Hermeneutik zwischen eigener Tradition und
fremder Kultur
Zum Problem des Fremden in den hermeneutischen
Theorien von Hans-Georg Gadamer und Eric Donald Hirsch
Inaugural-Dissertation Zur
Erlangung des akademischen Grades eines Doktors der Philosophie
der Fakultät für Philosophie, Pädagogik und Publizistik der
Ruhr-Universität Bochum
vorgelegt von
Chen, Hsuan-Erh, M.A.
aus Nantou, Taiwan
Referent: Prof. Dr. Gunter Scholtz
Korreferent: Prof. Dr. Volker Steenblock
Tag der mündlichen Prüfung: den 6. Februar 2008
Gedruckt mit Genehmigung der Fakultät für Philosophie, Pädagogik und Publizistik der Ruhr–Universität Bochum Dekan: Prof. Dr. Klaus Harney Referent: Prof. Dr. Gunter Scholtz Korreferent: Prof. Dr. Volker Steenblock Tag der mündlichen Prüfung: den 6. Februar 2008
Vorwort
Die vorliegende Arbeit ist ein Versuch, zur Hermeneutik-Forschung und zur gegenwärtigen Debatte über das Problem des Fremden in der Hermeneutik aus intra- und interkulturellen Perspektiven beizutragen.
Mein ganz spezieller Dank gilt dem wissenschaftlichen Betreuer dieser Arbeit, Herrn Prof. Dr. Gunter Scholtz, dessen wertvolle Anregungen und Ratschläge diese Arbeit geleitet haben. Ohne seine freundliche Hilfe auch bei der Literaturrecherche wäre diese Arbeit nicht möglich gewesen. Herrn Prof. Dr. Volker Steenblock danke ich besonders für seine freundliche Unterstützung durch wertvolle Literaturhinweise zur philosophischen Bildung und zur praktischen Philosophie, die für die zukünftige philosophische Bildung in den Schulen meines Heimatlands wegweisend sind. Daneben möchte ich mich insbesondere bei Herrn Dr. Gerhard Pfulb, dessen Freundschaft mein ganzes Studium in Deutschland begleitet hat, bedanken: für sein geduldiges Zuhören sowie für wichtige Informationen und anregende Gespräche über kulturzentristische Vorstellungen von Zivilisation und Barbarei, von Eigenem und Fremdem in Asien und Europa.
Die sprachlichen Korrekturen dieser Arbeit haben Freunde und Kollegen, nämlich Tina Hog, Valentin Pluder, M. A., und Katharina Bauer, M. A., übernommen. Auch ihnen sei hiermit herzlich gedankt, denn die hier vorgelegte sprachliche Gestalt der Arbeit hätte ich allein nicht zuwege gebracht.
Schließlich möchte ich meinen Eltern und meiner Familie danken, die mich bedingungslos von Anfang an unterstützten. Ohne ihre verständnisvolle und liebevolle Unterstützung wäre diese Arbeit nicht möglich gewesen.
Bochum, im Februar 2008 Hsuan-Erh Chen
Inhaltsverzeichnis
Einleitung.......................................................................................................................4 1. Das Problem des Fremden in den Traditionen der Hermeneutik: eine
kleine Vorgeschichte.........................................................................................18 1.1. Das Fremde als allgemeines Verständnisproblem bei Schleiermacher
und Dilthey.......................................................................................................19 1.1.1. Nichtverstehen und Mißverstehen als Problem................................................20 1.1.2. Sittlichkeit des Verstehens: Ethik und Hermeneutik........................................26 1.1.3. Ethik, Hermeneutik und die Geisteswissenschaften........................................30 1.1.4. Grammatische und psychologische Interpretation...........................................33 1.1.5. Voraussetzung und Grenze des Verstehens von Fremdem...............................42 1.2. Auflösung des Fremdheitsproblems durch die ontologische Wendung der
Hermeneutik bei Heidegger..............................................................................47 2. Das Problem des Fremden in der philosophischen Hermeneutik
Gadamers.........................................................................................................53 2.1. Der Wandel des Fremdheitsproblems: Vom Verständnisproblem zum
Verfremdungsproblem.....................................................................................55 2.1.1. Das historische Bewußtsein und die Entfremdungserfahrung der
Überlieferung...................................................................................................58 2.1.2. Die Universalität der Fremdheitserfahrung bei Schleiermacher und die
Verfremdung der Tradition...............................................................................60 2.2. Zugehörigkeit als Konzept gegen die Verfremdung.........................................66 2.2.1. Tradition als Grundlage aller hermeneutischen Bemühungen.........................68 2.2.2. Der hermeneutische Zirkel und die Geschichtlichkeit des Verstehens............77 2.2.3. Vorurteile als ontologische Bedingungen des Verstehens................................82 2.2.4. Selbstverständlichkeit der Schrift und Unmittelbarkeit des
Verstehens.........................................................................................................86 2.3. Wesenswandel der hermeneutischen Aufgabe..................................................96 2.3.1. Vom Sinnverständnis zur Verständigung über die Sache: Verstehen als
Gespräch?.........................................................................................................97 2.3.2. Verstehen als Auslegen und Anwenden..........................................................107
2
2.3.3. Universale Sprachlichkeit als universale Verständlichkeit?...........................112 3. Gültigkeit der Interpretation des Fremden als Problem der Hermeneutik
bei Hirsch.......................................................................................................118 3.1. Ethische Begründung der Notwendigkeit rekognitiver Interpretation...........121 3.1.1. Das Wesen des Textes und der Konflikt der Interpretationen.......................122 3.1.2. Ethische Dimension der Interpretation von kulturell Fremdem....................128 3.1.3. Unzulänglichkeit metaphysischer Hermeneutik............................................134 3.2. Bedingungen der Möglichkeit rekonstruktiver Interpretation........................141 3.2.1. Determiniertheit und Reproduzierbarkeit des Wortsinns..............................141 3.2.2. Autorintention und Teilbarkeit der Sprache..................................................144 3.2.3. Typus-Charakter des Wortsinns: Wortsinn als „willed type“ und „shared
type“...............................................................................................................150 3.2.4. Genre-gebundenheit allen Verstehens und Interpretierens: der
hermeneutische Zirkel....................................................................................155
3.3. Prinzipien objektiv gültiger Interpretation und Geltungsprüfung..................160 3.3.1. Objektivität der Interpretation und Subjektivität des Sprechers...................161 3.3.2. Unterscheidung zwischen „meaning“ und „significance“,
Interpretation und Kritik................................................................................165 3.3.3. Autorintention als universales Prinzip gültiger Interpretation......................173 3.3.4. Prinzip der Wahrscheinlichkeit und interpretativer Evidenz........................176 4. Hermeneutik zwischen eigener Tradition und fremder Kultur: Gadamer
und Hirsch imVergleich.................................................................................183 4.1. Traditionsvermittlung vs. Vermittlung fremder Meinung und fremder
Kulturen.........................................................................................................184 4.2. Wahrheit der Texte vs. Gültigkeit der Interpretation.....................................190 4.3. Hermeneutik und das Verstehen fremder Kulturen.......................................195 4.4. Resümee und Ausblick..................................................................................210 Literaturverzeichnis...................................................................................................214 Lebenslauf
3
Einleitung.
„Läßt sich das Fremde auf dem Boden der Hermeneutik bewältigen, oder ist dieses
dazu angetan, die Hermeneutik selbst noch in Frage zu stellen?“1 Das ist gewiß eine
der herausfordernden Fragen, die man an das Geschäft der Hermeneutik stellen kann
und die Bernhard Waldenfels hinsichtlich des Fremdheitsproblems bei seiner
kritischen Auseinandersetzung mit der philosophischen Hermeneutik Gadamers
aufgeworfen hat. Um diese Frage beantworten zu können, ist es jedoch unzureichend,
allein den hermeneutischen Ansatz Gadamers in Betracht zu ziehen, da Gadamer eben
nur eine der verschiedenen Fragerichtungen der Hermeneutik vertritt. Es fragt sich, ob
das Problem des Fremden in den verschiedenen Traditionen der Hermeneutik mit dem
jeweils sehr unterschiedlichen Ansätzen als ein Problem von gleicher Bedeutung
betrachtet wird. Die von Waldenfels aufgeworfene Frage weist jedoch darauf hin, daß
die Hermeneutik im allgemeinen mit dem Problem des Fremden sich befassen muß.
Im Bereich der Hermeneutik sind heutzutage mindestens drei Richtungen zu
unterscheiden2, nämlich erstens die auf das Wie des Verstehens fremder Rede bzw.
Lebensäußerungen sowie auf die Anweisungen und Regelgebung der Interpretation
abzielende methodologische Hermeneutik (Schleiermachers 3 ); zweitens die
1 Bernhard Waldenfels: Phänomenologie des Fremden 4, Frankfurt a. M.1999, S. 67-87. Zit. S. 67. Waldenfels erkennt zwar die Unterschiede der hermeneutischen Ansätze, geht aber nur auf die philosophische Hermeneutik Gadamers ein, wo die Grenze solcher Hermeneutik für das Problem des Fremden seiner Ansicht nach deutlich zu erkennen ist. Zu Recht hat Waldenfels die Tragfähigkeit der hermeneutischen Philosophie Gadamers für das Problem des Fremden in Frage gestellt, da das Fremde überhaupt kein wirkliches Problem für Gadamer bedeutet, wie wir in vorliegender Arbeit zu zeigen versuchen möchten. 2 Vgl. dazu die Unterscheidungen von Rodi und Scholtz. Frithjof Rodi: Traditionelle und philosophische Hermeneutik. Bemerkungen zu einer problematischen Unterscheidung, in: ders.: Erkenntnis des Erkannten. Zur Hermeneutik des 19. und 20. Jahrhunderts. Frankfurt a. M. 1990, S. 89-101; Gunter Scholtz: Was ist und seit wann gibt es »hermeneutische Philosophie«? In: Dilthey Jahrbuch, Bd.8, 1992-93, S. 93-119. Bes. S. 110f. 3 Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Hermeneutik. Nach den Handschriften neu hg. und eingel. von Heinz Kimmerle, Heidelberg 1959. Im Text als HK mit Seitenzahl zitiert (= HK ). Die allgemeine Hermeneutik (1809/10), hg. von Wolfgang Virmond. In: Internationaler Schleiermacher-Kongreß Berlin 1984, hg. von Kurt-Victor Selge (=Schleiermacher-Archiv Bd.I/2, Berlin, New York 1985, S. 1269-1310. Im Text als HV mit Seitenzahl zitiert ( = HV ).
4
philosophisch verfahrende und auf die Analysis des Verstehens sowie auf die
Begründung der Verstehensmöglichkeiten und –bedingungen gerichtete
„philosophische Hermeneutik“ (Dilthey 4 ); drittens die selbst verstehend und
auslegend verfahrende Hermeneutik der Faktizität 5 , also die „hermeneutische
Philosophie“ (Heidegger6). Es fragt sich, ob es sich bei dem Begriff des Fremden in
den jeweiligen, sehr verschiedenen hermeneutischen Ansätzen um den gleichen
Sachverhalt handelt bzw. ob er als gleiches Problem verstanden werden kann und ob
es in der philosophischen Hermeneutik Gadamers überhaupt um das Bewältigen des
Fremden im traditionellen Sinne geht.
Der Begriff des Fremden bzw. der Fremdheit ist vieldeutig, je nachdem in welcher
Form darüber nachgedacht und in welchem Zusammenhang er behandelt wird. Denn
fremd kann vieles erscheinen. Es kann ein Gegenstand, ein unbekanntes Zeichen, ein
Symbol, ein Fremdwort, eine Schrift, ein Dokument, ein Stil, eine unbekannte
Geschichte, ein Milieu, ein Naturphänomen, eine Handlung, eine Erscheinung von
Krankheit, eine unbekannte Person, eine Gestik, ein Ritual, eine Theorie, eine
Vorstellung oder sogar eine Einstellung7 sein. Das Fremde hat, vereinfacht gesagt,
den Charakter von Unverständlichem, Fremdartigem oder Ungewöhnlichem in sich.
Die Vielfältigkeit des Problems des Fremden zeigt sich besonders deutlich in den
4 Wilhelm Dilthey: Die Entstehung der Hermeneutik (1900), in: Gesammelte Schriften Bd.V, Göttingen/Stuttgart 1957, S. 317-331; ders.: Das hermeneutische System Schleiermachers in der Auseinandersetzung mit der älteren protestantischen Hermeneutik (1893), in: Leben Schleiermachers, Gesammelte Schriften Bd. XIV, 2.2, Berlin 1966 (=LS). Entwürfe zur Kritik der historischen Vernunft (1910), in: Gesammelte Schriften Bd.VII, Göttingen 1958, S. 191-220. 5 Martin Heidegger: Ontologie. (Hermeneutik der Faktizität). Gesammelte Werke Bd. 63, hg. v. Käte Bröcker-Oltmanns, Frankfurt a. M. 1988. In dieser frühen Freiburger Vorlesung Sommersemester 1923 hat Heidegger die Hermeneutik als „Selbstauslegung der Faktizität“ bezeichnet, welche „das je eigene Dasein sich selbst zugänglich zu machen“ zur Aufgabe hat. 6 Heidegger hat seine philosophische Arbeit „Sein und Zeit“ als ein Auslegen und Interpretieren verstanden und so als „hermeneutisch“ bezeichnet. Pöggler sieht dieses Buch von Heidegger als „eine Entfaltung hermeneutischer Philosophie, die von Anfang an in der Konfrontation mit Diltheys Hermeneutik stand“ (S. 264). Otto Pöggler: Heidegger und die hermeneutische Philosophie, Freiburg/ München 1983, S. 241-291. Bes. S. 261ff. 7 Vgl. die Analyse des Phänomens des Fremden von Robert Hettlage: Fremdheit und Fremdverstehen, in: Archiv für Kulturgeschichte (70) 1988, S. 195-222.
5
verschiedenen „verstehenden“ Traditionen wissenschaftlicher Forschungen. In der
„verstehenden Soziologie“ 8 , phänomenologisch-sozialphilosophischen
Untersuchungen9 und der sozial-politischen Philospohie10 ist das Verstehen von
Fremden und Anderen nach der „hermeneutischen Wende“ ein heiß diskutiertes
Thema geworden, wo der Fremde und die damit verbundene Fremdheit als soziales
und kulturelles Phänomen betrachtet wird. Im Bereich der Ethnologie und
Kulturanthropologie hat die Diskussion sowie die Reflexion um das Verstehen von
fremden Kulturen längst eine eigene Tradition11. In der Psychologie wurde das
Undurchsichtige, das Unbewußte bzw. das Unbekannte des inneren Ich als das
Fremde im Eigenen besonders von Sigmund Freud bewußt gemacht 12 . Im
Zusammenhang der Diskussion um interkulturelle Verständigung sind unzählige
8 Siehe Georg Simmel: Exkurs über den Fremden, in: ders.: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Gesammelte Werke, Bd. 2, 4. Auflage, Berlin 1958, S. 509-512. Auch in: Gesamtausgabe Bd. 11, hg. v. Otthein Rammstedt, Frankfurt a. M. 1995 (bes. S. 765-771); Alfred Schütz: Der Fremde, in: ders.: Gasamtausgabe, Bd. 2, Studien zur soziologischen Theorien, Den Haag 1971, S. 53-69; ders.: Grundzüge einer Theorie des Fremdverstehens, in: Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Eine Einleitung in die verstehende Soziologie, Frankfurt a. M. 1974, S. 137-197;
9 Siehe die von Husserls Theorie der Fremderfahrung ausgehenden phänomenologischen Untersuchungen, Edmund Husserl: Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge (Husserliana, Bd.1), Den Haag/Dordrecht 1973; Emanuel Lévinas: Die Spuren des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, München/Freiburg 1992; ders.: Zwischen Uns: Versuch über das Denken an den Anderen, München 1995; Bernhard Waldenfels: Der Stachel des Fremden, Frankfurt a. M. 1990; ders.: Erfahrung des Fremden in Husserls Phänomenologie, in: ders.: Deutsch-Französische Gedankengänge, Frankfurt a. M. 1995, S. 51-68; ders.: Topographie des Fremden: Studien zur Phänomenologie des Fremden I, Frankfurt a. M. 1997; ders: Phänomenologie des Fremden 4, Frankfurt a. M. 1999. 10 Siehe Jürgen Habermas: Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie, Frankfurt a. M. 1996; ders.: Kampf der Glaubensmächte. Karl Jaspers zum Konflikt der Kulturen. In: ders.: Vom sinnlichen Eindruck zum symbolischen Ausdruck. Philosophische Essays, Frankfurt a. M. 1997, S.41-58; Axel Honneth: Der Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, Frankfurt a. M. 1994; Charles Taylor: Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung, Frankfurt a. M. ²1997; Samuel P. Huntington: The Clash of Civilizations? In: Foreign Affairs Vol.72 (1993) 3, S. 22-49, weiter ausgearbeitet in: ders.: The Clash of Civilizations. Remaking of World Order, New York 1996. 11 Siehe Bronislaw Malinowsky: Eine wissenschaftliche Theorie der Kultur und andere Aufsätze (1944), Frankfurt a. M. 1975; Clifford Geertz: The Interpretation of Cultures, New York 1973. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik: Philosophische Überlegungen zum Verstehen fremder Kulturen und zu einer Theorie der menschlichen Kultur, in: Grundfragen der Ethnologie, hg. v. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Berlin 1981, S. 349-389; Helmut Plessner: Mit anderen Augen, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 8, hg. von Günter Dux, Odo Marquard und Elisabeth Ströker, Frankfurt a. M. 1983, S. 88-104. 12 Sigmund Freud: Die Traumdeutung. Mit einem Nachwort von Hermann Beland, 11. Auflage, Frankfurt a. M. 2003 (1991).
6
Aufsätze über das Fremde sowie das Problem des Fremdverstehens aus verschiedenen
Perspektiven 13 erschienen. Sogar die Naturwissenschaften beschäftigen sich mit
fremden Phänomenen der Natur. Fast alle wissenschaftlichen Disziplinen sind mehr
oder weniger auf Forschungen über das Phänome des Fremden angewiesen, das als
das Unbekannte, das Unverständliche oder als das Problematische erscheint; die
Gegenstände und die Ansatzpunkte ihrer Forschungen und Überlegungen bezüglich
des Fremden sind jedoch sehr verschieden.
Wenn man die eingangs gestellte Frage nach dem Problem des Fremden in der
Hermeneutik beantworten möchte, ist es daher wichtig, zunächst danach zu fragen,
was für ein Problem des Fremden hier gemeint ist und was man unter
„Bewältigung“ versteht. Denn „das Fremde“ kann als ein allgemeines philosophisches
Problem betrachtet werden, wenn danach gefragt wird, was das Fremde ist und
bedeuten kann. Auf diese Frage könnte die von Waldenfels unternommene
phänomenologische Analyse von verschiedenen Formen der Fremdheit und der
Bewältigungsweisen derselben die mögliche Antwort sein. Das „Fremde“ kann aber
auch ein erkenntnistheoretisches Problem bilden, wenn danach gefragt wird, wie es
überhaupt möglich ist, daß das Fremde verstanden bzw. erkannt werden kann. Dann
geht es darum, die Bedingungen der Möglichkeit des Verstehens bzw. des Erkennens
13 Vgl. dazu Robert Hettlage: Fremdheit und Fremdverstehen. Ansäzte zu einer angewandten Hermeneutik, in: Archiv für Kulturgeschichte, Bd. 70 (1988) Heft 1, S. 195-222; Peter J. Brenner: Interkulturelle Hermeneutik. Probleme einer Theorie kulturellen Fremdverstehens, in: Interkulturelle Germanistik. Dialog der Kulturen auf Deutsch?, hg. v. Peter Zimmermann, Frankfurt a. M. 1989, S. 35-55; Ortfried Schäfter (Hg.): Das Fremde. Erfahrungsmöglichkeiten zwischen Faszination und Bedrohung, Opladen 1991; Fred Lönker: Aspekt des Fremdverstehens in der literarischen Übersetzung, in: Die literarische Übersetzung als Medium der Fremderfahrung, hg. v. F. Lönker, Berlin 1992; Jens Loenhoff: Interkulturelle Verständigung. Zum Problem grenzüberschreitender Kommunikation, Opladen 1992; Alexander Demandt (Hg.): Mit Fremden leben. Eine Kulturgeschichte von der Antike bis zur Gegenwart, München 1995; Peter Masson: Interpretative Probleme in Prozessen interkultureller Verständigung, in: Wolfdietrich Schmied-Kowarzik/Justin Stagl (Hg.), Grundfragen der Ethnologie. Beiträge zur gegenwärtigen Theorie-Diskussion, Berlin 1981, S. 125-150; ders.: Anthropologische Dimension interkultureller Verstehensbemühungen, in: René Wieland (Hg.), Philosophische Anthropologie der Moderne, Weinheim 1995, S. 234-245; Breuer, I./ Sölter, A. A. (Hg.): Der fremde Blick. Perspektiven interkultureller Kommunikation und Hermeneutik, Bozen/Wien 1997; Elmar Holenstein: Intra- und interkulturelle Hermeneutik, in: Kulturphilosophische Perspektiven, Frankfurt a. M. 1998, S. 257-287.
7
von Fremdem, sei es von fremden Naturphänomen, sei es von fremdem Leben (d.h.
von fremden Personen und ihren Lebensäußerungen im Diltheyschen Sinne),
erkenntnistheoretisch zu begründen, wie in Diltheys Versuch, – neben Kants Kritik
der reinen Vernunft – eine Kritik der historischen Vernunft 14 als eine
„Erkenntnistheorie der Geschichte“ zu entwerfen. Es kann aber auch ein
„ethisch-methodologisches“ Problem des Verstehens bedeuten, wenn danach gefragt
wird, wie das Fremde in der Rede oder in dem Ausdruck eines Anderen verstanden
werden kann und soll. Schließlich kann es ein ethisch-sozialpolitisches Problem sein,
wenn danach gefragt wird, wie wir mit dem Fremden oder den Fremden umgehen
sollten, seien sie kulturell oder religiös fremd.
Ferner kann das Verstehen von Fremdem sowohl auf das Fremde des uns
ursprünglich Fremden im Sinne eines Anderen, sei es eine fremde Person, eine fremde
Schrift, eine fremde Sprache, eine fremde Religion, eine vergangene Zeitepoche, eine
fremde Kultur, gerichtet sein, das im Gegensatz zum Eigenen als dem Vertrauten steht
und als das Befremdliche, das Unbekannte, das Unverständliche, erscheint; oder aber
es kann auf das fremd gewordene ursprünglich Eigene im Sinne von eigener
Kulturgeschichte, eigener Kulturtradition gerichtet sein, das durch die geschichtlichen
und sprachlichen Wandlungen uns fremd geworden ist.
Das Fremde bzw. die Fremdheit, die als Verständnisschwierigkeit in beiden Fällen
eintreten kann, hat aber unterschiedliche Bedeutungen. Die eine Fremdheit bezieht
sich mehr auf das Unbekannte, das ursprünglich Fremde im weitesten Sinne, wie z. B.
das fremde Leben, die Lebensäußerungen fremder Personen aus vergangenen
Epochen und fremden Kulturtraditionen im Diltheyschen Sinne; die andere Fremdheit
bezieht sich vornehmlich auf das fremd gewordene Eigene, das eine ursprüngliche
14 Wilhelm Dilthey: Entwürfe zur Kritik der historischen Vernunft (1910), Ges. Schriften Bd. VII, S.191-220.
8
Zusammengehörigkeit zwischen dem Verstehenden und dem Zuverstehenden
voraussetzt. Im Falle des uns ursprünglich Fremden kann das Bemühen des
hermeneutischen Verstehens als ein progressives Verfahren der Vermittlung zwischen
Eigenem und Fremdem bzw. als eine „Annäherung“ an das Fremde in
zwischenmenschlichen und interkulturellen Verhältnissen betrachtet werden. Im
Bezug auf das fremd gewordene Eigene kann die Aufgabe des Verstehens als die
Übwindung der Sinnentfremdung und des Zeitenabstandes bzw. als eine Vermittlung
zwischen Vergangenheit und Gegenwart verstanden werden. In beiden Fällen wird die
Überwindung des Fremden als Aufgabe der Hermeneutik bestimmt.
Folglich erscheint das Fremde in den verschiedenen Fragerichtungen der
Hermeneutik als jeweils anderes Problem. Die Art und Weise, wie das Problem des
Fremden in den verschiedenen hermeneutischen Ansätzen behandelt wird, ist damit
auch entscheidend für die Frage nach der Tragfähigkeit der jeweiligen Hermeneutik
für das Problem des Fremden sowie für das Verstehen von fremden Kulturen.
Insofern ist es vielleicht sinnvoller, zunächst nach dem Zusammenhang zwischen
den Traditionen der Hermeneutik und dem Begriff des Fremden zu fragen, zumal
geklärt werden muß, von welcher Art Fremdheit in welcher Art Hermeneutik die Rede
ist, wenn man die Tragweite der Hermeneutik für das Problem des Fremden messen
möchte. Denn die Verschiedenheit der Bedeutung des Fremden könnte dazu führen,
daß das Fremde als hermeneutisches Problem auch ganz anders dargestellt und
behandelt werden kann. Die Frage nach dem Sinn eines fremden Textes bezüglich des
Textinhalts ist sicherlich anders als die Frage nach seiner Bedeutung für den Autor
selbst oder für seine Leser damals oder für uns als Interpret heute, noch anders als die
Frage nach der Wahrheit des im Text Gesagten. Trotzt dieser Unterschiede haben alle
Fragestellungen zur Voraussetzung, daß das Fremde, sei es ein fremdes Leben, ein
fremder Text oder eine fremde Rede oder ein Überrest aus der Vergangenheit der
9
Menschheit, bis zu einem gewissen Grade verstanden werden kann. Das heißt, in der
Hermeneutik kann es sich nur um relative Fremdheit handeln, wenn Schleiermacher
und Dilthey den Aufgabenbereich der Hermeneutik zwischen totaler Fremdheit und
gänzlicher Vertrautheit bestimmten und alle radikale Fremdheit aus dem Bereich der
Hermeneutik ausschlossen15.
Es ist das Hauptanliegen der vorliegenden Arbeit, die eigentliche Bedeutung des
Fremdheitsproblems in den Hermeneutiken von Hans-Georg Gadamer und Eric
Donald Hirsch herauszuarbeiten. Wir zielen dabei weder darauf ab, das Problem des
Fremden in den hermeneutischen Traditionen seit der griechischen Antike
begriffsgeschichtlich zu verfolgen, worüber Axel Horstmann am Leitfaden des
Assimilationsbegriffs eine sehr erhellende Arbeit verfaßt hat16, noch die Arten und
Formen des Fremden philosophisch systematisch zu untersuchen, wie es Waldenfels
in seiner Phänomenologie des Fremden unternommen hat. Hier sind hauptsächlich die
hermeneutischen Theorien von Gadamer und Hirsch in unserem Zusammenhang von
Interesse; zum einen, weil beide Denker zu den wichtigsten Vertretern der
Hermeneutik der Gegenwart gehören und in der Geschichte der Hermeneutik Stellung
bezogen haben, dieser für die technische, d.h. methodologisch-philologische im
Gefolge Schleiermachers17, jener für die hermeneutische Philosophie im Gefolge
15 Vgl. Bernhard Waldenfels: Jenseits von Sinn und Verstehen, in: ders.: Phänomenologie des Fremden 4, a.a.O., S. 67-87, S. 71: „Es gehört zu den Grundvoraussetzung einer hermeneutischen Philosophie, daß Fremdheit nicht unüberwindlich ist. Es handelt sich um die relative Fremdheit für uns, nicht um eine Fremdheit in sich selbst. Was nicht mehr, noch nicht oder nicht völlig verständlich ist, bleibt doch der Verständlichkeit offen.“ 16 Axel Horstmann: Das Fremde und das Eigene – ‘Assimilation’ als hermeneutischer Begriff, in: Archiv für Begriffsgeschichte, Bd. XXX, 1986/87, S. 7-43. Horstmann hat zwei entgegengesetzte Modelle für die Begegnung zwischen dem Eigenen und dem Fremden, hier im Bezug auf die Hermeneutik zwischen Interpret und Interpretandum, herausgestellt: Nach dem theologischen Homoiosis-Modell muß sich der Interpret dem gegebenen Sinn des Textes als dem fremden Sinn eines Anderen anpassen, nach dem biologischen Modell wird der fremde Sinn von dem Interpreten hinsichtlich seines eigenen Lebensbezugs schlicht angeeignet. Horstmann hat allderdings bei Gadamer den Gedanken hermeneutischer Assimilation nach biologischem Modell beweisen können, wo das Verstehen für Gadamer, auf Yorck von Wartenburg berufend, „nichts anders als für Nietzsche - ein Lebensvorgang und ‚der fundamentale Tatbestand des Lebendigseins ist die Assimilation. [...] Das Fremde wird angeeignet’’. Hier S. 36. 17 Hirsch betrachtet seine eigene hermeneutische Theorie als „objectivist views“, welche als ein
10
Heideggers; zum andern, weil sie im Zusammenhang des Fremdheitsproblems
gegenläufige Ansätze vertreten, was dazu veranlaßt, ihre hermeneutischen Theorien
bezüglich des Fremdheitsproblems zu vergleichen18.
Die Hermeneutik19 als allgemeine Theorie des Verstehens und Interpretierens war
ursprünglich immer schon auf das Fremde im weitesten Sinne gerichtet und muß für
die Fragestellung der Gegenwart neu überdacht werden. Wir leben in einem Zeitalter
multikultureller Gesellschaft, in dem das zwischenmenschliche und auch
interkulturelle Verstehen in allen Bereichen besonders wichtig erscheint. Wenn Emilio
Betti vor mehr als fünf Jahrzehnten die Auslegungslehre für „vornehmlich
geeignet“ hält, jungen Menschen „Gewöhnung an Toleranz und Sinn für Achtung
fremder Meinung anzuerziehen“ 20 , dann hat er die ethische Bedeutung der
Hermeneutik für das Zusammenleben der Menschen untereinander in seiner Zeit
erkannt. Nun scheint eine solche ethische Bedeutung der Hermeneutik für unsere
Gegenwartssituation ihre Geltung immer noch zu beanspruchen. Denn jedem
Verstehenwollen in einer multikulturellen Gesellschaft liegt die hermeneutische
Einsicht zugrunde, daß Verstehenwollen und Verstandenwerdenwollen zusammen
begriffen werden müssen, wie Ram Adhar Mall mit Recht angedeutet hat21.
