Geschmacksentwicklungbeim Kind
Winterthur, 7. Juni 2012
Dr. med. Kurt Albermann
Chefarzt Sozialpädiatrisches Zentrum Winterthur (SPZ)Departement Kinder und Jugendmedizin
Geschmacksentwicklung beim KindÜbersicht
Physiologie der Geschmacksentwicklung
Entwicklung des Essverhaltens
Störungen der Geschmacksentwicklung
Pädagogisch-therapeutische Optionen
Zusammenfassung
Geschmacksentwicklung beim KindPhysiologie
7.- 8. SSW erste Geschmackszellen orale Mukosa, v.a. Zunge
13.–15. SSW Geschmacksknospen
12. SSW Schluckvorgang
nachfolgend erste geschmackssensorische Eindrücke durch synaptische und neuronale Verbindungen zu übergeordneten Hirnarealen
5.-7. SSM höchste Anzahl von Geschmacksknospen in Zunge, Rachenraum, Gaumen
Geburt Geschmacksknospen auf den Zungenpapillen
Geschmacksentwicklung beim KindPhysiologie
Das Neugeborene
Geschmackssinn hat hohe Bedeutung
Differenzierung süss – sauer – bitter
Bevorzugung süsser Nahrung
Beruhigung durch Zuckerlösung
Ablehnung bitterer oder saurer Flüssigkeiten
mit ca. 3 Jahren:
Vollständige Wahrnehmung aller geschmacklichen Empfindungen möglich
Durch Lernprozesse weitere Veränderung, Anpassung, Verfeinerung oder Störung
Haubrich 2006
Geschmacksqualitäten
Angeborene Geschmackspräferenzen:
Süss
Salzig
Fettig
Abneigung gegen Bitteres ebenfalls genetisch determiniert
umami (japan. „köstlicher“, herzhafter, deftiger Geschmack)
Rezeptor für langkettige Fettsäuren
Galindo 2011, Haubrich 2006
Geschmacksqualitäten
süss
sauer
bitter
Geschmacksqualitäten
In den ersten Lebensjahren
Individuelles „Geschmacksgedächtnis“
Prägung persönlicher Vorlieben und Abneigungen
Präferenz von Geschmacksarten beim Kind und zeitliche Determinierung stark von individueller Ernährung abhängig
Veränderung der Geschmackswahrnehmung
Absinken der Reizschwelle, z.B. bei Süssem
Später
„Duftkarte“ im Gehirn – typisches Erregungsmuster
Beeinträchtigung der Entwicklung durch künstliche Aromen
Buchecker et al. 2009
Entwicklung von Geschmacksvorlieben…
In utero Säugling Kleinkind Schulkind Adoleszenz
Geb
urt
Prägung
Genetische Präferenzen
Soziokulturelle Faktoren: Gewohnheiten / Verfügbarkeit
mod. nach Ellrott 2007
…und des Essverhaltens
Prägung von Geschmacksvorlieben
Geschmackspräferenzen werden bereits vorgeburtlich determiniert
Übertragung von Duft- und Geschmacksstoffen im Fruchtwasser, in der Muttermilch
Abwechslungsreiche präpartale Ernährung lässt postpartal Aufgeschlossenheit des Kindes gegenüber einer Vielzahl von Lebensmittel zu
Hepper 1995, Todrank et al. 2010
Im Tiermodell
durch pränatale Stimulation Aktivierung korrespondierender olfaktorischer Rezeptoren
Stimulierung der Entwicklung und korrelierendes Wachstum olfaktorischer sensorischer Neurone
Entwicklung von Geschmacksvorlieben…
Evolutionsbiologische Faktoren
In utero Säugling Kleinkind Schulkind Adoleszenz
Geb
urt
Prägung
Genetische Präferenzen
Soziokulturelle Faktoren: Gewohnheiten / Verfügbarkeit
mod. nach Ellrott 2007
…und des Essverhaltens
Mere exposure effectGewöhnungseffekt
Der Kontakt mit bestimmten Geschmackseindrücken trägt auch nach der Geburt zur Ausbildung von Präferenzen bei
Neugeborene lernen das zu schmecken, was ihnen angeboten wird
Es bildet sich eine Essgewohnheit, eine auch kulturspezifische Vorliebe heraus, ein Hineinschmecken in die Geschmacksangebote einer Esskultur
Sicherheitsprinzip: ich esse nur, was ich kenne
Ellrott 2007
Spezifisch-sensorische Sättigung
Zunehmende Ablehnung einer sich ständig wiederholenden Geschmacksqualität
Niemand ist täglich sein Leibgericht….
