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    Die Journalistenverbände informieren Die Journalistenverbände informieren www.journalistenblatt.deJournalistenblatt

    Eisige Welten am 79. BreitengradFotoreporter Bernd Schumacher unterwegs auf Spitzbergen. Seite 4

    Ist Boulevard Meinungsfreiheit? 16

    Datenjournalismus als Geschäftsmodell 24

    Karola Wille, ARD: Vorwurf Lügenpresse 22

  • Wenn niemand mehr die abhörpraktiken der nSa aufdeckt, Sind unSere daten dann Wieder privat?

    [20 JAHRE]

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    ball Berlin im Januar kommenden Jahres. Das Journalistenzentrum Deutschland ist Kooperationspartner und unterstützt den ältesten Presseball der Welt – „Tradition seit 1872“. Der Gewinn der legen-dären Tombola geht diesmal übrigens zur Hälfte an Reporter ohne Grenzen. Die in DPV oder bdfj organisierten Medienmacher erhal-ten 35 Prozent Vergünstigung auf alle Karten. Mehr dazu auf den Seiten 32 und 33.

    Wir sehen uns.Ihre Redaktion des journalistenblatt

    Liebe Kollegen,zu den Ersten zu gehören, die Verantwortungsträger eines Landes im Umbruch treffen, verschafft Vorteile bei Aktualität und Glaub-würdigkeit in der Berichterstattung. „Überhaupt ist es das erste Mal seit dem Ende der Sanktionen, dass die iranische Regierung aus-ländische Journalisten zum Gespräch in Teheran empfängt, Fragen offen beantwortet und alle Termine einhält“, schreibt Ingo Hase-wend, Ressortleiter Außenpolitik bei der auflagenstarken Kleine Zei-tung aus Österreich in seinem Bericht ab Seite 8.

    Um derartige Pressereisen aufzustellen, benötigt es Ambitio-nen und Netzwerke wie die unseres Fachgruppenleiters für In-ternationale Beziehungen. Shams-Ul Haq reiste – unter anderem gemeinsam mit Vorstandsmitgliedern des Journalistenzentrum Deutschland – mehrfach nach Teheran, um die nötigen Kontakte aufzubauen, welche Termine mit hochrangigen Gesprächspartnern oder den Besuch außergewöhnlicher Orte erst möglich machen.

    Aber auch die Kollegen aus der Tagespolitik müssen gelegent-lich ausspannen. Die beste Gelegenheit dazu bietet der Presse-

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    Editorial

    Inhaltsverzeichnis

    4 Eisige Welten am 79. BreitengradFotoreporter Bernd Schumacher berichtet von seiner Reise mit dem Schneescooter durch die Arktis, nur 1000 Kilometer entfernt vom Nordpol

    8 Pressegespräch mit Regierungs- vertretern in Teheran Pressereise des Journalistenzentrum Deutschland

    11 Rechtliche Grenzen des Fotojournalismus Fotografieren verboten oder eingeschränkt? Teil 1

    12 Lizenz zum BerichtenJournalistenvisum außerhalb der EU

    14 Rangliste der PressefreiheitReporter ohne Grenzen sagt: Journalisten stehen weltweit zunehmend unter Druck

    16 Boulevard ist MeinungsfreiheitBoulevardzeitungen sind auf eine ruppige Weise egalitär

    19 Im Visier der Meute – Wie fühlt sich das an?Bericht von der Jahrestagung von Netzwerk Recherche

    22 ARD-Vorsitende Karola Wille zum Vorwurf Lügenpresse

    24 Datenjournalismus als GeschäftsmodellVisualisierung von Daten mit journalistischen Mitteln

    28 Crowdfunding im JournalismusWenn Dein Verlag ein Schwarm ist

    29 Ein starkes Signal für die deutsche MedienlandschaftIPI-Weltkongress vom 18. bis 20. Mai 2017 in Hamburg

    30 Beim Hackathon treffen Welten aufeinanderKurz vorgestellt: nma, ein Accelerator-Programm der Verlagsbranche

    32 Presseball BerlinTradition seit 1872 – ein Ball mit großer Geschichte im Zeichen der Presse- und Meinungsfreiheit

    34 Neues zu Arbeitszimmer und ArbeitseckeMachtwort des Bundesfinanzhofs

    36 Der Rest unterm StrichWas Freiberuflern von ihrem Honorar wirklich übrigbleibt

    37 Fehler im SteuerbescheidEinspruch innerhalb eines Monats

    38 Der einfache Weg zur PressCreditCard

    39 Engagement – RückBLENDE, Impressum

    www.journalistenblatt.de

  • D ie Reise ist mit Schnee-Scoo-tern ausgeschrieben. Lie-ber wäre es mir gewesen, mit Schlittenhunden die Tour zu machen, zu sehen, wie sich Mensch und Tier zu einer Gemeinschaft vereinen, wo Mensch und Tier aufeinander angewiesen sind; aber der Zeitplan hierfür war zu knapp.

    Ich bereite meine Ausrüstung vor, lese Bücher, schaue Filme an, weiß jetzt, dass Spitzbergen ein Archipel ist, bestehend aus mehr als 400 Inseln und dass die Gegend um Longyearbyen an der Süd-West-Küste wegen des vorbeiziehenden Golfstroms die einzig bewohnbare Gegend ist. Wenn wir Mitte März starten, dann ist die Polar-nacht bereits seit vier Wochen beendet. Sie dauert in Longyearbyen fast vier Monate, nämlich vom 26. Oktober bis 16. Februar. In dieser Zeit ist es stets Nacht. Die Sonne geht nie auf.

    Wartezeit bis zum Abflug und recherchiere im Internet.

    Bis Anfang des 20. Jahrhunderts war Spitzbergen ein für alle Staaten uninteres-santes Gebiet. Lediglich der Fischfang, ins-besondere der Walfang, interessierte sich für diese Region. Mit der Industriealisierung änderte sich jedoch das Interesse, weil die Insel über Kohlevorkommen verfügt, die qualitativ überdurchschnittlich gut sind. Im Hinblick auf das steigende internationale Interesse an der Inselgruppe wurde im Fe-bruar 1920 in Paris der so genannte Spitz-bergenvertrag geschlossen. Spitzbergen war immer staatenlos und blieb dies auch nach dem Spitzbergenvertrag. Der Archi-pel wurde nicht norwegisches Staatsgebiet, sondern dem Land wurde lediglich die Ver-waltung übertragen.

    Ziel des Spitzbergenvertrags war, die friedliche Entwicklung sicherzustellen. Mi-

    Eine einfache Frage mit profanen Auswirkungen

    Dann ist es endlich so weit, ich bin am Flug-hafen beim Einchecken. Mein Flug geht von Frankfurt am Main nach Oslo und dann weiter nach Longyearbyen. Am Schalter fragt mich ein freundlicher junger Mann, ob Spitzbergen zu Norwegen gehört. Jetzt hat er mich auf dem linken Fuß erwischt, dazu habe ich zu wenig gelesen. Ich kann ihm nur sagen, dass Norwegen die Verwaltung hat. Er erklärt mir den Grund seiner Frage. Wenn der Weiterflug von Oslo nach Long-yearbyen Inlandsflug ist, muss ich mein Gepäck in Oslo abholen und es zum Wei-terflug wieder einchecken. Wenn es ein in-ternationaler Flug ist, wird das Gepäck auto-matisch umgeladen.

    Ich war erstaunt, welch profane Aus-wirkungen diese Frage hat, ob Spitzbergen norwegisches Staatsgebiet ist. Ich nutze die

    EISIGE WELTEN am 79. BreitengradPressereise nach Spitzbergen

    Ich lese eine Mail vom Journalistenzentrum Deutschland für eine Pressereise nach Spitzbergen. Mein Interesse ist hoch, schon lange hatte ich eine solche Reise geplant. Eine Reise in die Arktis fehlte mir noch nach meinen Bergtouren auf viele Gletscher wie etwa im Wallis, Berner Oberland oder Frankreich – weite Landschaften, Lebensbedingungen, die nicht für Menschen geschaffen sind und Horizonte, die meist nur zwei Farben haben: weiß und blau – hier komme ich in Welten, die uns evolutionsgeschichtlich näher stehen als Großstädte, Autobahnen oder Einkaufszentren, die durch ihre Schönheit und Rauheit ein tiefes Gefühl von Harmonie geben, in denen wir den Antworten zum Sinn des Lebens näher kommen.

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  • litärische Aktionen sind dort verboten. Alle Angehörigen der Vertragsstaaten haben das Recht auf Arbeit und zur Unterneh-mensgründung. Die Gewinne müssen aber in Spitzbergen bleiben. Der Anteil nicht-norwegischer Natio nalitäten ist daher auf Spitzbergen sehr hoch. Die Inselgruppe wird seit dem Spitzbergenvertrag im nor-

    wegischen Sprachgebrauch auch Svalbard genannt, was kühle Küste heißt.

    Ich komme in Oslo an und bin verun-sichert, ob mein Gepäck auch wirklich au-tomatisch umgeladen wird. Es wäre fatal, wenn ich in der Arktis ohne meine Foto-ausrüstung wäre. Ich denke, es sei besser, nochmals zu fragen und gehe zur Informa-

    tion. Der Gesichtsausdruck war klar, der Herr war sich nicht sicher, er schickte mich vor-sorglich zum Schalter der Fluggesellschaft. Hier erhalte ich eine klare und zweifelsfreie Antwort: Das ist ein internationaler Flug, mein Gepäck wird automatisch umgela-den. Vorsorglich gehe ich noch zur Gepäck-ankunft. Aber mein Gepäck ist nicht dabei.

    Eisbären besuchen nur mit FührerAuf Longyearbyen übernachten wir in einer Unterkunft der Minenarbeiter. An einem langen Gang liegen aneinandergereiht die kleinen Zimmer, links und rechts jeweils mit zwei Betten ausgestattet. Die Schutzhelme für die Minenarbeiter sind noch aufgereiht, als würden die Minen noch in Betrieb sein. Aber sie wurden vor einigen Jahren ge-schlossen.

    Heute hat der Tourismus diese Infra-struktur übernommen. Wir treffen vorwie-

    Nach Schneesturm kommt Sonnenschein

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  • gend junge Leute, Sportler, die die Gegend mit Langlaufski erkunden, aber auch Aben-teurer, die Longyearbyen als Basiscamp für längere Unternehmen mit Zelt und Ski zur Ostküste nutzen, wo die Eisbären leben. Er-laubt ist dies nur mit Führern, die eine ei-gene Zulassung benötigen. Spitzbergen will so verhindern, zu sehr mit Rettungsak-tionen in die Pflicht genommen zu werden. Zu gefährlich sind nicht nur Eisbären und Kälte, sondern auch die Orientierung. Kein Baum, kein Haus, nichts dient der Orientie-rung. Wenn dann noch die Sicht schlecht ist, bedarf es erhöhter Kenntnisse der Na-vigation, um den richtigen Weg zu finden.

    Kohle hier in der Arktis, denke ich? Wie kann das sein, dann müsste es hier irgend-wann sehr grün gewesen sein? Ich recher-chiere zu diesen Fragen und bin erstaunt. Die Inselgruppe wanderte in 600 Millionen Jahren vom Südpol bis fast zum Nordpol, und vor circa 40 bis 60 Millionen Jahren war das Klima in der Arktis anders. Die Tempera-turen waren warm und gemäßigt, es wuch-sen Mammutbäume bis zu 50 Meter Höhe.

    Nicht nur für Sportler und Abenteurer ist Longyearbyen heute interessant. Es gibt dort eine Universität, die internationale For-

    schungsprojekte in der Arktis koordiniert. Wir werden von dem Projektleiter über die aktuellen Projekte informiert. Meereskunde, Wetterkunde und Geophysik sind beliebte Forschungsprojekte.