„throwback to the ‚genuine’ or ‚authentic’ tradition of Schleiermacher“ betrachtet werden kann. E.D. Hirsch: The Aims of Interpretation, Chicago and London 1976, S. 17. 18 Im ganzen betrachtet kann das gesamte Buch Validity in Interpretation von Hirsch als Kritik und Gegenentwurf zu Gadamers Hermeneutik gelesen werden. Vgl. dazu auch Gunter Scholtz: La philosophie herméneutique de Gadamer et les sciences humaines, in: L’ Héritage de Hans-Georg Gadamer, hg. v. G. Deniau, J. C. Gens, Paris 2003, S. 181-194, hier S. 181. 19 Hier folgen wir der Unterscheidung Schleiermachers, die seine allgemeine Hermeneutik als Theorie des Verstehens und Interpretierens von all den Spezialhermeneutiken wie theologischer, philologischer und juristprudentischer unterscheidet. Vgl. die Unterscheidung der drei Dimensionen der Hermeneutik als allgemeine Hermeneutik bei Hirsch in dem Aufsatz “Three Dimensions of Hermeneutics”, in: Literary History III, 2 (1972), S. 245-261; auch in: ders: The Aims of Interpretation, a.a.O., S. 74-92. 20 Emilio Betti: Zur Grundlegung einer allgemeinen Auslegungslehre: ein hermeneutisches Manifest, in der Festschrift für Ernst Rabel (1954) II, S. 79-168. 21 Vgl. Ram Adhar Mall: Philosophie im Vergleich der Kulturen, Darmstadt 1996, S. 31: „Eine echte hermeneutische Philosophie muß das Verstehenwollen und Verstandenwerdenwollen als zwei Seite derselben hermeneutische Münze betrachten.“ Ähnlich Constantin von Barloewen: Fremdheit und interkulturelle Identität. Überlegungen aus der Sicht der vergleichenden Kulturforschung, in: Kulturthema Fremdheit, a.a. O., S. 297-318, hier S. 298.
11
Eine Hermeneutik, die sich als allgemeine Theorie des Verstehens und
Interpretierens darstellt und sich das Verstehen von Fremdem zur Aufgabe macht,
sollte nicht nur die Bedingungen sowie die Grenzen des Verstehens im allgemeinen
zur Kenntnis nehmen, sondern auch einer Orientierung für die Praxis
zwischenmenschlichen und interkulturellen Verstehens in den Geisteswissenschaften
behilflich sein. Insofern werden wir uns hier auf diese beiden bezüglich des
Fremdheitsproblems recht konträren Konzeptionen von Hermeneutik beschränken
und auf ihre möglichen Lösungen der Fremdheitsfrage eingehen. Insofern versteht
sich die folgende Untersuchung als ein Versuch, eine Antwort auf die von Waldenfels
aufgeworfene Frage am Beispiel der philosophischen und der
philologisch-methodologischen Hermeneutik zu suchen und nach der Tragfähigkeit
ihrer Theorien für interkulturelles Verstehen im Sinne des gegenseitigen Verstehens
unter Menschen mit verschiedenen Kulturtraditionen zu fragen, was nicht so sehr als
eine erkenntnistheoretische Frage sondern vielmehr als eine ethische verstanden
werden möchte. Dabei wird besonders der ethische Aspekt der Hermeneutik 22
berücksichtigt, welcher auf das philosophische System Schleiermachers zurückgeführt
werden kann.
Im ersten Kapitel wird der Versuch gemacht, eine kurze Geschichte der
Fremdheitsproblems vor, mit und nach Schleiermachers Begründung einer
allgemeinen Hermeneutik darzustellen. Es dient dazu, den Wandel des Problems des
Fremden in der Hermeneutik von Schleiermacher, Dilthey über Heidegger bis zu
Gadamer, Betti und Hirsch zu erläutern. Es wird sich zeigen, daß das Fremde als
allgemeines Problem des Verstehens in der allgemeinen Hermeneutik seit Ende des 18.
Jahrhunderts immer schon mit dem Bewußtsein von der Verschiedenheit der
22 Über die ethische Fundierung der Hermeneutik sowie die ethische Implikation der Hermeneutik bei Schleiermacher siehe Gunter Scholtz: Ethik und Hermeneutik. Schleiermachers Grundlegung der Geisteswissenschaften, Frankfurt a. M. 1995, s. bes. S. 126-146.
12
Individualität der Sprachen, der Sprecher und der Kulturen verbunden war, so daß die
Herausarbeitung des ursprünglichen, fremden Sinnes eines Anderen das Ziel des
Verstehens und die eindeutige Aufgabe der allgemeinen Hermeneutik war. Wenn man
den Aufgabenbereich des Philologen bei August Boeckh23 , einem Schüler von
Schleiermacher, einbezieht, dann betrifft das Fremde nicht nur die Sprache und den
Sprecher der Schrift im grammatisch-historischen Sinne, sondern es findet sich in
allen Bereichen! Denn nach Boeckh gehören z.B. sowohl die Geschichte der
Naturwissenschaften als auch die Geschichte der Geisteswissenschaften, darunter
auch die Geschichte der Philosophie, zum Aufgabenbereich der Philologie, da sie alle
sprachlich verfaßt sind. Was aber in der Sprache vorkommt, ist äußerst vielfältig,
deshalb ist zuallererst die Unterscheidung der Redegattungen für das Verstehen
wichtig. Dieser Gedanke wurde später von Hirsch übernommen und weitergeführt.
Die Voraussetzungen ebenso wie die Grenzen eines vollkommenen Verstehens
aufgrund der Endlichkeit menschlichen Lebens und der unauflöslichen
Verschiedenheit der Individualitäten wurden von vornherein klar dargestellt.
Schleiermacher und Dilthey waren die Grenzen des Verstehens von Fremden als
anderen Individuen vollkommen bewußt. Sie faßten die Aufgabe des Verstehens
deshalb als unendlichen Annäherungsprozeß zum Anderen und Fremden
(Schleiermacher) und als Lebensaufgabe (Dilthey) auf, denn das vollkommene
Verstehen des Fremden und des Vergangenen setzt die vollkommene Kenntnis der
Sprachen, der Sprecher, der Umstände und vollkommene Sachkenntnisse voraus24,
23 August Boeckh: Enzyklopädie und Methodologie der philosophischen Wissenschaft, hg. von Ernst Bratuscheck, Nachdruck der 2. von Rudolf Klussmann besorgten Auflage (Leipzig 1886), Darmstadt 1966. 24 Dilthey hat das Wesentliche der allgemeinen Hermeneutik Schleiermachers im Vergleich zu allen anderen Spezialhermeneutiken darin gesehen: „Die Zergliederung des Auslegungsvorgangs in grammatische, historische, ästhetische und sachliche Interpretation, wie Schleiermacher sie vorfand, wird von ihm verworfen. Die Unterscheidungen bezeichnen nur, daß grammatisches, historisches, sachliches und ästhetisches Wissen da sein müssen, wenn die Auslegung beginnt, und auf jeden Akt derselben einwirken können. Aber der Vorgang der Auslegung selber kann sich nur in die zwei Seiten zerlegen lassen, die in der Erkenntnis einer geistigen Schöpfung aus Sprachzeichen enthalten
13
woran aufgrund der Endlichkeit menschlichen Lebens sowie des Zirkelcharakters des
Auslegungsverfahrens 25 nur durch wissenschaftliche Bemühungen und
Anstrengungen Schritt für Schritt, Generation für Generation eine Annäherung
möglich ist.
Anfang des 20. Jahrhunderts wird die Hermeneutik durch Heideggers ontologische
Wendung zur hermeneutischen Philosophie zur Selbstauslegung des Daseins. Das
Verstehen wird die Seinsweise des Daseins, das In-der-Welt-sein ist. Weder das
Fremde noch der Fremde spielen bei ihm eine erkennbare Rolle wie bei
Schleiermacher und Dilthey, da das zentrale Thema seiner Philosophie nicht das
Problem des Verstehens von Fremdem ist, sondern das Verständnis des jeweiligen
Menschen seiner selbst, also das Selbstverständnis des Daseins. Die Aufgabe des
Verstehens ist nicht mehr auf den Bezug zum anderen Mitmenschen gerichtet. Das
Problem des Fremden gerät dementsprechend in einer solchen Fundamentalontologie
aus dem Blick. Insofern dient das erste Kapitel meiner Arbeit als Vorgeschichte und
Grundlage für die anschließende Bezugnahme und Vergleichung zwischen den
hermeneutischen Ansätze von Gadamer und Hirsch.
Das zweite Kapitel dient dazu, den Wesenswandel des Fremdheitsproblems und der
hermeneutischen Aufgabe in der philosophischen Hermeneutik Gadamers anzudeuten.
Es wird sich zeigen, daß nicht das Fremde und nicht das Verstehen von Fremdem das
Primäre der philosophischen Hermeneutik Gadamers ist, so daß die Herausarbeitung
des ursprünglichen, fremden Sinns die eindeutige Aufgabe seiner Hermeneutik wäre,
sondern umgekehrt liegt seiner Hermeneutik die Betonung der Selbstverständlichkeit
sind.“ Wilhelm Dilthey: Ges. Schriften Bd. V, S. 330. 25 Für Dilthey markiert der Zirkelcharakter des Auslegungsverfahrens gerade die Grenzen aller Auslegung. In seiner Studie über »Die Entstehung der Hermeneutik (1900)« meint Dilthey über den hermeneutischen Zirkel: „Theoretisch trifft man hier auf die Grenzen aller Auslegung, sie vollzieht ihre Aufgabe immer nur bis zu einem bestimmten Grade: so bleibt alles Verstehen immer nur relativ und kann nie vollendet werden. Individuum est ineffabile”. Wilhelm Dilthey: Ges. Schriften, Bd. V, S. 317-331, hier S. 330.
14
der Überlieferung und der Zugehörigkeit zur eigenen Tradition zugrunde. Die von
Gadamer bei seiner kritischen Auseinandersetzung mit Schleiermacher gemachte
Erhebung der Überwindung der Fremdheit zur Aufgabe der Hermeneutik erweckt
zwar den Anschein, als ob es sich um die Überwindung der Fremdheit im eigentlichen
Sinne handelte. Aber Gadamer versucht im Gegenteil eine Gegenrichtung gegen die
historisch-methodologische Hermeneutik einzuschlagen, welche seiner Ansicht nach
gerade wegen ihres historisch-methodologischen Ansatzes die Überlieferung bzw. die
Tradition verfremdet hat. Aus dieser Umdeutung des Fremdheitsproblems (vom
Fremden zur Verfremdung) folgt, daß das Verstehen bei Gadamer von einem
Verfahren zur Erfassung des fremden Sinns zur Verständigung mit der Überlieferung
über die Sache umgewandelt wurde. Es wird am Ende weder eine wirkliche
„Überwindung“ des Fremden im philologisch-methodologischen Sinne noch eine
Theorie über das Verstehen vom Fremden im weiteren Sinne erreicht, sondern eine
Theorie der Traditionsaneignung.
Im dritten Kapitel steht die Herausarbeitung der Kernthesen von Hirsch über die
notwendige Rückkehr der Hermeneutik zum alten Ideal des Verstehens als
Rekonstruktion bzw. Nachverstehen des ursprünglichen Sinns im Zentrum. Es wird
sich zeigen, daß, im Gegensatz zu Gadamer, die Interpretationstheorie von Hirsch
eine mögliche Alternative hinsichtlich des Fremdheitsproblems darbietet. Hirsch hat
den Konflikt der Interpretationen als das eigentliche Problem der Hermeneutik
anerkannt und die Notwendigkeit eines wissenschaftlich brauchbaren Kriteriums für
die Objektivität als Allgemeingültigkeit der Interpretation wieder in den Vordergrund
gebracht. Er sucht das alte Ideal der Rekonstruktion des urprünglichen Sinns des
Textes als sinnvoll und notwendig zu verteidigen, da es der Position des Anderen
Rechnung trägt. Bei Hirsch ist von Fremdheit oder Fremdem zwar nicht direkt die
Rede. Seine Hermeneutik zielt aber unmittelbar auf die richtige Interpretation des
15
vom Autor als einer fremden Person (im Diltheyschen Sinne) intendierten Textsinns
ab, indem er den ursprünglich vom Autor gemeinten Textsinn als die einzige Norm für
die Geltungsprüfung der Interpretation hervorhebt. Dabei schlägt Hirsch eine
Dialektik von Hypothesenbildung und Hypothesenbestätigung als eine moderne
Version des hermeneutischen Zirkels vor, die einer Logik der Wahrscheinlichkeit folgt
und das Verstehen als ein progressives Verfahren der Interpretation beschreibt.
Im vierten Kapitel steht der zusammenfassende Vergleich der Thesen von Gadamer
und Hirsch zum Problem des Fremden – unter Einbeziehung der aktuellen
Diskussionen über Hermeneutik und interkulturelles Verstehen - im Zentrum. Dabei
werden die Untersuchungsergebnisse im Hinblick auf die Problematik interkulturellen
Verstehens betrachtet, um zu prüfen, inwieweit sich die hermeneutischen Theorien
von Gadamer und Hirsch für das Problem des Verstehens von fremden
Kulturtraditionen einsetzen lassen, und zwar in Fällen, in denen man mit dem
Fremden unmittelbar konfrontiert wird. Vor allem die Bedingungen sowie die
Voraussetzungen und Grenzen, die in ihren hermeneutischen Theorien behandelt
worden sind, werden im Bezug auf die Frage nach der Möglichkeit interkulturellen
Verstehens in Betracht gezogen.
Aus unserer Untersuchung wird hervorgehen, daß das Problem der Fremdheit und
des Verstehens bei Gadamer eher im Kontext des historischen Verstehens, d.h. im
Spannungsverhältnis zwischen Tradition und Gegenwart gedacht ist, während es sich
bei Hirsch sowohl um das historische als auch um das zwischenmenschliche bzw.
ethische Verhältnis zwischen dem Autor und dem Interpreten handelt. Es wird sich
zeigen, daß das Fremde als das Unverständliche, das Problematische und das
„Nicht-Selbstverständliche“ 26 und die Frage nach der Gültigkeit des Verstehens
26 Vgl. Dazu Rodis These, die das Nicht-Selbstverständliche zum Ausgangspunkt der
Geisteswissenschaften macht, und die Geisteswissenschaften als die „verständlich-machende Disziplinen“ bestimmt. Frithjof Rodi: Über einige Grundbegriffe einer Philosophie der
16
hinsichtlich des Konflikts der Interpretationen als Problem des Interpretierens in der
Hermeneutik Gadamers „entproblematisiert“ 27 worden ist, während Hirsch ein
anderes Modell des Verstehens vom Fremden und andere Antworten auf die Frage
nach der Gültigkeit des Verstehens anbietet.
Geisteswissenschaften, in: Dilthey-Jahrbuch, Bd.1/1983, S. 13-38. 27 Vgl. hierzu Werner Kogge: Verstehen und Fremdheit in der philosophischen Hermeneutik. Heidegger und Gadamer, Hildesheim 2001. Kogge bezeichnet es als „Nivellierung des Fremden“.
17
1. Das Problem des Fremden in den Traditionen der Hermeneutik: eine kleine
Vorgeschichte
Die Hermeneutik als allgemeine wissenschaftliche Disziplin wurde in der neueren
Philosophie nach dem Unterschied ihrer Wesens- und Aufgabenbestimmungen oft in
zwei Traditionen unterschieden: die Tradition der methodologischen Hermeneutik, die
darauf abzielt, methodologische Prinzipien für die Interpretation anzubieten und zu
der Schleiermacher, Dilthey, Betti und Hirsch zählen; und die Tradition der
existenzial-ontologischen Hermeneutik Heideggers, dazu auch Gadamer gehört.28
Eine solche Unterscheidung ist gewiß nur grob und ein bißchen irreführend. Sie ist
grob, weil bei genauerer Betrachtung hier mindestens drei hermeneutische
Fragestellungen unterschieden werden könnten: nämlich die ethisch-methodologisch
orientierte Frage danach, wie fremde Rede verstanden werden kann und soll
(Schleiermacher); die erkenntnistheoretisch orientierte Frage nach den Bedingungen
der Möglichkeit des Verstehens von fremden Personen und ihren Lebensäußerungen
und ihrer Bedeutung für das historische Wissen und den Aufbau der
Geisteswissenschaften (Dilthey); und die fundamentalontologische Frage nach dem
Sinn von Sein, bei der das Verstehen als die Seinsweise des Daseins dargestellt und
28 Der amerikanische Wissenschaftler Richard E. Palmer z. B. meint: „The adherents of Schleiermacher and Dilthey look to hermeneutics as a general body of methodological principles which underlie interpretations. The followers of Heidegger see hermeneutics as a philosophical exploration of the character and requisite conditions for all understanding. […] Betti, in the tradition of Dilthey aims at providing a general theory of how ‘objectivations’ of human experience can be interpreted; […] Gadamer, following Heidegger, orients his thinking to the more philosophical questions of what understanding itself is.“ Richard E. Palmer: Hermeneutics. Interpretation Theory in Schleiermacher, Dilthey, Heidegger, and Gadamer, Evanston 1969. Bes. S. 47ff. Palmers Formulierung über Gadamer im Kontrast zu Betti zeigt nun ein Vorurteil gegenüber die Tradition der philologisch-methodologischen Hermeneutik, als ob ihre methodologischen Reflexionen über das Problem des Verstehens und Interpretierens weniger philosophisch wären. Vgl. dazu Thomas M. Seebohm: Zur Kritik der hermeneutischen Vernunft, Bonn 1972, S. 18 unten Anmerkung : „Das Werk E. D. Hirschs wird vom Standpunkt der Fundamentalontologischen Theorie der Hermeneutik als die beste Darstellung der Methode gelobt [...] Das ist nicht ganz korrekt, sofern Hirsch nicht nur [...] über die Methode spricht, sondern auch methodologisch reflektiert. “
18
die Philosophie als Auslegen und Interpretieren bezeichnet wird, also die
hermeneutische Philosophie (Heidegge).
Es ist irreführend, wenn man in der Tradition der Schleiermacherschen
Hermeneutik bloß die methodologische Dimension der Interpretation erkennt, ohne
auf die ethische Dimension solcher Hermeneutik und auf ihren unmittelbaren
Zusammenhang mit der Dialektik zu achten. Denn das hermeneutische Verstehen bei
Schleiermacher ist nicht nur ein methodologisch reflektiertes Mittel auf dem Wege zur
Sacherkenntnis, sondern hat stets mit der Vermittlung der Gedanken und der Ideen der
Menschen untereinander zu tun und stiftet somit die Bildung der Gemeinschaft. Die
Nachfolger Schleiermachers (Dilthey, Betti und Hirsch) gehen nicht weniger von
solcher Verbindung der Hermeneutik mit der Ethik aus, wenn sie nach Objektivität
oder Gültigkeit der Interpretation streben.
Es wäre zutreffender, die hermeneutischen Traditionen in die Tradition der
Hermeneutik des Fremden und die der Hermeneutik des Eigenen zu unterscheiden.
Denn bezüglich des Problems des Fremden könnte die Hermeneutik als allgemeine
Theorie des Verstehens tatsächlich in die zwei Traditionen unterschieden werden: die
Tradition der Schleiermacherschen Hermeneutik als Hermeneutik des
Fremdverstehens und die Tradition der Heideggerschen Hermeneutik als Hermeneutik
des Selbstverstehens (Heidegger und Gadamer).
Die Tradition der Schleiermacherschen Hermeneutik kann eine Hermeneutik des
Fremden genannt werden, weil das Verstehen in dieser Tradition der Hermeneutik sich
als ein „Lebensverhältnis zu einem fremden Leben“ darstellt. Das Verstehen ist hier
auf das Verständnis vom Fremden im weitesten Sinne gerichtet: sei es auf fremde
Rede (Schleiermacher), sei es auf fremde Personen und ihren Lebensäußerungen
(Dilthey), sei es auf das fremde Gedankengut (Betti), sei es auf fremde Kulturen
(Hirsch). Die Tradition der Heideggerschen Hermeneutik kann als eine Hermeneutik
19
des Eigenen betrachtet werden, weil das Verstehen in dieser Tradition auf das
Selbstverständnis im eigentlichen Sinne abzielt: sei es auf das Selbstverständnis des
Daseins in der Philosophie (Heidegger), sei es auf das Verständnis der eigenen
Kulturtraditionen (Gadamer).
Im folgenden werde ich versuchen, die Vorgeschichte des Fremdheitsproblems in
der Hermeneutik am Leitfaden dieser Unterscheidung, die schon bei der
Aufgabenbestimmung der Hermeneutik bei Schleiermacher, Dilthey und Heidegger
zu erkennen ist, kurz zu skizzieren.
1.1. Das Fremde als allgemeines Verständnisproblem bei Schleiermacher und
Dilthey
Das Problem des Fremden vor Schleiermachers Begründung der allgemeinen
Hermeneutik 29 bezieht sich in der Tradition der theologischen Hermeneutik
hauptsächlich auf das Problem der „dunklen Stellen“ der Heiligen Schrift, deren „Sinn
aus dem Zusammenhang schwer [...] mit der Vernunft zu verstehen ist“, wie zum
Beispiel Spinoza in seinem Theologisch-politischen Traktak schrieb 30 . Für die
Tradition der philologischen Hermeneutik war das Fremde hauptsächlich auf das „in
29 Die These, Schleiermacher sei der Begründer einer allgemeinen Hermeneutik gewesen, wird von manchen Kritikern bestritten. Oliver R. Scholz weist z.B. darauf hin, daß vor Schleiermacher schon Johann Conrad Dannhauer (1603-1666) in der Neuzeit eine hermeneutica generalis als selbständige philosophische Disziplin ausgebildet hat. Oliver R. Scholz: Verstehen und Rationalität. Untersuchungen zu den Grundlagen von Hermeneutik und Sprachphilosophie, Frankfurt a. M. 2001, S. 36f. Trotz solcher Hinweise sind dennoch zwei Typen von allgemeiner Hermeneutik als allgemeiner Interpretationstheorie zu unterscheiden: der eine beschränkt sich auf die Interpretationen in der Philologie und in der Theologie, und ist noch sehr normativ auf die klassische Antike oder die Bibel ausgerichtet; der andere löst die Hermenutik „als eine universale Lehre des Verstehens und Auslegens von allen dogmatischen und okkasionellen Momenten [der philologischen und theologischen Hermeneutik] ab“, wodurch Gadamer Schleiermachers Konzeption einer allgemeinen Hermeneutik von den anderen unterschieden sieht. Hans-Georg Gadamer: Klassische und philosophische Hermeneutik, Ges. Werke Bd. 2, Tübingen 1993, S. 92-117. 30 Baruch de Spinoza: Tractatus Theologico-Politicus, De Interpretatione Scripturae, Cap. VII. Zitiert nach: Seminar: Philosophische Hermeneutik, hg. von H.-G. Gadamer/ G. Boehm, Stuttgart 1976, S. 54f.
19
einer fremden Form (Sprache) verfaßten Werkes“, also auf die in fremden Sprachen
verfassten Schriften des Altertums angewiesen, wie Friedrich Ast in seiner
Grundlinien der Grammatik, Hermeneutik und Kritik gezeigt hat31. Zusammenfassend
wurde das Fremde als ein Problem der „traditionellen Hermeneutik“ von Gadamer
(gegenüber seiner eigenen philosophischen Hermeneutik) wie folgt formuliert:
“Fremd sind in dem gleichen, eindeutig bestimmten Sinne in Wahrheit alle
»Gegenstände«, mit denen die traditionelle Hermeneutik zu tun hat“32. Damit wird
das Fremde im ganz allgemeinen Sinne als Problem der „traditionellen“ Hermeneutik
angedeutet, zu der die theologische und die philologische Hermeneutik gehören.
Erst am Anfang des 19. Jahrhundert wird das Problem des Fremden in der
allgemeinen Hermeneutik Schleiermachers zu einem weit über die theologische und
die philologische Tradition der Hermeneutik hinausreichenden Bereich erweitert,
indem er alles Verstehen fremder Rede, den alltäglichen Umgang mit anderen
Mitmenschen eingeschlossen, zum Aufgabenbereich der Hermeneutik erklärt.
1.1.1. Nichtverstehen und Mißverstehen als Problem
„Die Hermeneutik beruht auf dem Factum des Nichtverstehens der Rede,“ so
beginnt Schleiermacher seine Einleitung in die Allgemeine Hermeneutik33, die anhand
einer neu aufgefundenen Abschrift aus dem verlorenen Berliner Vorlesungsheft
(1809/10) von Wolfgang Virmond 1985 neu herausgegeben wurde34 und neben den
31 Friedrich Ast: Grundlinien der Grammatik, Hermeneutik und Kritik, Landshut 1808, S. 165-212. Zitiert nach: Seminar: Philosophische Hermeneutik, hg. v. H.-G. Gadamer/G. Boehm, Stuttgart 1976, S. 113. 32 Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode, Ges. Werke I, Tübinden 1990, S. 391. Im Text als WM mit Seitenzahl zitiert (= WM). 33 Friedrich Schleiermacher: Die allgemeine Hermeneutik (1809/10), hg. von Wolfgang Virmond. In: Internationaler Schleiermacher-Kongreß Berlin 1984, hg. Von Kurt-Victor Selge (=Schleiermacher-Archiv Bd. I/2), Berlin, New York 1985, 1269-1310, im Text als HV mit Seitenzahl zitiert. 34 Siehe den Bericht über »Neue Textgrundlage zu Schleiermachers früher Hermeneutik« von Wolfgang
20
von Heinz Kimmerler aus den Handschriften herausgegebenen Texten eine der
wichtigsten Textgrundlagen zu Schleiermachers früher Hermeneutik ist. Das
Nichtverstehen der Rede kommt jedoch „in seiner größten Allgemeinheit genommen
auch in der Muttersprache und im gemeinen Leben“ vor (HV, 1271; vgl. HK, 31). So
begründet Schleiermacher die Notwendigkeit der allgemeinen Hermeneutik aus der
Tatsache, daß das Verstehen der Rede sowie der Schrift eines Anderen nicht
selbstverständlich und das Nichtverstehen und das Mißverstehen nicht selten ist.
In seiner ersten Akademierede Über den Begriff der Hermeneutik, mit Bezug auf F.
A. Wolfs Andeutungen und Asts Lehrbuch von 1829 distanziert sich Schleiermacher
eindeutig von Fr. Asts Auffassung, die Aufgabe der Hermeneutik sei „die
hervorzubringende Einheit des griechischen und christlichen Lebens“. Denn, „so
könnte ja auch wol die Hermeneutik nichts anderes als dieses beides zu behandeln
haben“, meint Schleiermacher (HK, 126). Es ist interessant, daß er dabei sogleich auf
die orientalische und die romantische Literatur verweist, die ja dann auch noch
hinzutreten müßten, wenn die Hermeneutik bestimmten Epochen und Traditionen
gelten soll (HK, 126f). Aber er selbst möchte eben gar nicht die Hermeneutik durch
ihren Gegenstand, sondern nur durch ihre Methode begründen, und deshalb schreibt er,
sie solle für alle Rede und jeden Text und sogar für die Zeitung zuständig sein. Es ist
die besondere Einsicht Schleiermachers, daß er gegen Friedrich Asts Beschränkung
des hermeneutischen Problems auf das Fremde, welches als das in fremder Sprache
Verfaßte verstanden werden soll, einwandte: „wenn das zu verstehende dem der
verstehen soll ganz fremd wäre, und es gar kein beiden gemeinschaftliches gäbe: so
gäbe es auch keinen Anknüpfungspunkt für das Verstehen.“ Das heißt, wenn alles
fremd ist, dann ist kein Verstehen möglich und keine Hermeneutik möglich. Wenn
Virmond. In: Internationaler Schleiermacher-Kongreß, Berlin 1984, hg. v. Kurt-Victor Selge, Berlin/ New York 1985, S. 575-590.
21
umgekehrt alles vertraut wäre, wenn „gar nichts fremd wäre zwischen dem Redenden
und dem Vernehmenden“, dann wäre Hermeneutik nicht nötig, wie sie „dann gar nicht
erst anzuknüpfen brauchte“ (HK, 128). Schleiermacher versucht das Aufgabengebiet
der Hermeneutik zwischen diesen beiden Extremen, dem gänzlich Fremden und dem
gänzlich Vertrauten, einzuschließen und stellt fest: „überall wo es im Ausdruk der
Gedanken durch die Rede für einen Vernehmenden etwas fremdes giebt, da sei eine
Aufgabe, die er nur mit Hilfe unserer Theorie lösen könne; wiewol freilich immer nur,
sofern es zwischen ihm und dem Redenden auch schon etwas Gemeinsames
gibt“ (HK, 128f).
An dieser Stelle wird auch deutlich, woran Dilthey und Gadamer mit ihrer
Bestimmung der Hermeneutik als dem „Zwischen“ von Fremdheit und Vertrautheit
angeknüpft haben. So meint Dilthey: „Die Auslegung wäre unmöglich, wenn die
Lebensäußerungen gänzlich fremd wären. Sie wäre unnötig, wenn in ihnen nichts
fremd wäre. Zwischen diesen beiden äußersten Gegensätzen liegt sie also. Sie wird
überall erfordert, wo etwas fremd ist, das sich die Kunst des Verstehens zu eigen
machen soll.“35 Ähnlich äußert sich Gadamer: „In diesem Zwischen ist der wahre Ort
der Hermeneutik“ (WM, 300), obwohl er unter Fremdheit etwas anderes versteht als
Schleiermacher und Dilthey.
Gleichermaßen kritisiert Schleiermacher Friedrich August Wolfs Beschränkung der
Hermeneutik auf Schriften des Altertums36. Demgegenüber meint Schleiermacher,
daß die Ausübung der Hermeneutik „überall vorkommen wird, wo wir Gedanken oder
Reihen von solchen durch Worte zu vernehmen haben, und zwar in beiderlei Vortrag,
dem mündlichen und schriftlichen“ (HK, 130). Schleiermacher hält die Ausübung der
35 W. Dilthey: Entwürfe zur Kritik der historischen Vernunft, Ges. Schriften, Bd. VII, S. 225. 36 Schleiermacher bezieht sich hier auf Friedrich August Wolfs Darstellung der Altertumswissenschaft nach Begriff, Umfang, Zweck und Wert, in: Museum der Altertumswissenschaft, hg. von F. A. Wolf und Ph. Buttmann, Bd. I, Berlin 1807. Siehe die Anmerkung von Kimmerle in: Schleiermacher: Hermeneutik, a.a. O., S. 79.