Vorbeugung einer zu einseitigen Nahrungsauswahl
Verhinderung des Risikos einer Mangelversorgung mit lebensnotwendigen Nährstoffen
Ellrott 2007
Aversionen
Starke Abneigungen gegen bestimmte Speisen
Ständige Wiederholung / Monotonie
Zeitliche Koinzidenz unangenehmer Erfahrungen
z.B. Übelkeit und Erbrechen nach Verzehr verdorbener Speisen
Leibgericht während Chemotherapie
Ellrott 2007
Entwicklung von Geschmacksvorlieben…
Evolutionsbiologische Faktoren
In utero Säugling Kleinkind Schulkind Adoleszenz
Geb
urt
Endogene / Exogene Faktoren
Prägung
Genetische Präferenzen
Soziokulturelle Faktoren: Gewohnheiten / Verfügbarkeit
mod. nach Ellrott 2007
…und des Essverhaltens
Endogene Faktoren
Hunger, Durst, Sättigung führen zu adäquater Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme beim Säugling
Lebensnotwendige Primärbedürfnisse (1)
Mit zunehmendem Alter steigende Bedeutung von Sekundärbedürfnissen in Verbindung mit Essen und Trinken
Im Ggs. zu (1) Erwerb in langjährigem soziokulturellen Lernprozess
Ellrott 2007
Exogene Faktoren
Statt zu essen, wenn man hungrig ist,
Essen zu festgelegten Essenszeiten
Essensmenge nicht mehr gemäss Hunger und Sättigung,
sondern es wird gegessen, was auf den Tisch kommt
Statt einer Essenspause nach einer Mahlzeit, wird weitergegessen, weil Essen verfügbar ist
Statt die Essensmenge dem Hunger anzupassen, gibt es eine extern vorgegebene Packungs- oder Portionsgrösse
Ellrott 2007
Entwicklung von Geschmacksvorlieben…
Lernprozesse / Erziehung
Evolutionsbiologische Faktoren
In utero Säugling Kleinkind Schulkind Adoleszenz
Geb
urt
Endogene / Exogene Faktoren
Prägung
Genetische Präferenzen
Soziokulturelle Faktoren: Gewohnheiten / Verfügbarkeit
mod. nach Ellrott 2007
…und des Essverhaltens
Kulturelle Rahmenbedingungen
Kinder lernen im sozialen Umfeld
Die vor Ort bestehende Esskultur ist von grosser Bedeutung
Verfügbarkeit von Speisen
Gewohnheiten von Eltern und anderen Vorbildern / Modellen
Ellrott 2007
Lernprozesse
Imitationslernen
Lernen durch positive Verstärkung
Lebensmittelwerbung
Kontingenzmanagement
Problematische Gesundheitsargumente
Diskrepanz zwischen Wissen und Tun
Essen und Fernsehen
Auswirkungen von Verboten
Ellrott 2007
Kultureller KontextÄnderung der Lebenswelten
Kultureller KontextÄnderung der Lebenswelten
Stillen heute
Geburt: über 90 %
nach 14 Tagen: ca. 60 exclusiv
15% Zufüttern
nach 6 Monaten: ca. 10%
Dt. Gesellschaft für Kinderernährung 2000
Entwicklung von Geschmacksvorlieben…
Lernprozesse / Erziehung
Evolutionsbiologische Faktoren
In utero Säugling Kleinkind Schulkind Adoleszenz
Geb
urt
Diätverhalten
Endogene / Exogene Faktoren
Prägung
Genetische Präferenzen
Soziokulturelle Faktoren: Gewohnheiten / Verfügbarkeit
mod. nach Ellrott 2007
…und des Essverhaltens
KinderernährungEmpfehlungen - Do‘s
Verantwortung für Verfügbarkeit von Nahrungsmitteln liegt bei
Sicherstellen, dass das Kind überwiegend an gesundes Essen rankommt
Ab und zu „junk food“ zulassen, Menge begrenzen
(generelles Verbot fördert eher gesteigerte Vorliebe…)
Anfänglich häufig negative Reaktion auf jedes neue Nahrungsmittel