    Am nächsten Tag geht es weiter nach Barentsburg, in der Luftlinie 30 km entfernt. Auch dieser Ort ist als Bergarbeitersiedlung entstanden. Der Ort ist russisch und es wird noch Kohle abgebaut. Es gibt keinen direk-ten Weg dorthin. Wir umfahren die Berge und sind mit unseren Schnee-Scootern

    zwei Stunden unterwegs. Wir haben teil-weise große Schwierigkeiten, mit unseren Schneemobilen durch bergiges Gelände und Neuschnee zu fahren. Oft bleiben wir stecken und mussten die Schneemobile wieder ausgraben.

    Erfrierungen in der KälteDann geht es weiter nach Pyramiden, dem nördlichsten Ort der Erde. Die Ansiedlung liegt in der Luftlinie zwar nur circa 60 Kilo-meter nördlich von Longyearbyen im Inne-

    Charme der untergegangenen Sowjetunion

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  • ren der Insel. Wir stellen uns aber auf eine lange Fahrt ein, weil wir einen großen Fjord umfahren müssen. Je weiter wir uns vom Golfstrom entfernen, desto rauer wird das Klima. Am Nachmittag kommen wir auf eine Hochebene, über die der Wind mit Mi-nus 25 Grad Celsius bei Sturmgeschwindig-keit fegt. Mir wird bewusst, was es heißt, wenn Temperaturen in tatsächlicher und gefühlter Temperatur angegeben werden. Gefühlt sind es -40 Grad Celsius. Der Sturm ist so heftig, dass er von mehreren Scoo-tern die Frontscheibe wegreißt. In hohem Bogen schießen sie über die unendlichen Weiten von Schnee und Eis. Nichts hält sie auf. Mir bläst der Sturm durch kleine Öff-nungen unter den Helm, so dass ich Erfrie-rungen im Gesicht erleide. Das fühlt sich an und sieht auch so aus wie ein starker Son-nenbrand. Nach mehreren Tagen ist es dann aber verheilt.

    Spät in der Nacht kommen wir in Pyra-miden an. Der Ort liegt knapp beim 79. Brei-tengrad. Ein großes Schild mitten in dem kleinen Ort berichtet davon mit Stolz. Da-mit liegt Spitzbergen erheblich nördlicher als Kanada oder Alaska. Zum Nordpol sind es gerade mal noch 1000 km.

    Ich bin fasziniert von dem Ort. 1921 ha-ben hier die Schweden mit dem Kohleab-bau begonnen. Wenige Jahre später hat die noch junge Sowjetunion den Ort über-nommen und vor 50 Jahren für circa 1.200 Minenarbeiter und ihre Familien ausgebaut. Pyramiden hat einen Hafen, der aber weit-

    gehend zugefroren ist. Sogar ein Kindergar-ten wurde errichtet. Die Gebäude sind alle in guter Bausubstanz, aber verlassen. Denn 1998 entschieden sich die Russen, die Koh-leförderung einzustellen. Lange Zeit war dieser Ort völlig verwaist. Heute leben vier Menschen ständig dort. Sie versorgen uns vorzüglich in einem großen Hotel, welches schon mal bessere Zeiten gesehen hat – als viele Besucher im Zusammenhang mit dem geschäftlichen Treiben der Kohleförderung hierher kamen.

    Das Wetter auf unserer Reise ist na-hezu perfekt, an nur zwei Tagen schneit es, sonst immer klar und Sonnenschein. Die tiefstehende Sonne, die weiten Flä-chen aus Schnee und Eis und die in der Luft schwebenden Eiskristalle erzeugen eine faszinierende Stimmung. Wir erkun-den die Hochflächen oberhalb von Pyrami-den. Weite Flächen, bizarre Formationen im

    Schnee, die Wind und Kälte modelliert ha-ben, Kunstwerke der Natur, fantastisch be-leuchtet, und dazu die lieblich geformten Formen der Berge, ideale Formationen der Harmonie.

    Für den Abend sind Nordlichter ange-sagt. Die Polarlichter werden durch elek-trisch geladene Teile des Sonnenwindes erzeugt, die an den Polkappen auf die Erd-atmosphäre treffen. Als es dunkel gewor-den ist, stellen wir unsere Ausrüstung in dem zugefrorenen Fjord auf. Wir warten, von Nordlichtern keine Spur, nichts. Ich be-trachte den fantastischen Sternenhimmel und suche das Sternbild des Bären. Denn der Begriff Arktis kommt aus dem Altgrie-chischen und heißt Bär, weil die Region der Arktis unter dem Sternbild des Großen Bä-ren liegt. Plötzlich! War da was? Zart und zu-nächst sehr unscheinbar sehen wir grünes Licht am Himmel flackern. Jetzt kommt es, das Polarlicht. Langsam steigert sich das Flackern – aus schwachen grünen Bän-dern werden starke und helle, mal breit, mal schmal, dazwischen Dunkelheit – der Himmel ist die Bühne, ein fantastisches Pot-pourri der Beleuchtung – ein Staccato des Lichterspiels. Zwei Stunden später kehren wir durchgefroren, aber mit vielen schönen Bildern im Kasten zurück.

    Nach zehn Tagen seit unserer Ankunft geht es zurück nach Deutschland. In nur so kurzer Zeit hat die Umgebung eine tiefe Zufriedenheit in mir erzeugt. Wenn ich die Nachrichten aus der Welt von Terror, Poli-tik, Geld und Intrigen lese, so kommen mir diese Nachrichten wie Nachrichten von ei-nem fernen Stern vor. Aber diese Welt ist nur vier Flugstunden entfernt. Jetzt ist die Welt, von der ich komme, die andere Welt. Nun wieder am 48. Breitengrad.

    Der DPV-Journalist Günter Seefelder schreibt neben betriebswirtschaftlichen und wirtschaftsrechtlichen Themen auch über das Erleben von Europa, seiner Kultur, Historie und seinen Geschichten.

    Der Fotograf Bernd Schumacher ist seit dem Jahr 2001 DPV-Mitglied. Seine Recherchen führen ihn in die ganze Welt. Dabei interessieren ihn der Blick hinter die Kulissen, Orte, zu denen für gewöhnlich kein Zugang besteht, Fotografieren unter erschwerten Bedingungen. Freie Projekte mit Kollegen und Künstlern sowie zahl- reiche Fotoausstellungen runden seine Arbeit ab. www.berndschumacher.com

    Recherche unter erschwerten Bedingungen: Erfrierungen nicht ausgeschlossen

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  • dem ersten Jahrestag des Wiener Atomab-kommens.

    Überhaupt ist es das erste Mal seit dem Ende der Sanktionen, dass die irani-sche Regierung ausländische Journalisten zum Gespräch in Teheran empfängt, Fra-gen offen beantwortet und alle Termine einhält. Bislang waren die iranischen Bot-schaften in Berlin, Wien oder Bern unter deutschsprachigen Journalisten eher da-für bekannt, Visaanträge zu verschleppen, auf Telefonanfragen und E-Mails nicht oder nur mit Vertröstungen zu antwor-ten. Meist hing es auch am Informations-ministerium in Teheran, dass Journalis-ten mitunter Jahre auf ein Visum warten mussten.

    E s wäre das Foto dieser Reise ge-wesen, denn erstmals seit dem Wiener Atomdeal vom Juli 2015 haben die Machthaber in Teheran eine kleine Gruppe deutschsprachiger Journa-listen in einen Atomreaktor hineingelassen.Doch Mobiltelefone und Kameras wurden vorsorglich am Eingang eingesammelt und die spontane Aufnahme eines Atomwissen-schaftlers, der sich nach langem Beknien erbarmt hatte, musste nach einem Tele-fonat auf Anweisung von offenbar höchs-ter Stelle wieder gelöscht werden. Bei aller Offenheit, die man westlichen Medien ge-genüber derzeit versucht zu zeigen: Beim Nuklearthema ist man nervös. Nur kein missverständliches Bild zeigen so kurz vor

    Im Foyer des Forschungsreaktors in Teheran hängen wie überall im Iran die Bilder zweier alter Männer mit weißem Bart und schwarzem Turban. Es sind die Porträts von Ajatollah Ali Khamenei und dem längst verstorbenen Führer der islamischen Revolution Ajatollah Ruholla Khomeini. Unter den zwei Mullahs warnt eine rote Leuchtschrift: „Reaktor is on“. Die Atomkraft ist aktiv.

    Pressegespräch mit Regierungs- vertretern in TeheranPressereise des Journalistenzentrum Deutschland

    Kritische Gespräche mit Regierungs-stabschef Nahavandian

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  • Doch seit dem Ende des jahrzehnte-langen Streits um das umstrittene Atom-programm hat die Regierung in Teheran gesteigertes Interesse, sein Image im Wes-ten aufzupolieren. Das hat allerdings auch einen tieferen Grund. Präsident Hassan Rohani muss sich mit seiner Regierung im kommenden Jahr dem Wahlvolk stellen. Wenn die Aufhebung der Sanktionen und der Verzicht auf die Ambitionen als Atom-macht nicht bald wirtschaftliche Erfolge zeigen (also quasi vom Westen belohnt werden), dann könnte die Geduld der Mul-lahs schnell zu Ende sein und auch die Ge-duld der jungen Iraner mit dem moderaten Präsidenten.

    In Journalistenrunde wird heftig gestritten

    Vor allem aber ist man nach jahrelanger Iso-lation in der Weltgemeinschaft offensicht-lich streitlustig. Die Besuche bei der staatli-chen Nachrichtenagentur IRNA zeigen dies ebenso deutlich wie Gespräche mit Medien, die weniger unter dem Einfluss des Staates stehen. Der Chef der IRNA, Mohammed Khodadadi lädt die Journalistendelegation zu einer großen Diskussionsrunde mit der gesamten Führung der Nachrichtenagen-tur und namhaften Vertretern der Universi-täten, bei der intensiv über die unterschied-lichen Weltanschauungen gestritten wird. Diese hitzige Runde, bei der alle landläufi-gen gegenseitigen Vorurteile und Vorwürfe offen wie selten zuvor auf den Tisch kom-men, zeigt, wie viel Diskussionsbedarf zwi-schen den beiden Welten besteht.

    Es besteht aber nicht nur Redebedarf bei den iranischen Medien. Am Gespräch mit der deutschen Frankfurter Allgemeine Zeitung, der Schweizer Neue Zürcher Zeitung, der österreichischen Kleine Zeitung und der Wochenzeitung Die Zeit sind auch der Prä-sidenten-Stabschef Mohammad Nahavan-dian, Vizeaußenminister Majid Takht Ra-vanchi sowie der Sprecher des Obersten Nationalen Sicherheitsrates Keyvan Khos-ravi interessiert. Sie alle antworten gedul-dig und höflich auf die vielen kritischen Fra-gen, nutzen dann aber auch im Anschluss die Gelegenheit, ihre Ungeduld auszudrü-cken, das zögerliche Vorgehen der Europäer und der Amerikaner anzusprechen und die Doppelmoral des Westens in ihrer Politik im Nahen Osten zu kritisieren. Ohnehin sind neben der Prima Causa noch der Syrien-krieg, der Konflikt zwischen Saudi-Arabien

    und Iran sowie die Bekämpfung der Terror-miliz „Islamischer Staat“ die maßgeblichen Themen bei den politischen Gesprächen.

    In Teheran wird gerade aber nicht nur in den politischen Zirkeln alles für die „Ope-ration Goldrausch“ vorbereitet. Nahezu täg-lich reisen Wirtschaftsdelegationen aus Eu-ropa an, um nach dem Sanktionsende die Möglichkeiten für das große Geschäft aus-zuloten.

