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Deutsches Volksliedarchiv

Gewaltmusik: Musikgewalt. Populäre Musik und die Folgen by Klaus MiehlingReview by: Tobias WidmaierLied und populäre Kultur / Song and Popular Culture, 52. Jahrg. (2007), pp. 242-243Published by: Deutsches VolksliedarchivStable URL: http://www.jstor.org/stable/30043794 .

Accessed: 12/06/2014 18:41

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Rezensionen

chenlands, Puis der franz6sischen Trouvers, Singschulen der Meistersinger sowie Nachwuchs- und Amateurwettbewerbe ab Beginn der 19. Jahrhunderts) und ein Vorgeschmack auf die ein- gangs besprochenen Casting-Shows, die vor diesem theoretischen Hintergrund in einem bezeich- nenden Licht erstrahlen: Nicht die Musik, die Musiker oder gar das Publikum, sondern der Fern- sehsender (!) siegt bei diesem Ereignis.

Alle Autoren des vorliegenden Bandes iiberzeugen mit ihrer Durchdringung der zugrunde liegenden Fragestellung, indem sie, sich in ihrer Ideenwelt bewegend, auch den musikalisch inte- ressierten Laien wichtige Einblicke iiber den Stand derzeitiger Popmusikforschung geben. Die auf den Helms-Artikel folgenden Texte sollen abschliegend jedoch besondere Erwiihnung finden, weil sie solche Wettbewerbe thematisieren, die in der gegenwairtigen Diskussion ob der Domi- nanz des Modethemas

))Televoting-Show", leicht in Vergessenheit geraten kbnnten. Brasilianische

Musikfestivals zwischen 1965-1972 stellt Carsten Heinke in seinem Beitrag vor, Irving Wolter

zum Vergleich einige Ausziige aus seiner 2006 erschienenen Studie )Kampf der Kulturen. Der Eurovision Song Contest als Mittel national-kultureller Reprdsentation. Beide Artikel zeigen, dass ein TV-Festival keineswegs ein Jahrmarkt der Eitelkeiten oder musikindustrielle Tauschbbrse sein muss, sondern je nach National- und Kulturspezifik auch Biihne des Protests, von Individualitiit und kiinstlerisch hohem Anspruch. Fred Ritzel dagegen besch~iftigt sich mit Wettbewerben in der

populairen Musikszene vor dem Zweiten Weltkrieg und erinnert uns an die enge Verbindung zwischen Wettbewerb, Kulturschaffen, Ideologie und Propaganda. Beriihrend und erschuitternd zugleich dann der Bericht Guido Facklers uiber Liedwettbewerbe im Konzentrationslager. Dieses

Thema sollte allen, die sich ernsthaft mit Aufgabe und Funktion von Musikwettbewerben ausein- ander setzen, als Referenz im Gedaichtnis sein! Der Beitrag baut auf eine Fleifgarbeit von Recher- chen in Privatarchiven, Primir- und Sekundairquellen und holt so dankenswerterweise viele Opfer des Faschismus aus der Anonymitait. Es bleibt der Rezensentin der abschliefgende, sehr subjektive Wunsch, dass diese Aufmerksamkeit einem Daniel Kiiblbbck niemals gegeben sein wird!

Sabine Vogt, Leipzig

Miehling, Klaus: Gewaltmusik - Musikgewalt. Populiire Musik und die Folgen. Mit einem Ge- leitwort von Ludger Liitkehaus. Wiirzburg: K6nigshausen & Neumann, 2006. 685 S., ISBN 3-8260-3394-9.

1902 erschien in zweiter Auflage eine Brandschrift aus der Feder eines Arztes, der die iibertriebe- ne Pflege gedankenleerer, einzig sinnliche Empfindungen und rauschhafte Bewusstseinszustainde hervorrufender Instrumentalmusik pauschal fir die oallseitigen [...] Schiidigungen unserer geisti- gen Kulturo verantwortlich machte (Norbert Grabowsky: Wider die Musik! Die gegenwartige Mu- siksucht und ihre unheilvollen Wirkungen. Leipzig 1902, S. 11). Auf die allgemeine Musik- schwiirmereio lasse sich zuriiickfiihren, dass *der Materialismus die tonangebende Weltanschauung der heutigen )gebildeten< Kreisev sei (S. 30). Einer erhofften >,Menschheitsveredelung

und

-Vervollkommnung (S. 50) st~inde der verbreitete Genuss von Narkotika wie Alkohol, Tabak und Instrumentalmusik entgegen. >)Ebendarum muss ich die Musikduselei aufs schairfste bekiimp- feno (S. 30). Recht grog ist der Chor von Stimmen, die sich iiber Jahrhunderte hin zu Wort ge- meldet haben oder noch melden, um vor angeblichen Negativeinfliissen von Musik allgemein oder bestimmten Formen von Musik auf Mensch und Gesellschaft zu warnen. In die Reihe dieser

Pamphletliteratur ist auch das vorliegende Buch Klaus Miehlings einzuordnen, der auf historische Vorliiufer jedoch kaum Bezug nimmt: Eine Auseinandersetzung mit den dort verbreiteten, oft ideologisch verbohrten und bei einigem Nachdenken kaum haltbaren Ansichten hiitte dem eige- nen Furor wombglich Wind aus den Segeln genommen. Mit geradezu pathologischem Eifer wet-

