VO Wissenschaftstheo. Grundlagen | KMH 1
Erkenntnis- theoretische
Positionen: Erklären vs. Verstehen
Wissenschaftstheoretische Grundlagen der Geographie
716013 | SS 16 | EH3
Karl-Michael Höferl
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Rückblick:
Wissenschaftstheorie = Metatheorie, wie Wissenschaftler zur
Erkenntnis kommen
» Entstehungs-, Begründungs- & Verwertungszusammenhang
These: Behauptungen "die einer Begründung bedürfen"
Hypothese: Behauptete Beziehung zwischen zwei Variablen
Theorie: System logisch widerspruchsfreier Aussagen über
Phänomene
Theorien ≠ Theorie → unterschiedliche Reichweiten
Logisches Schließen: Deduktion, Induktion, Abduktion
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Überblick
Forschungsperspektive & -stil
Ein Rückblick
Deduktiv-nomologische Perspektive
Hermeneutisch-interpretative
Perspektive
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• Auswahl Erhebungsinstrument & Analyseverfahren
• … • Interpretation &
Ergebnispräsentation
• Erkenntnisinteressen • Forschungsfragen • Untersuchungs- &
Erhebungsziele
Forschungsperspektive und -stil
(Überarbeitung von: Bührmann & Schneider 2008:16)
Forschungs- stil
quantitativ-analytischer, qualitativ-verstehender
Forschungsstil
Methodologische Fundierungen & Gütekriterien
Methodik: Instrumente zur Datenerhebung & -auswertung
Reflexion der Einsatzmöglichkeiten & -grenzen der Methodik
Phasen im Forschungszyklus
Forschungs-perspektive
z.B. deduktiv-nomologische,
hermeneutisch- interpretative Perspektive
Erkenntnistheoretische Grundlagen
Begrifflich-theoretische Grundlagen
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Erkenntnistheoretische Grundlagen
Kritischer Rationalismus
„Was können wir wissen?“
→ Klärung der Frage, wie
Menschen zu ihrem Wissen über
die Welt und Phänomenen
kommen
Positivismus
Empirismus Aufkl. Gesellschaftskritik
Antike: Sophisten
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Positivismus
„Lehre vom Tatsächlichen, vom Gegebenen“
Beschränkung der menschlichen Erkenntnis
auf das erfahrungsmäßig Gegebene
(= „Positive Befunde“ in Experimenten)
→ Fokus auf durch Erfahrung
beweisbare Tatsachen
= Verifikation durch Induktion
Umkehrschluss:
Was nicht beobachtbar und/oder nicht durch wissenschaftliche
Experimente erfassbar ist = unwissenschaftlich
„Wahre“ Theorie
Erfahrung
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Kritik am Positivismus
Enger Rahmen der Wissenschaftlichkeit: Fragen menschliche Daseins → ausgeschlossen
» Sinnfragen des menschlichen Lebens
» Sinnfragen wissenschaftlichen Fortschritts
Keine Selbstkritik möglich
» Wiss. Erkenntnis ist immer objektiv & damit „richtig“
Objektivität & Wertfreiheit = fraglich → Fortschritt positiver Erkenntnis unhinterfragbar das „absolute“ Wahrheiten
» BSP: Atom- & Genforschung
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Erweiterung: Logischer Positivismus (~ „Empirismus“)
Wiener Kreis (1924-1936) als krit. Reaktion auf „naiven“ Positivismus
Fokus auf den „context of justification“:
» Logische Rückführung auf einfachste Aussagen
über empirisch Gegebenes
» Verifikation durch Logik (= Sinn) der Aussagen
„Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt“
(Wittgenstein 1918)
» Reduktion auf „physikalische“ Aussagen
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Kritischer Rationalismus (Popper 1984) als Antwort
Rationalismus:
» Klare Ablehnung des „Verifikationismus“ & Induktion
» Methodisches Vorgehen zur Wissengewinnung
Realismus: Existenz einer objektiven, erkennbaren Wirklichkeit → Umfassende Gültigkeit (räumlich & zeitlich) von Hypothesen & Theorien
„Kritisch“: Beobachtung bleibt letztlich subjektiv
→ erkenntnistheoret. Grundlage der deduktiv-nomologischen Forschungsperspektive
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Deduktiv-nomologische Annahmen
In Gesellschaft wie Natur: Regelhaftigkeiten („nomos“)
In Gesellschaft wie Natur: Ursache-Wirkungs-Prinzip (U→W)
Aufgabe der Wissenschaft = Aufdecken von Prinzipien & Regeln → Berechenbarkeit und Steuerung
Unterschied Natur- & Sozialwissenschaft: unterschiedliche Gegenstände, gleiches methodisches Vorgehen
» Hypothesen = Vermutungen über gesellschaftliche &
natürliche Regelhaftigkeiten (U→W)
(Häder 2010:67f.)