    Ein Standardprogrammpunkt für alle Delegationen ist das Autowerk der Kho-dro Industriegruppe. Auch der Journalisten-gruppe öffnen sich die Werktore und man präsentiert voller Stolz das eigene iranische Fahrzeugmodell, die Produktionslinien mit westlichen Modellen und vor allem die vie-len Maschinen mit dem Label „Made in Ger-many“. Deutsche Ingenieurskunst hat im Iran einen enorm guten Ruf. Über die Sank-

    tionen und ihre Folgen verliert man aller-dings kein Wort. Ob es zu Produktions-engpässen kam, wie fehlende Rohstoffe kompensiert wurden, wie man Zahlungen mit Kunden und Lieferanten abgewickelt hat, während man vom internationalen Bankensystem abgekoppelt war, will man nicht beantworten. Die Pressesprecherin reagiert auf jede verdächtige Frage überaus gereizt. Andere technische Mitarbeiter ant-worten da schon freigiebiger und geben ei-nen kleinen Einblick, wie schwer das Leben der Wirtschaftstreibenden, aber auch der normalen Menschen während der Sank-tionen gewesen sein muss – und zum Teil noch immer ist.

    Wie überall auf der Welt – Hektik im Newsroom

    Laut staatlicher Nachrichtenagentur IRNA sind „höchtens acht Journalisten in Haft“. Reporter ohne Grenzen hat andere Zahlen

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  • Die iranische Wirtschaft wartet des-halb noch ungeduldiger als die Politik auf den freien Zugang zum Weltmarkt sowie auf die Aufhebung der Hemmnisse im Zah-lungsverkehr und man hört oft bei Gesprä-chen mit Unternehmern in Teheran, dass man sich noch mehr Tempo wünsche. Die Sanktionen haben das Land ausgedürstet, doch sie haben auch einen Sinneswandel bewirkt. „Wir sind an einem historischen

    Wendepunkt angelangt“, sagt Mohsen Jalalpour. Der Präsident der iranischen In-dustrie-, Handels-, Montan- und Landwirt-schaftskammer bestätigt, dass viele Sekto-ren vom Öl abhängig sind. „Alle Fehler, die wir gemacht haben, wurden früher mit Öl-geld abgefangen“, sagt Jalalpour. Das habe sich während der Sanktionen gerächt, wes-halb man nun die Abhängigkeit vom Öl ver-ringern müsse. Der Blick richtet sich dabei auch auf die Solarenergie, allerdings trägt sie bislang weniger als ein Prozent zur Ener-gieerzeugung bei. Das Land wird zu knapp 67 Prozent von Gas und zu ungefähr 25 Pro-zent vom Öl angetrieben. Atomenergie macht drei Prozent aus, Wasserkraft immer-hin fast acht. Jalalpour lässt während des Gesprächs nicht nur den im Iran bei jedem Gespräch üblichen Willkommenstee servie-ren, er reicht auch reichlich Pistazien. Kein Wunder, gehört der Wirtschaftskammer-chef doch zu den größten Pistazienprodu-zenten des Landes. Der Iran wiederum ist Weltranglistenerster beim Export der klei-nen Steinfrucht.

    „Unsere rote Linie ist die Wahrheit“Eine rote Linie allerdings spürt man bei al-len offiziellen Gesprächen im Iran glei-chermaßen. Es ist die Frage nach den Ar-beitsbedingungen von Journalisten. Aus westlichen Diplomatenkreisen heißt es dazu, 40 bis 50 iranische Journalisten sit-

    zen in Haft. Diese Zahl will man aber weder bei der IRNA, noch im Informationsminis-terium, noch von staatsfernen Medien be-stätigen. Im Gegenteil: Wenn Journalisten derzeit in Haft seien, und das wären allen-falls sieben oder acht, dann hätte das ba-nale Gründe und keine presserechtlichen. Also private Verfehlungen, wie sie auch ei-nem Bäcker, Banker, Landwirt oder sonst wem passieren würden. Der Chefredak-teur der IRNA rühmt sich sogar, dass die Re-gierung bisher schon vier Prozesse gegen ihn angestrebt habe, aber er ausnahms-los alle gewonnen hätte. „Unsere rote Li-nie ist die Wahrheit“, sagt Khodadadi. Doch Khodadadi hält es offenbar selbst mit der Wahrheit nicht ganz so genau. Denn Key-van Khosravi bekräftigt, dass es sehr wohl rote Linien im Land gibt und er ist schließ-lich der Sprecher der mächtigsten Institu-tion im Land. Alle grundlegenden Entschei-dungen werden im Obersten Nationalen Sicherheitsrat getroffen. Neben dem Präsi-denten sitzen im Rat der Chef der Revolu-tionsgarde, der Generalstabschef und der Militärchef, der Geheimdienstchef, der Chef des Wächterrates und der Oberste Richter – alle vom Revolutionsführer ernannt, der in diesem großflächig abgeschirmten und schwer bewachten Komplex im Nachbar-gebäude sitzt. Zu den roten Linien gehören laut Khosravi Themen, die die nationale Si-cherheit gefährden oder die Lage aufwie-geln könnten, etwa durch Populismus oder Rassismus sowie moralische Verfehlungen. Allerdings sei derzeit kein Journalist in Haft, der nach diesen Kriterien angeklagt wurde, sagt Khosravi. Der nationale Sicherheitsrat sei ja schließlich kein Überwachungsappa-

    Ständig im Dialog, um Fakten und Meinungen zu sammeln

    rat, behauptet Khosravi, denn man habe ein gutes Verhältnis zu den Medien, um im Vorfeld bereits zu verhindern, dass diese ro-ten Linien überschritten werden. Allein sein Nachsatz zeigt, wie gut die Schere im Kopf der Journalisten offenbar funktioniert.

    In einem ist sich IRNA-Chefredakteur Khodadadi allerdings mit den ausländi-schen Printjournalisten einig. Auch ihn um-treibt die Sorge, dass Zeitungen und Zeit-schriften mit einer mächtigen Konkurrenz zu kämpfen haben und zeigt vieldeutig auf sein Mobiltelefon. „Wir müssen etwas an-ders machen, aber wissen noch nicht was. Zeitungen und Zeitschriften werden in Zu-kunft in dieser Form nicht mehr gebraucht.“ Deshalb baut die IRNA derzeit den iranisch- und den englischsprachigen Internetauf-tritt aus. Bei der digitalen Nutzung von Me-dien sind die jungen Iraner dem Westen vielleicht sogar voraus.

    Die Pressereise wurde unter der Leitung des Fachgruppenleiters für Internationale Beziehungen, Shams-Ul Haq (Bild Mitte), in Kooperation mit iranischen Behörden und mit Unterstützung von Turkish Airlines organisiert

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    Den Text schrieb Ingo Hasewend. Er ist Ressortleiter Außenpolitik bei der Publikation Kleine Zeitung (www.kleinezeitung.at) in Österreich.

    Die Bilder stammen von Arnulf Stoffel. Das langjährige DPV-Mitglied arbeitet als Bildautor und freier Pressefotograf im In- und Ausland für Print- und Onlineme-dien sowie Presseagenturen. Arnulf Stoffel befindet sich immer auf der Suche nach neuen Motiven, außergewöhnlichen Bild-Ideen und besonderen Aufnahme-techniken und war dazu unter anderem im karibischen und asiatischen Raum unterwegs. www.octokopter.net

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    D as Urheberrecht zieht die Grenzen der Nutzung von In-halten. Nicht selten jedoch missachten Journalisten aus Unwissenheit diese Grenzen, da ihnen die Regelungen des Urheberrechtsgesetzes (UrhG) weitge-hend unbekannt sind. Schon geringfügige Verletzungen des Urheberrechts oder des Leistungsschutzrechts des Lichtbildners werden als Urheberrechtsverletzung qua-lifiziert. Dann drohen Abmahnungen, die nicht selten erhebliche Kosten nach sich ziehen.

    Die Nutzung, also Vervielfältigung, Ver-breitung sowie das öffentliche Zugänglich-machen gemeinfreier, weil nicht geschütz-ter Inhalte und Bilder, ist grundsätzlich problemlos möglich. Gleiches gilt, wenn die Art der Nutzung das Urheberrecht gar nicht betrifft (beispielsweise beim Framing) oder sofern eine der „Schranken“ des Ur-heberrechts – also eine der gesetzlichen

    liegt, ist eine Bewertungsfrage, die den Ge-richten gewisse Spielräume einräumt – mit der Folge von Unsicherheiten für etwaige Streithähne.

    Die sogenannten „verwandten Schutz-rechte“ ergänzen das Urheberrecht. Sie ge-währen etwa dem Fotografen neben dem Urheberrecht in §§ 72ff. UrhG ein weiteres Schutzrecht, das auch solche Fotografien betrifft, die nicht die notwendige Schöp-fungshöhe aufweisen und nur als „Schnapp-schüsse“ zu qualifizieren sind. Fotografien sind damit umfassender geschützt als an-dere Werkkategorien, wie etwa Texte, weil sich in Bezug auf Fotografien nämlich die Frage nach der „schöpferischen Eigentüm-lichkeit“ nicht stellt. Sie sind ausnahmslos geschützt. Fotografen können ihre Rechte damit einfacher durchsetzen als etwa Urhe-ber von Texten oder Gemälden.

    Wird in der nächsten Ausgabe des journalistenblatt fortgesetzt

    Olaf Kretzschmar ist der Spezialist für Medien- und Presserecht im Journalisten-zentrum Deutschland. Er steht den Mitgliedern von DPV und bdfj auch innerhalb der kostenfreien Rechtsberatung für Fragen zur Verfügung. Der Journalist und Hausjustiziar führt eine eigene Kanzlei (www.kiel-recht.de) und verfasst im „Brennpunkt Recht“ regelmäßig Fachartikel.

    Ausnahmen – greift. Aber was ist über-haupt durch das Urheberrecht geschützt? Das Urheberrechtsgesetz schützt im Teil 1 das eigentliche Urheberrecht, im Teil 2 so-genannte „verwandte Schutzrechte“; die übrigen Teile des Gesetzes regeln weitere Besonderheiten dieser sogenannten Imma-terialgüterrechte.

    Ein Urheberrecht kann entstehen für Werke der Literatur, Wissenschaft und Kunst (§ 1 UrhG). Was das im Einzelnen alles sein kann, stellt das Gesetz beispielhaft in ei-nem Katalog dar (§ 2 Abs. 1 UrhG). Für Jour-nalisten sind die wichtigsten daraus regel-mäßig „Sprachwerke“, „Lichtbildwerke“ und

    „Filmwerke“, also Texte, Fotos und Filme. Be-reits durch den Akt der Schöpfung entsteht das Recht am Werk, vollkommen automa-tisch, ohne dass es einer Registrierung be-darf. Aber längst nicht jedes Geisteswerk ist auch schutzfähig. Allgemein muss ein Werk, um Urheberrechtsschutz zu genie-ßen, eine „persönliche geistige Schöpfung“ sein (§ 2 Abs. 2 UrhG). Damit es schutzfähig ist, muss jedes Werk eine gewisse „schöpfe-rische Eigentümlichkeit“ oder sogenannte

    „Schöpfungshöhe“ aufweisen (vgl. z.B. BGH, Hinweisbeschluss vom 26.02.2014, Az. I ZR 121/13). Die üblichen journalistischen Leis-tungen erfüllen diese Voraussetzung in al-ler Regel. Ein Werk, das keinerlei schöpfe-rische Züge aufweist, ist von vornherein nicht urheberrechtlich geschützt. Ab wann genau eine Schöpfung in diesem Sinne vor-

    Journalisten arbeiten mit urheber - rechtlich geschützten Inhalten. Es ist dadurch sehr wahrschein-lich, dass sie sich früher oder später mit den entsprechenden rechtlichen Rahmenbedingungen vertraut machen müssen, die den Umgang mit Lichtbildern und Lichtbildwerken regeln. Bestimmte Nutzungen sind pro-blemlos erlaubt, doch sind dabei die Grenzen des Erlaubten genau-estens einzuhalten, um rechtliche Konflikte zu vermeiden.