22
Hermeneutik „im Gebiet der Muttersprache und im unmittelbaren Verkehr mit
Menschen für einen sehr wesentlichen Teil des gebildeten Lebens“(HK, 130). Damit
macht Schleiermacher alles Verstehen fremder Rede zum Aufgabenbereich der
Hermeneutik, und deshalb ist sie für die kommunikative und diskursethische
Herausforderung unseres heutigen Alltags wichtig37!
Folglich wird man mit dem Fremden nicht nur in fremder Sprache, auch nicht bloß
in den Schriften der Antike konfrontiert. Nichtverstehen und Mißverstehen geschieht
auch häufig im Umgang mit anderen Menschen im alltäglichen Leben. Denn das
Fremde kann für jeden sowohl im alltäglichen Umgang mit anderen Mitmenschen als
auch im Umgang mit fremden Kulturüberlieferungen aufgrund der Verschiedenheit
des familiären, sozialen sowie wissenschaftlichen und kulturellen Hintergrundes als
etwas Unbekanntes, Unverständliches oder Ungewöhnliches vorkommen. Deshalb
kann die Erweiterung des hermeneutischen Gebietes auf alles Verstehen fremder Rede
sowohl im sozialen und politischen als auch im kulturellen Bereich eine
unverkennbare Bedeutung für gegenwärtige Diskussionen über das Problem des
Fremden in der Hermeneutik gewinnen. Insofern haben Schleiermacher und Dilthey
das Fremde als Verständnisschwierigkeit mit Recht sehr weit gefaßt38. Es versteht
sich, daß der Schwierigkeitsgrad des Verstehens mit der Reichhaltigkeit und
Bedeutsamkeit menschlicher Rede zunimmt. Je reichhaltiger und bedeutsamer die 37 Zur Aktualität und Bedeutung der Schleiermacherschen Hermeneutik für das Thema interkulturelles Verstehens vgl. den Aufsatz von Axel Horstmann: Interkulturelle Hermeneutik. Eine neue Theorie des Verstehens? Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Berlin 47 (1999) 3, S. 427-448. Ähnlich wird die Bedeutung der Schleiermacherschen Hermeneutik für das Problem des Fremdverstehens von Wolfgang Geiger unter Verweis auf Klaus Lichtbaus vergleichende Verbindung zwischen Schleiermachers geisteswissenschaftliche Hermeneutik mit der hermeneutischen Kultur- und Sozialwissenschaften Georg Simmels und anderer Soziologen des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts, z. B. Max Weber und Karl Mennheim, kenntlich gemacht. Wolfgang Geiger: Geschichte und Weltbild. Plädoyer für eine interkulturelle Hermeneutik, Frankfurt a. M. 2002, s. bes. S. 53. 38 Vgl. ähnlich dazu Thomas M. Seebohm: Die Begründung der Hermeneutik Diltheys in Husserls transzendentaler Phänomenologie. In: Dilthey und die Philosophie der Gegenwart, hg. u. eingel. von Ernst Wolfgang Orth, Freiburg/München 1985, S. 97-124, s. bes. S. 107: „’Fremd’ ist hier in einem sehr weiten Sinne zu nehmen. Es kann sich um andere Personen handeln, die so verstanden werden, aber auch um soziale Zusammenhänge, Institutionen, d.h. Formen objektiven Geistes, dann auch um Kunstwerke und sogar um das Verstehen meiner selbst und meiner Lebensgeschichte.“
23
Rede ist, desto erforderlicher wird das kunstmäßige Verstehen.
Für Schleiermacher hat die Auslegungspraxis in der Theologie, Philologie und
Jurisprudenz bis zu seiner Zeit eher „laxen“ Charakter, da diese nur die schwierigen
Fälle vor Augen haben. Er stellt fest: „Die eigentlichen Sprachforscher und
Kunstkenner der Rede haben sie [die allgemeinen Regeln] nicht bearbeitet, sondern
sich mit der Praxis begnügt [...]. Was noch übrig bleibt, ist Genie, dem die Analyse
nicht hilft“ (HV, 1272). Daher sind sie für Schleiermacher bloß „spezielle
Hermeneutiken“, „ein Aggregat von Observationen“ (HK, 79). Dagegen soll die
allgemeine Hermeneutik als „Kunstlehre“ des Verstehens nicht nur eine
wissenschaftlich begründete Theorie des Verstehens bereitstellen, sondern darüber
hinaus auch direkt mit der Praxis verbunden und bei dieser behilflich sein, d.h. einen
sicheren Boden für die Auslegungspraxis und die dazugehörige Kritik schaffen39,
indem die Hermeneutik durch die Analyse des Verstehensverfahrens die allgemeinen
Prinzipien der Interpretation herausarbeitet und Anweisungen zur Lösung der
Verständnisschwierigkeiten gibt. Dabei wirktet Schleiermacher - worauf Dilthey mit
Recht hinweist - das Gebiet der Hermeneutik aus, wie es die „Auslegungskunst auf
die ganze ethische Sphäre des symbolisierenden Handelns“ bezieht40.
Für Birus bedeutet Schleiermachers “programmatische Einengung auf eine ‚Kunst
des Verstehens’“ [die »subtilitas intelligendi« (Verstehen)] zugleich „eine wesentliche 39 Das Bedürfnis nach Erweiterung des Gebiet der Hermeneutik bei Schleiermacher zeigt sich sowohl in den Aphorismen zur Hermeneutik von 1805 und 1809, die eigentlich eine Auseinandersetzung mit Ernestis Institution Interpretis Novi Testamenti (1. Aufl. 1761) sind, als auch in den Akademiereden von 1829 Ueber den Begriff der Hermeneutik, mit Bezug auf F. A. Wolfs Andeutungen und Asts Lehrbuch. Aus den Randbemerkungen zu den Akademie-Abhandlungen geht die Unzufriedenheit Schleiermachers mit seinen Vorgängern wie Ernesti in der Theologie und F. A. Wolf sowie F. Ast in der Philologie hervor: „Es fehlte freilich nicht an Anweisungen zur Auslegung, und Ernestis institutio interpretis für das Product einer tüchtigen philologischen Schule geltend genoß eines großen Ansehens und viele darin aufgestellte Regeln zeigten sich auch sehr brauchbar, aber es fehlte ihnen selbst die rechte Begründung weil die allgemeinen Principien nirgends aufgestellt waren und ich mußte also meinen eigenen Weg einschlagen“ (HK, 123). Folglich fand Schleiermacher es unerläßlich, „sich selbst über die Principien des Verfahrens eine möglichst genaue Rechenschaft abzulegen,“ „um selbst in der Auslegung sicher zu gehen,“ und um sein „Urteil über andere Ausleger klar und fest zu machen“ (HK, 123). 40 Wilhelm Dilthey: Leben Schleiermachers, Ges. Schriften, Bd.14 / II, Berlin 1966, S. 724.
24
Vereinheitlichung und Ausdehnung des Feldes der Hermeneutik: denn sie beseitigt
nicht allein die Schranken zwischen den Spzialhermeneutiken der christlichen
Theologie und der Klassischen Philologie und erweitert ihren Bereich gleichermaßen
auf die orientalische wie die »romantische Literatur«, sondern diese Neubestimmung
macht darüber hinaus auch alle nicht-literarischen Redeäußerungen – seien es
Zeitungsartikel und -inserate, sei es das »gemeine Gespräch« - zum möglichen
Gegenstand der Auslegungskunst.”41
Für die Bedeutung Schleiermachers in der Geschichte der Hermeneutik werden von
den meisten Interpreten die zwei folgenden Punkten genannt: 1. die Erweiterung des
hermeneutischen Gebiets, indem er „alles Verstehen fremder Rede“ (HK, 124) zu
ihrem Gegenstand machte, die Hermeneutik aus ihrer jeweiligen Anbindungen an
Theologie, Philologie und Jurisprudenz herauslöste und den Grund zu einer
allgemeinen Hermeneutik legte, wodurch sie den Charakter einer eigenständigen
Wissenschaft bekommen hat42; 2. die Verortung der Aufgabe des Verstehens im
Zusammenhang mit Ethik und Dialektik, wodurch der Hermeneutik ein
philosophischer Charakter verliehen wird43.
41 Henrik Birus: Zwischen den Zeiten. Friedrich Schleiermacher als Klassiker der neuzeitlichen Hermeneutik. In: Hermeneutische Positionen. Schleiermacher – Dilthey – Heidegger – Gadamer, Göttingen 1982, S. 15-58, hier S. 18. 42 Vgl. Gunter Scholtz: Die Philosophie Schleiermachers, Darmstadt 1984, S. 145ff. Siehe auch Wilhelm Dilthey: Leben Schleiermachers, Bd.2. Schleiermachers System als Philosophie und Theologie. Aus dem Nachlaß von Wilhelm Dilthey mit einer Einleitung hg. v. Martin Redeker, Berlin 1966; Wolfgang H. Pleger: Schleiermachers Philosophie, Berlin/New York 1988; Hans Ineichen: Philosophische Hermeneutik, Freiburg, München 1991. 43 Zur philosophischen Begründung der Hermeneutik und den Zusammenhang zwischen Interpretation und Wissen bei Friedrich Schleiermacher siehe die Untersuchungen von Reinhold Rieger: Interpretation und Wissen. Zur philosophischen Begründung der Hermeneutik bei Friedrich Schleiermacher und ihrem geschichtlichen Hintergrund. Berlin/New York 1988 (= Schleiermacher-Archiv, Bd.6), S. 221ff.
25
1.1.2. Sittlichkeit des Verstehens: Ethik und Hermeneutik
Die Hermeneutik wird als „technische“ Disziplin im Gesamtsystem der Philosophie
von Schleiermacher der Ethik zugeordnet 44 und spielt eine Vermittlungsrolle
zwischen den Realwissenschaften und der Idealwissenschaft45. Die Ethik schlägt die
Brücke zur Hermeneutik, „indem sie vom Verstehen handelt und als »Philosophie der
Geisteswissenschaften« der Hermeneutik als »Kunstlehre« einen
wissenschaftstheoretischen Ort zuweist: Als technische Disziplin verbindet sie
empirisches und philosophisches Wissen und leitet eine Praxis, das Verstehen und
Auslegen,“ so Scholtz46. In seiner Ethik erklärt Schleiermacher:
„Von Seiten der Sprache angesehen entsteht die technische Disciplin der Hermeneutik daraus, daß jede Rede nur als objective Darstellung gelten kann, inwiefern sie aus der Sprache genommen und aus ihr zu begreifen ist, daß sie aber auf der anderen Seite nur entstehen kann als Action eines Einzelnen, und als solche, wenn sie auch ihrem Gehalte nach analytisch ist, doch von ihren minder wesentlichen Elementen aus freie Synthesis in sich trägt. Die Ausgleichung beider Momente macht das Verstehen und Auslegen zur Kunst.“47
Die Ausgleichung beider Momente im Verstehen bedeutet zugleich eine Ausgleichung
44 In seinem Entwurf der Ethik von 1816 hat Schleiermacher ausführlich über „das Geschäft der verschiedenen technischen Disziplinen” gesprochen. „Die speculative Construktion kann eben so verglichen werden mit einem empirisch Gegebenen als dem, woraus jene Construction soll realisiert werden, theils um zu zeigen, was daran schon als ethisch Gewordenes zur ferneren Realisirung mitwirkt und was als Nicht-gewordenes entgegenwirkt, theils um nachzuweisen, wie die gegebenen zeitlich und räumlich Bedingungen müssen behandelt werden, um die größtmögliche Einigung von Vernunft und Natur daraus hervorzubringen. Dies ist das Geschäft der verschiedenen technischen Disciplinen, welche von dem Empirischen abhängig zwischen der Ethik und Geschichte schweben.” F. Schleiermacher: Entwürfe zu einem System der Sittenlehre. Werke. Auswahl in vier Bänden, Bd. 2 (= Ethik), hg. v. Otto Braun und J. Bauer, 2. Auflage, Leipzig 1927, S. 505f., S. 356. Vgl. dazu die Untersuchungen von Gunter Scholtz: Ethik und Hermeneutik, S. 65-92, bes. S. 71-73. 45 Friedrich Schleiermacher, a.a.O. S. 248. Zur Stellungnahme der Hermeneutik in dem
philosophischen System Schleiermachers, vor allem im System der Ethik, siehe die Abhandlung Diltheys über „Das hermeneutische System Schleiermachers in der Auseinandersetzung mit der älteren protestantischen Hermeneutik” in: W. Dilthey: Leben Schleiermachers, a.a.O., bes. S. 691-724; sowie die Einleitung H. Kimmerles, in: Schleiermacher: Hermeneutik, hg. v. H. Kimmerle, a.a.O., S. 20. 46 Scholtz: Ethik und Hermeneutik, S. 139. 47 Schleiermacher: Ethik, a.a.O., S. 356.
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des Gegensatzes von „Eigentümlichem und Identischem, von Gefühl und Erkennen,
von Kunst und Wissen“, wie Dilthey angedeutet hat48. Denn für Schleiermacher ist
die Individualität des Einzelnen „ein wahres In-eins-bilden des Allgemeinen
[allgemeiner Vernunft] und Besonderen [individuellen Gefühls] und repräsentiert also
gleichsam die primitive Formel der Welt“49. Das bedeutet, daß in jedem Individuum
sowohl eine Allgemeinheit als seine Eigentümlichkeit enthalten muß, „denn das
Individuum trägt sowohl den Charakter der Identität als den der
Eigentümlichkeit,“ erklärt Dilthey50. Für Schleiermacher ist die ethische Einheit die
Identität des Allgemeinen und des Besonderen51. Insofern könnte jedes Individuum
als die kleinste ethische Einheit betrachtet werden, wenn das Individuum sowohl den
Charakter der Identität und den der Eigentümlichkeit in sich trägt. Die Möglichkeit
und die Grenze des Verstehens der Menschen untereinander in der Hermeneutik von
Schleiermacher und Dilthey liegen bereits in solcher Idee vom Menschen.
Da jedes vernünftige Leben die Funktionen des Erkennens (als ein „Bilden der Natur
zum Organ“ (E, 89) bzw. als „ein in sich Aufnehmen“ (E, 96), wie z.B. Fühlen und
Denken) und des Darstellens (als „Gebrauch des Organs zum Handeln der
Vernunft“ bzw. als „ein aus sich Hervorbringen“, wie z.B. Sprechen) haben, macht die
ständige Oszillation zwischen Erkennen und Darstellen für Schleiermacher „die
Oscillation des sittlichen Lebens“ aus. Hier ist sowohl die Entwicklung der
Individualität als auch die Anschauung der Individualität als Aufgabe und Prozeß des
sittlich-geschichtlichen Lebens dargestellt52. Hier ist „die Welt“ für Schleiermacher
sowohl „Object für die Erkenntniß oder Symbol zur Darstellung oder Organ für
48 Dilthey: Leben Schleiermachers, S. 696. 49 Schleiermacher: Ethik, S. 122. 50 Dilthey: Leben Schleiermachers, S. 693. 51 Schleiermacher: Ethik, S. 102. 52 Vgl. Martin Redeker: Einleitung, in: Dilthey: Leben Schleiermachers, Ges. Schriften, Bd. XIV/1, Berlin 1966, S. L.
27
beides“53.
Das Verstehen als eine Tätigkeit des vernünftigen Lebens ist für Schleiermacher
deshalb sittlich, weil es auf das gegenseitige Verstehen und Anerkennen der
unübertragbaren Individualität und die Stiftung der Gemeinschaftlichkeit gerichtet ist.
Bei Schleiermacher liegt das Prinzip des Individualisierens bereits in der Sittlichkeit
selbst:
„Durch die individuelle organisierende Tätigkeit wird nun die ganze Sphäre jedem Andern unzugänglich wegen des innern Dranges das schon Gebildete als solches anzuerkennen, und das Individuelle ist ja das vollkommenst Gebildete und unverständlich wegen des Unübertragbaren. Denn es ist ja eben, was kein anderes sein kann, und kann nie, ohne zerstört zu werden, Organ eines Andern werden. Daraus entstände nun ein völliges Isolirtsein jeder gebildeten Sphäre, womit der allgemeine Charakter der Vernunft nicht bestehen kann. Daraus folgt nun, daß wiederum eine Gemeinschaft der Individualität muß gestiftet werden, die aber auf nichts anderes gehen kann als auf das gegenseitige Anschauen und Erkennen. Dieser Trieb die unzugängliche und unübertragbare Individualität anzuschauen ist, was man im engeren, aber noch nicht engsten Sinne Liebe nennt“ (Hervorhebung von mir, Chen)54.
Hier wird ein sittliches Leben als eine ethische Einheit, also die Identität der
Gemeinschaftlichkeit und der Eigentümlichkeit angesehen, und die Liebe als der
Trieb für gegenseitiges Verstehen und Anerkennen betrachtet. „Sittlich ist die
Betonung der unübertragbaren Individualität – »das Sich-Ausschließen-Lassen, oder
das Andere-für-sich-sein-Lassen« – nur dann, wenn jeder sich selbst und alle andere
gleichwohl als »das Sein der Vernunft« und so als Gemeinschaft versteht. »Wer
Sittlichkeit sezt, sezt einen Trieb Andere zu suchen und anzuerkennen«,“ weist
Scholtz die Sittlichkeit des Verstehens des Anderen bei Schleiermacher nach55 .
Dilthey hat diese Grundgedanken von Schleiermacher übernommen und schrieb dazu:
53 Schleiermacher: Ethik, S. 88. 54 Schleiermacher: Ethik, S. 125. 55 Scholtz: Ethik und Hermeneutik, S. 139.
28
„Das gegenseitige Verstehen versichert uns der Gemeinsamkeit, die zwischen den
Individuen besteht.“56 In seiner Analyse der Leistungen des Verstehens schreibt
Dilthey: „Das Verstehen erwächst zunächst in den Interessen des praktischen Lebens.
Hier sind die Personen auf den Verkehr miteinander angewiesen. Sie müssen sich
gegenseitig verständlich machen. Einer muß wissen, was der andere will. So entstehen
zunächst die elementaren Formen des Verstehens.“57
Dilthey hat das Prinzip der Individualität bei Schleiermacher als eine aus dem
ethischen, subjektiven Idealismus Fichtes abgeleitete Idee vom Menschen gesehen.
Aus der absoluten Selbsttätigkeit des Ich Fichtes werde die Individualität
Schleiermachers: „Für Fichtes Ich waren alle übrigen Intelligenzen der pure Stoff für
die Verwirklichung des immanenten Sittengesetztes. [...] Für die Individualität
Schleiermachers sind sie eine notwendige Ergänzung über die Schranken ihrer Idee
hinaus in die der Menschheit. Denn nur in dem Kosmos der Individualitäten erscheint
die menschheitliche Idee“58. Das bedeutet bei Schleiermacher, „daß jeder Mensch auf
eigene Art die Menschheit darstellt“59. Für Dilthey ist es eine „Anschauung von der
transzendentalen Einheit der menschlichen Natur in allen Individuen, die sich in
Rassen, Nationen und Einzelpersonen individualisiert“60. Insofern muss das Verstehen
von der einzelnen Person, von der Individualität anfangen, wenn man die Welt des
Menschen, die Idee der Menschheit verstehen möchte.
56 Dilthey: Ges. Schriften, Bd.VII, S. 141 57 Dilthey: Ges. Schriften, Bd.VII, S. 207. 58 Für Dilthey war dies „eine ästhetische Anschauung der menschlichen Welt“, denn „das Sittliche ist hier nichts an sich, nichts Transzendentes, Allgemeines, sondern nur die in der Individualität erscheinende Idee. [...] Aber auch nur soweit ist diese Anschauung des Ethischen rein ästhetisch. Denn wenn Schleiermacher in der unendlichen Vielheit der Individualitäten die Offenbarung der überall gegenwärtigen Idee der Menschheit erblickt, so verbindet sich hier die spekulative oder religiöse Idee mit der ästhetischen Anschauung.“ Wilhelm Dilthey: Leben Schleiermachers, S. 663f. 59 Schleiermacher: Monologen WW III 1, S. 367. 60 Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, Ges. Schriften, Bd. VII, S. 112.
29
1.1.3. Ethik, Hermeneutik und die Geisteswissenschaften
Von hier aus läßt sich die enge Verbindung zwischen Schleiermachers Ethik und
Hermeneutik und Diltheys eigenem Versuch, den Ertrag des Verstehens anderer
Personen und ihrer Lebensäußerungen für das historische Wissen und für den Aufbau
der Geisteswissenschaften festzustellen, leicht erkennen. Denn das individuelle Leben
und das Verstehen waren für Dilthey die Ausgangspunkte seiner Überlegungen über
den „Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften“, die bereits in
seiner »Einleitung in die Geisteswissenschaften (1883)« als die Aufgabe einer Kritik
der historischen Vernunft bzw. als eine erkenntnistheoretische Begründung der
Geisteswissenschaften herausgestellt wurden61.
Die Geisteswissenschaften gehen bei Dilthey aus dem Leben der Einzelnen und der
Gemeinschaften hervor. „Mich führte historische wie psychologische Beschäftigung
mit dem ganzen Menschen dahin, diesen in der Mannigfaltigkeit seiner Kräfte, dies
wollend, fühlend vorstellende Wesen nach der Erklärung der Erkenntnis und ihrer
Begriffe (wie Außenwelt, Zeit, Substanz, Ursache) zugrunde zu legen,“ sagt Dilthey
in der Vorrede zur Einleitung62. „So waren ihre Ausgangspunkte das Leben und
Verstehen, das im Leben enthaltene Verhältnis von Wirklichkeit, Wert, Zweck, und sie
unternahm, die selbständige Stellung der Geisteswissenschaften den
Naturwissenschaften gegenüber darzutun, die Grundzüge des
erkenntnistheoretisch-logischen Zusammenhangs in diesem vollständigen Ganzen
aufzuzeigen und die Bedeutung der Auffassung des Singulären in der Geschichte zur
Geltung zu bringen,“ erklärt Dilthey später in seinem erneuten Versuch, von dem
erkenntnistheoretischen Problem aus den Aufbau der geschichtlichen Welt in den
61 Vgl. Dilthey: Die Verschiedenheit des Aufbaus in den Naturwissenschaften und den
Geisteswissenschaften, Ges. Schriften Bd. VII, S. 117. 62 Dilthey: Einleitung in die Geisteswissenschaften, Vorrede, Ges. Schriften, Bd. I, S. XVIII.
30
Geisteswissenschaften zu untersuchen63.
Die Individuen seien die ideelle Einheiten, die Träger des Lebens und der
Lebenserfahrung, weil ein unendlicher Lebensreichtum sich in dem individuellen
Dasein der einzelnen Personen vermöge ihrer Bezüge zu ihrem Milieu, zu anderen
Menschen und Dingen entfalte. „Aber jedes einzelne Individuum ist zugleich ein
Kreuzungspunkt von Zusammenhängen, welche durch die Individuen hindurchgehen,
in denselben bestehen, aber über ihr Leben hinausreichen und die durch den Gehalt,
den Wert, den Zweck, der sich in ihnen realisiert, ein selbständiges Dasein und eine
eigene Entwicklung besitzen. Sie sind so Subjekte ideeller Art. Es wohnt denselben
irgendein Wissen von der Wirklichkeit bei; es entwickeln sich in ihnen
Gesichtspunkte der Wertschätzung; Zwecke werden in ihnen realisiert; sie haben im
Zusammenhang der geistigen Welt eine Bedeutung und behaupten diese,“ führt
Dilthey die Idee der Individualität und ihre Bedeutung für die Geisteswissenschaften
fort 64 . Jene Zusammenhänge, welche die Individuen mit einander verknüpfen,
ergeben sich nur durch das wechselseitige Verstehen. In diesem Verstehen sieht
Dilthey die Methode, „welche die Geisteswissenschaften erfüllt.“ „Alle Funktionen
vereinigen sich in ihm. Es enthält alle geisteswissenschaftlichen Wahrheiten in sich.
An jedem Punkt öffnet das Verstehen eine Welt,“ so Dilthey (Hervorhebung von mir,
Chen) 65 . Nicht ein begriffliches Verfahren bildet die Grundlage der
Geisteswissenschaften, sondern das „Innewerden eines psychischen Zustandes in
seiner Ganzheit“ (als Erleben) und „Wiederfinden desselben im Nacherleben“ (als
Verstehen) 66 . „Leben faßt hier Leben, und die Kraft, mit welcher die zwei
elementaren Leistungen der Geisteswissenschaften vollzogen werden, ist die
63 Dilthey: Ges. Schriften Bd. VII, S. 117. 64 Dilthey: Der Aufbau, Ges. Schriften, Bd. VII, S. 134f. 65 Dilthey: Entwürfe zur Kritik der historischen Vernunft, Ges. Schriften, Bd. VII, S. 205. 66 Dilthey: Der Aufbau, Ges. Schriften, Bd. VII, S. 136.
31
Vorbedingung für die Vollkommenheit in jedem Teil derselben.“67. Hiernach stehen
Leben, Lebenserfahrung und Geisteswissenschaften in einem beständigen inneren
Zusammenhang und Wechselverkehr.
In der Ethik und Hermeneutik Schleiermachers ist das Verstehen eine sittliche
Tätigkeit des Menschen. Das Verstehen ist sittlich, weil es auf die Rede eines fremden
Lebens gerichtet ist und die Idee des Anderen sowohl für den einzelnen als auch für
die Gemeinschaft vermitteln soll. Insofern steht das Verstehen bei Schleiermacher von
Anfang an im ethischen Verhältnis zum fremden Leben. Dieses ethische Verhältnis
des Verstehens zum fremden Leben wird dann bei Dilthey ein
„Lebensverhältnis“ zwischen dem Verstehenden und fremden Lebensäußerungen
genannt. Es besteht ein Lebensverhältnis zwischen mir und den fremden
Lebensäußerungen, weil „ihre Zweckmäßigkeit in meiner Zwecksetzung, ihre
Schönheit und Güte in meiner Wertgebung, ihre Verstandesmäßigkeit in meinem
Intellekt gegründet“ ist, und das Verstehen „dringt in die fremden Lebensäußerungen
durch eine Transposition aus der Fülle eigener Erlebnisse“ 68 . Diese
„Transposition“ ist eine Tätigkeit der Phantasie, die von eigenem Erleben, von den
eigenen Erfahrungen ausgeht. Da jeder seine Erfahrungen mitteilt und wachsend die
Äußerungen des Anderen versteht, bauen die Individuen eine Welt gemeinsamer
Vorstellungen und ein Bewußtsein der Realität auf. „Realitäten gehen [...] nicht nur in
meinem Erleben und Verstehen auf: sie bilden den Zusammenhang der
Vorstellungswelt, in dem das Außengegebene mit meinem Lebensverlauf verknüpft ist:
in dieser Vorstellungswelt lebe ich, und ihre objektive Geltung ist mir durch den
beständigen Austausch mit dem Erleben und dem Verstehen anderer selbst
garantiert,“ stellt Dilthey den Zusammenhang der objektiven Vorstellungswelt mit der
67 Dilthey: Der Aufbau, a.a.O., S. 136. 68 Dilthey: Der Aufbau, a.a.O., S. 118.
32
Bildung der Realitäten im einzelnen Leben fest69. Diesen Zusammenhang nennt
Dilthey an andere Stelle die geistige Welt, die durch den objektiven Geist und die
Kraft der Individuen bestimmt ist. „Auf dem Verständnis dieser beiden beruht die
Geschichte,“ so Dilthey70.
1.1.4. Grammatische und psychologische Interpretation
Die Hermeneutik ist bei Schleiermacher eine Kunstlehre, also „die Kunst, sich in
den Besitz aller Bedingungen des Verstehens zu setzen“ (HV, 1271, Hervorheb. von
mir). Die Hermeneutik setzt „Kenntniß der Sprache und Sache beym ursprünglichen
Leser und Hörer“ voraus. Fragen grammatikalischer und wissenschaftlicher Art
müssen vor dem eigentlichen hermeneutischen Verfahren geklärt sein,„[s]onst müßte
sie [die Hermeneutik] allen Unterricht selbst übernehmen“ (HV, 1271). Insofern hat
die allgemeine Hermeneutik Schleiermachers nur die Aufgabe, allgemeine Prinzipien
der Interpretation aufzustellen. „Wie weit man aber und auf welche Seite vorzüglich
man mit der Annäherung gehen will, das muß jedesmal praktisch entschieden werden,
und gehört höchstens in eine Specialhermeneutik, nicht in eine allgemeine,“ sagt
Schleiermacher (HK, 88).
Der Unterschied zwischen dem Kunstmäßigen und dem Kunstlosen in der
Auslegung bei Schleiermacher liege „weder auf dem von einheimisch und fremd noch
auf dem von Rede und Schrift, sondern immer darauf, daß man einiges genau
verstehen will und anderes nicht“ (HK, 85). „Die laxere Praxis“ in der
Auslegungskunst, wie die in der Theologie, Jurisprudenz und Philologie, geht
Schleiermachers Meinung nach davon aus, „daß sich das Verstehen von selbst ergibt,
69 Dilthey: Der Aufbau, a.a.O., S.119. 70 Dilthey: Das Verstehen anderer Personen, a.a.O., S.213.
33
und drückt das Ziel negativ aus: ‚Mißverstand soll vermieden werden’“ (HK, 86). Der
Grund dieser Ansicht ist Schleiermacher zufolge „die Identität der Sprache und der
Combinationsweise in Redenden und Hörenden“ (ebd.). Das Geschäft der
Hermeneutik darf nach Schleiermacher aber nicht erst da anfangen, wo das
Verständnis unsicher wird, sondern „vom ersten Anfang des Unternehmens an, eine
Rede verstehen zu wollen“ (HV, 1272). Daher meint Schleiermacher: „Die strengere
Praxis geht davon aus daß sich das Mißverstehen von selbst ergiebt und daß Verstehen
auf jedem Punkt muß gewollt und gesucht werden“ (HK, 86). Eine solche Ansicht
setzt eben die Differenz der Sprache und der Kompositionsweise in Redenden und
Hörenden voraus.
Von hier aus wird das Ziel der Hermeneutik bei Schleiermacher als „das Verstehen
im höchsten Sinne“ bestimmt (HV, 1272). Er nennt zwei Maximen des Verstehens:
„Niedrige Maxime: Man hat alles verstanden, was man, ohne auf Widerspruch zu
stoßen, wirklich aufgefaßt hat. Höhere Maxime: Man hat nur verstanden, was man in
allen seinen Beziehungen und in seinem Zusammenhang nachconstruiert hat. – Dazu
gehört auch, den Schriftsteller besser zu verstehen, als er sich selbst“ (HV, 1272; vgl.