Neue Nahrungsmittel immer wieder anbieten, Kind ermutigen, kleine Bissen zu probieren
Erwartung vermitteln, dass neue Nahrungsmittel probiert werden
In Anlehnung an Birch, Fisher 1996
Ihnen
KinderernährungEmpfehlungen - Do‘s
Ihr Kind kann selbst gut regulieren, wie viel es aus einer Vielfalt nahrhafter Lebensmittel isst
Quantitative und qualitative Variabilität bei jedem Essen, innerhalb 24 h etwa gleich bleibende Essensmengen
Ermutigen Sie Ihr Kind, sein eigenes Essverhalten zu regulieren bzw. diese Selbstregulation zu lernen
KinderernährungEmpfehlungen – Don‘t do‘s
Ihr Kind sollte nicht aus einer unbegrenzten Menge an Nahrungsmitteln auswählen, was es isst
Ihr Kind wird bei alleiniger Kontrolle über seine Nahrungsmittel eine fett- und zuckerreiche Ernährung auswählen
Bei anfänglicher Zurückweisung eines neuen Nahrungsmittels keine generelle Ablehnung ableiten
Kinder nicht zum Essen zwingen – trotz allfälliger kurzfristiger Erfolge Risiko für kontraproduktive Vorlieben und Abneigungen
Keine Erwartung von Mengenkonsistenz bei den Mahlzeiten
Keine Versuche der Steuerung des kindlichen Essverhaltens
KinderernährungEmpfehlungen – Don‘t do‘s
Zwang zur Einnahme bestimmter Essmengen schwächt die Fähigkeit des Kindes zur Selbstregulation der gegessenen Menge
Ihr Kind wird bei alleiniger Kontrolle über seine Nahrungsmittel eine fett- und zuckerreiche Ernährung auswählen
Bei anfänglicher Zurückweisung eines neuen Nahrungsmittels keine generelle Ablehnung ableiten
Kinder nicht zum Essen zwingen – trotz allfälliger kurzfristiger Erfolge Risiko für kontraproduktive Vorlieben und Abneigungen
Keine Erwartung von Mengenkonsistenz bei den Mahlzeiten
Keine Versuche der Steuerung des kindlichen Essverhaltens
Essen ist wichtig, aber nicht alles…
Quelle: Harlow, H 1958
Regulationsstörungen der frühen Kindheit
Definition AWMF:
„Eine für das Alter bzw. den Entwicklungsstand des Säuglings bzw. Kleinkindes
außergewöhnliche Schwierigkeit, sein Verhalten in einem häufig aber in mehreren
Interaktionskontexten und regulativen Kontexten (Selbstberuhigung, Schreien,
Schlafen, Füttern, Zwiegespräch und Spiel, kurze Trennung, Grenzsetzung u.a.)
angemessen zu regulieren.“
Regulationsstörungen der frühen Kindheit als diagnostisches Konzept
Entwicklungsdynamisches, kommunikationszentriertes Modell zur Genese kindlicher Regulations- und Beziehungsstörungen
Papousek 2004
Klassifikation
Keine isolierte Psychopathologie bei Säuglingen und Kleinkindern
Enge Verbindung zur Qualität der frühen Eltern-Kind-Beziehung
Bedeutung dieser komplexen Wechselwirkung für den diagnostischen und therapeutischen Prozess
Transaktionelles Denken, statt multifaktorieller, aber linearer Betrachtung
Abgrenzung einzelner Verhaltensbereiche häufig nicht möglich
„der Patient ist weder allein das Kind, noch Mutter oder Vater, sondern die dyadische oder triadische Beziehung zwischen Eltern und Kind“
→ Dimensionales Krankheitsverständnis
AWMF online 11/2006, von Hofacker N, Barth R, Deneke C, Jacubeit T, Papousek M, Riedesser P
Bindungstheorie
Bindung = Angeborene soziale Motivation, Beziehungen zu anderen emotional nah stehenden Personen zu entwickeln.