    Rechtliche Grenzen des Fotojournalismus Teil 1

    Eine „persönliche geistige Schöpfung“ genießt den Urheberrechtsschutz

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    Wann das Fotografieren verboten oder nur eingeschränkt erlaubt ist, erfahren Sie in den kommenden Folgen dieses Artikels

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  • O b USA, Russland, Tansania oder Iran – in vielen Ländern außer-halb der EU dürfen deutsche Medienschaffende nur mit einem speziel-len Visum journalistisch tätig werden. Wer mit einem Touristen- oder Geschäftsvisum einreist und berichtet, muss mit Auswei-sung rechnen.

    Je nach Staat wird bei einem Visum zwi-schen Journalisten/Korrespondenten und technischen Mitarbeitern wie Kameraleu-ten oder Tontechnikern unterschieden. Zum Teil werden je nach geplanter Aufent-haltsdauer unterschiedliche Visa erteilt.

    So gibt es für China beispiels-weise zeitlich begrenzte und langfristige Akkreditierun-gen für ausländische Jour-nalisten. Insbesondere bei

    kürzeren Aufenthal-

    hörden fordern für den Visumsantrag neben einem gültigen Reisepass eine Bestätigung des Medienunternehmens, für das berichtet werden soll. Auch freie Jour-nalisten brauchen ein solches Schriftstück. Bei dem Medienhaus, das den Journalis-ten entsendet, durfte es sich bis vor kur-zem nicht um ein US-Unternehmen mit Sitz in den Vereinigten Staaten handeln. Im Gegensatz zu früher ist es aber jetzt eben-

    ten verlangen die Behörden genaue Infor-mationen zur geplanten Berichterstattung. So fordert China beispielsweise mit dem Vi-sumsantrag einen Zeitplan mit allen Dreh- oder Interviewterminen sowie schriftliche Bestätigungen der Interviewpartner.

    Für die USA benötigen Journalisten ein sogenanntes I-Visum. Es muss beim US-Konsulat in Deutschland beantragt werden. Es zählt zu den Nichteinwanderungsvisa und ist zeitlich begrenzt gültig. Die US-Be-

    Für viele Länder außerhalb der EU müssen Medienschaffende aus Deutschland ein Visum beantra-gen, wenn sie dort journalistisch tätig werden wollen. Das erfordert eine Reihe von Unterlagen und ei-nigen zeitlichen Vorlauf.

    Einige Länder machen den Weg zum Journalistenvisum beschwerlich

    Wer beruflich viel unterwegs ist, weiß: jedes Land hat seine eigenen Regeln

    Lizenz zum BerichtenJournalistenvisum außerhalb der EU

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  • falls möglich, dass die Bescheinigung des Ar-beits-/Auftraggebers durch ein US-Unter-nehmen (Zweigstelle, Büro oder Tochter eines amerikanischen Netzes, ei-ner Zeitung oder anderen Me-dienstelle) erstellt wird. Dies gilt aber nur, wenn der Journalist in die Vereinigten Staaten reist, um „über Ereignisse innerhalb der USA ausschließlich für ein Publikum oder eine Leserschaft außerhalb des Lan-des“ zu berichten. Ansonsten ist es wich-tig, dass erkennbar wird, dass der Journalist kein Gehalt beziehungsweise keine Hono-rarleistungen aus US-Quellen erhält, son-dern alle Entgeltzahlungen weiterhin über Deutschland (bzw. Österreich, Schweiz …) geleistet werden. Journalisten, die amerika-nische Journalisten ersetzen oder verstär-ken, die über Ereignisse in den USA für ein amerikanisches Publikum berichten, benö-tigen ein Arbeitsvisum. Zwingend erforder-lich ist weiterhin die Vorlage des Presseaus-weises, welchen die Berufsverbände DPV oder bdfj nach entsprechendem Nachweis für Journalisten ausstellen. Zudem ist noch ein persönliches Interview in einem der zu-ständigen US-Konsulate in Deutschland

    notwendig.Ähnliche Bestimmun-

    gen gelten auch

    bei Journalistenvisa für an-dere Staaten. Oft werden die Anträge erst von den Behörden in den jeweili-gen Ländern geprüft. So

    entscheidet beispielsweise in Russland das Außenministe-

    rium über die Vergabe eines Jour-nalistenvisums. Neben Pass und Arbeitsbe-stätigung des Medienunternehmens wird hier auch ein Lebenslauf mit Angaben zur journalistischen Laufbahn gefordert. Eine Akkreditierung als freier Journalist ohne fes-ten Auftraggeber ist nicht möglich.

    Grundsätzlich gilt, dass für einen Vi-sumsantrag genügend zeitlicher Vorlauf eingeplant werden sollte. Für die USA muss der Antrag mindestens 30 Tage vor Abreise gestellt werden, für China 20 Tage vorher. Bei den russischen Behörden kann es bis zu zwei Monate dauern, bis eine Entschei-dung zum Visumsantrag vorliegt.

    Partner und Kinder bekommen in der Regel auf Antrag ebenfalls ein Aufenthalts-recht. Ob sie im Gastland einer eigenen be-ruflichen Beschäftigung nachgehen kön-nen, ist unterschiedlich geregelt. In den USA dürfen mitreisende Angehörige ohne gesondertes Arbeitsvisum nicht Erwerbstä-tig sein.

    Wer sich nicht selbst en Detail mit den jeweiligen Bestimmungen für die Akkredi-tierung als Journalist auseinandersetzen

    möchte, kann eine Ver-mittlungsagentur beauf-tragen. Gegen Gebühr wird Hilfe bei der An-tragstellung und eventu-ellen rechtlichen Kompli-kationen angeboten.

    Informationen zu den Bedingungen und geforderten Unterlagen für ein Journalistenvisum sind über die konsularischen Vertretungen der Staaten in Deutschland erhältlich. Zum Teil informieren auch die deutschen Auslands-vertretungen über Visabestimmungen in den jeweiligen Ländern. Aus der Reihe

    „Wissen für Journalisten“ können die Mit-glieder von DPV und bdfj in der Bundes-geschäftsstelle die kostenfreie Publikation

    „Das Journalisten-Visum“ (Schrift Nr. 8515) abfordern.

    Hilfreiche Links:

    USA: http://www.ustraveldocs.com/de_de/de-niv-typei.asp

    Russland: http://www.germania.diplo.de/Vertretung/russland/de/07-russlandinfo/3-leben-arbeiten/journalist/0-journalist.html

    http://www.mid.ru/de/spisok

    China: http://www.china-botschaft.de/det/Correspondents/t555323.htm

    Mirjam Büttner ist freie Journalistin und arbeitet im Medienbüro Hamburg – einer kirchlichen Aus- und Weiterbildungsein-richtung für Print, Radio, TV und Online, die seit über 20 Jahren besteht. Beim Journalistenzentrum Deutschland steht sie den Mitgliedern von DPV und bdfj über die Journalistenberatung gerne zur Verfügung.

    Wer in Russland im öffentlichen Raum dreht, sollte zur Vermeidung von Repressalien im Besitz der erforderlichen Erlaubnisse sein

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    13Journalistenblatt 2|2016

  • Z unehmend autokratische Ten-denzen in Ländern wie Ägyp-ten, Russland oder der Türkei tra-gen zu diesem Trend ebenso bei wie die bewaffneten Konflikte etwa in Libyen, Bu-rundi und dem Jemen. Negativ wirken sich auch die Bestrebungen der Regierun-gen in Ländern wie Polen und Ungarn aus, staatliche und private Medien unter ihren Zugriff zu bringen.

    „Viele Staatsführer reagieren geradezu paranoid auf legitime Kritik durch unab-hängige Journalisten“, sagte ROG-Vor-standssprecher Michael Rediske. „Wenn sich selbstherrliche Präsidenten und Regie-rungen per Gesetz jeder Kritik entziehen, fördert das Selbstzensur und erstickt jede politische Diskussion. Dabei sind lebendige, debattierfreudige Medien gerade dort nö-tig, wo die Probleme am größten sind und

    sich Gesellschaften über den besten Weg in die Zukunft verständigen müssen.“

    Zu den Gefahren für die unabhängige Berichterstattung gehören auch medien-feindliche, oft religiös eingefärbte Ideolo-gien sowie repressive Sicherheitsgesetze. Viele Länder haben Gesetze verabschiedet, mit denen Journalisten etwa wegen ver-meintlicher Präsidentenbeleidigung, Got-teslästerung oder Unterstützung terroris-

    Rangliste der PressefreiheitJournalisten und unabhängige Medien stehen weltweit unter zunehmendem Druck. In allen Weltregionen ist im vergangenen Jahr ein Rückgang ihrer Freiräume zu beobachten gewesen. Das geht aus der Rangliste der Pressefreiheit 2016 hervor, die Reporter ohne Grenzen (ROG) im Mai veröffentlicht hat.

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    14

  • tischer Gruppen ins Gefängnis gebracht werden können. Eine weitere Gefahr geht von Oligarchen aus, die Medien in ihrem Besitz für ihre politischen oder wirtschaft-lichen Zwecke instrumentalisieren wollen.

    Deutschland hat sich in der diesjähri-gen Rangliste um vier Plätze auf Rang 16 verschlechtert – eine Folge der stark gestie-genen Zahl von Anfeindungen, Drohungen und gewalttätigen Übergriffen gegen Jour-nalisten.

    Die Rangliste der Pressefreiheit 2016 vergleicht die Situation für Journalisten und Medien in 180 Staaten und Territorien. Un-tersucht wurde im Wesentlichen das Kalen-derjahr 2015. Grundlage der Rangliste ist ein Fragebogen zu allen Aspekten unab-hängiger journalistischer Arbeit sowie die von ROG ermittelten Zahlen von Übergrif-fen, Gewalttaten und Haftstrafen gegen Journalisten. Daraus ergeben sich für jedes Land Punktwerte, die im Verhältnis zu den Werten der übrigen Länder die Platzierung in der Rangliste bestimmen. Je nach dem Abschneiden anderer Länder kann ein Land

    deshalb im Einzelfall in der Rangliste auf-rücken, obwohl sich seine Punktzahl ver-schlechtert hat.

    Wichtige Auf- und AbsteigerGrößte Absteiger in der Rangliste 2016 sind Tadschikistan (Platz 150, -34) und Brunei (155, -34). In Tadschikistan macht Präsident Emomali Rahmon unter dem Vorwand der Terrorismusbekämpfung Kritiker mundtot. In Brunei nimmt angesichts der schrittwei-sen Einführung der Scharia und eines Blas-phemieverbots die Selbstzensur zu. Polen stürzte um 29 Plätze auf Rang 47 ab – eine Folge der zielgerichteten Bestrebungen der neuen Regierung, die Eigenständigkeit der öffentlich-rechtlichen Medien einzuschrän-ken und private Medien zu „repolonisieren“.

    Größter Aufsteiger ist Tunesien (96, +30), das ungeachtet aller weiterhin bestehen-den Defizite die Früchte der Medienrefor-men seit dem Umbruch von 2011 zu ernten beginnt. Gewalt und Prozesse gegen Jour-nalisten sind dort weiterhin ein Problem, aber in der Tendenz rückläufig.

    Bei Journalisten in Sri Lanka (141, +24) schwindet nach dem Ende der Ära von Präsident Mahinda Rajapaksa die Angst vor Drohanrufen oder erzwungenem Ver-schwindenlassen. Die Ukraine (107) wird dank deutlich zurückgegangener Gewalt gegen Journalisten und überfälliger Refor-men 22 Plätze höher platziert, leidet aber weiterhin unter Problemen wie der über-mächtigen Rolle der Oligarchen für die Me-dienlandschaft und dem Informationskrieg mit Russland.