HK, 56). Um das Ziel des höchsten Verstehens zu erreichen, muß Schleiermacher
zufolge eine zweifache Aufgabe gelöst werden, nämlich die grammatische und die
psychologische Interpretation. Insofern hat das Verstehen eine Doppelrichtung:„nach
der Sprache und nach den Gedanken hin“ (HV, 1272).
Für Schleiermacher sind die ersten Anfängen der hermeneutischen Operation nichts
anderes, als wenn die Kinder anfangen, Gesprochenes zu verstehen. Er sagt:
„beim Lichte betrachtet befinden wir uns in jedem Augenblikk des Nichtverstehens noch in demselben Falle wie sie, nur der Maßstab ist kleiner. Wenngleich an dem Bekannten ist es doch fremdes was uns entgegentritt in der Sprache, wenn uns eine Verbindung von Wörtern nicht [...] deutlich werden will,
34
fremdes in der wenngleich der unsrigen noch so analogen Gedankenerzeugung, wenn uns der Zusammenhang zwischen den einzelnen Gliedern einer Reihe oder die Erstrekung derselben nicht feststehen will sondern wir unsicher schwanken; und wir können immer nur mit derselben divinatorischen Kühnheit beginnen“ (HK, 140).
Demnach ist das Verstehensbemühen und das Verständnis jedes Individuums wie die
sprachliche und geistige Entwicklung und Bildung eines Kindes, „ein stetiges, sich
allmählich entwickelndes Ganze, in dessen weiteren Verlauf wir uns immer mehr
gegenseitig unterstützen, indem jeder den übrigen Vergleichspunkte und Analogien
hergibt, das aber auf jedem Punkt immer wieder auf dieselbe ahndende Weise
beginnt“ (HK, 140f). Insofern wird das Verfahren des Verstehens bei Schleiermacher
als ein allmählich entwickelnder Fortgang beschrieben, nach welchem das gewonnene
Verständnis nur vorläufige Gültigkeit besitzen kann, weil das vollkommene Verstehen
im strengen Sinne nur approximativ zu erreichen ist und das Vorverstandene anhand
neu erworbenen Kenntnisse immer weiter korrigiert, verbessert und erweitert werden
kann.
Wenn Schleiermacher in seinen Aphorismen von 1805 und 1809 formuliert: „Alles
vorauszusezende in der Hermeneutik ist nur die Sprache und alles zu findende, wohin
auch die anderen objectiven und subjectiven Voraussezungen gehören muß aus der
Sprache gefunden werden“ (HK, 38), dann will er die Sprache nicht von dem Denken
ihres Sprechers trennen. Schleiermacher geht von der „Einheit von Denken und
Sprechen“ aus, die zur Ansicht der Sprache als der „Art und Weise des Gedankens,
wirklich zu sein“ führt 71. Rede und Denken stehen in einer festen Verbindung, weil
das Denken durch „innere Rede“ fertig wird, und insofern ist die Rede nur „der
gewordene Gedanke selbst“ (HK, 80). Diese Voraussetzung der Einheit von Denken
71 Vgl. Emilio Betti: Zur Grundlegung einer allgemeinen Auslegungslehre, ein hermeneutisches Manifest, in: Festschrift für Ernst Rabel (1954) II, S. 79-168, s. bes. S. 95.
35
und Sprechen, die schon in seiner Ethik72 als Voraussetzung für die Identität von
Erkennen und Darstellen zu sehen ist, ist entscheidend für Schleiermachers
Bestimmung von Verstehen als Kunst des Auslegens, die auf dem Moment der
grammatischen Interpretation (als Verstehen aus der Sprache) und dem Moment der
psychologischen Interpretation (als Verstehen im Denkenden) beruht:
„Wie jede Rede eine zwiefache Beziehung hat auf die Gesamtheit der Sprache und auf das gesamte Denken ihres Urhebers so besteht auch alles Verstehen auf den zwei Momenten, die Rede zu verstehen als herausgenommen aus der Sprache, und sie zu verstehen als Tatsache im Denkenden. Das Verstehen ist nur im Ineinander dieser beiden Momente. Beide stehen einander völlig gleich, und mit Unrecht würde man die grammatische Interpretation die niedere und die psychologische die höhere nennen. [...] Hier nach ist jeder Mensch auf der einen
Seite ein Ort, in welchem sich eine gegebene Sprache auf eine eigentümliche Weise gestaltet, und seine Rede ist nur zu verstehen aus der Totalität der Sprache. Dann aber auch ist er ein sich stetig entwickelnder Geist, und seine Rede ist nur als eine Thatsache von diesem im Zusammenhang mit den übrigen“ (HK, 80f; vgl. HV, 1272f).
Ähnlich wie bei Wilhelm v. Humboldt wird die Sprache in einer Rede hier bei
Schleiermacher als die durch den individuellen Sprecher modifizierte bzw. bestimmte
beschrieben73. Darin zeigt sich nicht nur die wechselseitige Bedingtheit zwischen
Sprache und Sprecher, sondern auch die Bedingtheit des Verstehens durch diese
Situation74. Das Problem des Mißverstehens besteht eben darin, daß die Identität der
72 Schleiermacher: Ethik, S. 97: „daß Denken und Sprechen identisch sein muß. Und so finden wir auch alles Denken als ein inneres Sprechen und alles innere Sprechen als Tendenz zum Äußern. Wir vernehmen unsere Gedanken selbst nur durch Worte. In dieser Identität ist nun Sprache das Element des einen Gliedes dieser Funktion des sittlichen Lebens.“ 73 „Erst im Individuum erhält die Sprache ihre letzte Bestimmtheit,“ so Humboldt. Wilhelm von Humboldt: Einleitung zum Kawi-Werk, in: Schriften zur Sprache, hg. v. Michael Böhler, Stuttgart 1973, S. 38. 74 Für Humboldt ist die Sprache das bildende Organ des Gedankens: „Die unzertrennliche Verbindung des Gedanken, der Stimmwerkzeuge und des Gehörs zur Sprache liegt unabänderlich in der ursprünglichen, nicht weiter zu erklärenden Einrichtung der menschlichen Natur.“ Humboldt, a.a.O., S. 44.
36
Sprache im Sprecher und im Interpreten hinsichtlich der Unübertragbarkeit der
Individualität nicht vorausgesetzt werden kann. Jede Rede setzt eine gegebene
Sprache voraus. „Man kann dies zwar auch umkehren, nicht nur für die absolut erste
Rede sondern auch für den ganzen Verlauf, weil die Sprache wird durch das Reden;
aber die Mitteilung setzt auf jeden Fall die Gemeinschaftlichkeit der Sprache, also
eine gewisse Kenntnis derselben voraus,“ erklärt Schleiermacher (HK, 81). Damit ist
die Voraussetzung der Gemeinschaftlichkeit der Sprache entscheidend für die
Möglichkeit der Mitteilung und des rekonstruktiven Verstehens, worauf sich auch
Dilthey und Hirsch berufen. Da Sprache und Sprecher sich wechselseitig bedingen,
muß das Verstehen der Rede sich auch auf beide Seiten richten. „Wegen dieses
zwiefachen Verstehens ist das Auslegen Kunst. Keines kann für sich vollendet
werden“ (HK, 56; vgl. HK, 82). Daher sagt Schleiermacher, daß die glückliche
Ausübung der Kunst auf dem „Sprachtalent“ und „dem Talent der einzelnen
Menschenkenntniß“ (HK, 82) beruht. So ist Voraussetzung der Hermeneutik bei
Schleiermacher eigentlich nicht nur die Sprache, sondern auch die Menschenkenntnis.
In der kompendienartigen Darstellung von 1819 wurde die Zusammengehörigkeit
von Hermeneutik (als Kunst des Verstehens) und Rhetorik (als Kunst des Redens) und
ihr gemeinsames Verhältnis zur Dialektik (als Kunst des Denkens und Wissens) von
Schleiermacher im Hinblick auf die wechselseitige Abhängigkeit von Reden,
Verstehen und Denken dargestellt. Die Kunst zu reden und die zu verstehen stehen
einander gegenüber. Da aber das Reden „die äußere Seite des Denkens“ ist, so ist die
Hermeneutik im Zusammenhang mit der Kunst zu denken, also „philosophisch“. Das
Reden bedeutet für Schleiermacher sowohl die Vermittlung für die
Gemeinschaftlichkeit des Denkens als auch die Vermittlung des Denkens für den
Einzelnen.
Die Zusammengehörigkeit von Hermeneutik, Rhetorik besteht darin, daß „jeder
37
Akt des Verstehens die Umkehrung eines Aktes des Redens ist, indem in das
Bewußtsein kommen muß welches Denken der Rede zum Grunde gelegen“ (HK, 80).
Insofern gehört es zur Aufgabe der Hermeneutik, den Gedanken des Anderen aus der
Rede zu verstehen, weil die Rede der „gewordene Gekanke“ ist. Jedoch so, „daß
Auslegungskunst von Composition abhängig ist und sie voraussetzt“ (HK, 80). Diese
Idee wurde später von Boeckh, Dilthey, Betti und Hirsch in ihrer Bestimmung des
Verstehens als Rekonstruktion der ursprüngliche Konstruktion übernommen. Dilthey
nennt das Verstehen „eine dem Wirkungsverlauf selber inverse Operation“, einen
„Vorgang des Sichhineinversetzens, der Transposition“, das ein Nacherleben ist75.
Betti nennt den Auslegungsprozeß eine „Umkehrung des schöpferischen Prozesses“76.
Die Abhängigkeit der Dialektik (als die Kunst des Denkens) von Hermeneutik und
Rhetorik liegt laut Schleiermacher darin, „daß alles Werden des Wissens von beiden
abhängig ist“ (HK, 80).
Schleiermachers Unterscheidung zwischen grammatischer Interpretation und
psychologischer Interpretation77 weist darauf hin, daß das Verstehen sich sowohl
philologisch als auch psychologisch vollzieht. Es ist hervorzuheben, daß er
keineswegs die psychologische Interpretation bevorzugt 78 . Für ihn sind die
grammatische und die psychologische Interpretation nicht zwei verschiedenen
Interpretationsarten, sondern zwei einander ergänzende und sich bedingende Seiten
einer Interpretation, und „jede Auslegung muß beides vollkommen leisten“ (HV,
75 Dilthey: Das Verstehen anderer Personen und ihrer Lebensäußerungen, Ges. Schriften, Bd. VII, S. 214. 76 Betti: a.a. O., S. 94f. 77 In der allgemeinen Hermeneutik von 1809/10 nennt Schleiermacher das Verstehen nach den Gedanken auch „die technische Interpretation” (HV, 1272). Mehr dazu siehe den Aufsatz von Bern Willim: »Problemüberlagerungen im Konzept der technisch-psychologischen Interpretation«. In: Internationaler Schleiermacher-Kongreß, Berlin 1984, hg. von Kurt-Victor Selge, Berlin/ New York, 1985, S. 613-623. 78 Das Nicht-zur-vollen-Geltung-Bringen der grammatischen Interpretation der Schleiermacherschen Hermeneutik sieht Heinz Kimmerle vor allem durch Diltheys Einfluß auf die Hermeneutik-Konzeption im 19. Jh., siehe: ders.: Einleitung in: Schleiermacher: Hermeneutik, a.a.O., S. 14.
38
1272). Insofern kann die später von Gadamer geübte Kritik an der Verengung der
Hermeneutik auf die psychologische Interpretation durch Schleiermacher79 nicht
überzeugen, vielmehr ist es Gadamer selbst, der die „grammatische
Interpretation“ beiseite läßt und die psychologische Interpretation als das
„Eigenste“ Schleiermachers sehen möchte 80 . Wir haben auch gesehen, daß das
Verstehen bei Schleiermacher sowohl in seiner Ethik als auch in seiner Hermeneutik
im zwischenmenschlichen Verhältnis behandelt wird, indem er das Reden nicht nur
als die „Vermittlung des Denkens für den Einzelnen“ sondern auch als „die
Vermittlung der Gemeinschaftlichkeit des Denkens“ betrachtet und das Verstehen als
„Wort und Sache, Rede und Gedanken einander richtig entsprechen lassen“ (HV, 1274)
beschreibt. Gadamers Vorwurf an Schleiermacher, daß es „gar nicht auf das Verhältnis
zur Sache (Sein) ankommen soll“81, trifft nicht zu. Denn das Verhältnis von Sprache
und Denken als eine Einheit bei Schleiermacher beinhaltet bereits die Verbindung von
Denken und Sein82.
Unter grammatischer Interpretation versteht Schleiermacher, „die Kunst aus der
Sprache und mithülfe der Sprache den bestimmten Sinn einer gewissen Rede zu
finden“ (HK, 57). Der erste Kanon dafür ist: „Man construiere aus dem gesammten
Vorwerth der Sprache, des gemeinschaftlichen des Schriftstellers und Lesers und
suche nur in diesem die Möglichkeit der Interpretation“ (ebd.). In diesem Kanon
erscheint die Sprache als „ein Theilbares“ (HK, 57). „Niemand hat sie ganz. Sie ist
ein [G]etheiltes der Zeit nach, auch ein Getheiltes dem Raum nach, in der Zeit durch
79 Vgl. dazu Franks Kritik: „daß Gadamers Schleiermacherbild Züge der Fiktion aufweist“. Manfred Frank: Einleitung, in: Schleiermachers, Friedrich: Hermeneutik und Kritik, Frankfurt a. M. 1977, S. 60. An die Einseitigkeit der Gadamerschen Kritik an die Hermeneutik Schleiermachers siehe auch die Kritik von Andreas Arndt: Schleiermachers Hermeneutik im Horizont Gadamers, in: Gadamer verstehen. Understanding Gadamer, hg. von Mirko Wischke und Michael Hofer, Darmstadt 2003, S. 157-168, s. bes. S. 160f. 80 Gadamer: Wahrheit und Methode, Ges. Werke, Bd. I, S. 190. 81 A.a.O., S. 191. 82 Vgl. dazu Martin Redeker: Einleitung in: Dilthey, Leben Schleiermachers, a.a.O., S. IL.
39
Zuwachs i.e. Aneignung des fremden, Zusammensetzung und Theilung des eigenen
und durch Alliteration. Dem Raum nach durch Provincialismen und Dialekte“ (ebd.).
Dieser Kanon ist auf das qualitative und das quantitative Mißverstehen bezogen,
„denn die Reichhaltigkeit der Bedeutsamkeit hängt ab vom Alter und von der
Nähe“ (ebd.). Er ist der oberste Kanon für Schleiermacher,
„weil jedes Bestimmen und Fixieren des einzelnen Besonderen aus dem Interpretieren des Besonderen eine fortgreifende Operation sein soll, welche zuletzt den Sinn des einzelnen durch alle seine Umgebungen genau bestimmt. Dies ist aber nur möglich wenn der mannigfaltige Gebrauch desselben Elements sich gegeneinander eben so verhält wie die Veränderungen der Sprache im Ganzen“ (HK, 57).
Hiermit bestreitet Schleiermacher die herkömmliche Lehre vom vielfachen
Schriftsinn und hebt den „Grundsatz der Einheit der Bedeutung“ (HK, 60f) hervor.
Die Ungültigkeit der herkömmlichen Lehre offenbare sich, wenn man die beiden
entgegenstehenden Lehren von der vielfachen Bedeutung eines Wortes und von der
fast gleichen Bedeutung ganz unterschiedener Worte kombiniere. Diese Ansicht stelle
zusammen, was die Sprache entfernt und umgekehrt, also daß sie von einem ganz
andern Standpunkt ausgeht. Nemlich diese Beurtheilung geht aus vom Standpunkt der
Logik des Begriffs, die Sprache selbst aber hält sich in ihrer Bildung an die
Anschauung: jede Wortsphäre wird durch eine Anschauung bestimmt. Namen der
organischen Begriffe, Zeitwörter und Beiwörter die sämtlich von einem Schema
ausgehen“ (HK, 58f). Daraus werde sowohl die vielfache Bedeutung der Worte sowie
die Synonyme aus dem umgekehrten Verhältnis erklärt, weil „das mannigfaltige
woraus dieselbe Anschauung wiederkehrt unter sehr verschiedenen Begriffen kann
subsumirt werden“ (HK, 58). Ferner erklärt sich hieraus „die Individualität der
Sprachen, weil die Gesichtspunkte[,] nach denen sich die Anschauungen bestimmen[,]
40
sehr verschieden sein können, und was nach diesen construirt ist nicht mehr
ausgeglichen werden kann“ (ebd.). Damit wird die Lehre vom mehrfachen Schriftsinn
bei Schleiermacher „endgültig überwunden“, meint Birus83.
Dies ist gewiß einer der wichtigsten Punkte in der Hermeneutik Schleiermachers,
aus welchem sich nicht nur die Möglichkeit der Interpretation als Rekonstruktion des
ursprünglichen einheitlichen Textsinnes, sondern sich auch der Grund für die
Möglichkeit mannigfaltiger Interpretationen erklären läßt. Hier ist zwar von einer
sprachwissenschaftlichen Unterscheidung zwischen „Wortsinn“ und „Bedeutung“,
wie sie später bei Hirsch gemacht wird, noch nicht die Rede, aber eine
Unterscheidung zwischen dem Sinn der Schrift (als einem einheitlichen Schriftsinn)
und der mit den Anschauungen des Interpreten verbundenen Bedeutung des Textes als
der Bedeutung des Textes für den Interpreten (die jeweils mit der konkreten Situation
des Interpreten varieren kann) ist deutlich zu erkennen. Schleiermachers Schüler
August Boeckh hat dann im Bezug auf die Sprache als „objektive Bedingungen des
Mitgeteilten“ den „Wortsinn an sich“ von dem „Wortsinn in Beziehung auf reale
Verhältnisse“ unterschieden, die zusammen mit dem „Subjekt an sich“ und „dem
Subjekt in Beziehung auf subjektive Verhältnisse, die in Zweck und Richtung liegen“,
als „subjektive Bedingungen des Mitgetheilten“ für das Verstehen gelten84.
Daher macht Schleiermacher den „Grundsatz der Einheit des Sinnes“ zum „Gesetz
der grammatischen Interpretation“, ein Gesetz das zugleich „Grundsatz der
Bestimmtheit des Sinnes“ (HK, 40) ist. Die Hauptaufgabe der grammatischen
Interpretation ist dann, „nach vorausgesezter Kenntniß der Bedeutung für jeden
83 Vgl. dazu den Vergleich der Schleiermacherschen Hermeneutik mit der Aufklärungshermeneutik von Hendrik Birus. Nach Birus stellt die Schleiermachersche Hermeneutik in einem noch prinzipielleren Sinne sowohl in Hinblick auf die endgültige Überwindung der Lehre vom mehrfachen Schriftsinn als auch auf die zunehmende Wichtigkeit, die dem Autor und seinen Intentionen zugemessen werde, „eine Vollendung der Aufklärungshermeneutik“ dar. Hendrik Birus: Friedrich Schleiermacher als Klassiker, a.a.O., S. 19. 84 August Boeckh: Enzyklopädie, a.a.O., S. 83.
41
gegebenen Fall[,] den wahren Gebrauch[,] den der Schriftsteller im Sinn hatte[,]zu
finden“ (HK, 64; Hervorhebung von mir). Hieraus wird noch deutlicher, daß mit dem
Grundsatz der Einheit des Sinnes der vom Autor intendierte bzw. gebrauchte Sinn
gemeint ist. Folglich lautet die allgemeine Regel für die grammatische Interpretation,
daß „die Beschränkung [des Textsinns] bestimmt wird durch die Umgebungen“ (ebd.).
Dazu gehören die Glieder der Sätze: „Alles[,] was Aufgabe der Hermeneutik sein
kann[,] ist Glied eines Satzes. […] jedes ist die Bedingung zum Verständniß des
anderen. [...] auch diese Aufgabe [ist] eine unbestimmte durch Approximation zu
lösende“ (HK, 64). Hier wird das Verstehen im höchsten Sinne als ein endloses
angesehen, das den Charakter eines Zirkels zwischen dem Einzelnen und dem Ganzen
hat, und eine nur durch Approximation zu lösende Aufgabe ist. Es ist auch der Grund
dafür, daß Dilthey später das Verstehen „einen intellektuellen Prozeß von höchster
Anstrengung“ nennt, der doch „nie ganz realisiert werden kann“85.
1.1.5. Voraussetzung und Grenze des Verstehens von Fremdem
Sowohl Schleiermacher als auch Dilthey gehen von einer allen Menschen
gemeinsamen, identischen Vernunft bzw. allgemeinen Menschennatur als der
Voraussetzung der Möglichkeit des Verstehens der Menschen untereinander aus. Die
Voraussetzung des Verstehens der Menschen untereinander finden wir in der Ethik
Schleiermachers wie etwa im Brouillon zur Ethik 1805/06 genannt. „Durch die
vorausgesetzte Identität des Organischen sind wir im Stande [,]die Differenz in den
Außerungen anderen von den unsrigen zu verstehen“86. Schleiermacher setzt in seiner
Ethik eine allen Menschen umfassende, identische Vernunft voraus, die sich in jeder
85 Dilthey: Das Verstehen anderer Personen, a.a.O., S. 226f. 86 Schleiermacher: Werke. Auswahl in 4 Bänden, Bd. II ( = Ethik ), S. 125f.
42
einzelnen Person manifestiert und das Zusammenwirken von Einzelperson und
Gemeinschaft ermöglicht87. Für Schleiermacher ist das Gesamthandeln der Vernunft
die Voraussetzung für die organisierende und symbolisierende Tätigkeit des
Menschen88.
Ähnlich wie Schleiermacher geht Dilthey von einer „allgemeinen
Menschennatur“ als Voraussetzung für die Möglichkeit des Verstehens aus:
„In diesem [Verstehen] stehen sich die Individualität des Auslegers und die seines Autors nicht als zwei unvergleichbare Tatsachen gegenüber: auf der Grundlage der allgemeinen Menschennatur haben sich beide gebildet, und hierdurch wird die Gemeinschaftlichkeit der Menschen untereinander für Rede und Verständnis ermöglicht. Hier können die formelhaften Ausdrücke Schleiermachers psychologisch weiter aufgeklärt werden. Alle individuellen Unterschiede sind letztlich nicht durch qualitative Verschiedenheiten der Personen voneinander, sondern nur durch Gradunterschiede ihrer Seelenvorgänge bedingt“89.
Neben der gemeinsamen anthropologischen Basis bildet bei Dilthey der „objektive
Geist“ eine Brücke zwischen den Individuen. „Denn alles, worin sich der Geist
objektiviert hat, enthält ein dem Ich und dem Du Gemeinsames in sich,“ stellt Dilthey
fest 90 . „Diese Selbigkeit des Geistes im Ich, im Du, in jedem Subjekt einer
Gemeinschaft, in jedem System der Kultur, schließlich in der Totalität des Geistes und
der Universalgeschichte macht das Zusammenwirken der verschiedenen Leistungen in
den Geisteswissenschaften möglich.“91
Dennoch ist die Individualität des Einzelnen bei Schleiermacher „etwas durch den
Gedanken nicht Erreichbares“. „Durch die [...] vergleichende Anschauung ihrer
einzelnen Äußerungen kommt man zu einer Annäherung, welche aber nie vollendet 87 Schleiermacher: Ethik, S. 96f; vgl. Dilthey: Leben Schleiermachers, S. 295. 88 Schleiermacher: Ethik, S. 89f; vgl. Dilthey: Leben Schleiermachers, S. 290f. 89 Dithey: Die Entstehung der Hermeneutik, Ges. Schriften, Bd. V, S. 329f. 90 Diltehy: Das Verstehen anderer Personen, a.a. O., S. 208. 91 Dilthey: Entwürfe zur Kritik der historischen Vernunft, a.a.O., S. 191.
43
werden kann,“ sagt Schleiermacher92. Die Grenze des Verstehens liegt eben in der
„Unübertragbarkeit der Individualität“ 93 . Nach Dilthey liegen die Grenzen aller
Auslegung bereits in dem hermeneutischen Zirkel, in dem gefordert wird, aus den
einzelnen Worten und deren Verbindungen das Ganze eines Werkes zu verstehen, und
doch setzt das volle Verständnis des einzelnen das des Ganzen bereits voraus. Dieser
Zirkel wiederholt sich in dem Verhältnis des einzelnen Werkes zu Geistesart und
Entwicklung seines Urhebers, und er kehrt ebenso zurück im Verhältnis dieses
Einzelwerks zu seiner Literaturgattung. „Theoretisch trifft man hier auf die Grenzen
aller Auslegung, sie vollzieht ihre Aufgabe immer nur bis zu einem bestimmten Grade:
so bleibt alles Verstehen immer nur relativ und kann nie vollendet werden. Individuum
est ineffabile“ (Hervorhebung von Dilthey)94. Die grundlegende Schwierigkeit des
hermeneutischen Verstehens liegt eben in der sich entwickelnden, von einander
differenzierenden Individualität einzelnen Lebens. Jedenfalls ist die Grenze des
Verstehens bei Schleiermacher und Dilthey wohl sehr bewußt.
Insofern meint Fremdheit in der allgemeinen Hermeneutik Schleiermachers ganz
allgemein die konkrete Verständnisschwierigkeit, bezogen auf die Rede oder Schrift
eines Anderen. Der Grund der Fremdheit liegt Schleiermachers Auffassung nach nicht
nur in den geschichtlichen Wandlungen, also „Entfremdungen“, sondern
hauptsächlich in der Verschiedenheit der individuellen Ausprägungen der Sprachen
und der Sprecher. Die Fremdheit „gründet in der Verschiedenheit der Individualitäten;
aber auch die fortschreitende Geschichte zeitigt ‚Entfremdungen’“, wie Scholtz
festhält 95 . Das bedeutet nämlich, daß die Fremdheit bzw. das Fremde bei
Schleiermacher sowohl als das Problem des Zeitenabstands als auch das des Abstands
92 Ethik, a.a. O., S. 126. 93 Ethik, S. 124ff. 94 Dilthey: Entstehung der Hermeneutik, a.a.O., S. 330. 95 Scholtz: Ethik und Hermeneutik, S. 146.
44
bzw. der Differenz zwischen Ich und Du auftaucht. Insofern hat Gadamer Recht, wenn
er das Problem der Hermeneutik bei Schleiermacher „nicht das der dunklen
Geschichte, sondern das des dunklen Du“ sieht (WM, 195).
Hieraus ergibt sich, daß das Problem des Fremden bei Schleiermacher und Dilthey
nur relativ 96 sein kann, wenn es aus der relativen Differenz bzw. graduellen
Verschiedenheit der Individualitäten entsteht. Das in der Verschiedenheit bzw.
Unübertragbarkeit der Individualität gründende Fremde als Verständnisschwierigkeit
besteht nicht nur beim Verstehen von antiken Schriften oder fremder Kulturen,
sondern auch beim Verstehen von eigenen Kulturüberlieferungen. Die
„Universalität“ des Fremdheitsproblems als Problem des Verstehens liegt eben darin,
daß die Fremdheit nicht primär in der fremden Sprache, und auch nicht erst durch den
Zeitenabstand, sondern vielmehr in der Verschiedenheit der Individuen besteht.
Schleiermacher sagt zum Grund des Nichtverstehens: „eben weil jede in ihrem
einzelnen Sein das Nichtsein des anderen ist, das Nichtverstehen sich niemals
gänzlich auflösen will“ (HK, 141). Daher ist die Aufgabe des Verstehens eine
„unendliche“ (HK, 82; vgl. 88). Dem vollkommenen Verstehen kann man sich nur
96 Über die Fremdheit in der Hermeneutik als relative Fremdheit vgl. B. Waldenfelds: Phänomenologie des Fremden 4, Frankfurt a. M. 1999, S. 67-87. Waldenfeld hat darauf hingewiesen, daß es in der Hemeneutik sich nur um „die relative Fremdheit für uns”, nicht aber um „die Fremdheit in sich selbst” handelt. Die „Fremdheit in sich selbst” kann jedoch nicht ohne weiteres bestimmt werden, weil das Fremde bzw. die Fremdheit nur als Inbegriff für das allgemeine Phänomen der Verständnisschwierigkeit in der Hermeneutik gelten kann, das aber an sich mehrdeutig und durch den jeweiligen Empfänger als Verstehenden, - hier den jeweiligen Interpret oder Leser - bedingt ist. Denn die Fremdheit eines Textes kann für verschiedene Leser auch verschieden sein, je nachdem welche Kompetenz der jeweilige Leser besitzt. Insofern kann es in der Hermeneutik keine „reine Fremdheit in sich“ geben, weil der Schwierigkeitsgrad einesTextes je nach Kenntnisstand für jeden Interpreten variiert. Das heißt aber nicht, daß es keinen Textsinn an sich gibt, weil der Textsinn vom Autor bestimmt bleiben soll. Das geglückte Verstehen beruhe Schleiermacher zufolge auf der Kompetenz bezüglich der Sprach- ,Sach- und Menschenkenntnisse. Daher wird die „Kongenialität“ bei Schleiermacher als ein Kriterium für das gelungene Verstehen herangezogen. Bei Dilthey beruht das Verstehen „auf einer besonderen persönlichen Genialität“, Dilthey, Ges. Schriften, Bd. VII, S. 216. Darüber hinaus gibt es in der Hermeneutik nur relative Fremdheit: da das Fremde vertraut werden kann, und umgekehrt. Insofern kann das Spannungsverhältnis zwischen Fremdheit und Vertrautheit in der Hermeneutik auch als „dynamischer Konstitutionsprozeß“ beschrieben werden, wie Jens Loenhoff in seiner Untersuchung zum Problem grenzüberschreitender Kommunikation herausgestellt hat. Vgl. Jens Loenhoff: Interkulturelle Verständigung. Zum Problem grenzüberschreitender Kommunikation, Opladen 1992, S. 220.
45
approximativ nähern. Für Schleiermacher erscheint jede Lösung der
Verstehensaufgabe „immer nur als eine Annährung“, bleibt immer nur vorläufiges
Ergebnis des Verstehens. Insofern kann man die Aufgabe des Verstehens in der
Hermeneutik Schleiermachers als einen unendlichen Prozeß der Annäherung zum
Anderen und Fremden bezeichnen.
Somit ist das Verstehen in der Hermeneutik bei Schleiermacher und Dilthey
hauptsächlich auf die Rede sowie die schriftlich fixierten Lebensäußerungen eines
Fremden und Vergangenen gerichtet, die den geisteswissenschaftlichen Forschungen
zugrundeliegen und sich nicht auf die Tradition der theologischen Hermeneutik oder
die Tradition der klassischen Philologie beschränken lassen. Diese Lebensäußerungen
schließen insbesondere auch die Rede des Fremden sowie die Überlieferungen aus
fremden Kulturtraditionen ein. Jedes Verstehen des Fremden als gelungener Erwerb
richtigen Verständnisses der Ideen sowie Meinungen des Anderen bedeutet für
Schleiermacher und Dilthey ein Überschreiten der Schranke eigener Ideen und eine
Erweiterung eigener Horizonte. Die Aufgabe des Verstehens ist hier auf das richtige
Verständnis fremder Rede und fremder Lebensäußerungen als solche bestimmt.
