Kunsthistoriker Robert Rosenblum Vincent van Gogh als Nachfolger der
Romantiker, welcher auch nach einer neuen Religion suchte, vielleicht im Sinne eines
Pantheismus'. Die Grundlage hierfür einen neuen Weg zu Gott erhoffte der Maler in der
Natur zu finden, und widmete beispielsweise der Sonne in vielen seinen Bildern einen
zentralen Platz. Das immer wiederkehrende Motiv der Sonne wurde in seinen Bildern
zu etwas Heiligem. So führte Rosenblum als Beispiel für seine These das Bild „Der
Sämann“ (Abb. 7) aus dem Monat Juni des Jahres 1888 an, welches Van Gogh in Arles
malte (Van Gogh malte dieses Motiv öfter, so auch im November des selben Jahres
(Abb. 8), bei der die Sonne ebenfalls eine omnipräsente Rolle spielt, welches auch als
Versuch Van Goghs gewertet wird, sich der japanischen Kunst anzunähern17). Die
Sonne steht bei diesem Bild in der Mitte, an einer Stelle über dem Horizont, wo in
früheren Zeiten bei anderen Malern die allmächtige, christliche Gottheit seinen Platz
gehabt hätte. Zudem ließe sich die Darstellung der Sonne in diesem Bild mit einem
Heiligenschein vergleichen.18
Abb. 7, Van Gogh, Der Sämann, Juni 1888 Abb. 8, Van Gogh, Sämann bei untergehender Sonne, Dezember 1888
Es mag in Verbindung mit dieser Interpretation Rosenblums Bedenken geben,
17 Vgl. Schapiro 7418 Vgl. Schmied 242
24
beispielsweise, ob sich hierbei Ikonographie nicht zu sehr in einer Über-Interpretation
verliert und somit auch von den eigentlichen Kunstwerken ablenkt. Wenn Van Gogh
allerdings Pantheist war, so wäre es nicht verwunderlich, würde er in der Natur den
Zugang zu Gott oder einer Göttlichkeit suchen. Eine Studie (Abb. 9) zu „Der Sämann“
vom Juni 1888, bei der die Sonne am Horizont „verschwindet“ soll die Omnipräsenz
und Bedeutung der Sonne im Original unterstreichen.
Abb. 7, Der Sämann, Juni 1888 Abb.9, Studie zu Abb. 7
Eine Gegenüberstellung im Sinne der Ikonographie von „Der Sämann“ mit einem Detail
des Apsis-Mosaik der Basilika San Giovanni in Laterna, Rom, könnte die These
Rosenblums unterstützen.
Abb. 6, Der Sämann, Juni 1888 Abb. 10, Detail des Apsis-Mosaik, Basilika San Giovanni in Laterna, Rom
25
Günter Rombold bemerkte freilich ebenfalls, wie auffällig Van Gogh in vielen seiner
Landschaftsbilder die Sonne malte. Bezugnehmend auf das Bild „Der Sämann bei
untergehender Sonne“ aus dem aus dem Monat Dezember des Jahres 1888 (Abb. 8)
wird dieses Über-der-Landschaft-stehen wiederum deutlich, wobei hier die
Sonnensymbolik eine andere Verwendung und Bedeutung hat, als beispielsweise in
Bildern des Mittelalter, wo sie auf Christus hinweist. Es gibt bei diesem Bild keine
Anlehnung an einen Heiligenschein. Allerdings weckt der Bildgegenstand, der Sämann,
Erinnerungen an verschiedene Gleichnisse Jesu.19
Kunsthistoriker sehen also in manchen Bildern Van Goghs direkte oder indirekte
Bezugnahmen auf Religiöses. So könnte in der omnipräsenten Rolle der Sonne in vielen
Bildern Van Goghs eine Parallele zu Bildern des Mittelalters gezogen werden, wo
Christus als der unbesiegbare Sonnengott ebenfalls alles überstrahlt. Motive wie
Landschaft, Ernte und Sonne hätten für einen Pantheisten, der in der Natur seinen
Zugang zum Göttlichen suchen würde, eine ähnliche Bedeutung, wie wenn ein vom
christlichen Glauben überzeugter Maler seine Religiösität im Darstellen biblischer
Szenen auszudrücken versucht, wie zum Beispiel die Nazarener im 19. Jahrhundert.