    Spitzenreiter und SchlusslichterDie Spitzenplätze der Rangliste nehmen Finnland, die Niederlande und Norwegen ein. Dazu tragen etwa liberale Regelungen über den Zugang zu Behördeninforma-tionen sowie der Schutz journalistischer Quellen bei. Am Ende der Rangliste hal-ten sich unverändert Eritrea (180), Nordko-rea (179) und Turkmenistan (178) – Dikta-turen, die die Medien ihrer Länder so gut wie vollständig kontrollieren. Eritrea lässt neuerdings zwar vereinzelt ausländische Journalisten ins Land reisen, hält deren ein-heimische Kollegen aber zum Teil seit fast 15  Jahren unter erbärmlichen Bedingun-gen gefangen.

    DeutschlandInsgesamt ist das Arbeitsumfeld für Jour-nalisten in Deutschland gut. Aber auch hier wurden in den vergangenen Jahren Jour-

    nalisten staatlich überwacht, etwa, wenn sie in der rechtsextremen Szene recher-chierten. Während der öffentlich-rechtliche Rundfunk gebührenfinanziert wird, müs-sen immer mehr Zeitungen ums Überleben kämpfen. Die Anzahl der Zeitungen mit ei-gener Vollredaktion geht zurück. Der Zu-gang zu Behördeninformationen ist je nach Bundesland unterschiedlich geregelt und mit Zeit und Kosten verbunden. Journalis-ten werden von Rechtsextremen und Sala-fisten angegriffen.

    Methodik der RanglisteDie jährliche Rangliste von Reporter ohne Grenzen bewertet die Lage der Presse- und Informationsfreiheit in 180 Ländern. Grund-lage der Rangliste ist ein Fragebogen zu al-len Aspekten unabhängiger journalistischer Arbeit, den Reporter ohne Grenzen in 20 Sprachen an Hunderte Journalisten, Wis-senschaftler, Juristen und Menschenrechts-verteidiger weltweit sowie an sein eigenes Korrespondentennetzwerk verschickt.

    Die aktuelle Rangliste bezieht sich auf das Jahr 2015 sowie für Übergriffe, Gewalt-taten und Haftstrafen zusätzlich auf den Zeitraum November bis Dezember 2014, der in der vorangegangenen Rangliste noch nicht berücksichtigt werden konnte.

    Die insgesamt 87 qualitativen Fragen sind in sechs Kategorien unterteilt: Me-dienvielfalt, Unabhängigkeit der Medien, journalistisches Arbeitsumfeld und Selbst-zensur, rechtliche Rahmenbedingungen, institutionelle Transparenz sowie Produk-tionsinfrastruktur. Aus den gewichteten Antworten wird eine Punktzahl zwischen 0 (optimal) und 100 (schlechtestmöglich) er-rechnet.

    Hinzu kommt eine quantitative Kate-gorie für Übergriffe, Gewalttaten und Haft-strafen gegen Journalisten, die Reporter ohne Grenzen nach festgelegten Kriterien selbst ermittelt. Sie fließt in eine Gesamt-punktzahl ein, aus der sich im Verhältnis zu den Ergebnissen der übrigen Länder der jeweilige Platz in der Rangliste ergibt. Die Punktzahl für Übergriffe kann den Rang ei-nes Landes dabei nur verschlechtern, aber nicht verbessern.

    Der Indikator der Pressefreiheit welt-weit ergibt sich aus dem Durchschnitt mehrerer Indikatoren für die verschiede-nen Weltregionen. Diese bilden ihrerseits jeweils den nach Bevölkerungszahlen ge-wichteten Durchschnitt der Punktzahlen der jeweiligen Staaten ab.

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    15Journalistenblatt 2|2016

  • I ch gehöre der Generation an, deren Blick auf Boulevardzeitungen früh von Günter Wallraff und Heinrich Böll geprägt wurde. Der Nobelpreisträger Böll hatte Boenisch in den späten Sechzi-gerjahren nicht nur wegen der scharf anti-linken Haltung der BILD-Zeitung sondern auch wegen Schlagzeilen wie „Der Mond ist jetzt ein Ami“ als „Platitüdenkrieger“ ab-gekanzelt.

    An der Schlagzeile zur ersten Landung auf dem Mond im Juli 1969 konnte ich 34 Jahre später nichts Anstößiges mehr ent-decken. Aber Wallraffs BILD-Buch und sein tollkühnes Eindringen als mit falschem Na-men getarnter Agent in die hannoversche Lokalredaktion der BILD wirkten 2003 im-mer noch nach. Zumindest als ein Bei-spiel dafür, was Journalismus alles ist. Ich kann mich heute noch erinnern, wo und wann ich 1977 im Radio die Nachricht ge-hört hatte, dass Wallraff sich inkognito bei BILD hatte anwerben lassen – so wie an-dere noch genau wissen, was sie taten, als Kennedy ermordet wurde oder als die Flug-zeuge ins World Trade Center flogen. Und ich kann sagen, dass ich damals elektri-sierte Genugtuung empfand.

    Dabei hatte die BILD-Zeitung in meiner Sozialisation als Leser eine wichtige Rolle gespielt. In den frühen Siebzigerjahren, als ich in der fünften und sechsten Klasse des Gymnasiums war, kaufte ich sie mir jeden Morgen vor der Schule in einem Tabakwa-

    renladen im Braunschweiger Magniviertel. Die alleinige Lektüre meines Heimatblatts genügte mir nicht mehr, aber die großen Qualitätszeitungen lagen noch jenseits meines kindlichen Horizonts. Der Händ-ler war begeistert und schenkte mir eines Tages den Spiegel. Das Heft habe ich dann wochenlang abgearbeitet, ein Artikel pro Tag, aber die Lektüre der BILD hatte mich vorbereitet auf das Magazin, dessen bou-levardeskes Flair nur etwas besser kaschiert war.

    Ich bin ein Beispiel für die Einstiegsfunk-tion, die Boulevardmedien haben. In Län-dern ohne große Boulevardzeitungen wie Frankreich oder Spanien wird traditionell weniger Zeitung gelesen. Nicht nur, weil dort keine Massenblätter mit Millionenauf-lagen die Statistiken verbessern. Sondern auch, weil viele Menschen nie eine Chance hatten, sich von den einfach gestrickten

    Produkten zu etwas höherstirnigen Medien vorzuarbeiten. Doch selbst, wenn sie ihr Le-ben lang nur eine Boulevardzeitung lesen würden, wäre das besser als gar keine Zei-tung. Denn wer sich eine Welt ohne Boule-vardmedien wünscht, will eine Welt, in der der einfacher gestrickte Teil der Bürger von vielen Informationen ausgeschlossen wäre.

    Während ich mich für die Rede mit Boe nischs Leben beschäftigte, wurde mir klar, dass Boulevardzeitungen auch noch aus anderen Gründen für Demokratien un-erlässlich sind. Nicht umsonst wurden sie in Ländern wie England und den USA erfun-den, die für ein Land wie Deutschland Vor-bilder im Frei-Sein ebenso wie in puncto Zeitungsqualität sind. Diktaturen halten sich allenfalls Boulevardsimulationen wie B.Z. am Abend in der DDR. Doch das Inte-resse an der schmutzigen Wäsche der Pri-vilegierten – zu denen in Zwangssystemen immer auch Schauspieler und Künstler, also die Objekte des Klatschjournalismus, ge-hören  – verträgt sich nicht mit der Para-noia autoritärer Regime. Nach dem Ende des Kommunismus schossen in Osteuropa überall Boulevardzeitungen aus dem Bo-den. Oft waren sie kurzlebig. Häufig war das, was drinstand, nicht schön. Aber Mei-nungsfreiheit ist ohne sie nicht zu haben.

    Boulevardzeitungen sind auf eine rup-pige Weise egalitär. Es schien in den Sechzi-gerjahren keine zwei Phänomene zu geben, die weniger miteinander gemein hatten als

    VON MAT THIAS HEINE

    Als der ehemalige BILD-Chefredakteur Peter Boenisch 2003 das Große Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland bekam, hatte ich die heikle, aber passabel bezahlte Aufgabe,

    die Rede zu schreiben, die die verleihende Ministerin hielt. Für mich persönlich war das eine Gelegenheit zu einer späten, aber überfälligen Annäherung an einen Mann, der in meiner

    Ideenwelt einmal das absolute Böse verkörpert hatte.

    Boulevard ist Meinungsfreiheit

    Wer sich eine Welt ohne Boulevardmedien wünscht, will eine Welt,

    in der der einfacher gestrickte Teil der Bürger von vielen Informationen

    ausgeschlossen wäre.

    16 Journalistenblatt 2|2016

  • Boenischs BILD und die politischen Bewe-gungen, die man heute unter dem Kürzel 1968 summiert. „Springer hat mitgeschos-sen“, hieß es nach dem Attentat auf Rudi Dutschke. Doch die Achtundsechziger und BILD waren zwei Seiten desselben gesell-schaftlichen Trends. Die Honoratiorenwelt der frühen Nachkriegszeit wurde infrage gestellt. Bis dahin hatte eine relativ kleine Kaste das Monopol auf die Deutung der Dinge gehabt. Im Zweifelsfalle entschied sie, ihre Schäfchen von bestimmten Infor-mationen und Erklärungsmodellen fernzu-halten. Das wurde nun schwieriger.

    Das waren die Einfälle, die mir durch den Kopf und in den Computer gingen, als ich die Rede schrieb. Sie wurden anlässlich der Verleihung vorgetragen. Boenisch lä-chelte dazu freundlich wie einer, den nichts Schräges über seine Person mehr erschüt-tern kann. Der ehemalige Bundespräsident und FDP-Politiker Walter Scheel saß im Pu-blikum und nickte beständig zustimmend mit dem Kopf. Diese Szene hätte mir als jungem Wallraff-Fan, wenn ich sie denn vo-rausgesehen hätte, vermutlich arge Kopf-

    schmerzen bereitet. Ich glaube dennoch, auch jetzt, 13 weitere Jahre später, dass ich recht hatte.

    Der Hass auf BILD, B.Z. und andere Bou-levardblätter, den die Achtundsechziger kultivierten, war im Grunde genommen Konkurrenzwut. Und natürlich Ausdruck eines tiefen Misstrauens gegenüber dem Volk. Es handelt sich bei den Achtundsech-zigern schließlich um eine jüngere Frak-tion des Establishments, die nur die ältere zu verdrängen suchte. Da mochten sie in ihrem masochistischen Gehirnwäscheritu-alen noch so oft daherbeten „Der Prolet hat immer recht“. Der Prolet hörte schon auf, recht zu haben, wenn er zum Kiosk ging und „die Zeitung mit den großen Buch-staben“ kaufte – dieses Synonym für BILD

    habe ich lange nicht mehr gehört, aber da-mals war es in aller Munde, als ob man den Namen, wie den des Teufels, besser nicht aussprechen sollte.

    Die sich selbst antiautoritär nennende Linke war ziemlich autoritär. Sie wollte das zu erziehende Volk gerne genauso unge-stört mit ausgewählten Informationen füt-tern, wie es die Altvorderen mit ihren we-nigen öffentlich-rechtlichen Sendern, ihren braven Heimatblättern und ihren Qualitäts-zeitungen, in denen der akademische Ton jede Breitenwirkung verhinderte, taten. Sie wollte die Meinungsfreiheit sogar lieber ganz ausradieren. Gesellschaftliche Leitbil-der waren die Sowjetunion und China. Re-gulierte kommunistische Utopien, in denen die weisen intellektuellen Väter des Zentral-komitees die Geschicke des Volkes lenkten. Da störten nur neue Medien, die sich vor al-lem an den spontanen Instinkten der Mas-sen orientierten.