Insofern ist es durchaus angemessen, diese Tradition der Hermeneutik als
Hermeneutik des Fremden zu bezeichnen.
46
1.2. Auflösung des Fremdheitsproblems durch die ontologische Wendung der
Hermeneutik bei Heidegger
Die Fragestellung sowie die Aufgabenbestimmung der Hermeneutik hat sich jedoch
am Anfang des 20. Jahrhunderts durch die fundamentalontologische Wendung
Heideggers radikal gewandelt. Für Heidegger war die Aufgabenbestimmung der
Hermeneutik bei Schleiermacher als eine Theorie und Kunstlehre des Verstehens
fremder Rede im Vergleich zu Augustins „lebendig gesehener Idee der
Hermeneutik“ eine Einschränkung. Diltheys Übernahme des Schleiermacherschen
Begriffs der Hermeneutik als Regelgebung des Verstehens und methodologische
Grundlage der Geisteswissenschaften bezeichnet Heidegger als eine „verhängnisvolle
Beschränkung“97. Dagegen möchte Heidegger das je eigene Dasein zum Thema
seiner hermeneutischen Untersuchung machen, die eigentlich eine Ontologie des
faktischen Lebens sein wollte, wie der Titel seiner frühen Freiburger Vorlesungsschrift
verrät98. Seine Hermeneutik kann als eine philosophische Reflexion über die Frage
nach dem Sinn von Sein betrachtet werden, die durch das „Selbstverständnis des
Daseins“ in der Philosophie als Selbstaufklärung zu beantworten ist und eine
Auslegung des Daseins erforscht.
In dieser Hermeneutik der Faktizität hat Heidegger bekanntlich die Vorstruktur des
Verstehens als die elementarste Vollzugsform des menschlichen Daseins
herausgearbeitet. Das Verstehen ist für Heidegger weder ein Erkenntnisvorgang, der
die methodologische Grundlage der historischen Geisteswissenschaften bilden sollte,
wie bei Droysen und Dilthey, noch ein subtilitas intelligendi, der es um die
97 Martin Heidegger: Ontologie. (Hermeneutik der Faktizität), Frühe Freiburger Vorlesung
Sommersemester 1923, hg. v. Käte Bröcker-Oltmanns, Gesamtausgabe, Bd. 63, Frankfurt a. M. 1988, S. 13f.. 98 Heidegger, a.a.O..
47
verstandesmäßige Erfassung eines sinnhaltigen Sachverhalts geht, wie es bei
Schleiermacher noch der Fall ist. Er denkt das Verstehen als „Existential“, d.h. als
Seinsweise des menschlichen Daseins, „mit dem wir in dieser Welt zurechtkommen
und zurechtzukommen versuchen“99. Es sei weniger eine Weise des Erkennens als ein
von der Sorge getragenes „Sichauskennen in der Welt“ 100 . Insofern bedeutet
Heideggers Hermeneutik der Faktizität „das philosophische Wachsein, in dem das
Dasein ihm selbst begegnet“. „Die Hermeneutik hat die Aufgabe, das je eigene Dasein
in seinem Seinscharakter diesem Dasein selbst zugänglich zu machen, mitzuteilen, der
Selbstentfremdung, mit der das Dasein geschlagen ist, nachzugehen. In der
Hermeneutik bildet sich für das Dasein eine Möglichkeit aus, für sich selbst
verstehend zu werden und zu sein,“ so bestimmt Heidegger die Aufgabe seiner
Hermeneutik der Faktizität101. Das beinhaltet zugleich eine ontologische Wende der
Hermeneutik, die nun nicht mehr um das Verstehen fremder Rede oder fremden
Personen bemüht ist und sich stets auf ein fremdes Leben richtet, sondern auf das
eigene Dasein und als eine Hermeneutik des eigenen Daseins bzw. eine Theorie des
Selbstverstehens bezeichnet werden kann102. Denn dieses Verstehen bei Heidegger,
„das in der Auslegung erwächst, ist mit dem, was sonst Verstehen genannt wird als ein
erkennendes Verhalten zu anderem Leben, ganz unvergleichlich; es ist überhaupt kein
Sichverhalten zu (Intentionalität), sondern ein Wie des Daseins selbst“. Insofern ist
das Verstehen bei Heidegger nicht „ein erkennendes Verhalten zu anderem Leben“,
sondern „das Wachsein des Daseins für sich selbst“103.
Pöggeler hat die Entfaltung dieser hermeneutischen Philosophie Heideggers in der 99 Vgl. Jean Grondin: Einführung in die philosophische Hermeneutik, Darmstadt 1991, S. 122. 100 Vgl. Heidegger: Gesamtausgabe Bd. 20, S. 286. 101 Heidegger: Ontologie, S. 15. 102 Vgl. Figals Bezeichnung der Hermeneutik Heideggers als eine „Theorie des Selbstverstehens“ „in instabiler Freiheit“. Günter Figal, Selbstverstehen in instabiler Freiheit. Die hermeneutische Position Martin Heideggers, in: Hermeneutische Positionen. Schleiermacher – Dilthey – Heidegger – Gadamer, hg. u. eingeleit. v. Hendrik Birus, Göttingen 1982, S. 89-119, bes. S. 91. 103 Heidegger: Ontologie, S. 15.
48
Konfrontation mit Diltheys Hermeneutik gesehen. Diltheys Versuch, aus dem Leben
den Zusammenhang und den Aufbau der geschichtlichen Welt in den
Geisteswissenschaften abzuleiten, war von Anfang an eine wichtige Anregung für
Heideggers Denken über Geschichte. Pöggeler meint: „Der junge Heidegger eignet
sich nicht nur die Arbeit Diltheys an, in der das neuzeitlich historische Denken sich
zur philosophischen Besinnung auf sich selbst erhebt; er macht auch ernst mit den
Anregungen des Grafen Yorck, des philosophischen Gespräch- und Brieffreunds von
Dilthey. Yorck hatte Dilthey gemahnt, sich nicht allein an der Historischen Schule zu
orientieren, denn diese Schule sei gar keine eigentlich ‚historische’ gewesen, da sie
die Geschichte nur zuständlich, von außen gesehen habe“ 104. Das ist auch der Grund,
daß Heideggers Bezug zum neuzeitlich historischen Denken in den Vorlesungen der
Jahre nach dem Ersten Weltkrieg durch den Bezug zu einer anderen Erfahrung der
Geschichte, zur Erfahrung der Geschichte im ursprünglichen christlichen Glauben
überholt wird105. Das bedeutet, daß es sich bei Heidegger um das Seinsverhältnis des
Daseins handelt, nicht um das Lebensverhältnis des Daseins zum anderen Menschen.
Nach Scholtz liegen die Wurzen der hermeneutischen Philosophie bereits im
Entstehen des historischen Bewußtseins am Ende des 18. Jahrhunderts: „da jetzt die
Vielfalt und Wandelbarkeit der menschlichen Kulturen in den Blick kam, und der
damals – z.B. bei Friedrich Schlegel – auftauchende Begriff einer »historischen
Philosophie« wäre der Vorgänger der »hermeneutischen Philosophie«, wie ja auch
Nietzsche später vom »historischen Philosophieren« und Yorck von Wartenburg von
der »Vergeschichtlichung des Philosophierens« sprechen werden. [...] als man die
Überzeugung verloren hatte, daß der absolute Geist sich in der Geschichte entfalte
und auslege, entstand auslegende, hermeneutische Philosophie“106. Dabei werden die
104 Otto Pöggeler: Heidegger und die hermeneutische Philosophie, Freiburg/München 1983, S. 143f. 105 Pöggeler, ebd. 106 Gunter Scholtz: Was ist und seit wann gibt es »hermeneutische Philosophie«? In: Dilthey Jahrbuch,
49
Rede von »Weltinterpretationen« und »Weltauslegung« bei Nietzsche und Dilthey als
Wegbereiter für Heideggers Entfaltung einer hermeneutischen Philosophie. „Die
hermeneutische Philosophie geht aus einer Krise des traditionellen Wahrheits- und
Wissenschaftsverständnisses hervor. Ihr liegt die Überzeugung zugrunde, daß erst
Kant die traditionelle Ontologie destruierte und die Welt in die Erscheinungswelt
verwandelte; und daß dann auch Kants transzendentale Vernunft als Basis der
Wissenschaft sich untauglich erwies, entweder gänzlich (wie bei Nietzsche) oder
zumindest teilweise (wie bei Dilthey). An die Stelle der einen Vernunft, die Kant
analysiert hatte, treten jetzt – mehr und mehr – »Weltansichten« (Humboldt),
»Weltanschauungen« (Dilthey), d.h. Traditionen und Konventionen, die sich schon in
der vorwissenschaftlichen Sprache artikulieren und die Welt auslegen. Diese
Auslegungen, diese Interpretationen, schieben sich gleichsam zwischen die Welt und
das, was als Wissenschaft bewußt getrieben wird. Die Wissenschaften ruhen ihnen auf,
spinnen sie fort, ohne dies zu wissen; ohne zu wissen, daß Weltverstehen weiter und
grundsätzlicher ist als naturwissenschaftliches Erkennen und daß die Begriffsbildung
der Naturwissenschaften auf einem schon sprachlich artikulierten Weltverhalten
beruht,“ erklärt Scholtz 107 . Die hermeneutische Philosophie werde sonach zur
„Reflexion der Geschichtlichkeit des Menschen und seiner Weltinterpretationen,
seiner Kultur“108.
Seit dieser ontologischen Wendung der Hermeneutik bei Heidegger ist die Aufgabe
des Verstehens das Selbstverständnis des Daseins und die Selbstbesinnung der
Philosophie über sich selbst geworden. Scholtz sieht darin vor allem eine
Dezentrierung des anderen Subjekts bei Heidegger: „Anders als Dilthey, der das
elementare Verstehen noch in der Beziehung zwischen Subjekten fand, nennt
Bd. 8, 1992-93, S. 93-119, s. bes. S. 110f. Weitere Literatur siehe die Angabe dort. 107 Scholtz, a.a.O., S. 111f. 108 Scholtz, a.a.O., S. 111.
50
Heidegger es das ursprüngliche Verstehen, wenn das Dasein weiß, was es mit den
Zuhandenen Dingen wie ‚Tisch, Tür, Wagen, Brücke’ auf sich hat. Das andere Subjekt,
dessen Äußerungen verstanden werden müssen, taucht bei Heidegger gar nicht
auf.“109 Das Problem des Fremden und des Anderen verschwindet aus dem Blickfeld,
was zugleich eine Wendung der hermeneutischen Aufgabe vom Fremdverstehen zum
Selbstverstehen bedeutet.
Ricoeur hat bekanntlich auf die Unzulänglichkeit der fundamentalontologischen
Hermeneutik Heideggers für die methodologische Frage nach der Bereitstellung eines
Organons für die Exegese bzw. die Auslegung eines Textes, für das Problem des
Konflikts in der rivalisierenden Interpretationen und für die erkenntnistheoretische
Frage nach der Begründung der historischen Wissenschaften gegenüber den
Naturwissenschaften hingewiesen. Die radikale Fragestellung Heideggers läßt diese
Probleme „nicht nur ungelöst, sondern rückt sie auch aus dem Blickfeld.“ „Diese
Probleme werden in einer Fundamentalhermeneutik tatsächlich nicht berücksichtigt;
und dies mit Absicht, denn eine solche Hermeneutik ist nicht dazu angelegt, sie zu
lösen (résoudre), sondern sie aufzulösen (dissoudre),“ betont Ricoeur110. In der Tat!
Heidegger hat ja kein Einzelproblem hinsichtlich der Interpretation von diesem oder
jenem Seienden in Betracht gezogen! Weder vom Fremden noch vom Anderen ist hier
die Rede. „Seine Absicht war es, unseren Blick umzuerziehen, unserem Denken eine
neue Orientierung zu geben; er wollte uns dazu anleiten, die historische Erkenntnis
dem ontologischen Verstehen unterzuordnen wie eine abgeleitete Form einer
109 Gunter Scholtz: Traditionelle Hermeneutik – hermeneutische Philosophie. Zum Bedeutungswandel des Interpretationsbegriffs, (Manuskript 2003), S. 10. 110 Paul Ricoeur: Hermeneutik und Strukturalismus. Der Konflikt der Interpretationen I, München 1973, S. 19. Ähnlich wie Ricoeur hat Bianco auf „die Unzulänglichkeit der Heideggerschen Fundamentalontologie für das Problem des Verstehens in der Praxis der Wissenschaften“, und „die Unersetzlichkeit der Schleiermacherschen Hermeneutik für die Verbesserung des Vermeidens von Irrtümer und Mißverständnisse“ hingewiesen. Franco Bianco: Heidegger und die Fragestellung der heutigen Hermeneutik. In: Zur philosophischen Aktualität Heideggers, Bd. 2.: Im Gespräch der Zeit, hg. von D. Papenfuss u. O. Pöggeler, Frankfurt a. M. 1989, S. 198-209.
51
ursprünglichen. Aber er gibt uns nicht den geringsten konkreten Hinweis, in welchem
Sinn das rein historische Verstehen von diesem ursprünglichen abgeleitet wird,“ so
Ricoeur.111
Im Bezug auf das Problem des Verstehens vom Fremden und Anderen bedeutet
dieser Wesenswandel der Hermeneutik zugleich eine Wende der Hermeneutik von der
Theorie des Fremdverstehens (als Theorie des Verstehens von fremden Reden,
Schriften, Religionen und Kulturen) zur Theorie des Selbstverstehens im Sinne einer
Theorie des „Sichverstehens des Daseins selbst“ und der „Selbstauslegung der
Philosophie“ bei Heidegger. Insofern ist es durchaus berechtigt, die ontologische
Hermeneutik Heideggers als eine Hermeneutik des Eigenen zu betrachten, da statt
dem Fremden 112 dem Seinsverständnis des Daseins in der abendländischen
Philosophie ein systematischer Ort zugewiesen wird. Es ist also eine Wende der
Hermeneutik vom Fremden zum Eigenen.
Diese Tendenz des Verstehensinteresses am Selbstverständnis des Daseins, am
eigenen Leben ist auch in der philosophischen Hermeneutik Gadamers deutlich zu
erkennen, wenn auch in gewandelter Form. Es wird sich zeigen, daß aus Heideggers
Selbstverständnis des Daseins in der Welt Gadamers Selbstverständnis der
Geisteswissenschaften in ihrer eigenen Tradition wird. Aus Heideggers „Hermeneutik
der Faktizität“ wird Gadamers „Hermeneutik der eigenen Tradition“.
111 Paul Ricoeur: Hermeneutik und Strukturalismus, a.a. O., S. 19. 112 Vgl. neuerdings den Hinweis von Iris Därmann: Der Fremde im Widerstand gegen das Verstehen oder: Hermeneutik und Ethnologie auf dem Prüfstand erneuter Kritik, in: Philosophische Rundschau, Bd. 52 (2005), S. 21-39, bes. S. 33.
52
2. Das Problem des Fremden in der philosophischen Hermeneutik Gadamers
Das Problem des Fremden in der Hermeneutik wurde durch Gadamer, der in der
Überwindung der Fremdheit die Kernaufgabe der Hermeneutik sah, wieder in das
Zentrum des Interesses gerückt. Was aber das Problem der Fremdheit in der
philosophischen Hermeneutik Gadamers angeht, so ist dieses jedoch nicht mit dem
Problem der Fremdheit im herkömmlichen Sinne, also mit dem Verständnisproblem,
welches Schleiermacher und Dilthey im Auge hatten, gleichzusetzen.
Denn bereits zu Beginn der Einleitung in seinem Hauptwerk Wahrheit und Methode
deutet Gadamer an, daß das Phänomen des Verstehens und der rechten Auslegung des
Verstandenen nicht nur ein Spezialproblem der geisteswissenschaftlichen
Methodenlehre sei (WM, 1). Die Aufgabe seiner Hermeneutik sei nicht, ein Verfahren
des Verstehens zu entwickeln, sondern „die Bedingungen aufzuklären, unter denen
Verstehen geschieht“ (WM, 300) 113 . Daher dürfen wir nicht erwarten, in der
Hermeneutik Gadamers eine methodologische Lösung für das Problem des Fremden
zu finden, da das Anliegen seiner Hermeneutik keine Methodenlehre des Verstehens
und des Auslegens von Fremdem ist, wie bei Schleiermacher und Betti114, sondern der
Versuch einer Verständigung über das, „was die Geisteswissenschaften über ihr
methodisches Selbstbewußtsein hinaus in Wahrheit sind und was sie mit dem Ganzen
113 Ähnlich wie Dilthey stellt Gadamer die gleiche Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit des Verstehens. Der Unterschied zwischen den beiden liegt Gadamer zufolge darin, daß diese Frage „keineswegs nur an die so genannten Geisteswissenschaften“ gestellt sei; „sie stellt sie an das Ganze der menschlichen Welterfahrung und Lebenspraxis. Sie fragt, um es kantisch auszudrücken: Wie ist Verstehen möglich?“ Es ist eine Frage, die sowohl das Selbstverständnis als auch das Weltverständnis des Menschen betrifft. Vgl. dazu die Vorwort zur 2. Auflage von Wahrheit und Methode in: H.-G. Gadamer, Ges. Werke, Bd. 2, Tübingen 1993, S. 439. Eben in dieser von Gadamer „an das Ganze der menschlichen Welterfahrung und Lebenspraxis“ gestellten Frage hat Karl-Otto Apel „die Grundfrage einer ‚transzendentalen Hermeneutik’, u.d.h.: einer die ‚Vorstruktur’ des Vertstehens für alle wissenschaftlichen und vorwissenschaftlichen Erkenntnisformen reflektierenden Transzendentalphilosophie“ gesehen. Karl-Otto Apel: Transformation der Philosophie, Bd. 1: Sprachanalytik, Semiotik, Hermeneutik, Frankfurt a. M. 1976, Einleitung, S. 9-76, bes. S. 44. 114 Siehe Emilio Betti: Die Hermeneutik als allgemeine Methodik der Geisteswissenschaften, Tübingen 1962.
53
unserer Welterfahrung verbindet“ (WM, 3). Gadamer will nicht nur auf die
erkenntnistheoretische Frage ‚Wie ist Verstehen möglich?’ eingehen, sondern auch das
Selbstverständnis der Geisteswissenschaften berichtigen, um sich „der Überfremdung
mit den objektivierenden Methoden der modernen Wissenschaften, die die
Hermeneutik und Historik des 19. Jahrhunderts charakterisiert“ (WM, 319),
entgegenzustellen 115.
Die Fremdheit, die Gadamer in seiner philosophischen Hermeneutik zu überwinden
beansprucht, bezieht sich folglich nicht auf das Fremde im herkömmlichen Sinne als
Verständnisschwierigkeit, welche bei Schleiermacher und Dilthey auf das
geschichtlich und kulturell Fremde bezogen war, sondern vielmehr auf die
„Verfremdungen“, die ihm zufolge im ästhetischen, historischen und methodologisch
orientierten hermeneutischen Bewußtsein situiert sind. Dies zeigt sich am deutlichsten
in seinem Aufsatz über Die Universalität des hermeneutischen Problems116, in dem er
sich die Aufgabe stellt,
„über die Vorurteile, die dem ästhetischen Bewußtsein, dem historischen Bewußtsein und dem zu einer Technik des Vermeidens von Mißverständnissen restringierten hermeneutischen Bewußtsein zu Grunde liegen, hinauszukommen
115 Die verschiedenen Kennzeichnungen, die Gadamer für seine Hermeneutik anbietet, führen zur Problematik und inneren Schwierigkeit der Verortung seiner Position in der Philosophie, vor allem in der Hermeneutik, insbesondere im Blick auf die Frage nach der Verstehbarkeit des Fremden, welche im Kontext gegenwärtiger Diskussionen über die Möglichkeit und Probleme interkulturellen Verstehens eine zentrale Rolle spielt. Die vorliegende Arbeit beschränkt sich auf die Verortung der Hermeneutik zwischen Fremdheit und Vertrautheit von Gadamer selbst, die vor allem im Kontext seiner Auseinandersetzung mit der Hermeneutik Schleiermachers steht, und zielt darauf ab, die verschiedenen Dimensionen des Fremdheitsproblems bei Gadamer aufzuweisen. Über die Problematik und die innere Schwierigkeit der gadamerschen Hermeneutik (im Blick auf die Verhältnisbestimmung seiner Hermeneutik zur traditionellen Hermeneutik und zur Transzendentalphilosophie von Kant und Hegel) vgl. die Untersuchung von Michael Hofer: Hermeneutische Reflexion? Zur Auffassung von Reflexion und deren Stellenwert bei Hans-Georg Gadamer. In: Mirko Wischke / Michael Hofer (Hg.): Gadamer Verstehen. Understanding Gadamer, Darmstadt 2003, S. 57-83. Über das Verhältnis der gadamerschen Hermeneutik zu dem Geschichtsdenken von Hegel und Heidegger vgl. die aufschlußreiche Untersuchung von Günter Figal: Gadamer im Kontext. Zur Gestalt und den Perspektiven philosophischer Hermeneutik. In: Gadamer verstehen, a.a.O., S. 141-156. 116 Gadamer: Kleine Schriften, Bd.1, Tübingen 1967, S. 101-112.
54
und die in ihnen gelegenen Verfremdungen zu überwinden.“117 (Hervorhebung von mir, Chen)
Die sich nun stellende Frage ist, warum das historische Bewußtsein und das
methodologisch orientierte hermeneutische Bewußtsein, das sich um die
Überwindung des Fremden als Verständnisschwierigkeit und um das Vermeiden von
Mißverständnissen von Fremdem bemüht, Verfremdungen hervorbringt, wie Gadamer
hier sagt. Was wird verfremdet? Wie verhält sich das Verfremdungsproblem zu dem
eigentlichen Problem des Fremden? Im Folgenden werde ich auf die
Auseinandersetzungen Gadamers mit der Hermeneutik der historisch-
methodologischen Schule eingehen, um die Wendung des hermeneutischen Problems
vom Problem des Fremden zum Problem der Verfremdung bei Gadamer deutlich zu
machen. Es wird sich zeigen, daß eine solche Wendung zugleich eine Auflösung des
Problems des Fremden im eigentlichen Sinne des Wortes bedeutet und eine Wendung
der hermeneutischen Aufgabe vom Verstehen von Fremdem zum Verstehen von
Eigenem im Sinne der Verständigung mit eigenen Kulturtraditionen herbeigeführt hat.
Um den Zusammenhang dieser Wendung zu verstehen, ist es günstig, zunächst auf
den Wesenswandel des Fremdheitsproblems bei Gadamer einzugehen.
2.1. Der Wandel des Fremdheitsproblems: vom Verständnisproblem zum
Verfremdungsproblem
Im vorigen Kapitel wurde herausgestellt, daß das Problem des Fremden in der
Tradition der Schleiermacherschen Hermeneutik sich als ein allgemeines Problem des
Nichtverstehens und Mißverstehens von fremder Rede und als Anlaß für die
hermeneutischen Bemühungen des Verstehens darstellt. Die Fremdheit in der 117 Gadamer: Kleine Schriften, Bd. 1, S. 105.
55
Hermeneutik stellt sich als eine relative dar, nachdem Schleiermacher den
Aufgabenbereich der Hermeneutik im Hinblick auf die relative Verschiedenheit der
Individualitäten zwischen den beiden Polen der gänzlichen Fremdheit und der
gänzlichen Vertrautheit bestimmt hat118. Dilthey hat diese Konzeption von Fremdheit
als allgemeines Verstehensproblem übernommen und meint: „Die Auslegung wäre
unmöglich, wenn die Lebensäußerungen gänzlich fremd wären. Sie wäre unnötig,
wenn in ihnen nichts fremd wäre. Zwischen diesen beiden äußersten Gegensätzen
liegt sie also. Sie wird überall erfordert, wo etwas fremd ist, das die Kunst des
Verstehens zu eigen machen soll.“119
Gadamer knüpft an diese Bestimmung an und weist zur Verortung der Hermeneutik
auch auf die Polarität von Fremdheit und Vertrautheit hin, obwohl er im Rahmen
dieser Polarität eine andere Aufgabe des Verstehens im Auge hat als jene
Schleiermachers und Diltheys:
„Es besteht wirklich eine Polarität von Vertrautheit und Fremdheit, auf die sich die Aufgabe der Hermeneutik gründet. Nur daß diese nicht mit Schleiermacher psychologisch als die Spannweite, die das Geheimnis der Individualität birgt, zu verstehen ist, sondern wahrhaft hermeneutisch, d.h. im Hinblick auf ein Gesagtes, die Sprache, mit der die Überlieferung uns anredet, die Sage, die sie uns sagt. Auch hier ist eine Spannung gegeben. Sie spielt zwischen Fremdheit und Vertrautheit, die die Überlieferung für uns hat, zwischen der historisch gemeinten, abständigen Gegenständlichkeit und der Zugehörigkeit zu einer Tradition. In diesem Zwischen ist der wahre Ort der Hermeneutik“ (WM, 300, Hervorhebung im Orig.).
Die Polarität von Fremdheit und Vertrautheit, die auf den historischen Abstand und
die individuelle Differenz zwischen dem Sprecher und dem Hörer bzw. zwischen dem
Autor und dem Interpreten als Problemlage angewiesen ist, auf die die ursprüngliche
118 Ich habe auf die Stelle bei Schleiermacher bereits oben hingewiesen (s. o. Kap.1.1.1.). 119 Wilhelm Dilthey: Entwürfe zur Kritik der historischen Vernunft, Ges. Schriften Bd. VII, S. 225.
56
Aufgabe der allgemeinen Hermeneutik gegründet war, wird hier auf das
Spannungsverhältnis zwischen „Zugehörigkeit“ und „Abstandnahme“ zu einer
Tradition übertragen. Damit wird der Sinn der Fremdheit und das Problem des
Fremden in der Hermeneutik Gadamers umgewandelt.
Es ist klar, daß Gadamer hier eine Position gegen die Fremdheit als die „historisch
gemeinte, abständige Gegenständlichkeit“ einnimmt und für die ontologisch und
normativ gemeinte „Zugehörigkeit“ zur eigenen Tradition 120 als „ursprüngliche
Vertrautheit“ eintritt. Denn genau diese Fremdheit im Sinne der
historisch-methodologischen „Verfremdung“ bzw. wissenschaftlichen
„Vergegenständlichung“ 121 will die philosophische Hermeneutik Gadamers
überwinden. Die Verfremdung der Überlieferung durch das historische Bewußtsein
hat nach Gadamers Auffassung erst mit Spinozas historischer Interpretation der
Heiligen Schrift in der neuzeitlichen Aufklärung begonnen (WM, 184; 297), sich dann
durch Schleiermachers Begründung der allgemeinen Hermeneutik in der Romantik
„radikalisiert“ (WM, 180; 202f; 297f), und schließlich wurde sie durch Diltheys
hermeneutische Begründung der Geisteswissenschaften und durch seine
Untersuchung zur Entstehung der Hermeneutik „auf ihre Weise festgelegt“ (WM, 170;
281).
120 Vgl. dazu die Auseinandersetzung Thomas Bettendorfs mit dem Denken Gadamers. Zu Recht hat Bettendorf die „Zugehörigkeit“ als das Hauptthema der philosophischen Hermeneutik Gadamers hervorgehoben und seinerseits die „Zugehörigkeit“ jeweils als „Teilhabe am gemeinsamen Sinn“, als „Er-Innerung“ und als „vorgängige Erschlossenheit“ herausgestellt. Thomas Bettendorf: Hermeneutik und Dialog: eine Auseinandersetzung mit dem Denken Hans-Georg Gadamers, Frankfurt a. M. 1984, s. bes. S. 19-45. 121 Vgl. z.B. Gadamer: Geschichtlichkeit und Wahrheit, Ges. Werk, Bd. 10: Hermeneutik im Rückblick, S. 247-258. S. 257: „Objektivität bedeutet Vergegenständlichung [...]. “ Vgl. ähnlich dazu Gunter Scholtz: Zum Historismusproblem in der Hermeneutik. In: Historismus am Ende des 20. Jahrhunderts. Eine internationale Diskussion, hg. v. Gunter Scholtz, Berlin 1997, S. 192-214, S. 210.
57
2.1.1. Das historische Bewußtsein und die Entfremdungserfahrung der
Überlieferung
Das historische Bewußtsein ist Gadamers Auffassung nach durch die
Entfremdungserfahrung der Überlieferung entstanden und bestimmt seither die
Funktion der Hermeneutik innerhalb der Geisteswissenschaften:
„Nicht nur die literarische Überlieferung ist entfremdeter und neuer, lebendiger Aneignung bedürftiger Geist. Vielmehr ist alles, was nicht mehr unmittelbar in seiner Welt steht und sich in ihr und an sie aussagt, mithin alle Überlieferung, Kunst sowohl wie alle anderen geistigen Schöpfungen der Vergangenheit, Recht, Religion, Philosophie usw., ihrem ursprünglichen Sinn entfremdet und auf den aufschließenden und vermittelnden Geist angewiesen, den wir mit den Griechen nach Hermes, dem Götterboten, benennen. Es ist die Entstehung des historischen Bewußtseins, der die Hermeneutik eine zentrale Funktion innerhalb der Geisteswissenschaften verdankt“ (WM, 170, Hervorhebung im Orig.).
Die Entstehung des historischen Bewußtseins und die Aufdeckung der Funktion der
Hermeneutik in den Geisteswissenschaften wird hier mit der Erfahrung der durch den
Zeitenabstand und durch die geschichtlichen Wandlungen entstandenen Entfremdung
der Überlieferung in Zusammenhang gebracht. Das historische Bewußtsein ist
demnach das Bewußtsein von den geschichtlichen Wandlungen des Sinnes der
Überlieferung, deren ürsprünglichen Sinn im Laufe der Zeit verloren gegangen ist und
uns fremd erscheint. Die Aufgabe der historisch-methodologischen Hermeneutik
besteht dem zufolge darin, die Fremdheit bzw. das Fremde als den entfremdeten,
ursprünglichen Sinn der Überlieferung aufzuschließen und zu vermitteln, was
wiederum zugleich einen Versuch der Überwindung des Zeitenabstandes bedeutet.