Weiters sehen Kunsthistoriker im Motiv des Sämanns bei Van Gogh eine Anlehnung an
Gleichnisse Jesu aus den Evangelien.
Wenn man Aussagen aus den Briefen Van Goghs hinzunimmt, legt das den Schluss
nahe, dass Religiöses im Schaffen des Künstlers Van Gogh eine bedeutende Rolle
spielte.
Vielleicht sah Van Gogh ja im Malen und in der Kunst eine Art Fortsetzung seiner
religiösen Mission — ein Nachfolgen des Christus, den er ja, wie bereits erwähnt, als
den größten aller Künstler bezeichnete. Welchen Platz nimmt „Die Kirche“ in der
Schaffensphase des Malers ein?
19 Vgl. Rombold, Günter, in: Schmied 24
26
9. Das weitere Schaffen des Künstlers
Das Gemälde „Die Kirche“ entstammt der frühen Schaffensphase des Malers.
Nachdem er sich unter anderem erfolglos als Bilderverkäufer und Hilfslehrer versuchte
und auch in einer selbstgewählten Mission als Laienprediger scheiterte, begann Van
Gogh im Alter von 27 Jahren, inzwischen von Aufenthalten aus Frankreich, Belgien und
London wieder in seine Heimat nach Holland zurückgekehrt, mit der Kunst. Das war
um das Jahr 1880 herum. Er wurde zum Bauernmaler, sein bevorzugtes Sujet am
Beginn seines Schaffens waren Bauern und die Landwirtschaft. Auf dem Gemälde „Die
Kirche“ sehen wir offensichtlich Menschen in einer Kirche irgendwo am Land.
Diese Bilder, wie auch „Die Kirche“, zeichnen sich allgemein durch ein düsteres Kolorit
aus. Einige Zeit später, als Van Gogh im Jahre 1886 nach Paris ging, sollte er
künstlerisch reifen. In Paris entdeckte der die Welt der Farbe und die des Lichts. Er
machte dort Bekanntschaft mit Vertretern des Impressionismus.
Als Van Gogh sich 1888 im südfranzösische Arles niederließ, fing er gewissermaßen
mit einer neuen Kunst an.20 Van Gogh „kehrte ... die impressionistische Malweise
geradezu in eine expressionistische Ausdruckssprache um und radikalisierte so die
Autonomisierung und Subjektivierung des Bildes“21. Er verwendete Pinselstriche zu
mehr, als lediglich damit zu malen oder auch zu zeichnen. Van Gogh vermittelte mit
seiner Malweise Erregung. Aus Arles schrieb er einem seiner Briefe, dass
„die Gefühle manchmal so stark sind, dass man malt, ohne es zu merken ... und die
Pinselstriche einander so zusammenhängend folgen wie die Worte in der Rede oder in
einem Brief“22.
Beim Lesen eines handgeschriebenen Briefes, den jemand unter Erregung und
Anspannung geschrieben hat, kann die Art und Weise der Handschrift Auskunft über die
20 Vgl. Schapiro 721 Bonnet 1922 Van Gogh, Vincent, zitiert nach Gombrich 546
27
Intensität der Gefühle geben, die der Schreiber verspürte, als er die Worte schrieb. Van
Goghs Bilder zeigen dem Rezipienten auch die Gemütsverfassung des Künstlers bei der
Erstellung des Bildes.23 Diese Erregung finden wir noch nicht in jenen Bildern, die Van
Gogh am Anfang seines künstlerischen Schaffens malte.
Doch eine Richtung, in der die Reise des Künstlers noch gehen sollte, wird auch in
diesem Gemälde bereits deutlich: Schon in „Die Kirche“ ging es Van Gogh nicht darum,
realistisch zu malen. Darum gibt es auch mal da und dort eine Undeutlichkeit in den
Gesichtern, wo vieles einfach nur angedeutet wird, sowie, falls richtig beobachtet, ein
mögliches Nichtberücksichtigen der Größenverhältnisse in Verbindung mit der
Perspektive. Thema des Bildes ist eine deprimierende, freudlose Stimmung in einer
Kirche. Zu diesem Thema macht das Bild eine eindeutige Aussage. Es gibt keinen
Zweifel darüber, in welcher Stimmung die Kirchenbesucher vom Künstler abgebildet
wurden.
Sind diese biografischen Details und Überlegungen in einer kunstwissenschaftlichen
Betrachtung nützlich, oder lenken sie zu sehr vom Kunstwerk ab?