    Dass diese Instinkte nicht immer rein sind, ist nicht die Schuld der Boulevardzei-tungen. Gemütlicher wird die Welt nicht, wenn sich die bisher zu kurz Gekommenen artikulieren. Das war während der Franzö-sischen Revolution so, wo die Erwähnung in einem der vielen Kampfblätter die Er-wähnten den Kopf kosten konnte. Aber auch im Frankreich der Restauration zogen Zeitungen Krone, Militär und Kirche in den Schmutz. In Balzacs Roman „Verlorene Illusi-onen“ hallt die Empörung über die Respekt-losigkeit der Journaille nach. Das Lamento über die Presse, die alles skandalisiert und doch selber nicht sauber ist, kommt einem in diesen Tagen seltsam vertraut vor.

    Manchmal ist die Informations- und Mei-nungsfreiheit eben auch die Freiheit zum Pöbeln – und nicht nur gegen Erdogan.

    Deutschland fand ausgerechnet wäh-rend der Kaiserzeit Anschluss an den Rest der Welt. Nicht umsonst ist die erste hiesige Boulevardzeitung, die Berliner B.Z., genau in jener Epoche gegründet worden. Der Historiker Christopher Clark beschreibt in seiner Biografie Wilhelms II., wie der Mon-arch etwas indigniert zur Kenntnis nehmen musste, dass es in der expandierenden Me-dienwelt seines Reiches auch Blätter gab, die ihn verspotteten oder die homosexu-elle Kamarilla seines Hofes aufs Korn nah-men. Er fühlte sich dabei wohl ähnlich hilf-los wie Bundespräsident Christian Wulff 2011 und 2012, als ihm Vorwürfe wegen sei-ner Eigenheimfinanzierung und vermeintli-cher Vorteilsnahmen gemacht wurden. Es war zum Teil auch ähnlich ungerecht. Aber

    Günter Wallraff, der bei BILD Hannover Hans Esser war (1977)

    Die Demokratie wird den ganzen Rotz aushalten, wie sie die schlimmsten BILD-

    Schlagzeilen überstanden hat.

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    17Journalistenblatt 2|2016

  • es war ein Symptom für gesellschaftliche Lockerungen, für das Zerbröseln alter publi-zistischer Monopole.

    Boulevardzeitungen waren und sind ein Teil der seit über 200 Jahren anhalten-den Meinungsbefreiungsbewegung. Sie verstehen sich, wenn sie gut sind, tatsäch-lich als Stimme derjenigen, die ohne sie nicht zu Wort kommen würden. Nicht aus Idealismus, sondern aus kommerziellem Kalkül. Das illustriert die Szene aus einer Redaktionskonferenz der Berliner B.Z. 1992. Der Politikchef trug das Thema der tägli-chen Straßenumfrage vor: „Sind drei Pro-zent mehr Lohn in der Metallindustrie zu viel?“ Der stellvertretende Chefredakteur Kai Diekmann, später BILD-Chef, belehrte ihn: „Die Frage ist falsch gestellt. Sie muss lauten: Sind drei Prozent zu wenig? Wir sind das Volk.“ Das ist natürlich auch eine Hybris, die einen in den Größenwahn treiben kann. Aber mir war und ist die Haltung sympathi-scher als die unternehmerfreundlich staats-tragende Position, die hinter der Frage nach dem „zu viel“ stand. Ein aktuelles Beispiel für die guten Seiten der „Wir sind das Volk“-Position, die auch andere gute Boulevard-journalisten verinnerlicht haben, war die frühe ungeschönte Berichterstattung des Kölner Express über die Massenbelästigun-gen in der Silvesternacht, als andere Me-dien noch versuchten, die Ereignisse mit den offiziösen Verlautbarungen in Einklang zu bringen.

    Dieses Interesse am schmutzigen, lus-tigen und kriminellen Leben, das Boule-vardjournalisten im besten Falle antreibt,

    kann übrigens manchmal auch ein ganz guter Nährboden für die Kunst sein. Pedro Almodóvar zeigt in „La mala educación – Schlechte Erziehung“ einen Regisseur, der in den vermischten Meldungen nach Film-stoffen sucht. Vermutlich ist das ein biss-chen autobiografisch. Evelyn Waugh war Klatschjournalist und Ben Hecht, der größte Autor Hollywoods, Polizeireporter. Billy Wil-der erzählte immer gern, wie er für Wiener

    Boulevardblätter frühmorgens irgendwo klingeln musste: „Ich würde mit Ihnen gern über Ihren Sohn, den Massenmörder, re-den.“ Später kam er zur B.Z. Bei seinem letz-ten Berlin-Besuch, anlässlich einer Ehrung auf der Berlinale 1993, besuchte er wie je-

    des Mal die Redaktion und erzählte Anek-doten aus seiner Zeit als Witwenschüttler.

    In Deutschland blieb Will Tremper, der für den Boulevard schrieb und lebens-nahe Filme wie das Drama „Die Halbstar-ken“ drehte, eine Ausnahme. Die oft be-klagte Blutarmut der hiesigen Literatur und des Kinos hat auch damit zu tun, dass deren Schöpfer eher von den Universitäten kom-men als aus den Redaktionen. Man muss nicht unter Massenmördern recherchiert haben, um über Leben und Tod schreiben zu können. Aber manchmal hilft es.

    Fast tragisch ist allerdings, dass wir hier über die wichtigste Funktion von Boule-vardzeitungen reden, während ihr Abstieg längst im Gange ist. Einen Tag vor der Nie-derschrift dieses Artikels kam die Nachricht, die BILD-Auflage sei auf zwei Millionen ge-sunken, eine Zahl, für die Boenisch geteert und gefedert worden wäre. Zum Teil mag dieser Verlust durch Leser und Einnahmen im Internet ausgeglichen worden sein, aber wir wissen alle, dass das nicht reicht.

    An die unberechenbaren Instinkte des Plebs appellieren heute viel zu viele andere anderswo. Das gilt sowohl für das Klatsch-bedürfnis als auch für die Sehnsucht nach dem, was immer „Klartext“ genannt wird. Wenn 500 Onlineportale über den neues-ten „Nippelblitzer“ einer zweitrangigen Hol-lywood-Darstellerin berichten und 1 000 Blogs und eine Million Facebook-Kommen-tatoren das sagen, was man angeblich nicht sagen darf, dann sieht die klassische Boule-vardpresse alt und staatstragend aus. Man kann das zum Kotzen finden, aber auch über der Kloschüssel sollte man nicht ver-gessen, dass Pressefreiheit nicht nur für sau-bere und gebügelte Ansichten gilt. Die De-mokratie wird den ganzen Rotz aushalten, wie sie die schlimmsten BILD-Schlagzei-len überstanden hat. Dass das Unreine sich stolz und sichtbar aufplustern wird – egal ob im Boulevard oder im Internet –, gehört genauso zu einer offenen Gesellschaft wie Reklame, Pornografie oder die Freiheit, sei-nen Kindern bescheuerte Namen zu ge-ben. Die Alternative wäre ein Nordkorea der neutral verpackten guten Nachrichten und der lauwarm freundlichen Meinungen.

    Matthias Heine ist Kulturredakteur der Welt. Nach Jahren als Theaterkritiker schreibt er vor allem über Sprachthemen. Gerade ist sein Buch „Seit wann hat geil nichts mehr mit Sex zu tun? 100 deutsche Wörter und ihre erstaunliche Karriere“ im Verlag Hoffmann und Campe erschienen.

    Fast tragisch ist allerdings, dass wir hier über die

    wichtigste Funktion von Boulevardzeitungen reden,

    während ihr Abstieg längst im Gange ist.

    BUCHTIPP:

    Seit wann hat „geil“ nichts mehr mit Sex zu tun?100 deutsche Wörter und ihre erstaunlichen Karrieren

    Wörter werden geboren, sie sterben, sie wandern ein, sie wandern aus, und ihre Bedeutung wandelt sich. Wörter machen Geschichte. Aber wer macht eigentlich die Wörter? Da wäre zum Beispiel der Hiwi, der sich nach kalten Zeiten an der Ostfront heute in deutschen Universitäts-stuben wärmen darf. Der Hipster, der die Hautfarbe wechselte. Und der Rocker, der im Deutschen eine unerwartete Karriere als krimineller Motorradfahrer gemacht hat. Matthias Heine fahndet seit Jahren für Die Welt nach den schillerndsten deutschen Begriffen. Die besten Wort-Steckbriefe versammelt dieser Band und gibt außerdem Antwort auf die Fragen: Was ist das schwierigste Wort der deutschen Sprache? Warum haben wir seit Luther auf den Ausdruck Shitstorm gewartet? Ist Plattenbau ein westdeut-scher Kampfbegriff? Und warum müssen wir uns für das global erfolgreichste deutsche Wort ewig schämen?

    Matthias HeineISBN: 978-3-455-85149-6Preis: 11,99 Eurowww.hoffmann-und-campe.de

    18 Journalistenblatt 2|2016

  • S abine Kehm hat einen richtig schweren Job. Früher war sie selbst einmal Journalistin, heute hat sie täglich damit zu tun, ihre einstigen Kollegen abzublocken. Sie ist die Managerin des Rennfahrers Michael Schu-macher. Seit einem schweren Skiunfall ist dieser in Rehabilitation. Eine Genesungs-zeit ist eigentlich Privatsphäre pur, aber der Ex-Formel-1-Pilot ist permanent in der Öffentlichkeit. Zumindest auf den Titelsei-ten und in den Schlagzeilen der gelben Presse.

    Ein doppelt schwerer Fall sozusagen: Schumacher ist sowohl prominent wie auch Opfer. Diese beiden Gruppen haben besonders unter Berichterstattung zu lei-den, die man korrekterweise nur als „sen-sationsgeil“ bezeichnen darf. „Ich bin zur Mauer geworden“, umschreibt Kehm ihre

    Funktion, die Privatsphäre des Rennwa-genfahrers, seiner Frau Corinna und der beiden Kinder zu schützen.

    Von dem Unfall im Dezember 2013 er-fuhr sie durch den Anruf eines Journalisten:

    „Ob ich bestätigen könne, dass Michael ei-nen Unfall gehabt hätte.“ Sie wusste da-

    mals noch gar nichts, war selbst im Ur-laub. „Nach fünf Minuten hat mich schon der erste Journalist beschimpft, warum ich den Unfall nicht bestätigen würde.“

    Ihre erste Aufgabe war jetzt, die Unikli-nik in Grenoble zu sichern: vor Journalisten,

    die eindringen wollten, Ärzte und Ange-hörige anderer Patienten ansprachen. Ob-wohl Kehm betont, „entscheidende Neu-igkeiten im Gesundheitszustand Michaels weiterhin bekanntgeben“ zu wollen, und obwohl es einfach nichts Berichtenswertes gibt: Berichtet wird munter.

    „Sag uns die Wahrheit, Corinna“, „Ab-schied von der Hoffnung“, „Er ist nicht mehr unter uns. Wann bricht die Familie ihr Schweigen“, „Am Krankenbett geschah ein Wunder“, ja sogar „Wer setzt solche Ge-rüchte in die Welt?“ – so einige der Schlag-

    VON ALBRECHT UDE

    Gibt es ein „Zuviel“ an Recherche? Die Journalistenvereinigung netzwerk recherche thematisierte diese Frage gemeinsam mit der Bundeszentrale für politische Bildung auf einer Fachkonferenz. Mit den Journalisten diskutierten Betroffene des Sensationsjournalismus, Prominente und Katastrophenopfer.

    Im Visier der Meute

    Schumacher ist sowohl prominent wie auch Opfer. Diese beiden Gruppen haben besonders unter Berichterstattung zu leiden, die man korrekterweise nur als „sensationsgeil“ bezeichnen darf.

    Wie fühlt sich das an?

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  • zeilen aus Gala, die aktuelle, Frau aktuell und wie die bunten Blättchen alle heißen.