Schleiermachers Hermeneutik sei zum Beispiel „ganz darauf gerichtet, die
ursprüngliche Bestimmung eines Werkes im Verständnis wiederherzustellen. Denn
58
Kunst und Literatur, die uns aus der Vergangenheit überliefert sind, sind ihrer
ursprünglichen Welt entrissen,“ erklärt Gadamer (WM, 171).
Doch für Gadamer ist diese Aufgabenbestimmung der Hermeneutik, die
methodisch auf die objektive Rekonstruktion des entfremdeten ursprünglichen Sinns
der Überlieferung abzielt, nicht richtig gestellt. Vielmehr bedeutet der
Überwindungsversuch der Hermeneutik durch das Rekonstruieren des ursprünglichen
Sinnes der Überlieferung als „Wiederherstellung des Ursprünglichen“ für Gadamer
„nur die Mitteilung eines erstorbenen Sinnes“ (WM, 172), die er mit zwei
Hauptgründen abzuwehren versucht: Zum einen ist die Bestimmung der Aufgabe des
Verstehens als die objektive Rekonstruktion des ursprünglichen Sinns für Gadamer
ein vergegenständlichendes Verfahren des Verstehens, welches eine Abstandnahme
zur Überlieferung bedeutet und die „wahre Bedeutung“ der Überlieferung nicht
richtig erkennt. Zum anderen bedeutet Wiederherstellung des Ursprünglichen für
Gadamer, „angesichts der Geschichtlichkeit unseres Seins“, „ein ohnmächtiges
Beginnen“ (WM, 172), eine Illusion, eine „Naivität“. Das wiederhergestellte, aus der
Entfremdung zurückgeholte Leben sei nicht das ursprüngliche. Es gewinne lediglich
in der Fortdauer der Entfremdung ein sekundäres Dasein der Bildung. Gadamer
bestreitet hier ganz und gar die Notwendigkeit sowie die Möglichkeit eines
methodisch-progressiven Verfahrens des Verstehens von Fremdem in den
Geisteswissenschaften122.
Insofern bedeutet das Problem der Fremdheit in den Traditionen der Hermeneutik
zweierlei, nämlich einmal Fremdheit als die Erfahrung konkreter
122 Vgl. die ähnliche Ansicht von Karl-Otto Apel: Szientistik, Hermeneutik, Ideologiekritik. Entwurf einer Wissenschaftslehre in erkenntnisanthropologischer Sicht, in: Hermeneutik und Ideologiekritik, hg. v. Rüdiger Bubner, Frankfurt a. M. 1975, S.7-44. Auch in: ders.: Transformation der Philosophie, Bd. 2. Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft, Frankfurt a. M. 1976, S. 96-127. Apel teilt die Ansicht, daß Gadamer den Sinn und die Möglichkeit einer methodisch-progressiven Objektivation des Sinns in den hermeneutischen Wissenschaften bestreite, die zur „Entmachtung der geschichtlichen Tradition führt“. Zit. S. 31.
59
Verständnisschwierigkeit, die durch die Entfremdung der Überlieferung und die
Verschiedenheit der Individualität von Sprache und Sprecher entsteht und als Ursache
des Nichtverstehens und Mißverstehens gilt, deren Überwindung die primäre Aufgabe
der historisch-methodologischen Hermeneutik der Schleiermacher-Schule ist; und
zum anderen Fremdheit als „Verfremdung“ bzw. „wissenschaftliche
Vergegenständlichung“ der Überlieferung, deren Überwindung die Aufgabe der
philosophischen Hermeneutik Gadamers bildet.
Es bleibt jedoch zu fragen, weshalb die Überwindung der Sinnentfremdung durch
die objektive Rekonstruktion des ursprünglichen, entfremdeten Sinns der
Überlieferung bei der historisch-methodologischen Hermeneutik eine
„Verfremdung“ der Überlieferung hervorbringt bzw. zur „Entmachtung“ der
geschichtlichen Tradition führen könnte, wie Gadamer es hier der Hermeneutik der
historisch-methodologischen Schule vorwirft. Hat Schleiermacher das Verstehen nicht
gerade als „Annäherung“ zum Anderen und Fremden beschrieben, wie wir im vorigen
Kapitel herausgestellt haben? Will Schleiermachers Hermeneutik nicht gerade den
Abstand zwischen dem Interpretandum und dem Interpreten durch das progressive
Verfahren des Verstehens überbrücken helfen, wie Gadamer es als „Aufgabe der
Überwindung des Zeitenabstandes“ angedeutet hat? Die Antworten darauf können
anhand der Rekonstruktion der Auseinandersetzung Gadamers mit der allgemeinen
Hermeneutik Schleiermachers am besten gezeigt werden.
2.1.2. Die Universalität der Fremdheitserfahrung bei Schleiermacher und die
Verfremdung der Tradition
In seiner Auseinandersetzung mit der romantischen Hermeneutik schreibt Gadamer,
daß die „Universalität“ der Hermeneutik bei Schleiermacher erst durch dessen
60
Interpretation des Verstehensproblems als eines universellen Phänomens entstanden
sei. „Er sucht die theoretische Begründung des den Theologen und Philologen
gemeinsamen Verfahrens zu gewinnen, indem er hinter beider Anliegen auf ein
ursprüngliches Verhältnis des Verstehens von Gedanken zurückgeht“ (WM, 182).
Während Friedrich Ast, der Philologe und unmittelbare Vorläufer Schleiermachers, in
der „inhaltlichen Einheit der Überlieferung“ „die Einheit des griechischen und
christlichen Lebens“ hervorbringen wollte, sucht Schleiermacher „die Einheit der
Hermeneutik nicht mehr in der inhaltlichen Einheit der Überlieferung, auf die das
Verstehen angewandt werden soll, sondern abgelöst von aller inhaltlichen
Besonderung in der Einheit eines Verfahrens“ (WM, 182). Demnach hat sich
Schleiermachers Begründung der allgemeinen Hermeneutik von der Aufgabe der
Wiederherstellung der inhaltlichen Einheit der griechischen und christlichen Tradition
abgelöst und der Einheit des Verstehensverfahrens zugewandt. Gadamer ist der
Meinung, daß Schleiermachers Idee einer universalen Hermeneutik aus der
Vorstellung entstanden sei, „daß die Erfahrung der Fremdheit und die Möglichkeit des
Mißverstehens eine universelle ist“ (WM, 182f).
„Aber gerade die Ausweitung der hermeneutischen Aufgabe auf das ‚bedeutsame Gespräch’, die für Schleiermacher besonders charakteristisch ist, zeigt, wie sich der Sinn der Fremdheit, deren Überwindung die Hermeneutik leisten soll, gegenüber der bisherigen Aufgabenstellung der Hermeneutik grundsätzlich gewandelt hat. In einem neuen, universalen Sinn ist Fremdheit mit der Individualität des Du unauflöslich gegeben“ (WM, 183).
Gadamer betont mit Recht, daß die Fremdheit in der Hermeneutik Schleiermachers
unauflöslich mit der Individualität des Du123 verbunden ist. Das Verstehen wird eben
123 Vgl. dazu ähnliches von Gunter Scholtz: „Die Fremdheit gründet in der Verschiedenheit der Individualitäten; aber auch die fortschreitende Geschichte zeitigt ‚Entfremdungen’.“ Gunter Scholtz: Die Philosophie Schleiermachers, Darmstadt 1984, S. 146.
61
deshalb bei Schleiermacher als ein progressives Verfahren der Annäherung zum
Anderen und Fremden bezeichnet124. „Indem Schleiermacher dergestalt das Verstehen
auf das Problem der Individualität zuspitzt, stellt sich ihm die Aufgabe einer
Hermeneutik als eine universelle dar. Denn die beiden Extreme der Fremdheit und der
Vertrautheit sind mit der relativen Differenz aller Individualität gegeben,“ so Gadamer
(WM, 193).
Mit seiner Hervorhebung der Fremdheitserfahrung sowie der Möglichkeit des
Mißverstehens als Charakteristika für die „Universalität“ der allgemeinen
Hermeneutik Schleiermachers macht Gadamer die Überwindung der Fremdheit als
Aufgabe der Hermeneutik geltend und leitet danach zu seinen eigenen Überlegungen
zur Fremdheit und zu der Aufgabe des Verstehens über 125 . Schleiermachers
Beschreibung der Fremdheit als Ursache des Mißverstehens, die durch die
Verschiedenheit der Individualität des Du, durch den Zeitenabstand, die Veränderung
von Sprachgewohnheiten, den Wandel von Wortbedeutungen und Vorstellungsweisen
verursacht wird, und „seine Festlegung der Aufgabe der Hermeneutik auf Vermeiden
derartiger Mißverständnisse“ 126, ist Gadamers Auffassung nach unangemessen, um
das Phänomen des Verstehens zu begreifen. Gadamer meint dagegen:
124 Das zeigt sich sowohl in seinem ersten Entwurf zur Hermeneutik aus der Zeit zwischen 1810 und 1819, in dem er die Operation des Verstehens im Bezug auf das Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem am Beispiel des Verstehenlernens des Kindes als „nur durch Approximation möglich“ (HK, 61) erklärt, als auch in den Akademiereden des Jahres 1929, wo jede Lösung der Aufgabe des Auslegens „immer nur als eine Annäherung“ (HK, 146) bezeichnet wurde. 125 Vgl. Waldenfels’ Hinweis auf die Überwindung der Fremdheit als Aufgabe der Hermeneutik bei Gadamer. Es ist ein bißchen irreführend, wenn Waldenfels die Überwindung der Fremdheit, die Gadamer hier zur Aufgabe der Hermeneutik macht, als eine Art Nachfolge Schleiermachers beschreibt: „So erscheint es nicht verwunderlich, daß Gadamer, Schleiermacher folgend, die Überwindung der Fremdheit zur eigentlichen Aufgabe der Hermeneutik erklärt.” Denn die Fremdheit, die Gadamers Hermeneutik zu überwinden hat, ist nicht dieselbe wie die bei Schleiermacher. Bernhard Waldenfels: Phänomenologie des Fremden 4, S. 71. 126 Gadamer: Kleine Schriften, Bd. I, S. 104f. Die Definition der Hermeneutik von Schleiermacher, die Gadamer hier attackiert, ist aber bloß eine Formulierung Schleiermachers über das Ziel der Auslegung, die sich als ‚die laxere Praxis’ erweist, wie es bei den Spezialhermeneutiken etwa in Theologie, Jurisprudenz und Philologie zu sehen ist, wie wir im ersten Kapitel herausgearbeitet haben. Diese ‚laxere Praxis’ in der Kunst geht, Schleiermachers Auffassung nach, davon aus, „daß sich das Verstehen von selbst ergibt: und drückt das Ziel negativ aus ‚Mißverstand soll vermieden werden‘“. Und der Grund solcher Ansicht ist Schleiermachers Meinung nach die Voraussetzung der „Identität der Sprache
62
„Nicht das Mißverständnis und nicht die Fremdheit ist das Erste, so daß die Vermeidung des Mißverstandes die eindeutige Aufgabe wäre, sondern umgekehrt ermöglicht erst das Getragensein durch das Vertraute und das Einverständnis das Hinausgehen in das Fremde, das Aufnehmen aus dem Fremden und damit die Erweiterung und Bereicherung unserer eigenen Welterfahrung“ 127 (Hervorhebung von mir, Chen).
Mit dem „Getragensein durch das Vertraute und das Einverständnis“ meint Gadamer
eben die Zugehörigkeit zur eigenen Tradition. Insofern gilt es Gadamer nicht, das
Fremde im Sinne des Unbekannten, des Mißverständlichen oder des Problematischen
als primäres Problem des Verstehens zu thematisieren und konkrete Lösungen dafür
zu finden, sondern umgekehrt, die Tradition als das ursprünglich Vertraute und das
originäre Einverständnis für die Möglichkeit des Verstehens vorauszusetzen. Was
Gadamer interessiert, ist nicht das Phänomen des Nichtverstehens oder Mißverstehens
als solches, sondern das Phänomen des Verstehens im eigentlichen Sinne des Wortes.
Gadamers Voraussetzung einer ursprünglichen Vertrautheit zwischen dem
Interpretandum und dem Interpreten kann Geltung beanspruchen, nur wenn beide
gleicher Herkunft sind. Es bleibt jedoch zu fragen, ob die eigene Tradition, das
ursprünglich Vertraute als die hinreichende Bedingung der Möglichkeit des
Verstehens vom Fremden gelten könnte, vor allem wenn der Verstehende aus einer
fremden Kulturtradition kommt und eine ursprüngliche Vertrautheit mit der Tradition
des Zuverstehenden nicht besitzt. Zu Recht hat Nicole Ruchlak die Voraussetzung
eines ursprünglichen Einverständnisses und einer originären Vertrautheit zwischen
dem Interpretandum und dem Interpreten als „ein grundlegendes Defizit“ des und der Combinationsweise in Redenden und Hörenden“, die aber im Hinblick auf die Verschiedenheit der Individualität, insbesondere der Verschiedenheit der Sprachen und der Kulturen in Redenen und Hörenden, nicht gelten kann. Dagegen soll die Hermeneutik bei Schleiermacher von der „strengeren Praxis“ handeln, die davon ausgeht, „daß sich das Mißverstand von selbst ergiebt und das Verstehen auf jedem Punkt muß gewollt und gesucht werden“ (HK, 86), eben weil die Identität der Sprache und der Kompositionsweise in Redenden und Hörenden nicht vorauszusetzen ist. Diese Dimension kultureller Fremdheit und Differenz als Ursache des Nichtverstehens und Mißverstehens in der Hermeneutik Schleiermachers wird von Gadamer überhaupt nicht beachtet. 127 Gadamer: Kleine Schriften, Bd. I, S.111.
63
hermeneutischen Konzepts Gadamers nachgewiesen, „da es die sozialphilosophische
Relevanz der radikalen Differenz zwischen den Individuen letztlich ausklammert“128.
In Wirklichkeit ist die Vertrautheit mit der eigener Tradition eher verhindernd als
befördernd, um den kulturell Fremden oder fremde Traditionen zu verstehen. Ja, laut
Helmuth Plessner ist die allzu große Vertrautheit sogar hinderlich, die eigene
Tradition zu verstehen129.
Schleiermachers allgemeine Hermeneutik, die sich von der Theologie, Jurisprudenz
und Philologie ablöst und die das Bemühen um Verstehen überall da für nötig hält, wo
sich kein unmittelbares Verstehen ergibt und wo mit der Möglichkeit eines
Mißverstehens gerechnet werden muß, bedeutet für Gadamer „die Auflösung der
Vorbildlichkeit des klassischen Altertums“ sowie „die Preisgabe der dogmatischen
Einheit des Kanons” (WM, 181f), so daß die inhaltliche Einheit der Überlieferung
nicht mehr gewährleistet werden kann. „Weder die Heilswahrheit der Heiligen Schrift
noch die Vorbildlichkeit der Klassiker sollte ein Verfahren beeinflussen, das in jedem
Text seinen Lebensausdruck zu erfassen wußte und die Wahrheit des Gesagten dabei
dahingestellt ließ,“ so Gadamer über die „Fragwürdigkeit“ der Hermeneutik
Schleiermachers und der Romantik (WM, 201). Mit der inhaltlichen Einheit der
Überlieferung ist hier eindeutig die inhaltliche Einheit beider Traditionen („die
Einheit des griechischen und christlichen Lebens”) gemeint, die zugleich
ausschließlich auf die abendländischen Kulturtraditionen beschränkt ist. Insofern wird
der Begriff der Fremdheit als „Verfremdung“ der Überlieferung eindeutig auf die
Verfremdung als Ablösung von dem normativen Einheits- und Wahrheitsanspruch
abendländischer Kulturtraditionen festgelegt. Implizit vorausgesetzt ist dabei, daß es
128 Nicole Ruchlak: Alterität als hermeneutische Perspektive, in: Hans-Marin Schönherr-Mann (Hg.): Hermeneutik als Ethik, Müchen 2004, S. 151-167, Zit. S. 160. 129 Helmuth Plessner: Mit anderen Augen. In: ders.: Aspekte einer philosophischen Anthropologie, Stuttgart 1982, S. 164ff.
64
einen einheitlichen, gemeinsamen Sinn beider Traditionen gibt bzw. geben sollte und
daß die Heilswahrheit der Heiligen Schrift und die Vorbildlichkeit der Klassiker jedes
Verfahren des Verstehens in den Geisteswissenschaften beeinflussen sollte. Dadurch
wird nicht nur der Begriff der historischen Überlieferung auf die Überlieferung
abendländischer Kulturtradition reduziert und im Vergleich zu der von Schleiermacher
anerkannten Vielfalt und den Eigenwerten historischer Überlieferungen aus
verschiedenen Zeitepochen und Kulturtraditionen auf unangemessene Weise verengt,
sondern die Aufgabe des Verstehens wird folglich auch auf die „Sinnkontinuität der
abendländischen Kulturüberlieferung“ (WM, 214) beschränkt.
Der Unterschied zwischen dem Problem des Fremden und dem
Verfremdungsproblem liegt folglich zum einen darin, daß letzteres eine ursprüngliche
Vertrautheit und ein Einverständnis mit der Überlieferung voraussetzt, während jenes
von der Verschiedenheit der Individualität zwischen Sprecher und Hörer ausgeht und
auf die Probleme der Nichtselbstverständlichkeit und Unverständlichkeit der
Überlieferung verwiesen ist; zum anderen, daß das Problem des Fremden sowohl das
geschichtlich als auch kulturell Fremde einschließt, während das Problem der
Verfremdung sich ausschließlich auf die eigene Kulturüberlieferung beschränkt. Das
uns ursprünglich Fremde, d.h. Unbekannte, vor allem kulturell Fremde, könnte nicht
„verfremdet“ werden, wenn Verfremdung im eigentlichen Sinne des Wortes
Wegnahme des „Selbstverständlichen und Bekannten“130 bedeutet. Eben in diesem
Sinne verwendet Gadamer den Begriff der Verfremdung, um die
historisch-methodologische Hermeneutik zu kritisieren. 130 Vgl. Th. Weber, Art. ‹Verfremdung›, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 11, hg. v. Joachim Ritter u. Karlfried Gründer, Darmstadt, S. 653f.: „Wirkungsgeschichtlich ist der Begriff mit der Theorie und ästhetischen Praxis B. Brechts verknüpft, der Verfremdung bzw. Verfremdungseffekt ab 1936 zur Kennzeichnung des zentralen Moments seiner Dramatik verwendet, die er der aristotelischen, auf «Einfühlung» zielenden Tradtition entgegenstellt. «Einen Vorgang oder Charakter verfremden» heißt bei Brecht «zunächst einfach, dem Vorgang oder dem Charakter das Selbstverständliche, Bekannte, Einleuchtende zu nehmen und über ihnen Staunen und Neugierde zu erzeugen».“
65
Das bedeutet, daß Gadamer hier das hermeneutische Problem der Fremdheit vom
Problem der Verständnisschwierigkeit zum Problem der Verfremdung der eigenen
Tradition hinführt. Das hermeneutische Problem des Verstehens bei Gadamer wird
dementsprechend vom Problem des Fremdverstehens zum Problem des
Selbstverstehens umgewandelt, welches auf die Wiederherstellung der Sinnkontinuität
der Überlieferung in der inhaltlichen Einheit der eigenen Kulturtraditionen abzielt.
Das Wesen des Fremdheitsproblems in der Hermeneutik Gadamers ist folglich ein
gegenüber der allgemeinen Hermeneutik Schleiermachers gewandeltes: Die
Fremdheit wird vom allgemeinen Verständnisproblem umgedeutet zur
„Verfremdung“ als „Abstandnahme“ zur eigenen Tradition. Während der Begriff der
Fremdheit in der allgemeinen Hermeneutik Schleiermachers nicht nur auf die
geschichtlichen Wandlungen der Sprachen, sondern auch auf die Verschiedenheit der
Individualität von Sprachen und Sprecher ausgerichtet ist, was zuletzt auf die
Verschiedenheit der Kulturen und Religionen als „kulturelle Fremdheit“ erweitert
worden war und sich nicht auf die Überlieferung eigener Kulturtraditionen beschränkt,
wird das Problem der Fremdheit bei Gadamer zur Verfremdung als Bruch mit dem
normativen Geltungsanspruch der Überlieferung und zielt ausschließlich auf die
Wiederherstellung der sittlichen Verbindung mit eigenen Kulturtraditionen ab.
2.2. Zugehörigkeit als Konzept gegen die Verfremdung der Tradition
Entgegen dem historischen und dem hermeneutischen Bewußtsein der
historisch-methodologischen Hermeneutik versucht Gadamer das
wirkungsgeschichtliche Bewußtsein als Prinzip der Hermeneutik hervorzuheben und
die „Geschichtlichkeit des Verstehens“ im Anschluß an Heideggers Analyse der
Geschichtlichkeit des Daseins im Verstehen der geschichtlichen Überlieferung
66
aufzuzeigen. An die Stelle des auf die Andersheit des Anderen abzielenden
hermeneutischen Bewußtseins tritt hier ein auf die Zugehörigkeit zur eigenen
Tradition abzielendes wirkungsgeschichtliches Bewußtsein in den Vordergrund.
„Zugehörigkeit“ wird Gadamer zufolge von Graf Yorck als „die Besonderheit der
Seinsart“, d.h. die „Seinsart der Geschichtlichkeit“, die dem Erkennenden und dem
Erkannten gemeinsam ist, der Diltheyschen Voraussetzung der „Gleichartigkeit der
Menschennatur“ (als Bedingung der Möglichkeit des Verstehens) gegenübergestellt
(WM, 267). Gadamer meint:
„’Zugehörigkeit’ ist nicht deshalb eine Bedingung für den ursprünglichen Sinn historischen Interesses, weil Themenwahl und Fragestellung außerwissenschaftlichen, subjektiven Motivationen unterliegen [...] sondern weil Zugehörigkeit zu Traditionen genau so ursprünglich und wesenhaft zu der geschichtlichen Endlichkeit des Daseins gehört wie sein Entworfensein auf zukünftige Möglichkeiten seiner selbst“ (WM, 266).
Hier wird die Zugehörigkeit zu Traditionen mit der Geschichtlichkeit des
menschlichen Lebens in engste Beziehung gebracht. Diese existenziale Struktur des
Verstehens erreiche ihre Konkretion im historischen Verstehen, „indem konkrete
Bindungen von Sitte und Überlieferung und ihnen entsprechende Möglichkeiten der
eigenen Zukunft im Verstehen selber wirksam werden“ (WM, 268). Insofern gilt es
für Gadamer, die sittliche Bindung zur Tradition, d.h. „das Moment der Tradition im
historischen Verhalten zu erkennen“ und „auf seine hermeneutische Produktivität zu
befragen“ (WM, 287)131.
131 Die „Zugehörigkeit zu Traditionen“ bezeichne Figal zufolg zugleich die Wende Gadamers von der Hermeneutik der Faktizität Heideggers zu seiner eigenen Version einer Hermeneutik der Faktizität. Figal meint: „Die Hermeneutik ist zur Selbstaufklärung eines wirkungsgeschichtlichen Bewußtseins geworden, das sich in seinen Möglichkeiten zu verstehen der Tradition verdankt, auf die es sich richtet. Sofern die Tradition das im prägnanten Sinne des Wortes Vorgegebene ist, das unhintergehbar alle Möglichkeiten, sich zu ihm zu verhalten, freisetzt, ist damit der Gedanke einer ‚unergründbaren und unableitbaren Faktizität des Daseins’ erreicht.“ Günter Figal: Gadamer im Kontext. Zur Gestalt und den Perspektiven philosophischer Hermeneutik, in: Gadamer verstehen. Understanding Gadamer, hg. v. Mirko Wischke/ Michael Hofer, Darmstadt 2003, S.141-156. Hier S. 148.
67
Genau diese „Zugehörigkeit zu Traditionen“ (WM, 266) soll Gadamers Konzept
gegen die Verfremdung der Überlieferung sein, die sowohl als ontologische als auch
als normative Bedingung des hermeneutischen Verstehens, zu verstehen ist. Das heißt,
statt des ursprünglichen, d.i. des historischen Sinns der Überlieferung, soll im
Verstehen der normative Sinn der Tradition vermittelt werden (WM, 291), welches er
am Beispiel des Klassischen zu zeigen versucht. Als ontologische Bedingung bedeutet
die Zugehörigkeit des Interpreten zur Tradition die geschichtliche Bedingtheit des
Verstehens (im Sinne der Traditionsgebundenheit als Endlichkeit und Beschränktheit
des Verstehens) und gilt als Gadamers Einwand gegen das Objektivitätsideal der
geisteswissenschaftlichen Forschung. Als normative Bedingung des hermeneutischen
Verstehens soll die Zugehörigkeit zur Tradition die geschichtliche Bewegtheit und den
wahren Sinn des Verstehens (im Sinne der Sinnkontinuität und Fortwirkung der
Tradition) andeuten, die in Konzeptionen wie „Gleichzeitigkeit“,
„Horizontverschmelzung“ und „Applikation“ als integriertes Moment des Verstehens
verankert sind.
2.2.1. Tradition als Grundlage aller hermeneutischen Bemühungen
Die erste Konzeption, die Gadamer zur Überwindung der Verfremdung der
Überlieferung entworfen hat, ist die Rehabilitierung von Autorität und Tradition als
„legitime“, „wahre“ Vorurteile, die durch die Aufklärung diskreditiert worden seien.
Sein Ansatzpunkt ist, daß es legitime Vorurteile gebe, daß Tradition eine Form der
Autorität und eine Quelle der wahren Vorurteile sei. Im Gegensatz zur Aufklärung, in
der die Vernunft die letzte Quelle aller Autorität darstellt, hebt Gadamer unter
Berufung auf die romantische Kritik an der Aufklärung die Bedeutung der Tradition
im geschichtlichen Verstehen hervor. „Wir verdanken in der Tat der Romantik diese
68
Berichtigung der Aufklärung, daß außerhalb der Vernunftgründe auch Tradition ein
Recht behält und in weitem Maße unsere Einrichtungen und Verhalten bestimmt,“ so
Gadamer (WM, 285). „Die Wirklichkeit der Sitten z. B. ist und bleibt in weitem
Umfang eine Geltung aus Herkommen und Überlieferung. Sie werden in Freiheit
übernommen, aber keineswegs aus freier Einsicht geschaffen oder in ihrer Geltung
begründet. Eben das ist es vielmehr, was wir Tradition nennen: ohne Begründung zu
gelten,“ fährt Gadamer fort (WM, 285). „Es kennzeichnet geradezu die Überlegenheit
der antiken Ethik über die Moralphilosophie der Neuzeit,“ so Gadamer, „daß sie im
Blick auf die Unentbehrlichkeit der Tradition den Übergang der Ethik in die ‚Politik’,
die Kunst der rechten Gesetzgebung, begründet“ (WM, 285).
Gadamer versucht dann die Legitimation der Autorität der Tradition am Beispiel
der Autorität von Personen zu erklären, welche ihren Grund „in einem Akt der
Anerkennung und der Erkenntnis – der Erkenntnis nämlich, daß der andere einem an
Urteil und Einsicht überlegen ist und daß daher sein Urteil vorgeht,“ hat (WM, 284).
„Sie beruht auf Anerkennung und insofern auf einer Handlung der Vernunft selbst, die,
ihrer Grenzen inne, anderen bessere Einsicht zutraut“, so Gadamer (ebd.). Die
Anerkennung der Autorität schließe die Einsicht in die Überlegenheit des Anderen ein
und insofern beruhe sie auf Erkenntnis. Damit sollte die Autorität der Tradition wie
die Autorität von Personen durch den Akt der Anerkennung als einer Handlung der
Vernunft mit Erkenntnis legitimiert werden.132. Es ist nicht abzustreiten, daß in den
Traditionen die Erfahrung von Wahrheit und die Gewinnung von Erkenntnis möglich
ist. Allein stellt sich die Frage, ob die Anerkennung der Geltung bzw. der Werte des
132 Vgl. dazu die Unterscheidung der Anerkennungsinstanzen in der Hermeneutik von Gunter Scholtz: Anerkennung als Element der Hermeneutik, in chines. Übers. (承認之為詮釋學要素) in: World Philosophy, Bejing 2006, Nr. 3, S. 33-41. Auch in: Die geistigen Grundlagen einer Kultur der Anerkennung, hg. v. H. K. Keul u. J. Rüsen, demnächst Bukarest [Manuskript]. Nach Scholtz ist „Anerkennung“ als „Element der Hermeneutik“ zu bezeichnen, da es in allen Hermenutiken Anerkennung vollzogen wird, sei es dem Interpretandum, hier der Überlieferung, dem Autor oder dem Interpreten gegenüber.
69
Interpretandums die Überlegenheit desselben voraussetzen muß, und ob die
„Autorität“ tatsächlich auf der „Überlegenheit“ von Urteil und Einsicht beruht. Führt
die Idee der Autorität nicht leicht zur Monopolisierung der einen bestimmten
Tradition und zur alleinigen Herrschaft derselben gegenüber allen anderen
Traditionsbeständen oder anderen Traditionen? Die Anerkennung der Geltung
traditierter Werke muß nicht zur Festlegung ihrer Autorität als einem festen allein
geltenden Maßstab über allen anderen führen. Vor allem im Falle der Autorität von
Personen läßt sich am Beispiel der Diktatoren leicht bestätigen, daß die Autorität
überhaupt nicht auf der Überlegenheit von Urteil und Erkenntnis, sondern auf der
Macht und Gewaltanwendung beruht133, und daß die Anerkennung der Autorität
solcher Personen nicht eine Handlung der Vernunft, sondern eine Handlung blinder
Gehorsamkeit bedeutet.
In einer vielstimmigen divergenten Tradition sieht Gadamer eine Gefahr, und erst
recht ist ihm das Bewußtsein der Traditionsvielfalt suspekt, und deshalb steht er der
historischen Arbeit der Geisteswissenschaften kritisch gegenüber. „Die große
Leistungen der Romantik, die Erweckung der Zeitenfrühe, das Vernehmen der
Stimme der Völker in Liedern, die Sammlung der Märchen und der Sagen, die Pflege
des alten Brauchtums, die Entdeckung der Sprachen als Weltanschauungen, das
Studium der »Religion und Weisheit der Inder« – sie alle haben historische
Forschung ausgelöst, die langsam, Schritt für Schritt die ahnungsreiche
Wiedererweckung in abständige historische Erkenntnis verwandelte,“ erklärt
Gadamer die zwiespältige Leistung der Romantik und ihren Einfluß auf die
historischen Forschung (WM, 279f). Schleiermachers Begründung der allgemeinen
133 Vgl. dazu den Hinweis von Wei-Chieh Lin auf Habermas’ Kritik an dem von Gadamer herausgestellte Verhältnis zwischen Autorität und Erkenntnis, welches auf Gadamers „konservativer Überzeugung“ beruhe. Wei-Chieh Lin: Verstehen und sittliche Praxis. Ein Vergleich zwischen dem Kofuzianismus Zhu Xis und der philosophischen Hermeneutik Gadamers. Frankfurt a. M. 2001, S. 94. Unten Anmerk.174.