10. Eine Kunstgeschichte ohne Namen?
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts forderte Heinrich Wölfflin eine
„Kunstgeschichte ohne Namen“.24 Kunstwerke sollten nicht einfach nur als Ausdruck
und Niederschlag der persönlichen Biografie des Künstlers angesehen werden.
Tatsächlich interessierte sich die breite Öffentlichkeit immer schon für die Einsamkeit,
die Außenseiterrolle und das Tragische im Leben der großen Künstler und das gibt
Anlass zu vielen trivialen, manches mal unnötigen und doch sehr populären
Geschichten, mit denen sich die Menschen dann lediglich unterhalten und welche dann
allerdings von der eigentlichen Kunst ablenken.
23 Vgl. Gombrich 54624 Vgl. Sauerländer, Willibald, in: Belting 143 ff
28
Giorgio Vasari, der „Vater der Kunstgeschichte“, begann diese schließlich auch mit
Geschichten, beispielsweise mit Anekdoten über verschiedene Künstler. Dies Gefahr der
Trivialisierung muss natürlich im Auge behalten werden. 25
Andererseits wirken Kunstwerke ohne Autorennamen wie Herrenloses aus einem
Fundbüro. Ist es wirklich wünschenswert, das Kunstwerk vom Künstler vollständig zu
trennen? Gerade bei den Gemälden eines Vincent van Gogh wird deutlich, dass die
Virtuosität seiner Meisterwerke nicht vollständig erfasst werden kann, wenn man den
Künstler und seine Biografie außen vor lässt.
Ein Künstler kann sich selbst als Person bei der Erstellung von Kunst aus diesem
Prozess nicht wegdenken. Gerade deshalb berührt Kunst die menschliche Existenz auf
das Tiefste. Schließlich kann auch ein Künstler sich aus der Kunstgeschichte nicht
„herausnehmen“, er ist selbst auch Kind einer bestimmten Zeit und Epoche, gerade auch
dann, wenn er bewusst sich dagegen auflehnt und versucht, aus vorgegebenen
Strukturen herauszubrechen.
Wenn sich die Impressionisten zur Zeit van Goghs gewissermaßen sagten, dass sie
anders malen wollten als die Künstler des Klassizismus, der Romantik oder des
Realismus, gibt es eine solche Möglichkeit nur dann, wenn das, wogegen rebelliert
wird, bereits vorhanden war. Auch wenn Kunst in gewissem Sinne zeitlos ist, insofern
Kunstwerke über Jahrhunderte hinweg den Menschen in seinem innersten berühren,
können Kunstwerke nicht aus einem geistesgeschichtlichen oder
gesellschaftspolitischen Hintergrund vollständig heraus gelöst werden.
Hier wird deutlich, dass dem „reinen Sehen“ eines Kunstwerkes einerseits wichtiges
auffällt, andererseits wertvolles entgeht, würde es nicht zu weiteren Schritten führen.
Sollten Kunstwerke tatsächlich nur „gesehen“ werden? Wäre das im Sinne der Künstler,
25 Vgl. Brassat / Kohle 9
29
der Rezipienten, allein, wäre das im Sinne der Kunst? Soll Kunst nicht auch das
Denkvermögen anregen, Zweifel säen, Gewissheiten vermitteln, erfreuen, trösten,
verbittern, oder mit einem Wort, uns einfach berühren und bewegen?
Spielt somit das „reine Sehen“, der Versuch, ohne Begrifflichkeiten ein Kunstwerk zu
betrachten, eine untergeordnete Rolle? In Anlehnung an die Einleitung der Genesis,
oder später des Evangeliums nach Johannes, könnten wir dem „reinen Sehen“ folgenden
Platz in der Kunstbetrachtung zuordnen: Am Anfang war das Sehen! Ohne sich zu sehr
von Details der Biographie des Künstlers, der Ikonographie oder des
geistesgeschichtlichen Hintergrunds jener Zeit, in welcher das Kunstwerk entstand,
irritieren zu lassen, sollte zu Beginn das Sehen als solches stehen und es sollte immer im
Mittelpunkt bleiben! Die anderen, wertvollen Details und Hintergründe, mit Hilfe derer
die Virtuosität des Kunstwerkes noch mehr gesteigert werden kann, drehen sich um das
„reine Sehen“.