    Über 160 Unterlassungsklagen hat Kehm gegen solche „Berichte“ erwirkt. „Wir gewinnen diese Unterlassungsklagen alle.“ Trotzdem kämpft sie gegen Windmühlen. Denn Verlage und Redaktionen, deren Er-zeugnisse millionenfach verkauft werden, haben solche Kosten schon einkalkuliert. Vermutlich ein fester Etatposten: Lügenge-bühr.

    Zur Frage, wie es Michael Schumacher geht, äußerte sich Sabine Kehm nicht. Wa-rum auch? Sie war auf die Fachkonferenz des netzwerk recherche gekommen, um über ihre Erfahrungen mit internationalen Medien jeder Couleur zu sprechen.

    Zusammen mit der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) hatte der Ver-ein, dessen Motto „Recherche fördern und fordern“ lautet, im März dieses Jahres eine Fachtagung in der politischen Akademie in Tutzing am Starnberger See ausgerichtet. Unter dem Titel „Im Visier der Meute. Jour-nalistische Recherche zwischen Fairness und Exzess“ wurde jene Form der Bericht-erstattung problematisiert, die außer Rand und Band gerät. Die typischen Objekte der Presse sind Prominente und Opfer von Ka-tastrophen.

    Genau diese hatte das netzwerk als Re-ferenten gebeten. Es ist eine bemerkens-werte Leistung der Organisatoren, wen sie alles davon überzeugen konnten, über die eigene Anschauung des Journalismus zu sprechen. Ein Treffen der besonderen Art: Journalisten fragen nach den Auswirkun-gen ihres Handelns. Das ist ungewohnt.

    Jörg Kachelmann hatte zugesagt, fiel dann aber krankheitsbedingt aus. Ihm war Vergewaltigung vorgeworfen wor-den, der Prozess gegen ihn endete mit ei-nem Freispruch – Kachelmann ist also un-schuldig. Während des Prozesses galt die Unschuldsvermutung umso mehr – was nützte ihm das, da sein Privatleben von vielen Medien buchstäblich ausgebrei-tet wurde? Immerhin: Der Springer-Verlag wurde dazu verurteilt, mehrere Hundert-tausend Euro Schmerzensgeld an Kachel-mann zu zahlen.

    Erschienen waren Susanne Gaschke, die ehemalige Oberbürgermeisterin von Kiel, Gernot Lehr, der Anwalt des ehema-ligen Bundespräsidenten Christian Wulff, und Peer Steinbrück, Ex-Kanzlerkandi-dat der SPD. Sie sprachen offen gegen-über den Moderatoren und dem durch-weg journalistischen Publikum über ihre

    „Fälle“. Wobei einige auch während die-ser Veranstaltung auf Diskretion beharren: „Mikrofone aus, es wird nicht getwittert“, er-öffnete Lehr sein Panel über Bundespräsi-denten, Bobbycars und Boulevard. Was je-der im Raum versteht. Und akzeptiert.

    Susanne Gaschke ist vom Fach: Vor ih-rem Intermezzo als SPD-Oberbürgermeis-terin in Kiel war sie Redakteurin bei der Zeit, jetzt arbeitet sie in Berlin für Die Welt. Gestolpert war sie über eine umstrittene

    Steuerentscheidung. Aber auch der schles-wig-holsteinischen SPD gibt die Querein-steigerin in die Politik bis heute eine Mit-schuld. Über diese Zeit und deren Intrigen hat sie ein Buch verfasst, „Volles Risiko“. Selbstkritisch merkte sie an: „Mir ist nicht gelungen, zu sagen: Guckt euch die Sache auch einmal von der anderen Seite an.“ Sie hat einen Rat für die Ausbildung von Jour-nalisten: einmal den eigenen Namen in die Schlagzeile einer Zeitung zu schreiben. Um zu ahnen, wie sich das anfühlt.

    Peer Steinbrück sprach sogar von einem „gewalttätigen Journalismus“ und markiert als Probleme Banalisierung, Personalisie-rung und Skandalisierung. „Qualitätsjourna-lismus zeichnet sich aber doch dadurch aus, dass er herausarbeitet: Was ist wichtig, was ist unwichtig? In meinem Wahlkampf ging es immer mehr ums Unwichtige“, so der ehemalige Kanzlerkandidat.

    Politische Prominente werden immer im Blickpunkt der Presse sein, das muss so sein. Sie sind auch nicht per se Opfer der Presse, die Frage ist halt, wie relevant die Ziele der Berichterstattung sind. Ist ein ge-schenktes Bobbycar für den Sohn des Bun-despräsidenten relevant?

    Und was machen die Medien? Großaufnahmen von Leidtragenden!

    Ganz anders sieht es bei denen aus, die erst Opfer von Katastrophen und dann Opfer einer Meute von Journalisten, Fotografen und Kameraleuten werden. Stellvertretend für viele andere waren Menschen zugegen, die vom Amoklauf in Winnenden (11. März 2009), dem Absturz der Germanwings-Ma-schine (24. März 2015) und dem Zugun-glück in Bad Aibling (9. Februar 2016) be-richteten.

    Aus Winnenden kam Gisela Mayer, de-ren Tochter Referendarin an der Albert-ville-Realschule war. Sie sprach für das Akti-onsbündnis Amoklauf Winnenden. Ebenso war Sven Kubick anwesend, der ein Jahr nach dem Amoklauf als neuer Leiter der Schule nach Winnenden kam. Dennoch ist auch ihm das Thema präsent. Dabei war auch Frank Nipkau, Chefredakteur der Zei-tungsgruppe Waiblingen, Winnenden liegt in deren Verbreitungsgebiet.

    In Haltern/Westfalen lebten die Schüler und Lehrer, die beim Absturz des German-wings-Fluges 9525 ums Leben kamen. Sie wurden dort beigesetzt. Davon erzählte der ebenfalls aus Haltern kommende Mika Baumeister, der seit seinem Abitur 2014 als freier Journalist arbeitet. Schon im März vergangenen Jahres kritisierte er in seinem Blog den Umgang der Medien mit Schü-lern und Angehörigen in Haltern.

    Vom Frontalzusammenstoß zweier Züge nahe Bad Aibling berichtete einer der Insassen.

    Die Kernaussage all dieser Betroffenen ist knapp: Lasst uns in Ruhe, wir müssen trauern. Denn in all diesen Katastrophenfäl-len waren Fernsehteams, Fotografen und Journalisten in Massen, eben als Meute, eingefallen und haben sich über die teil-weise schwer traumatisierten Opfer herge-macht.

    Auf deren Verfassung wird dabei keine Rücksicht genommen: Kindern wurde Geld für Interviews geboten. Opfern und Ange-hörigen wurde nachgestellt. Beerdigungen wurden vom Autodach oder vom gemiete-ten Balkon eines Anwohners aus über die Friedhofsmauer hinweg gefilmt. Gleichzei-tig wurden in den sozialen Netzen Bilder geplündert und die Accounts Betroffener durchschnüffelt.

    Man kann auch anders berichten: auf-klärend, ohne Schauergeschichten. So ha-ben es die Medien von Frank Nipkau ge-tan. Etwa die Winnender Zeitung, die am Tag nach dem Mordlauf auf einer schwar-zen Titelseite groß das Wort „Warum?“ brachte.

    Keine Bilder von Toten, keine Bilder von den Beerdigungen, keine Anrufe bei Hin-terbliebenen. Diesen Verhaltenskodex hat-

    Während des Kachelmann-Prozesses galt die Unschuldsvermutung umso mehr – was nützt ihm das, da sein Privatleben von vielen Medien buchstäblich ausgebreitet wurde?

    20 Journalistenblatt 2|2016

  • ten die Redakteure strikt eingehalten. Dafür werden sie heute am Ort geachtet.

    Es ist nicht nur gefühllos, Opfern oder deren Angehörigen, die gerade eine Ka-tastrophe erlebt oder davon erfahren ha-ben, auf die Pelle zu rücken. Es bringt auch nichts, denn Traumatisierte sind unmittel-bar nach der Situation keine glaubwür-digen Quellen. Das führte Petra Tabeling aus, Expertin für Traumajournalismus beim Kölner DART-Center. Ein Thema, das in der journalistischen Ausbildung noch fehle.

    Auf den Punkt gebracht hatte das Mika Baumeister aus Haltern in seinem Blog meistergedanke.de bereits im März 2015:

    „Die Berichterstattung in Haltern war nicht in Ordnung“ und „Liebe Konsumenten von Klatschblättern oder einigen TV-Sendern, suchen Sie sich neue Berichterstatter!“

    Hyperlinks

    Webseite des netzwerk recherche zur Tagung Im Visier der Meutehttps://netzwerkrecherche.org/termine/konferenzen/fachkonferenzen/im-visier-der-meute/

    Tweets mit dem Hashtag #meute16https://twitter.com/hashtag/meute16?src=hash

    Videos der Fachkonferenz bei Youtubehttps://www.youtube.com/playlist?list=PLr8RTcS5UinhAw11G_5v50977fFqQEnLg

    Wie gemein! Wer setzt solche Gerüchte in die Welt?Das Bildblog über die Schumacher-Berichterstattung der Sensationspressehttp://www.bildblog.de/76660/wie-gemein-wer-setzt-solche-geruechte- in-die-welt/

    Umgang der Medien mit Schülern und Angehörigen in Haltern(Bau)meistergedanke. Privatblog von Mika Baumeisterhttp://meistergedanke.de/2015/ umgang-der-medien-mit-schuelern-und-angehoerigen-in-haltern/43

    Albrecht Ude ist Journalist und Recher che-Trainer. Er lebt in Berlin und Friesland. In seinen Seminaren unterrichtet er Online-Recherche, Quellenprüfung, Fact-Checking und Sicherheit im Netz.

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    Zugelassen sind Beiträge junger Journalistinnen und Journalisten bis einschließlich 35 Jahre zu den Themen Gesundheit und Soziales, die zwischen dem 1. Januar und dem 31. Dezember 2016 in einer in Bayern erscheinenden Zeitung oder Zeitschrift veröffentlicht oder von einem Rundfunksender mit redaktionellem Sitz bzw. einem Landesstudio in Bayern ausgestrahlt worden sind. Zugelassen sind auf speziell für das Internet produzierte Beiträge mit themati-scher Relevanz für den Freistaat.

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    Ausgeschrieben von der AOK Bayern in Zusammenarbeit mit den Nachwuchsjourna-listen in Bayern e.V. (NJB) - unterstützt von der Deutschen Journalistenschule München e.V. (DJS).

    Wettbewerb für Printmedien, Hörfunk, Fernsehen und Internet!

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  • E s ist zu kurz gesprungen, wollte man den östlichen Bundeslän-dern den Vortritt lassen, wenn es um Wut, Protest und Empörung gegen „die da oben“ geht. Das Vertrauen in öffentliche Institutionen oder in unsere Demokratie ist bei einem Teil der Bevölkerung erschüttert. Und das Misstrauen macht keineswegs an Landesgrenzen Halt.

    Als der Mitteldeutsche Rundfunk Anfang des Jahres den Vorsitz in der ARD überneh-men durfte, habe ich unterstrichen, dass diese Zeit des Vorsitzes mit einer Zeit enor-

    mer Herausforderungen für die Gesell-schaft, die Politik, die Medien und damit auch besonders für den öffentlich-rechtli-chen Rundfunk zusammenfällt. Die Stich-worte kennen wir nur allzu gut: die Be-kämpfung des internationalen Terrorismus, die erstarkenden rechtspopulistischen Par-teien auch bei unseren Nachbarn, die Be-wältigung der Flüchtlingskrise als die große Aufgabe unserer Zeit.

    Gleichzeitig haben wir es mit einer stär-keren Polarisierung von Interessen zu tun, einer teilweisen Erosion von Wertegrund-

    lagen und leider auch mit zunehmender Gewaltbereitschaft. Zum ersten Mal sind von solcher Gewalt auch Journalisten in Deutschland betroffen, gegen die sich Hass und massive verbale und sogar auch kör-perliche Attacken richten. Dies erleben wir in einer Vehemenz, die ich persönlich nie für möglich gehalten hätte.