70
Hermeneutik, die sich von dem normativen Anspruch der philologischen und der
theologischen Hermeneutik ablöst und auf die Einheit des Verstehensverfahrens
gründet, beruht eben auf einer solchen Anerkennung der Vielfalt und der Eigenwerte
der Sprachen und Kulturen, Weltansichten und Wertsysteme.
Diese große Leistung der Romantik, die eine entscheidende Rolle für die
historische Forschung und für das Verstehen von vergangenen und fremden Kulturen
in der Geschichte der Geisteswissenschaften eingenommen hatten, haben in Gadamers
Augen jedoch negative Folgen. Er meint:
„Daß sich die restaurative Haltung der Romantik mit dem Grundanliegen der Aufklärung zu der Wirklichkeit der historischen Geisteswissenschaften verbinden konnte, drückt nur aus, daß es der gleiche Bruch mit der Sinnkontinuität der Überlieferung ist, der beiden zugrunde liegt“ (WM, 279f, Hervorhebung von mir, Chen).
Mit dem Bruch mit der Sinnkontinuität der Überlieferung, der der Romantik und der
Aufklärung zugrundeliegt, meint Gadamer eben die Preisgabe des dogmatischen
Geltungsanspruches der Überlieferung durch das historische Bewußtsein, die er am
Beispiel der historischen Bibelkritik Spinozas in der neuzeitlichen Aufklärung und der
Begründung der allgemeinen Hermeneutik Schleiermachers in der Romantik
aufzuzeigen versucht.
Dieser Bruch mit dem dogmatischen Wahrheitsanspruch der Überlieferung eigener
Kulturtradition zeigt sich besonders deutlich in der Ausführung Diltheys über das
historische Bewußtsein:
„Das historische Bewußtsein von der Endlichkeit jeder geschichtlichen Erscheinung, jedes menschlichen oder gesellschaftlichen Zustandes, von der Relativität jeder Art von Glauben ist der letzte Schritt zur Befreiung des Menschen. Mit ihm erreicht der Mensch die Souveränität, jedem Erlebnis seinen Gehalt abzugewinnen, sich ihm ganz hinzugeben, unbefangen, als wäre kein
71
System von Philosophie oder Glauben, das Menschen binden könnte. Das Leben wird frei vom Erkennen durch Begriffe; der Geist wird souverän allen Spinneweben dogmatischen Denkens gegenüber“ 134.
Gadamer meint: „Indem sie [die Geisteswissenschaften] die weiten Räume der
Geschichte forschend und verstehend durchdringen, erweitern sie zwar den geistigen
Horizont der Menschheit um das Ganze ihrer Vergangenheit, aber das
Wahrheitsstreben der Gegenwart wird so nicht nur nicht befriedigt, es wird sich selber
gleichsam bedenklich“135. Der historische Sinn, den die Geisteswissenschaften in sich
ausbilden, bringe eine Gewöhnung an wechselnde Maßstäbe mit sich, die im
Gebrauch der eigenen Maße zur Unsicherheit führe. „Der Historismus, der überall
geschichtliche Bedingtheit sieht, hat den pragmatischen Sinn der geschichtlichen
Studien zerstört. Seine verfeinerte Kunst des Verstehens schwächt die Kraft zu
unbedingter Wertung, in der die sittliche Realität des Lebens besteht. Seine
erkenntnistheoretische Zuspitzung ist der Relativismus, seine Konsequenz der
Nihilismus,“ kritisiert Gadamer136.
Das historisch-methodologisch verfahrende hermeneutische Verstehen in den
Geisteswissenschaften, das die Vielfalt und die Wandelbarkeit der Kulturen und
Wertsysteme in der Geschichte der Menschheit kenntlich gemacht hat, hat Gadamers
134 Dilthey, Ges. Schriften, Bd. VII, S. 290f. Diltheys Anliegen war, vom geschichtlichen Leben aus die geschichtliche Welt zu erfassen. Es gibt für ihn nur den Weg von der Deutung des Lebens zur geschichtlichen Welt. Das Leben ist Dilthey zufolge aber nur da im Erleben, Verstehen und geschichtlichen Auffassen. „Wir sind der Möglichkeit offen, daß Sinn und Bedeutung erst im Menschen und seiner Geschichte entstehen. Aber nicht im Einzelmenschen, sondern im geschichtlichen Menschen. Denn der Mensch ist ein geschichtliches (Wesen),“ so Dilthey zum Schluß seiner Abhandlung über Die Erkenntnis des universalhistorischen Zusammenhanges. Wilhelm Dilthey: Ges. Schrift Bd. VII, S. 291. Das Leben wird bei Dilthey „das Organon für die Auffassung der geschichtlichen Lebendigkeit“. Vgl. den Hinweis von Leonhard von Renthe-Fink: Geschichtlichkeit. Ihr terminologischer und begrifflicher Ursprung bei Hegel, Haym, Dilthey und Yorck, Göttingen 1968, S. 114: „Geschichtlichkeit als geschichtliche Lebendigkeit wird allein vom Leben aus verstanden, erkannt und begriffen. Dilthey bringe den Standpunkt zur Geltung, ‚daß Leben das primäre Datum ist, von dem alle, auch die allgemeinsten Kategorien deriviert sind. Daher die Nähe des Verständnisses, die Wärme der Darstellung’“ . 135 Gadamer: Wahrheit in den Geisteswissenschaften (1953), Ges. Werke Bd. 2, Tübingen 1993 (1986), S. 38. 136 Gadamer: Wahrheit in den Geisteswissenschaften, a.a.O., S. 38.
72
Ansicht nach – in Übereinstimmung mit Nietzsches Betrachtungen über „Nutzen und
Nachteil der Historie für das Leben“ – eben diesen Nachteil für das gegenwärtige
„wahrheitsstrebende“ Leben: es schwäche die Kraft zu unbedingter Wertung, indem
der dogmatische Wahrheitsanspruch der Tradition relativiert bzw. aufgehoben wird.
Karl-Otto Apel bezeichnet solches hermeneutisches Verstehen bei Schleiermacher und
Dilthey als „das normativ unverbindliche aber wissenschaftlich allgemeingültige
Verstehen der hermeneutischen »Geistes-Wissenschaften«“, das an die Stelle des
„normativ verbindlichen Verstehens der vorwissenschaftlichen
Traditionsvermittlung“ trete137. Mit dem normativ Verbindlichen des Verstehens ist
eben der Norm- und Wahrheitsanspruch der Tradition gemeint.
Eben hier liegt der Punkt, an dem Gadamers philosophische Hermeneutik ansetzt.
Er möchte nachweisen, daß in den Geisteswissenschaften „trotz aller Methodik ihres
Verfahrens ein Einschlag von Tradition wirksam ist“ (WM, 287), und zwar im
normativen und wirkungsgeschichtlichen Sinne. Er meint:
„In unserem Verhalten zur Vergangenheit, das wir ständig betätigen, ist jedenfalls nicht Abstandnahme und Freiheit vom Überlieferten das eigentliche Anliegen. Wir stehen vielmehr ständig in Überlieferung, und dieses Darinstehen ist kein vergegenständlichendes Verhalten, so daß das, was die Überlieferung sagt, als ein anderes, Fremdes gedacht wäre – es ist immer schon ein Eigenes, Vorbild und Abschreckung, ein Sichwiedererkennen, in dem für unser späteres historisches Nachurteil kaum noch Erkennen, sondern unbefangenste Anverwandlung der Überlieferung zu gewahren ist“ (WM, 286f).
Damit ist normativ gemeint, daß das Verstehen in den Geisteswissenschaften mit dem
Fortleben von Tradition eine Voraussetzung teilt, nämlich „sich von der Überlieferung
angesprochen zu sehen“ (WM, 287, Hervorheb. im Orig.; vgl. WM, 273, 295, 300,
304 u.ö.). Das Angesprochensein bedeutet bei Gadamer, daß wir uns etwas von der 137 Karl-Otto Apel: Szientistik, Hermeneutik und Ideologiekritik. Entwurf einer Wissenschaftslehre in erkenntnisanthropologischer Sicht, in: Hermeneutik und Ideologiekritik, a.a.O., S. 30.
73
Überlieferung bedeuten lassen.
„Bedeutung erschließt sich nicht, wie Dilthey meint, im Abstand des Verstehens, sondern dadurch, daß wir selber in dem Wirkungszusammenhang der Geschichte stehen. Geschichtliches Verstehen ist selber immer Erfahrung von Wirkung und Weiterwirken. Seine Befangenheit bedeutet geradezu seine geschichtliche Wirkungskraft“ 138.
An dieser Stelle wird deutlich, daß die Zugehörigkeit zur eigenen Tradition der
Zugehörigkeit zur Geschichte gleichbedeutend wird. Die Eingebundenheit des
Interpreten in die eigene Tradition soll hier nicht mehr die Beschränktheit bzw.
Befangenheit, sondern die Möglichkeit des geschichtlichen Verstehens bedeuten. Die
Möglichkeit der Diskrepanz zwischen der Tradition des Interpreten und der Tradition
des Überlieferten scheint hier nicht berücksichtigt zu sein. Hier ist die
Wirkungsgeschichte gradlinig gedacht139. Die Bedeutung der Überlieferung für den
jeweiligen Interpreten wird als die Wirkung und Weiterwirkung der Überlieferung im
Vollzug des Verstehens verstanden, weil die Neubestimmung der Bedeutung der
Überlieferung bereits mit der Wahl des Forschungsthemas, der Weckung des
Forschungsinteresses und der Gewinnung der neuen Fragestellung beginnt. Im
Kontext der Wirkungsgeschichte betrachtet, erweist sich das Verstehen historischer
Überlieferung als ein Vorgang der Wirkung und Weiterwirkung der Überlieferung
selbst und gewinnt dadurch den Charakter eines „Überlieferungsgeschehens“ (WM,
343, 488), da durch den Akt des Verstehens die Gegenwart mit der Vergangenheit
138 Gadamer: Das Problem der Geschichte in der neueren deutschen Philosophie, Ges. Werke, Bd. 2, S. 34f. 139 Vgl. dazu die kritische Überlegungen von Hans Krämer. Für Hans Krämer ist „die Vorstellung von einem linearen Geschichtsverlauf wieder zu abstrakt, gemessen an nicht-linearen, nach Richtung, Kombination und Tempo unbestimmten Geschichtsprozessen.“ Vielmehr sollte Krämer zufolge unterschieden werden „zwischen linearen, zyklischen, helikoiden, retrograden und noch komplexeren Verlaufsformen, eingeschlossen teleologische Approximations- oder gar Emergenzprozesse.“ Hans Krämer: Die Grundlagen kulturwissenschaftlichen Erkenntnis. Kritische Überlegungen zu Gadamer. In: Kultur verstehen. Zur Geschichte und Theorie der Geisteswissenschaften, hg. v. G. Kühne-Bertram, H.-U. Lessing, V. Steenblock, Würzburg 2003, S. 85-96, s. bes. S. 90f.
74
vermittelt wird.
„Die Wirkung der fortlebenden Tradition und die Wirkung der historischen
Forschung bilden eine Wirkungseinheit, deren Analyse immer nur ein Geflecht von
Wechselwirkungen anzutreffen vermöchte,“ fährt Gadamer fort. Daher sind die
Selbstbesinnung und die Autobiographie – Diltheys Ausgangspunkte der historischen
Vernunft – für Gadamer nichts Primäres und reichen als Basis für das hermeneutische
Problem nicht aus, „weil durch sie die Geschichte reprivatisiert wird“ (WM, 281). Er
meint:
„Lange bevor wir uns in der Rückbesinnung selber verstehen, verstehen wir uns auf selbstverständliche Weise in Familie, Gesellschaft und Staat, in denen wir leben. Der Fokus der Subjektivität ist ein Zerrspiegel. Die Selbstbesinnung des Individuums ist nur ein Flackern im geschlossenen Stromkreis des geschichtlichen Lebens. Darum sind die Vorurteile des einzelnen weit mehr als seine Urteile die geschichtliche Wirklichkeit seines Seins“ (WM, 281, Hervorheb. im Orig.).
Daran anschließend kommt Gadamer zu dem Schluß, daß Diltheys Ausgangspunkt,
„das Innesein der Erlebnisse“, die Brücke zu den geschichtlichen Realitäten nicht
schlagen könne, „weil die großen geschichtlichen Wirklichkeiten, Gesellschaft und
Staat, in Wahrheit schon immer vorgängig für jedes ‚Erlebnis’ bestimmend
sind“ (WM, 281). „In Wahrheit gehört die Geschichte nicht uns, sondern wir gehören
ihr,“ betont Gadamer (ebd.). Damit gelangt Gadamer zu seiner These, daß am Anfang
aller historischen Hermeneutik „die Auflösung des abstrakten Gegensatzes zwischen
Tradition und Historie, zwischen Geschichte und Wissen von ihr“ stehen muß (WM,
287, Hervorheb. im Orig.).
Es ist deutlich zu erkennen, daß Gadamer den Begriff der Tradition mehrdeutig
verwendet. Mal bedeutet Tradition die Herkunft und die Lebenswelt wie Familie,
Gesellschaft und Staat als sittliche Wirklichkeit, aus der man kommt und in der man
75
lebt. Mal bedeutet Tradition die Tradition der geisteswissenschaftlichen Forschung
und der Philosophie. Ein andersmal aber bedeutet Tradition die ganze Vergangenheit
bzw. die ganze Geschichte der Menschheit, also die ganze geschichtliche
Vorgegebenheit, die Gadamer in Anlehnung an Hegel ‚Substanz’ nennt140. Im Ganzen
betrachtet weist der Begriff der Tradition bei Gadamer die „Vorstruktur“ des
Verstehens für alle wissenschaftlichen und vorwissenschaftlichen Erkenntnisse auf.
Indem Gadamer den Gegensatz zwischen Tradition und Historie, zwischen Geschichte
und Wissen von ihr auflöst und die Wechselwirkung zwischen fortlebender Tradition
und historischer Forschung konstatiert, läßt sich das Verhältnis zwischen den
verschiedenen Bedeutungen von „Tradition“ und historischer Erkenntnis bei ihm
kaum noch bestimmen141. Im Zusammenhang der Wirkungsgeschichte betrachtet
könnte man mit Droysen meinen, daß das Wissen von der Geschichte selbst ein Teil
der Forschungsgeschichte wird. Das kann aber nicht bedeuten, daß Geschichte der
historischen Forschung oder einer bestimmten Tradition gleicht. Das bedeutet
zugleich eine Homogenisierung der Vielfalt der Traditionsbestände und eine
Vereinfachung der Darstellung von Geschichte, welche in Wirklichkeit vielstimmig ist,
140 Vgl. Günter Figal: Gadamer im Kontext, a.a.O., s. Bes. S.149. Nach Figal ist Gadamers Hermeneutik der Faktizität in ihrem Kern eine „immanente Kritik an der Geistphilosophie Hegels“. An ihr als einer Konzeption des ‚Sichwissens’ nehme sie Maß und gelange so zu der für sie eigentümlichen Auffassung des Geschichtlichen. Figal bezieht sich auf die Formulierung Gadamers über sein hermeneutisches Programm: „‚Alles Sichwissen erhebt sich aus geschichtlicher Vorgegebenheit, die wir mit Hegel ‚Substanz’ nennen, weil sie alles subjektive Meinen und Verhalten trägt und damit auch alle Möglichkeit, eine Überlieferung in ihrer geschichtlichen Andersheit zu verstehen vorzeichnet und begrenzt. Die Aufgabe der philosophischen Hermeneutik lässt sich von hier aus gerade so charakterisieren: sie habe den Weg der Hegelschen Phänomenologie des Geistes insoweit zurückzugehen, als man in aller Subjektivität die sie bestimmende Substanzialität aufweist’ (WM, 307) . Substanz in diesem Sinne ist für Gadamer die Geschichte als Tradition,“ meint Figal. 141 Die Auflösung des Gegensatzes von Geschichte und Wissen von ihr stammt bekanntlich von Droysen, auf den sich Gadamer ausdrücklich berufen hat. „Sein grundlegender Gesichtspunkt ist: Kontinuität ist das Wesen der Geschichte, weil Geschichte im Unterschied zur Natur das Moment der Zeit einschließt. Droysen zitiert dafür immer wieder die aristotelische Aussage von der Seele, daß sie eine Zunahme in sich selbst (epidosis eis hauto) sei. Im Gegensatz zu der bloßen Wiederholungsform der Natur ist die Geschichte durch solche Steigerung in sich selbst charakterisiert. Das heißt aber: durch ein Bewahren und Hinausgehen über das Bewahrte. Beides aber schließt Sichwissen ein. Die Geschichte selbst ist also nicht nur ein Wissensgegenstand, sondern ist in ihrem Sein bestimmt durch das Sich-wissen. »Das Wissen von ihr ist sie selbst « (Historik §15),“ so Gadamer (WM, 213).
76
wie Scholtz zu Recht zu bedenken gibt142.
Diese Nichtunterscheidung bedeutet zugleich eine Nivellierung der Differenz
zwischen geschichtlichen Wirklichkeiten und historischer Forschung, zwischen dem
Zuverstehenden und dem Verstehenden. Das ist auch der Grund, aus dem Horst Turk
ein doppeltes Problem bei Gadamer gesehen hat: „daß die Auslegung zur
Selbstauslegung der Geschichte wird (in die Gewalt der »konkreten« Augenblicke
oder Situation der Geschichte gerät) und daß der Begriff der Geschichte auf diese
Selbstauslegung eingeschränkt wird (die Geschichte zur Geschichte der
Textauslegung wird)“ 143. Dieses Problem tritt auf, sobald geschichtliche Wirklichkeit
und historische Forschung gleichgesetzt werden. Historische Forschung kann aber
höchstens einen Teil der geschichtlichen Wirklichkeit zeigen und gehört selbst zur
Forschungsgeschichte als Teil der geschichtlichen Wirklichkeit.
2.2.2. Geschichtlichkeit des Verstehens als Prinzip
Um die Eingebundenheit in die eigene Tradition als berechtigte Quelle der wahren
Vorurteile zu verdeutlichen, stellt Gadamer den hermeneutischen Zirkel von
Schleiermacher und Heidegger als zwei gegensätzliche Modelle dar, die der
jeweiligen hermeneutische Situation des Interpreten entsprechen. Gadamer sieht den
Gipfel der Theorie des Verstehens bei Schleiermacher in seiner Lehre vom
divinatorischen Akt, durch den man sich ganz in den Verfasser versetzt, um von da
aus alles Fremde und Befremdende des Textes zur Auflösung zu bringen. 142 Vgl. dazu die einschlägigen Untersuchungen von Gunter Scholtz: Das Historismusproblem und die Geisteswissenschaften im 20. Jahrhundert, in: ders.: Zwischen Wissenschaftsanspruch und Orientierungsbedürfnis. Zu Grundlage und Wandel der Geisteswissenschaften, Frankfurt a. M. 1991, S. 130-157, bes. S. 141f; ders.: Historismus und Wahrheit in der Wissenschaftstheorie, a. a. O., S. 158-200. 143 Horst Turk: Wahrheit oder Methode? H.-G. Gadamers Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, in: Hermeneutische Positionen, hg. v. Hendrik Birus, Göttingen 1982, S. 120-150. Hier S. 131.
77
Schleiermachers Beschreibung der Zirkelbewegung des Verstehens als Hin und Her
zwischen Ganzem und Teilen des Textes ist für Gadamer von rein formaler Natur, da
Schleiermachers Begründung der allgemeinen Hermeneutik „über die ‚Partikularität’
einer [...] Versöhnung von Antike und Christentum“ hinausgeht, und „die Aufgabe der
Hermeneutik in formaler Allgemeinheit“ faßt (WM, 298). Dagegen ist der Zirkel
Heideggers kein „‚methodischer’ Zirkel, sondern beschreibt ein ontologisches
Strukturmoment des Verstehens“ (WM, 298). Der hermeneutische Zirkel bei
Heidegger ist „weder subjektiv noch objektiv, sondern beschreibt das Verstehen als
das Ineinanderspiel der Bewegung der Überlieferung und der Bewegung des
Interpreten, daß das Verständnis des Textes von der vorgreifenden Bewegung des
Vorverständnisses dauerhaft bestimmt bleibt. Der Zirkel von Ganzem und Teil wird
im vollendeten Verstehen nicht zur Auflösung gebracht, sondern im Gegenteil am
eigentlichsten vollzogen“ (WM, 298, Hervorhebung von Chen).
„Die Antizipation von Sinn, die unser Verständnis eines Textes leitet, ist nicht eine Handlung der Subjektivität, sondern bestimmt sich aus der Gemeinsamkeit, die uns mit der Überlieferung verbindet. Diese Gemeinsamkeit aber ist in unserem Verhältnis zur Überlieferung in beständiger Bildung begriffen. Sie ist nicht einfach eine Voraussetzung, unter der wir immer schon stehen, sondern wir erstellen sie selbst, sofern wir verstehen, am Überlieferungsgeschehen teilhaben und es dadurch selber weiter mitbestimmen“ (WM, 298).
Gadamer meint: „Wie das wirkliche Leben, so spricht uns auch die Geschichte nur
dann an, wenn sie in unser vorgängiges Urteil über Dinge und Menschen und Zeiten
hineinspricht.“
„Alles Verstehen von Bedeutsamem setzt voraus, daß wir einen Zusammenhang solcher Vorurteile mitbringen. Heidegger hat diesen Tatbestand als den
78
hermeneutischen Zirkel beschrieben: wir verstehen nur das, was wir schon wissen, hören nur das heraus, was wir hineinlesen.“144
Der Sinn dieses hermeneutischen Zirkels besteht nach Gadamer in dem „Vorgriff der
Vollkommenheit“, d.h. nicht nur, „daß ein Text seine Meinung vollkommen
aussprechen soll, sondern auch, daß das, was er sagt, die vollkommene Wahrheit
ist“ (WM, 299, Hervorheb. im Orig.). Weil „nur das verständlich ist, was wirklich
eine vollkommene Einheit von Sinn darstellt. Der Vorgriff der Vollkommenheit, der
all unser Verstehen leitet, erweist sich mithin selber als ein jeweils inhaltlich
bestimmter. Es wird nicht nur eine immanente Sinneinheit vorausgesetzt, die dem
Lesenden die Führung gibt, sondern das Verständnis des Lesers wird auch ständig von
transzendenten Sinnerwartungen geleitet, die aus dem Verhältnis zur Wahrheit des
Gemeinten entspringen“ (WM, 299). Gadamer sagt,
„Auch hier bewährt sich, daß Verstehen primär heißt, sich in der Sache verstehen, und erst sekundär, die Meinung des anderen als solche abheben und verstehen. Die erste aller hermeneutischen Bedingungen bleibt somit das Vorverständnis, das im Zu-tun-haben mit der gleichen Sache entspringt“ (WM, 299).
Hier wird die Antizipation von Sinn von dem „Vorurteil der Vollkommenheit“ als
unserem Vorverständnis abgeleitet, das „die vollkommene Wahrheit“ eines Textes
vorwegnimmt und „im Zu-tun-haben mit der gleichen Sache“ der Überlieferung
begründet liegt. Es stellt sich nun die Frage, ob es möglich ist, das Bedeutsame des
Fremden bzw. die Sache des Unbekannten zu verstehen, wenn wir nur das verstehen,
was wir schon wissen, nur das heraushören, was wir hineinlesen. In einem solchen
Zirkel scheint das unbekannte Fremde bereits ausgeschlossen zu sein. Die
textkritische Frage, was zu tun ist, wenn die Voraussetzung der Vollkommenheit sich
144 Gadamer: Das Problem der Geschichte in der neueren deutschen Philosophie, in: Ges. Werke Bd. 2, S. 27-36, S. 34.
79
als unzureichend erweist, d.h. wenn der Text nicht verständlich wird, hat Gadamer
schlicht beiseite gelassen (WM, 299). Dies bestätigt unsere Vermutung, daß
Gadamer stets vom gelungenen, problemlosen Verstehen ausgeht.
Gadamers Überlegung führt dazu, daß, wer einen Text verstehen will, immer schon
in seiner Tradition als Wirkungsgeschichte steht und mit seinen eigenen Vorurteilen
mit dem Text umgehen muß. Sowohl die Tradition, aus der der Interpret kommt und
in der er lebt, als auch die Tradition der Forschung, aus der die Überlieferung kommt,
bestimmen das Verstehen geschichtlicher Überlieferung immer schon im voraus.
Damit wird die Möglichkeit der Erkenntnis der Geschichte durch die Einsicht in die
Eingebundenheit in die eigene Tradition, d.h. in die Wirkungen der
Wirkungsgeschichte, eingeschränkt. Denn „wenn wir aus der für unsere
hermeneutische Situation im ganzen bestimmenden historischen Distanz eine
historische Erscheinung zu verstehen suchen, unterliegen wir immer bereits den
Wirkungen der Wirkungsgeschichte. Sie bestimmt im voraus, was sich uns als
fragwürdig und als Gegenstand der Erforschung zeigt,“ so Gadamer (WM, 305f).
Daher kritisiert Gadamer den historischen Objektivismus: „Die Naivität des
sogenannten Historismus besteht darin, daß er sich einer solcher Reflexion entzieht
und im Vertrauen auf die Methodik eines Verfahrens seine eigene Geschichtlichkeit
vergißt“ (WM, 306). Er meint, ein wirklich historisches Denken muß die eigene
Geschichtlichkeit mitdenken. „Während die romantische Hermeneutik in der
Gleichartigkeit der Menschennatur ein ungeschichtliches Substrat für ihre Theorie des
Verstehens in Anspruch genommen und damit den kongenial Verstehenden aus aller
geschichtlichen Bedingtheit herausgelöst hatte,“ so Gadamer, „führt die Selbstkritik
des historischen Bewußtseins am Ende dazu, nicht nur im Geschehen, sondern ebenso
noch im Verstehen geschichtliche Bewegtheit zu erkennen“ (WM, 295). Es läßt sich
jedoch mit Hans Ineichen fragen, ob die geschichtliche Bedingtheit des Interpreten
80
wie des Autors in der Hermeneutik bei Schleiermacher und Dilthey tatsächlich
vernachlässigt wird, wie Gadamer hier meint145.
Statt die „Gleichartigkeit der Menschennatur“ soll jetzt die „Geschichtlichkeit“ als
geschichtliche Bedingtheit und geschichtliche Bewegtheit der tragende Grund des
Verstehens sein, weil „die geschichtliche Forschung von der geschichtlichen
Bewegung getragen ist, in der das Leben selbst steht“ (WM, 289). Daraus folgt, daß
das Verstehen für Gadamer nicht so sehr als eine Handlung der Subjektivität zu
denken ist, sondern als „Einrücken in ein Überlieferungsgeschehen, in dem sich
Vergangenheit und Gegenwart beständig vermitteln“ (WM, 295, Hervorheb. im Orig.).
Diese Vermittlung zwischen Vergangenheit und Gegenwart im
Überlieferungsgeschehen bezeichnet er als „Horizontverschmelzung“. „Im Walten der
Tradition findet ständig solche Verschmelzung statt. Denn dort wächst Altes und
Neues immer wieder zu lebendiger Geltung zusammen, ohne daß sich überhaupt das
eine oder andere ausdrücklich voneinander abheben,“ so Gadamer (WM, 311).
Dadurch wird die „Dezentrierung des verstehenden Subjekts“ 146 bzw. die
„Abdämpfung der Subjektivität“147 des Verstehenden Ichs am deutlichsten vollzogen.
Die Überlieferung ist wie der historisch Andere, „der meine Ichzentriertheit bricht,
indem er mir etwas zu verstehen gibt,“ meint Gadamer148.
Radikaler noch als der von Gadamer kritisierte Historismus, der „überall
geschichtliche Bedingtheit sieht“, sieht Gadamer nicht nur in aller menschlichen
Existenz, sondern auch in der Vernunft (als der Kraft der Reflexion) die geschichtliche
145 Vgl. Hans Ineichen: Philosophische Hermeneutik, Freiburg/ München 1991, S. 123. 146 Bettendorf bezeichnet die Dezentrierung des verstehenden Subjekts als die Aufgabe der Hermeneutik Gadamers. Thomas Bettendorf: Hermeneutik und Dialog: eine Auseinandersetzung mit dem Denken Gadamers, Frankfurt a. M. 1984. S. 45ff. 147 Vgl. Michael Hofer: Die „Abdämpfung der Subjektivität“. Drei Beispiele aus der amerikanischen bzw. französischen Gadamer-Rezeption, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 54 (2000), S. 593-611. 148 Gadamer: Zwischen Phänomenologie und Dialektik. Versuch einer Selbstkritik, Ges. Werke Bd. 2, S. 3-23, hier S. 9.
81
Bedingtheit und ihre Grenze, indem er sagt: „Vernunft ist für uns nur als reale
geschichtliche, d.h. schlechthin: sie ist nicht ihrer selbst Herr, sondern bleibt stets auf
die Gegebenheiten angewiesen, an denen sie sich betätigten“ (WM, 280) 149. Gadamer
will zeigen, daß die Überwindung aller Vorurteile sich selber als ein Vorurteil
erweisen werde, da alle menschliche Existenz, auch die freieste, begrenzt und auf
mannigfaltige Weise bedingt sei. Die erkenntnistheoretische Frage sei folglich „von
Grund auf anders zu stellen“ (ebd.).
2.2.3. Vorurteile als ontologische Bedingungen des Verstehens
Nach Gadamer kommt das Verstehen „erst in seine eigentliche Möglichkeit, wenn
die Vormeinungen, die es einsetzt, nicht beliebig sind“ und der Auslegende „die in
ihm lebenden Vormeinungen ausdrücklich auf ihre Legitimation, und das ist, auf
Herkunft und Geltung prüft“ (WM, 272). Jedem Text gegenüber stellt sich die
Aufgabe, „den eigenen Sprachgebrauch – oder im Falle einer Fremdsprache den uns
aus den Schriftstellern oder dem täglichen Umgang bekannten Sprachgebrauch – nicht
einfach ungeprüft einzusetzen“, d.h. „aus dem Sprachgebrauch der Zeit bzw. des
Autors unser Verständnis des Textes erst zu gewinnen“ (WM, 272). Hier scheint
Gadamer mit der methodischen Ausrichtung der Schleiermacherschen Hermeneutik
einig zu sein. Aber eben nur scheinbar, denn Gadamer stellt grundsätzlich in Frage,
wie diese allgemeine Forderung überhaupt erfüllbar wird, also „wie man aus dem
Bannkreis seiner eigenen Vormeinungen überhaupt herausfinden soll?“ (WM, 272f).