11. Resümee
Sowohl Kunst als auch Religion bieten einen Weltzugang. Der Grund, warum der
Mensch Kulte betreibt, philosophiert und Kunstwerke schafft, scheint ein und der selbe
zu sein: Dadurch verschafft sich der Mensch einen Weltzugang, eine Erklärung der
Wirklichkeit.
Die Beschäftigung mit dem Bild „Die Kirche“ anhand der Ikonik zeigt das Spezifikum
dieses Gemäldes. Es ist diese düstere Stimmung in der Architektur, es ist dieses
Desinteresse, die Niedergeschlagenheit und die Erschöpfung der Menschen, die sofort
ins Auge stechen.
Die frohe Kunde der christlichen Botschaft macht doch nicht alle so froh, immerhin
geht der Erlösung eine völlige Verdammnis des Menschen voraus, die ja erst die
Erlösung notwendig macht.
30
Die Menschen sitzen auf dem Gemälde dichtgedrängt beieinander, und wenn man
einige aus dem Bild übermalt, machen die Verbliebenen auch keinen fröhlicheren
Eindruck.
Dieses Bild zeigt Wirklichkeiten auf. Wo andere schrieben, malte Van Gogh. Was früher
in seinem Leben einer gehaltenen Predigt bedurfte, malte er als Künstler in einem Bild.
„Die Kirche“ ist ein wunderbares Beispiel hierfür, auch wenn sie noch am Anfang
seines Schaffens steht.
Am Anfang einer künstlerischen Betrachtung sollte das Sehen stehen. Ein Kunstwerk
sollte nicht überlagert werden durch ein Zuviel an Interpretation, an ikonographischen
und ikonologischen Erkenntnissen. Diese werden integriert in die völlig auf das
Kunstwerk konzentrierte Ikonik, doch am Anfang bietet es sich an, das Kunstwerk erst
ausschließlich zu sehen und auf das Spezifikum dabei zu achten.
Die heitere Gelassenheit, die Van Gogh dem Christus zuschrieb, konnte der Künstler bei
den Nachfolgern des Herrn und auch bei sich selbst nicht feststellen. In seinem Bild
„Die Kirche“ findet sich auch ein gewisses Maß an Religionskritik eines gläubigen
Menschen.
Seine Schaffensphase als Künstler sollte keine zehn Jahre dauern. Van Goghs Malweise
sollte sich noch stark verändern, seine revolutionäre Malweise war auch Wegbereiter
der Expressionisten, die als Teil der Avantgarde die Kunst der Moderne radikalisieren
sollten.26
In der weiteren Folge sollten religiöse Themen immer wieder in der Kunst thematisiert
werden, vor allem auch unter einem kritischen Gesichtspunkt.
26 Vgl. Bonnet 32, 33
31
Vielleicht gibt es diese heitere Gelassenheit, von der Van Gogh schrieb (sofern sie
überhaupt jemand für sich beanspruchen kann), eher bei jenen, die einerseits
künstlerisch tätig werden und auch die Religion nicht allzu ernst nehmen. Etwas
weniger als hundert Jahre nach Van Gogh hat die britische Komikertruppe Monty
Python sich dem Thema christliche Religion auf eine äußerst bedenkenswerte Weise
genähert. In „Life of Brian“ wird auf satirische Weise die Möglichkeit erwogen, dass
zur Zeit Jesu jemand mit dem Gottessohn verwechselt wurde und zudem völlig
unschuldig von den Römern hingerichtet wurde. Doch selbst die Szene der Kreuzigung
wird in heiterster Gelassenheit aufgelöst.
Dem am Kreuz hängende Brian wird empfohlen, sich jetzt bloß nicht zu grämen. Ein
zum Tode Verurteilter singt, am Kreuz hängend, ein Lied, pfeift dazu, und die anderen
Verurteilten stimmen in den Refrain mit ein und schunkeln dabei:
„[...]Denn das Leben ist absurd, und der Tod hat das letzte Wort.
Verbeuge dich nochmal, wenn der letzte Vorhang fällt.
Schau immer auf die lustige Seite des Lebens, vergiss die Sünden zu bezahlen.
Schenke dem Publikum ein Strahlen, es ist sowieso das letzte mal.
[...]
Das Leben ist ein Lachen und der Tod ein Witz,
es ist wahr, doch du wirst sehen, es ist alles nur Show.
Lass sie lachen, wenn Du gehst, denke daran, der letzte Lacher geht auf dich.