Stammesgeschichtliche Bedeutung: Situationen mit Verunsicherung oder Angst
Bindungsbedürfnis versus Autonomie-
bedürfnis.
Vier Bindungstypen:
1. sicher
2. unsicher-ambivalent
3. unsicher-vermeidend
4. desorganisiert
FeinfühligkeitDefinition
Die Bindungsperson nimmt
die kindlichen Signale wahr
interpretiert sie adäquat und
reagiert angemessen und prompt darauf.
Dies erzeuge beim Kind ein Gefühl emotionaler Sicherheit.
Bindungstheorie: Elterliche Feinfühligkeit hat wesentlichen Einfluss auf die Bindungsentwicklung und ist ein mässiger, aber zuverlässiger Prädiktor für die spätere Bindungssicherheit
Goldsmith und Alansky 1987, DeWolff und Van Ijzendoorn 1997
Prognose und VerlaufFrühe dysfunktionale InteraktionsmusterMutter wenig responsiv – Säugling negativ
Quelle: Mannheimer Risikokinderstudie, 2009
Entwicklung von Geschmack und Essverhalten – hohe individuelle Variabilität
Junge oder Mädchen?
Alter?
Grösse?
Gewicht?
Alter 9 Jahre 4 Monate
Körpergewicht 97.7 kg
Körperlänge 1.42 m
BMI 48.45 kg/m2
… und jetzt??
P 50 34.3 kg
Mirco, 17jährig
Abstillen mit 6 Monaten
Umstellung auf Schoppennahrung schwierig
Erst mit ca. 4 Jahren Beginn von Beikost
Aktuell: kein Fleisch
Fischstäbli
Brot, Reis, Teigwaren, (Kartoffel-)Chips
Milchprodukte, Omelette
praktisch kein Gemüse (Spinat, wenig Rüebli)
Obst: Äpfel, Beeren
Frucht- / Multivitaminsäfte
vereinzelt neue Nahrungsmittel
Erfolgreich an Lehrstelle
Probleme:
• ADHS
• Leichter Fe-Mangel
• Selbstunsicherheit
Zusammenfassung (I)
Geschmacksentwicklung ist biologisch determiniert
Geschmacksvorlieben unterliegen kulturellen, familiären und individuellen Gepflogenheiten
Ständige Anpassung und Veränderung von Geschmackspräferenzen vom Kindes- zum Erwachsenenalter
Primärprävention von Essstörungen ist wichtig und möglich
Besondere Verantwortung und Vorbildfunktion von Eltern und Erziehenden
Hohe Bedeutung vorgeburtlicher und früher postnataler Prägung
Zusammenfassung (II)
Angemessene altersangepasste Ernährungsberatung für jedes Lebensalter
Besondere Chancen der Informationsweitergabe:
- Schwangerenberatung (Hebammen, Gynäkologie)
- Mütter- /Väterberatung
- Pädiatrie, Haus- /AllgemeinärztInnen
- Schulen
Sicherstellung einer gesunden, altersangepassten ausgewogenen Ernährung
Geschmack und Freude am Essen gemeinsam entwickeln
Rezept Käsekuchen
Backzeit
9. SPZ-Symposium Winterthur
Entwicklungsbedingungen des SäuglingsTrinken, Essen, Schlafen – sonst noch was?
Donnerstag, 15. November 2012, 8.15 – 17.00 h
Winterthur, Kongresshaus am Stadtgarten
Herzlich Willkommen
Dr. med. Kurt AlbermannChefarzt
Sozialpädiatrisches Zentrum Winterthur (SPZ)Departement Kinder- und Jugendmedizin
Kontakt: [email protected]
Vielen Dank!
Bridging the gaps!
Dr. med. Kurt Albermann Chefarzt
Sozialpädiatrisches Zentrum Kantonsspital Winterthur