    Journalisten und unabhängige Me-dien stehen unter zunehmendem Druck, wie Reporter ohne Grenzen gerade wie-der mit Ernüchterung bilanziert hat. Bitter: Wer bisher die jährliche Rangliste über Re-

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    GASTBEITRAG VON K AROLA WILLE

    Trau, schau, wem, sagt der Volksmund. „Lügenpresse!“ hört man vor der Dresdner Semperoper nach wie vor Montag für Montag. Und „Wir sind das Volk!“ hört man auch. Im Osten nichts Neues, ist man versucht zu denken, zumindest mancher im Westen, in dem man glauben möchte, die „Montagsspaziergänge“ der „Pegida“ und ihrer Nachkömmlinge seien ein Gespenst aus grauer sozialistischer Vorzeit, das umgeht in Deutschland, aber eben in dem

    „anderen“ Deutschland.

    Karola Wille, Vorsitzende der ARD und Intendantin des MDR

    22 Journalistenblatt 2|2016

  • pressionen in anderen Ländern resigniert und achselzuckend zur Kenntnis genom-men hat, muss feststellen, dass die Anfein-dungen gegenüber den Medien längst un-ser Land erreicht haben. Deutschland hat sich in der gerade veröffentlichten Rang-liste um vier Plätze auf Rang 16 verschlech-tert – eine Folge der gestiegenen Anzahl von Drohungen und gewalttätigen Über-griffen gegen Journalisten, wie Reporter ohne Grenzen resümiert.

    Die Intensität und Gemeinheit der An-griffe haben zugenommen, was an unse-ren Kolleginnen und Kollegen nicht spur-los vorbeigeht und in Redaktionen zur Verunsicherung führt. Meist sind es Es-kalationen bei Kundgebungen und Ver-sammlungen, bei denen auch in diesem Jahr schon wieder Journalisten und Jour-nalistinnen verletzt wurden. Doch solche Vorfälle gibt es nicht nur in Mitteldeutsch-land. Die Rufe über die „Lügenpresse“ hal-len durch ganz Deutschland und welt-weit durch die Internetforen. Sie richten sich nicht nur gegen den öffentlich-recht-lichen Rundfunk. Wir dürfen sie nicht über-hören und wir dürfen uns nicht von ih-nen einschüchtern lassen. Unsere Antwort kann nur sein: guter, aufklärender Quali-tätsjournalismus, zu dem auch Transpa-renz im journalistischen Handeln und eine Fehlerkultur gehören, die von Offenheit und Kritikfähigkeit gegenüber den Bei-tragszahlern geprägt ist. Zur Abbildung der Lebenswirklichkeit der Menschen ge-hört, vielfältige, differenzierte und diffe-renzierende Perspektiven einzunehmen und sich immer wieder auch außerhalb der gängigen politischen Agenda zu be-wegen. Maßstab für einen solchen Journa-lismus ist die Relevanz für die Gesellschaft, die Gemeinwohlorientierung und der Res-pekt gegenüber den Bedürfnissen der Be-troffenen.

    Betroffen macht auch, dass es die Men-schen im Osten waren, die vor gut einem Vierteljahrhundert nach den Erfahrungen in einem totalitären System in Deutschland und in den osteuropäischen Nachbarlän-dern die Medienfreiheitsrechte erstritten und heute die Garanten einer unabhängi-gen und freien Berichterstattung in einer demokratisch legitimierten Gesellschaft an-gegriffen und in Frage stellt werden.

    Zu der Herausforderung an uns alle ge-hört, auch uns selbst kritisch nach den Ur-sachen für diese Entwicklung zu fragen. Ich denke, wir tun gut daran, uns auf un-seren Auftrag zu besinnen: Wahrhaftig zu

    berichten, was ist, Werte unserer Grund-ordnung zu vermitteln, die Vielfalt der Meinungen widerzuspiegeln und in ei-nem offenen und freien Meinungs- und Willensbildungsprozess dem sozialen Zu-sammenhalt und der Stabilität unseres Ge-meinwesens zu dienen. Unser Anspruch und unsere Stärke liegen darin, dass wir mehr liefern – nicht nur die Nachricht, die schnelle Information, sondern auch die Einordnung und den Hintergrund, und dies unabhängig und umfassend.

    In Zeiten öffentlicher Zuspitzung und Polarisierung kommt es dabei weniger auf mediale Zuspitzung, sondern vielmehr auf mediale Reflexion an. In dieser Zer-reißprobe braucht unsere Gesellschaft das Gespräch miteinander, das respektvolle Zuhören und eine freie Öffentlichkeit. Dem-gegenüber erleben wir zugleich eine neue Öffentlichkeit, die in den sozialen Netz-werken mit einem permanenten Raunen und Denunzieren einhergeht. Wöchent-lich lesen wir derzeit von neuen Umfra-gen. Die einen beschreiben den unaufhalt-

    sam scheinenden Schwund des Vertrauens in alle Mediengattungen, die anderen sol-len uns beruhigen mit der Erkenntnis, dass die Glaubwürdigkeit der Medien jenseits der akzeptablen statistischen Schwankun-gen über mehrere Jahre gesehen nicht sig-nifikant gelitten habe. Eines bleibt indessen festzuhalten: Diejenigen, die ihr Vertrauen verloren haben oder es sogar nie hatten, sind lauter geworden. Die „Echokammer“ des globalen Netzes verstärkt ihre undif-ferenzierte Denunziation vieltausendfach und verunsichert die Zweifelnden und Su-chenden. Online-Redakteure der Qualitäts-medien müssen mit diesem Gebräu aus Halbwahrheiten und gezielter Desinforma-tion tagtäglich umgehen.

    Diese neue Medienwelt stellt unser journalistisches Arbeiten vor neue Heraus-forderungen. Die Anschläge von Paris und Brüssel und die Silvesternacht in deutschen Großstädten haben beispielhaft gezeigt, welcher Druck auf den Redaktionen lastet. Die Menschen erwarten schnelle Informa-tionen. Gleichzeitig haben sie – zu Recht – den Anspruch, dass diese schnellen Infor-mationen richtig sind. Faktencheck aber kostet Zeit. Diesen Spagat werden wir aus-halten müssen – im Interesse einer wahr-haftigen und verlässlichen Information und im Interesse unserer Glaubwürdigkeit, die das Grundkapital für nachhaltiges Ver-trauen der Bevölkerung in unsere Aufga-benerfüllung ist.

    Wir wissen, dass wir unsere Glaub-würdigkeit immer wieder untermauern und festigen müssen. Und mehr denn je müssen wir dabei transparent machen, was wir tun und wie wir es tun. Das Be-dürfnis nach glaubwürdiger, einordnen-der und nicht an Einzelinteressen ausge-richteter Berichterstattung ist so groß wie selten zuvor. Hier sind vor allem die Qua-litätsmedien gefragt – und gefordert. Die Rolle des öffentlich-rechtlichen Rund-funks für das Funktionieren der Demokra-tie in unserem Land und die Vermittlung der Grundwerte, die für das Zusammen-leben unerlässlich sind, nimmt in ihrer Be-deutung daher auch nicht ab, sondern zu. Der Gesellschaft zu dienen ist am Ende der Kern unseres Auftrags. Wir brauchen dazu mehr Dialog mit dem Publikum, den Nut-zern, Zuschauern, Hörern und Lesern. Da-bei sind wir Lernende und Suchende, in welchen Formen und wie wir dieses ge-sellschaftliche Gespräch fördern.

    Karola Wille (Jahrgang 1959) wurde in Karl-Marx-Stadt (Chemnitz) geboren, studierte und promovierte an der Friedrich-Schiller-Universität Jena zum Dr. jur. Ihre wissenschaftliche Laufbahn setzte sie an der Universität Leipzig fort, die ihr 2002 die Honorarprofessur für Medienrecht verlieh. Im November 1991 wechselte sie nach Gründung des Mitteldeutschen Rundfunks in das Medienunternehmen, stieg zur Juristischen Direktorin auf. Seit 1. November 2011 ist sie Intendantin des MDR. Mitglied in zahlreichen Vorständen und Aufsichtsräten der Branche, unter anderem „Filmintendantin“ der ARD. Am 1. Januar 2016 hat der MDR unter ihrer Leitung den ARD-Vorsitz übernommen.

    Lügenpresse

    Das Vertrauen in öffentliche Institutionen oder in unsere Demokratie ist bei einem Teil der Bevölkerung erschüttert. Und das Misstrauen macht keineswegs an Landesgrenzen Halt.

    23Journalistenblatt 2|2016

  • M arco Maas wollte schon als Schüler Online-Jour-nalist werden. Vor 25 Jah-ren steckte das Internet

    noch in den Kinderschuhen und keiner ahnte, dass sich heute niemand mehr eine Welt ohne Smartphone, Tablets und Inter-net vorstellen kann. Wenn Marco Maas er-zählt, wie er Anfang der 1990er-Jahre im Jugendcentrum Eutin (Schleswig-Holstein) mit großer Begeisterung zum ersten Mal einen Computer einschalten durfte und über einen Browser ins Internet gelangte, hört sich das an wie eine Geschichte aus einer längst vergangenen Zeit. „Ich war 16, hatte einen Compuserve Account und war vom Internet fasziniert. Schon damals war mir klar, dass sich das Internet durchset-zen wird. Ich ahnte, dass sich damit unge-

    ahnte Chancen eröffnen, die unsere ana-loge Welt in eine digitale verwandeln und sie völlig umkrempeln werden. Wenn das auch damals viele belächelten und so-gar dachten, das Internet sei eine Mode-erscheinung, die bald wieder verschwin-den würde.“

    Mit ein paar Mitschülern gründete Maas 1991 eine Web-AG, und die Jungs began-

    nen damit, für kleine Firmen am Ort und in der Umgebung die ersten Websites zu bauen. „Die Seiten sahen echt schräg aus, und wir mussten den Schreinermeister, die Autowerkstatt oder den Bäcker natürlich erst davon überzeugen, dass sie eine Web-site brauchen, weil sie in Zukunft ihre Auf-träge online bekommen werden. Wirklich geglaubt haben die uns das wahrscheinlich nicht, und von Design hatten wir natürlich auch keine Ahnung, aber die ersten Seiten standen bald im Netz.“

    Neben seinen Netzaktivitäten jobbte Marco Maas als Schüler beim Ostholsteiner Anzeiger und schrieb seine ersten Texte. Er studierte nach dem Abitur Medientechnik, arbeitete als freier Fotograf und kam über ein Praktikum 1999 zum Norddeutschen Rundfunk in Hamburg.

    Nebeneinkünfte von Bundestagsabgeordneten (Abgeordnete mit Nebentätigkeiten ab 1 000 Euro in dieser Legislaturperiode)Visualisierung: OpenDataCity für FAZ.NET

    Datenjournalismus als Geschäftsmodell

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    VON BET TINA SCHELLONG-LAMMEL

    Der Datenjournalismus ist ein junges journalistisches Genre, das seit 2010 immer mehr an Bedeutung gewinnt. Marco Maas war einer der ersten Journalisten, die das Potenzial der Visualisierung von Daten mit journalistischen Mitteln erkannten. Er ist heute der gefragteste Datenjournalist Deutschlands und seine Firma OpenDataCity Marktführer auf diesem Gebiet. Er selbst bezeichnet sich als Netzaktivist, Datenjournalist, Programmierer und Unternehmer.

    Daten zu visualisieren und journalistisch umzusetzen ist mit einem hohen Zeitaufwand verbunden.

    24 Journalistenblatt 2|2016

  • 25Journalistenblatt 2|2016

  • Maas hatte sich auf


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