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Rezensionen

tert Miehling gegen die als )>Gewaltmusik<( bezeichnete ,populaire

Musiko, in der er schlechthin die zentrale Ursache vieler gegenwdirtiger Missstiinde zu erkennen meint. Dominanz des Schlag- zeugs, Klangverzerrung und aggressive Singstimme werden als die wesentlichen Parameter aktuel- ler

,)populairer Musiko bezeichnet - und mithin von

>,Gewaltmusik<< in einem doppelten Sinne: als

Stimulus zur Gewaltausfibung und als Form akustischer Gewalt. Dass in Zeiten vielfdltiger musi- kalischer Zwangsbeschallung das Recht auf akustische Selbstbestimmung eingefordert wird, ist

legitim. Der Autor aber wihnt hinter der Lirmkulisse noch eine andere Macht am Spiel - odas

B6se( (S. 621). Produzenten und Konsumenten von Gewaltmusik unterschiedlicher Stile - wobei

Miehling keinen prinzipiellen Unterschied zwischen Jazz, Schlager, Heavy Metal oder Rap sieht - werden gewissermagen gehirngewaschen bzw. neuronal umstrukturiert (S. 619), und als Folge werden in >>Jahrtausenden gereifte gesellschaftliche Werte als Basis eines zivilisierten und friedli- chen Zusammenlebens [...] auf den Kopf gestellt (S. 52). Die attackierten Musikformen sind nach Miehlings Ansicht fir abnehmende Leistungsbereitschaft verantwortlich, fir Bildungsfeind- lichkeit, ffir wachsenden Hedonismus, ffir Drogenkonsum, Kriminalitdit und Blasphemie, fuir eine Erosion des Rechtsbewusstseins, ffir um sich greifende Vulgaritiit und eine Unterhbhlung der Sexualmoral. Mit Hunderten von zusammengelesenen Belegen vor allem aus einschligigen Publi- kationen und Magazinen, die in oft seitenlangen, thematisch geordneten Listen aneinandergereiht werden, versucht der Autor, einen solchen Konnex herzustellen. Allein: wer nicht ohnehin schon die gleiche krude Weltsicht mit ihm teilt, den werden solche buchhalterischen Bemdihungen kaum diberzeugen. Denn hat etwa Alice Cooper das Delikt der )>Geschwindigkeitsuiberschreitung(( begangen, w e iI er Vertreter der

,satanistischen Rockmusiko ist? Und wurde Freddy Quinn zum

Steuerhinterzieher, we il1 er Schlager sang? Haben Mitglieder der Band X die Einrichtung ihres Hotelzimmers zerlegt, der Band Y hinter der Bfihne Groupies vernascht, w e iI ihre Musik sie dazu trieb? Ist die Welt am Abgrund, we iI es eine Menge Menschen gibt, die auf Punk oder Techno stehen? Die angebotenen Rezepte, die Rettung bringen sollen, sind teilweise abstrus (ein- schliigige Tontrdiger sollten etwa mit dem Warnhinweis versehen werden )Das Anhbren dieser Musik kann zu Verlust der Selbstkontrolle, zu asozialem und kriminellem Verhalten fifihreno), der missionarische Unterton Miehlings, seine stete Berufung auf angeblich gesicherte wissenschaftli- che Erkenntnisse mitunter dirgerlich. In hundert Jahren aber wird man fiber dieses

>,Schwarzbuch der popularen Musiko (Klappentext) - das in einem sonst renommierten Verlag erschienen ist - so unbefangen schmunzeln k6nnen wie wir heute fiber Grabowskys Auslassungen.

Tobias Widmaier, Freiburg i.Br.

Mitchell, Gillian: The North American Folk Music Revivalk Nation and Identity in the United States and Canada, 1945-1980. Aldershot, Hampshire: Ashgate, 2007 (Ashgate Popular and Folk Music Series), IX, 222 S., ISBN 978-0-7546-5756-9.

Das Begriffskonzept >folk music<, obwohl immer mehr etwa durch >roots music( oder >traditional music< ersetzt, hat in den USA der Gegenwart nichts von seinem Bedeutungspotenzial seit den 1960er-Jahren eingebitft. Es ist dabei ein grundsaitzlich positiv besetztes, attraktives Konzept, das wohl gerade wegen seiner schillernden und vagen Signifikationseigenschaften ffir die amerikani- sche Gesellschaft noch eine groIge diskursive Gdiltigkeit und Beweglichkeit besitzt. >Folk Music< bekommt diese Eigenschaften einmal durch die extreme Eklektizitit der Musik selbst, die damit bezeichnet sein will. Andererseits handelt es sich inzwischen aber auch um ein virtuelles Kultur- idiom, das on Festivals, dem Internet, Musikzeitschriften, Musikhandlungen undI-vertrieben (man denke an Homespun Tapes, Mel Bay oder Elderly), einer Workshopkultur (z.B. das Augus- ta Heritage Center), Musikforschern, nostalgischen DVDs und Sendungen auf PBS bzw. NPR

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