Schau immer auf die Sonnenseite des Lebens!
Schau immer auf die richtige Seite des Lebens.
Komm Brian, werde heiterer!
Schau immer auf die Sonnenseite des Lebens! [...]“27
Den Dargestellten auf Van Goghs „Die Kirche“ würde man eine Heiterkeit dieser Art
wünschen. Gerne würde man ihnen zurufen: „Grämt euch nicht über das Leben,
vergesst das mit den Sünden, schaut auf die Sonnenseite des Lebens!“
27 Schlussszene: Monty Pyton's Life of Brian: https://www.youtube.com/watch?v=WlBiLNN1NhQ
32
Literaturliste
Belting, Hans (Hg.) u.a.. Kunstgeschichte, Eine Einführung, Berlin 20087.
Bonnet, Anne-Marie. Kunst der Moderne – Kunst der Gegenwart, Köln 2004.
Brassat, Wolfgang / Kohle, Hubertus. Methoden-Reader Kunstgeschichte, Köln 2003.
Buggle, Franz. Denn sie wissen nicht, was sie glauben, Oder warum man redlicherweise
nicht mehr Christ sein kann, Eine Streitschrift. Überarbeitete und erweiterte Neuauflage,
Aschaffenburg 2004.
Die Bibel, Altes und Neues Testament, Herder, Stuttgart 1980
Gombrich, Ernst Hans. Die Geschichte der Kunst, Berlin 199516.
Lohse, Eduard. Freude des Glaubens, Die Freude im Neuen Testament, Göttingen, 2007.
Nietzsche, Friedrich. Also sprache Zarathustra, Frankfurt am Main, 2008.
Schapiro, Meyer. Vincent van Gogh, aus dem amerikanischen übersetzt von Bodo
Cichy, überarbeitete Ausgabe, Köln 1991.
Schmied, Wieland / Klausener, Erich / Kraetzer, Jakob (Hg.). Zeichen des Glaubens,
Geist der Avantgarde, Religiöse Tendenzen in der Kunst des 20. Jahrhunderts (Buch zur
Ausstellung), Stuttgart und Mailand 1980.
33
Abbildungsverzeichnis
Abb. 1 Vincent van Gogh, Die Kirche (alternativer Titel: Kirchenbank mit Gläubigen,
unter http://vincent-van-gogh.art-voho.de/ ), September 1882, Aquarell auf Papier, mit Bleistift,
Feder, 28,2 x 37,8 cm, Rijksmuseum Kröller-Müller, Otterlo (NL), entnommen aus: Schmied,
Wieland (siehe Literaturliste)
Abb. 2 – 6 Studien zu Abb. 1
Abb. 7 Vincent van Gogh, Der Sämann, Juni 1888, Öl auf Leinwand,
64x80,5 cm, Rijksmuseum Kröller-Müller, Otterlo (NL), Bildnachweis: Van Gogh, Bd.2, 1989,
S. 350, Foto Marburg, entnommen aus: Prometheus-Bildarchiv http://prometheus-
bildarchiv.de/de/
Abb. 8 Vincent van Gogh, Sämann bei untergehender Sonne, Dezember 1888, Öl,
Tafelbild, 32x40 cm, Rijksmuseum Vincent van Gogh, Amsterdam (NL), Vincent van Gogh-
Stiftung. Entnommen aus Schapioro. Meyer (siehe Literaturliste), S. 75 (um ein Einscannen zu
vermeiden wurde die digitale Version im Prometheus-Bildarchiv verwendet
http://prometheus-bildarchiv.de/de/ ).
Abb. 9 Studie zu Abb. 7
Abb. 10 Detail des Apsis-Mosaik der Lateranbasilika San Giovanni in Laterno, Rom, 5.
Jh. n. Chr.. Bildnachweis: Die frühchristlichen Kirchen in Rom, H. Brandenburg, 2004, S. 24,
Abb.4, entnommen aus: Prometheus-Bildarchiv http://prometheus-bildarchiv.de/de/ .
Audiovisuelle Internet-Datei
Eric Idle (Komponist „Always look on the Bright Side of Life“) / Monty Python (Drehbuch) /
Terry Jones (Regie). Monty Python's Life of Brian (Spielfilm), Großbritannien 1979. Quelle:
https://www.youtube.com/watch?v=WlBiLNN1NhQ [Stand 26.10.2014]