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Poppers Zugang zur „Entwicklung“ einer Theorie bzw. Hypothese
→ „Hempel-Oppenheim“
Schema (1948)
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Poppers Zugang zur Entwicklung einer Theorie bzw. Hypothese
Theorie / Hypothese
Überprüfung der Theorie / Hypothese
Falsifikation
Vorläufige Bestätigung der Theorie / Hypothese
→ Überarbeitung → Neuformulierung
Phänomen
Falsifikation nicht möglich
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Kritik an der Kritik
„falsifizierte“ Theorien werden nicht zwangsweise aufgegeben:
„der Forscher [wird] […] nicht ohne weiteres durch irgendwelche
negative Ergebnisse eine Theorie opfern, sondern in vielfacher
Weise überlegen, was ihm die Enzyklopädie, die er mit dieser
Theorie aufgibt, in Zukunft noch hätte leisten können. Negative
Ergebnisse können das Vertrauen gegenüber einer Enzyklopädie
erschüttern, aber nicht sozusagen ‚automatisch‘, indem er
bestimmte Regeln verwendet, auf Null reduzieren.“ (Neurath 1935)
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Wissen schaffen: Erklären vs. verstehen
Deduktiv-nomologische Forschungsperspektive
(v.a. Naturwissenschaften)
etwas erklären = nach Ursachen (U→W) zu fragen
» BSP: Klimawandel physisch erklären
Hermeneutisch-interpretative Forschungsperspektive
(v.a. Geistes- & Sozialwissenschaften)
etwas (im umfassenderen Sinne) zu verstehen
» BSP: Wahrnehmung von Folgen, Motivationen zur Handlung
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Hermeneutik als alternative Form der Wissensgenerierung
= Kunst der Auslegung
Hermeneuo(griech.): Erklärung göttlicher Anordnungen → Exegese (= Interpretation heiliger Texte)
» Götterbote Hermes überbringt & übersetzt göttl. Botschaften
→ Ab 17. Jh.: Hermeneutik als Methodenlehre „des Verstehens“
»Äußerungen, Werke, Texte, Kunstwerke, menschliches Verhalten, Geschichte etc.
→ Verstehen von etwas „aus sich heraus“
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Verstehen als Zyklus: Der hermeneutische Zirkel
(Borsdorf 1999)
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Hermeneutisch-interpretative Annahmen
Gesellschaft: keine vorgegebenen (= „wahren“) Regelmäßigkeiten & Strukturen
» durch ihr Handeln erzeugt
→ Suche nach kausalen, allgemeingültigen gesell. Regelhaftigkeiten = sinnlos
Interpretation der Welt nach Erfahrungen → Wirklichkeit = Ergebnis Interpretationen & Interaktionen
Ziel = Verständnis im jeweiligen Untersuchungsbereich
(Häder 2010:67f.)
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Konstruktivismus als passende Erkenntnistheorie Glasersfeld 1997, Berger & Luckmann 1966
Aussagen zur „objektiven“ Beschaffenheit der Welt nicht möglich
» Wirklichkeit = „konstruiert“ durch Subjekte, die auf gesellschaftliche Bewertungsmuster & Sprache zurückgreifen → „intersubjektive Kulturwelt“
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Die hermeneutisch-interpretative Forschungsperspektive
Sozialkonstruktivismus (Berger & Luckmann 1966):
„Weltsichten entstehen in den vorherrschenden
gemeinsamen Relevanzsystemen geschichtlicher
Gesellschaftsformen. […]
Sobald eine Weltsicht gesellschaftlich verfestigt wird,
stellt sie für den Einzelnen ein zwingendes System von
Auslegungen dar, das er sich innerlich aneignet. So
erlangt die Weltsicht sowohl die Objektivität einer
kulturellen Norm, die von jedem normalen,
ernstzunehmenden Partner geteilt wird, als auch die
Unausweichlichkeit einer subjektiven Wissenskategorie.“ (Luckmann 1999:23f.)
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Konstruktivismus ≠ Beliebigkeit
Damböck 2014
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Die hermeneutisch-interpretative Forschungsperspektive
Hermeneutik:
» Gesell. Handeln (Gründe, Motive, Intentionen) → indiv./gesell. zugeschriebenen Sinn „rekonstruieren“
» Vielzahl von deutenden Subjekten = Vielzahl von nicht-konsistenten Deutungen → Subjekte (Wissenschaftler) untersuchen Subjekte (z.B. Bürger)
Doppelte Hermeneutik
» Wissenschaftliche Subjekte interpretieren die Interpretationen der von ihnen untersuchten Subjekte
→ Keine „logischen“ Gesetzte, aber Typenbildungen möglich
Vorver- ständnis
Gegenstands- verständnis
V1 G1 V2 G2
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Eine Gegenüberstellung der Forschungsperspektiven
Aspekt Forschungsperspektive
deduktiv-nomologisch hermeneutisch-interpretativ
Selbstverständnis • nomothetisches Selbstverständnis • Suche nach Regelhaftigkeiten,
(Natur-)Gesetzen, generalisierend
• idiographisches Selbstverständnis • Sachverhalte beschreiben & verstehen,
indvidualisierend
Logische Ausrichtung Deduktives Vorgehen Induktives & abduktives Vorgehen
Forschungslogik Überprüfen von Hypothesen Entdecken innerer Gründe → neue Thesen
Forschungsziel Erklären (durch Verallgemeinerung) Verstehen (durch Typenbildung)
Erkenntnisinteresse
• Systemat. & standard. Messung empir. Phänomene
• Formulierung & Prüfung von Gesetzesaussagen
Verstehen & Typisieren menschlichen Handelns
Vorgehensweise bei Untersuchungen
• Erhebung unter standard. Bedingungen („nonreaktiv“)
• Stat. Verfahren → Repräsentativität
• Erhebung unter unverfälschten Feldbedingungen („reaktiv“)
• Inhaltsanalyt. Verfahren
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Konklusio:
Deduktiv-nomologsiche Perspektive
» Existenz einer objektiv erkennbaren Wirklichkeit
» Aufdecken & Erklären von U→W Beziehungen
» Falsifikation von Hypothesen
Hermeneutisch-interpretative Perspektive
» Wirklichkeit wird durch Subjekte erzeugt
» Verstehen fremder Wirklichkeitskonstruktionen
» Typen- & Hypothesenbildung
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Der Ausblick
(Geographische) Forschungsstile &
Forschungsprozesse