Dafür gibt Gadamer eine recht einfache Antwort. Er meint: „Lediglich Offenheit
149 Hier sieht man die Abweichung Gadamers von der trandzendentalphilosophischen Überzeugung von der Autonomie der Vernunft, die „dem Streben nach Gewissheit, das für methodische Verfahren kennzeichnend sei, viel zu nahe kommt“, wie Michael Hofer über das kritische Verhältnis Gadamers zur Transzendentalphilosophie gezeigt hat. Vgl. Michael Hofer: Hermeneutische Reflexion? In: Mirko Wische / Michael Hofer (Hg.): Gadamer Verstehen, a. a. O., S. 57-83, hier S. 59.
82
für die Meinung des anderen oder des Textes wird gefordert“ (WM, 273). Weiter fährt
Gadamer fort:
„Wer einen Text verstehen will, ist vielmehr bereit, sich von ihm etwas sagen zu lassen. Daher muß ein hermeneutisch geschultes Bewußtsein für die Andersheit des Textes von vornherein empfänglich sein. Solche Empfänglichkeit setzt aber weder sachliche Neutralität noch gar Selbstauslöschung voraus, sondern schließt die abhebende Aneignung der eigenen Vormeinungen und Vorurteile ein. Es gilt, der eigenen Voreingenommenheit innezusein, damit der Text sich selbst in seiner Andersheit darstellt und damit in die Möglichkeit kommt, seine sachliche Wahrheit gegen die eigene Vormeinung auszuspielen“ (WM, 273f; vgl. WM, 304).
Gadamer scheint der Meinung zu sein, daß durch das Innesein unserer eigenen
Vormeinungen und Vorurteile der Text in seiner Andersheit verstanden wird. Die
Frage ist, wie der Text durch unsere Vormeinungen und Vorurteile nicht
mißverstanden werden kann, wenn unser Verstehen stets von unseren Traditionen wie
unserer Familie, Gesellschaft und Staat dauerhaft bestimmt bleibt, wie Gadamer
behauptet. Besteht hier nicht vielmehr die Gefahr, sich das Andere im Verstehen
anzueignen und damit in seiner Andersheit zu verkennen? Wie kann ein Text vor
Mißverständnissen bzw. vor „falschen“ Vorurteilen geschützt werden, wenn Gadamer
doch zwischen „wahren Vorurteile“, unter denen wir verstehen, und den „falschen
Vorurteilen“, unter denen wir mißverstehen, unterscheidet? (WM, 304)
Für die erkenntnistheoretische Frage danach, wie sich wahre Vorurteile von
falschen Vorurteilen unterscheiden lassen, verweist Gadamer auf den Zeitenabstand
als Lösung. „In Wahrheit kommt es darauf an, den Abstand der Zeit als eine positive
und produktive Möglichkeit des Verstehens zu erkennen. Er ist nicht ein gähnender
Abgrund, sondern ist ausgefüllt durch die Kontinuität des Herkommens und der
Tradition, in deren Lichte uns alle Überlieferung sich zeigt,“ so Gadamer (WM, 302).
83
Der Abstand der Zeit, der ursprünglich als Ursache der Sinnentfremdung und Grund
der historischen Forschung betrachtet wurde, wird hier als die durch die Kontinuität
des Herkommens und der Tradition ausgefüllte Zeit als Geschichte bzw.
geschichtliche Wirklichkeit gedeutet. Der Abstand der Zeit wirkt wie ein „Filter“ (WM,
304), der die wahren Vorurteile von den falschen zu scheiden vermag.
Es fällt jedoch schwer, ein solches Verfahren nachzuvollziehen. Denn bei Gadamer
erfahren wir, daß die Vorurteile und Vormeinungen, die das Bewußtsein des
Interpreten besetzt halten, ihm als solche nicht zur freien Verfügung stehen, d.h. der
Interpret sei nicht imstande, „von sich aus vorgängig die produktiven Vorurteile, die
das Verstehen ermöglichen, von denjenigen Vorurteilen zu unterscheiden, die das
Verstehen verhindern und zu Mißverständnissen führen“ (WM, 301). Die
Vormeinungen und Vorurteile sind demnach gleichbedeutend mit den Traditionen als
Quellen der Vorurteile und Vorkenntnisse, die dem Interpreten zwar vorgegeben sind,
aber keineswegs zu seiner freien Verfügung stehen. Gadamer sagt zwar: „Die
Scheidung muß vielmehr im Verstehen selbst geschehen“ (WM, 302). Aber wie das
„im Verstehen selbst“ geschehen kann, macht seine Darstellung kaum verständlich.
Es ist schwer vorstellbar, daß die ‚falschen‘ Vorurteile sich im Laufe der Zeit ohne
irgendeinen Bezug auf die geistigen Anstrengungen und Bemühungen des Interpreten
‚automatisch‘ von den ‚wahren‘ Vorurteilen trennen. Die Kontinuität des
Herkommens und der Tradition besagt nichts anderes als „die geschichtlichen
Wirklichkeiten“, also die Geschichte selbst, die doch noch zu verstehen bleibt. Auch
wenn sie als unsere Vorkenntnisse der Überlieferung verstanden werden sollten, so
sind sie ebenfalls unsere Vorurteile im Gadamerschen Sinne. So kommen wir der
Lösung der Frage nach der Unterscheidung von ‚wahren‘ und ‚falschen‘ Vorurteilen
noch nicht näher. Wie der Zeitenabstand die Scheidung der wahren von falschen
Vorurteilen, d.i. richtiger von falschen Interpretationen leisten kann, bleibt bei
84
Gadamer ein ungelöstes Problem, da ihm ein brauchbares Kriterium für die
Unterscheidung zwischen richtigen und falschen Interpretationen, zwischen
Verständnis und Mißverständnis fehlt.
Der Grund liegt darin, daß die Frage nach dem Kriterium für die Unterscheidung
zwischen richtigen und falschen Interpretationen eine wissenschaftlich-
methodologisch relevante Frage ist, die Gadamer gerade als „falschen
Methodologismus“ bekämpfen möchte. „Es kann a priori nicht genügen,“ wie Apel
mit Recht bemerkt, „die Frage nach der Möglichkeit des Verstehens dadurch
beantworten zu wollen, daß man die Struktur eines Seinsgeschehens (der
Horizontverschmelzung oder der Vermittlung der Gegenwart mit der Vergangenheit)
aufzeigt, die im Mißverstehen ebenso wie im adäquaten Verstehen als
Geschehens-Struktur realisiert werden muß.“ 150 „Vielmehr muß ein Kriterium dafür
angegeben werden, wie sich das adäquate Verstehen vom Mißverstehen unterscheidet,
um die Frage nach der Möglichkeit des Verstehens zu beantworten,“ so Apel151.
Gadamer selbst hat das Ungenügen seiner Konzeption des Zeitenabstands für die
Frage nach der Möglichkeit des Verstehens in dem Versuch einer Selbstkritik zwar
eingestanden, aber eine befriedigende Antwort auf die Frage nach dem Kriterium für
die Unterscheidung zwischen wahren Vorurteilen und falschen Vorurteilen, zwischen
Verstehen und Mißverstehen hat er nie gegeben152. Das zeigt gerade die Grenze der
150 Vgl. dazu die Kritik von Karl-Otto Apel: Transformation der Philosophie, Bd. 1, S. 44f. Apel geht davon aus, daß die Frage nach der Möglichkeit des Verstehens nicht expliziert werden könne, ohne zugleich die methodologisch relevante Frage nach der Gültigkeit des Verstehens mit aufzuwerfen. 151 Apel, a.a.O., S. 45. 152 Vgl. hierzu Gadamer: Zwischen Phänomenologie und Dialektik. Versuch einer Selbstkritik (1985), Ges. Werke, Bd. 2, S. 3-23, s. bes. S. 8f.: „An einigen Punkten meiner Argumentation empfindet man besonders, daß mein Ausgangspunkt von den historischen Geisteswissenschaften einseitig ist. Insbesondere hat die Einführung der hermeneutischen Bedeutung des Zeitenabstandes, so überzeugend sie in sich ist, die grundsätzliche Bedeutung der Andersheit des anderen und damit die fundamentale Rolle, die der Sprache als Gespräch zukommt, schlecht vorbereitet. Es wäre der Sache angemessener gewesen, zunächst in einer allgemeinen Form von der hermeneutischen Funktion des Abstandes zu sprechen. Es muß nicht immer um einen geschichtlichen Abstand handeln, und es ist auch durchaus nicht immer der Zeitenabstand als solcher, der imstande ist, falsche Überresonanzen und verzerrende Applikaktionen zu überwinden. Der Abstand erweist sich sehr wohl auch in Gleichzeitigkeit als ein
85
gadamerschen Hermeneutik für die Praxis der hermeneutischen
Geisteswissenschaften.
2.2. 4. Unmittelbarkeit des Verstehens und Selbstverständlichkeit der Schrift
Eine andere Konzeption zur „Überwindung“ der Verfremdung der Überlieferung
findet man bei Gadamer in seiner Erhebung der Sprachlichkeit des Verstehens zum
universalen Medium hermeneutischer Erfahrung, die in ihrer überlieferten Form meist
durch ihre Schriftlichkeit charakterisiert ist. Seine Erhebung der
„Schriftlichkeit“ dient wiederum dazu, die „Gleichtzeitigkeit“ und die
„Selbstverständlichkeit“ der Schrift als den Schlüssel der „Überwindung“ von
Entfremdung und Verfremdung der Überlieferung bzw. als „das Wunder des
Verstehens“ darzustellen.
Nach Gadamer entsteht die Entfremdung der Überlieferung durch die schriftliche
Fixiertheit, durch die Schriftlichkeit: „Es gibt nichts so Fremdes und zugleich
Verständnisforderndes wie Schrift. […] Schrift und was an ihr teil hat, die Literatur,
ist die ins Fremdeste entäußerte Verständlichkeit des Geistes“ (WM, 168f). Dennoch:
„In ihrer Entzifferung und ihrer Deutung geschieht ein Wunder, die Verwandlung von etwas Fremdem und Totem in schlechthinniges Zugleichsein und Vertrautsein. [...] Wer schriftlich Überliefertes zu lesen weiß, bezeugt und vollbringt die reine Gegenwart der Vergangenheit“ (WM, 169).
Die „Verwandlung von etwas Fremdem und Totem in schlechthinniges Zugleichsein
und Vertrautsein“ ist also „das Wunder“ des Verstehens bzw. des Lesens. An die
Gleichzeitigkeit stiftende Schriftlichkeit gekoppelt, scheint es, als ob die schriftliche
hermeneutisches Moment, z.B. in der Begegnung zwischen Personen, die im Gespräch erst den gemeinsamen Grund suchen, und vollends in der Begegnung mit Personen, die dabei fremde Sprachen sprechen oder in fremden Kulturen leben.“
86
Überlieferung „wie gegenwärtig zu uns spricht“. Die durch die Schriftlichkeit
bedingte Abgelöstheit des Textes von seinem Verfasser ist somit bei Gadamer weniger
als Ursache der Verständnisschwierigkeit und des Mißverständnisses, sondern
vielmehr als der Garant der Zugänglichkeit über alle Zeiten zu verstehen.
Dafür beruft sich Gadamer auf den theologischen Begriff der „Gleichzeitigkeit“ bei
Kierkegaard. Er meint, „‚Gleichzeitig’ heißt bei Kierkegaard nicht Zugleichsein,
sondern formuliert die Aufgabe, die an den Glaubenden gestellt ist, das, was nicht
zugleich ist, die eigene Gegenwart und die Heilstat Christi, so total miteinander zu
vermitteln, daß diese dennoch wie ein gegenwärtiges (statt im Abstand des Damals)
erfahren und ernst genommen wird“ (WM, 132). Das „Wort der Predigt“ ist für
Gadamer das Beispiel für solch eine totale Vermittlung, die „die Vermittlung der
Gleichzeitigkeit zu leisten“ hat und der „im Problem der Hermeneutik die Führung
zukommt“ (WM, 132). Das Wort hat hier bei Gadamer eine christlich geprägte
Bedeutung, die sehr an das Wort Gottes erinnert. Während das Verstehen in der
allgemeinen Hermeneutik Schleiermachers auf humane Rede und Schrift abzielt,
bezieht sich das Verstehen bei Gadamer zwar ebenfalls auf die Überlieferungen der
griechischen und christlichen Traditionen, allerdings mehr, sofern sie im
Zusammenhang mit dem Text, „den Gott mit eigener Hand geschrieben hat, dem liber
naturae“ stehen. Ein Text, der in Gadamers Augen „auch alle Wissenschaften, von der
Physik bis zur Soziologie und Anthropologie, umfaßt.“153
153 Gadamer: Rhetorik, Hermeneutik und Ideologiekritik. Metakritische Erörterungen zu Wahrheit und Methode (1967), in: Ges. Werke, Bd. 2, Tübingen 1993, S. 233. Nicht nur hier, sondern schon in Wahrheit und Methode hat Gadamer die Christologie zum eigentlichen Grund der hermeneutischen Erfahrung ernannt. „In der Mitte der Durchdringung der christlichen Theologie durch griechischen Gedanken der Logik keimt vielmehr etwas Neues auf: Die Mitte der Sprache, in der sich das Mittlertum des Inkarnationsgeschehens erst zu seiner vollen Wahrheit bringt. Die Christologie wird zum Wegbereiter einer neuen Anthropologie, die den Geist des Menschen in seiner Endlichkeit mit der göttlichen Unendlichkeit auf eine neue Weise vermittelt. Hier wird das, was wir die hermeneutische Erfahrung geannt haben, seinen eigentlichen Grund finden,“ so Gadamer (WM, 432). Vgl. Dazu David Carpenter: „Emanation, Incarnation, and the Truth-Event in Gadamer’s Truth and Method”, in: Hermeneutics and Truth, ed. by Brice R. Wachterhauser, Illinois 1994, S. 98-122. Gadamers Kritik an Schleiermacher und Humboldt verdeutlicht diesen Unterschied zwischen der philosophischen und der
87
Das Verstehen schriftlicher Überlieferungen hat für Gadamer eine ähnliche Aufgabe
wie das Verstehen des Wortes Gottes, das ebenfalls „die Vermittlung der
Gleichzeitigkeit zu leisten“ hat. Denn die Schrift verstehen, so Gadamer, „heißt nicht
primär, auf vergangenes Leben zurückschließen, sondern bedeutet gegenwärtige
Teilhabe an Gesagtem“ (WM, 395). Daraus folgt, daß es sich dabei „nicht eigentlich
um ein Verhältnis zwischen zwei Personen, etwa zwischen dem Leser und dem Autor
(der vielleicht ganz unbekannt ist)“ handelt, sondern „um Teilhabe an der Mitteilung,
die der Text uns macht“ (WM, 395). Beim Verstehen von Texten geht es Gadamer
also nicht darum, herauszuarbeiten, was der Autor mit seinem Text sagen wollte,
sondern darum, was der Text uns sagt bzw. für uns heute bedeutet. Er sagt dies an
andere Stelle noch deutlicher:
“es ist zwar richtig, daß wir das von einem Autor Gemeinte in seinem Sinne zu verstehen haben. Aber in seinem Sinne heißt nicht: wie er es selber gemeint hat. Vielmehr bedeutet es, daß das Verstehen auch noch über das subjektive Meinen des Autors hinausgehen kann und vielleicht sogar notwendig und immer hinausgeht“ (Hervorhebung von mir, Chen)154.
Der Grund dafür liegt eben in der Schriftlichkeit, also in der Abgelöstheit der Schrift
von ihrem Autor. Dadurch gewinne die Sprache in der Schriftlichkeit ihre wahre
„Geistigkeit”, denn „der schriftlichen Überlieferung gegenüber ist das verstehende
Bewußtsein in seine volle Souveränität gelangt“, und es ist „die Idealität des Wortes,
die alles Sprachliche über die endliche und vergängliche Bestimmung, wie sie Resten
gewesenen Daseins sonst zukommt, hinaushebt“ (WM, 394).
romantischen Hermeneutik: „Weder Schleiermacher noch Humboldt haben aber ihre Position wirklich zu Ende gedacht. Sie mögen die Individualität, die Schranke der Fremdheit, die unser Verstehen zu überwinden hat, noch so sehr betonen, am Ende findet doch lediglich in einem unendlichen Bewußtsein das Verstehen seine Vollendung und der Gedanke der Individualität seine Begründung. Es ist die pantheistische Eingeschlossenheit aller Individualität ins Absolute, die das Wunder des Verstehens ermöglicht. So durchdringen sich auch hier Sein und Wissen im Absoluten“ (WM, 347). 154 Gadamer: Die philosophischen Grundlagen des 20. Jahrhunderts. In: Kleine Schriften I, Tübingen 1967, S. 140-148.
88
Folglich sei die Schrift nicht als ein Stück der Vergangenheit, sondern als „die
Kontinuität des Gedächtnisses“ zu betrachten, weil sie sich immer schon über dieselbe
„in die Sphäre des Sinnes“ erhoben hat. So wird Schriftlichkeit die
„Selbstentfremdung“ der Schrift. Ihre Überwindung ist dann „das Lesen des Textes“,
welches „die höchste Aufgabe des Verstehens“ ist (WM, 394). „Lesendes Bewußtsein
ist notwendig geschichtliches und mit der geschichtlichen Überlieferung in Freiheit
kommunizierendes Bewußtsein“ (WM, 394). Das bedeutet „die Ablösung von dem
Schreiber oder Verfasser ebenso wie die von der bestimmten Adresse eines
Empfängers oder Lesers“ (WM, 395).
Die Ablösung des Textes von dem Verfasser aufgrund der Schriftlichkeit beinhaltet
zugleich die Vorstellung einer Autonomie des Textsinns: „In der Schriftlichkeit ist
dieser Sinn des Gesprochenen rein für sich da, völlig abgelöst von allen emotionalen
Momenten des Ausdrucks und der Kundgabe. Ein Text will nicht als Lebensausdruck
verstanden werden, sondern in dem, was er sagt“ (WM, 396). Dabei ist klar, daß
Gadamer hier den heutigen Sinn, das heißt, die Bedeutung des Textes für uns heute,
gegenüber dem historisch gemeinten ursprüngliche Sinn des Textes bevorzugt.
Allerdings verweist er auch auf Platons Andeutungen der Schwäche der Schrift, die
nach Gadamer darin besteht, „daß der schriftlichen Rede niemand zu Hilfe zu
kommen vermag, wenn sie dem gewollten oder dem unfreiwilligen Mißverstehen
anheimfällt“ (ebd.). Daher soll der Sinn des Gesagten neu zur Aussage kommen, „rein
aufgrund des durch die Schriftzeichen überlieferten Wortlauts“ (WM, 397).
Der Autor hat kein Recht mehr, über seinen eigenen Text zu sprechen, er kann den
Sinn seines Textes nicht einmal mitbestimmen, sofern dieser durch die Schrift vom
Autor abgelöst ist. Die Subjektivität des Autors wird dadurch ausgeblendet und
entmachtet, sofern jetzt nicht mehr der Autor über den Sinn seines Text entscheidet,
sondern „das lesende Bewußtsein“ des Interpreten, das „die volle Souveränität“ über
89
den Text erlangt. Es ist eindeutig zu sehen, daß es Gadamer nicht darum geht, den
Text als den vom Autor gemeinten zu verstehen. Merkwürdig ist dabei, daß Gadamer
(wie oben gezeigt wurde) das Verstehen gerade hinsichtlich der Geschichtlichkeit
nicht als eine „Handlung der Subjektivität“, sondern als „Einrücken in ein
Überlieferungsgeschehen“ (WM, 295) betrachten möchte. Zugleich erhält aber das
lesende Bewußtsein des Interpreten die volle Souveränität gegenüber der Schrift, was
gerade die Subjektivität des lesenden Interpreten in den Vordergrund rückt. Hier
scheint die „Dezentrierung des verstehenden Subjekts“ 155 bei Gadamer nicht
vollständig gelungen zu sein. Wenn die von Schleiermacher und Dilthey
vorausgesetzte „allgemeine Menschennatur“ bzw. „die allgemeine Vernunft“ 156 für
Gadamer ein „ungeschichtliches Substrat“ bilden, und das historische Bewußtsein als
Ursache der Verfremdung der Überlieferung von ihm kritisiert wird, wie erklärt sich
dann dieses souverän lesende Bewußtsein? Wie unterscheidet sich das souverän
lesende Bewußtsein von dem von ihm kritisierten allgemeinen historischen
Bewußtsein? Hier wird die ambivalente Haltung Gadamers gegenüber dem
Bewußtsein deutlich.
Der Sinn des Textes wird also bei Gadamer als ein völlig vom Autor abgelöster,
unbestimmter Sinn betrachtet, welcher aber immer wieder neu zur Aussage kommen
sollte. Damit ist aber immer noch nicht klar, was „Sinn des Textes“ bzw. „Sinn des
Gesagten“ bei ihm eigentlich bedeuten soll. Denn auf der einen Seite bezeichnet
155 Vgl. Thomas Bettendorf: Hermeneutik und Dialog. Kritische Auseinandersetzungen mit dem Denken Hans-Georg Gadamers, Frankfurt a. M. 1984, S. 45ff. Bettendorf hat „die Dezentrierung des verstehenden Subjekts“ als die Aufgabe der philosophischen Hermeneutik Gadamers bezeichnet, die er im Hinblick auf Gadamers Kritik an der Subjektivierung der Ästhetik durch Kant zeigt. 156 Sowohl Schleiermacher als auch Dilthey setzen eine Gemeinsamkeit der Individuen für die Möglichkeit des Verstehens der Menschen untereinander voraus. Schleiermacher setzt in seiner Ethik eine bezüglich der ganzen Menschheit identische Vernunft voraus, die in den Einzelpersonen verteilt gegeben ist und das Zusammenwirken von Einzelperson und Gemeinschaft ermöglicht. F. Schleiermacher, E 96f (= WAII), vgl. Dilthey: Leben Schleiermachers, S. 295; G. Scholtz: Ethik und Hermeneutik, S.135. Bei Dilthey äußert sich die Gemeinsamkeit der Individuen „in der Selbigkeit der Vernunft, der Sympathie im Gefühlsleben, der gegenseitigen Bindung in Pflicht und Recht, die vom Bewußtsein des Sollens begleitet ist.“ W. Dilthey: Ges. Schriften, Bd. VII, S. 141.
90
Gadamer die Schriftlichkeit als „die abstrakte Idealität der Sprache“ (WM, 396). Der
Sinn einer schriftlichen Aufzeichnung ist daher „grundsätzlich identifizierbar und
wiederholbar“ (ebd.). Aber auf der anderen Seite sagt er:
„Das in der Wiederholung Identische allein ist es, das in der schriftlichen Aufzeichnung wirklich niedergelegt war. Damit ist zugleich klar, daß Wiederholen hier nicht im strengen Sinne gemeint sein kann. Es meint nicht die Zurückbeziehung auf ein ursprünglich Erstes, in dem etwas gesagt oder geschrieben ist, als solches. Lesendes Verstehen ist nicht ein Wiederholen von etwas Vergangenem, sondern Teilhabe an einem gegenwärtigen Sinn“ (WM, 396).
Dies wirft weitere Fragen auf: Gibt es bei Gadamer einen „Sinn des Textes an sich“,
wenn er hinsichtlich der Abgelöstheit des Textsinns vom Autor behauptet, daß „der
Sinn des Gesprochenen rein für sich da“ ist und es ein „in der Wiederholung
Identisches“ gibt? Wie ist dieser „rein für sich da-seiende Sinn des Gesprochenen“ zu
erkennen, wenn es nicht der vom Autor gemeinte Sinn sein sollte? Wie ist „der Sinn
einer schriftlichen Aufzeichnung“ zu bestimmen, wenn es nicht das ursprünglich
Gesagte oder Geschriebene sein soll? Einerseits sagt Gadamer, daß der Sinn einer
schriftlichen Aufzeichnung grundsätzlich identifizierbar und wiederholbar sei,
andererseits sei das Wiederholen nicht die Zurückbeziehung auf ein ursprünglich
Erstes. Was für eine Art Wiederholung ist es also, wenn der zu wiederholende Sinn
nicht der ursprünglich Erste ist? Hier kann höchstens der Akt des Verstehens selbst
wiederholt werden. Darüber hinaus meint Gadamer, „daß man immer anders versteht,
wenn man überhaupt versteht“ (WM, 302). Demnach kann der Sinn des Textes, der
‚wiederholt werden muß‘, nicht bestimmbar sein.
„Was schriftlich fixiert ist, hat sich von der Kontingenz seines Ursprungs und seines Urhebers abgelöst und für neuen Bezug positiv freigegeben. Normbegriffe wie die Meinung des Verfassers oder das Verständnis des ursprünglichen Lesers
91
repräsentieren in Wahrheit nur eine leere Stelle, die sich von Gelegenheit zu Gelegenheit des Verstehens ausfüllt“ (WM, 399).
Das heißt, im Hinblick auf die Schriftlichkeit und die Geschichtlichkeit ist der Sinn
des Textes nicht durch die Meinung des Verfassers oder das Verständnis des
ursprünglichen Lesers bestimmt. Denn das auslegende Wort ist das Wort des
Auslegers.
„Jede Aneignung der Überlieferung ist eine geschichtlich andere [...] eine jede ist vielmehr die Erfahrung einer ‚Ansicht’ der Sache selbst. Eines und dasselbe und doch ein anderes zu sein, dieses Paradox, das von jedem Überlieferungsinhalt gilt, erweist alle Auslegung als in Wahrheit spekulativ. Die Hermeneutik hat daher den Dogmatismus eines ‚Sinnes an sich’ [...] zu durchschauen“ (WM, 476f)
Es ist zu vermuten, daß Gadamer mit dem „gegenwärtigen Sinn“ die Bedeutung des
Textes für den jeweiligen Interpreten meint. Insofern scheint es sinnvoll, eine
Unterscheidung zu treffen zwischen dem Sinn des Textes als
grammatisch-linguistischem, der wiederholbar und wiedererkennbar ist, und der
Bedeutung des Textes im Bezug auf den jeweiligen Kontext, in dem der Text
verstanden werden kann, wie Hirsch und Betti es im Gegensatz zu Gadamer getan
haben. Daß Gadamer den „Sinn“ des Textes von vornherein völlig von dem
ursprünglichen Sinn des Textes ablösen möchte, könnte der Grund dafür sein, daß er
nicht mehr in der Lage ist, das Verhältnis zwischen dem ursprünglichen Sinn des
Textes und dem gegenwärtigen Sinn zu erklären. Die von ihm beanspruchte
Sinnkontinuität der Überlieferung, die sich nicht auf den ursprünglichen Sinn der
Überlieferung beruft, bleibt deshalb ebenso wie „der Sinn des Textes selbst“ unklar
und unbestimmt.
Der Text ist für Gadamer vom Standpunkt eines jeden Lesers aus nur „ein bloßes
92
Zwischenprodukt, eine Phase im Verständigungsgeschehen”157. Gadamer hält den
allgemein anerkannten hermeneutischen Grundsatz, daß man nichts in einen Text
hineinlegen soll, was Verfasser und ursprünglicher Leser nicht im Sinn haben konnten,
nur in extremen Fällen für anwendbar (WM, 301). Denn:
“Der wirkliche Sinn eines Textes, wie er den Interpreten anspricht, hängt eben nicht von dem Okkasionellen ab, das der Verfasser und sein ursprüngliches Publikum darstellen. Er geht zum mindesten nicht darin auf. Denn er ist immer auch durch die geschichtliche Situation des Interpreten mitbestimmt und damit das Ganze des objektiven Geschichtsganges. […] Nicht nur gelegentlich, sondern immer übertrifft der Sinn eines Textes seinen Autor. Daher ist Verstehen kein nur reproduktives, sondern auch ein produktives Verhalten“ (WM, 301).
Hier kritisiert Gadamer zunächst Schleiermachers hermeneutischen Ansatz, der sich
für objektive und angemessene Verfahrensweisen der Auslegung mit Rücksicht auf
den Verfasser und sein ursprüngliches Publikum ausspricht.158 Darüber hinaus stellt er
gegenüber der berühmten Formel von Schleiermacher – man müsse zuerst versuchen,
den Autor ebensogut zu verstehen, wie er sich selbst verstanden hat, um ihn sodann
besser zu verstehen zu suchen – eine Gegenformel auf: man verstehe anders, wenn
man überhaupt verstehe (WM, 302). Dadurch wird, so Gadamer, der von der
romantischen Hermeneutik gezogenen Kreis durchbrochen:
„Sofern jetzt nicht die Individualität und ihre Meinung, sondern die sachliche Wahrheit gemeint ist, wird ein Text nicht als bloßer Lebensausdruck verstanden, sondern wird in seinem Wahrheitsanspruch ernst genommen. Daß auch das, ja gerade das ‚Verstehen’ heißt, war ehedem eine Selbstverständlichkeit – ich erinnere etwa an das aus Chladenius Zitierte“ (WM, 302; vgl. WM, 186).
Gadamer meint hier die von ihm zitierte allgemeine Auslegungslehre von Chladenius,
157 Gadamer: Ges. Werke, Bd. 2, S. 341. 158 Schleiermacher: Hermeneutik und Kritik, hg. u. eingel. von Manfred Frank, Frankfürt a. M. 1977, S. 101.
93
die Gadamer zufolge die Selbstverständlichkeit der Wahrheit der Schrift zeigen
sollte159. Dieser aber ist bezüglich der Wahrheit des Textes nicht eindeutig. Denn
einerseits soll der Gedanke des Autors verstanden werden, andererseits aber enthält
für Chladenius der Text Wahrheit160. Es trifft auch nicht zu, daß die „romantische
Hermeneutik“, also die Hermeneutik Schleiermachers, den Wahrheitsanspruch des
Textes vergaß; man sieht es daran, daß zur Hermeneutik die Kritik hinzutrat.
Außerdem entgeht Gadamer, daß sich Chladenius in Widersprüche verstrickt. Weder
Chladenius noch Schleiermacher haben den Text von den Gedanken und Intentionen
des Autors ganz abgelöst.
Wenn man aber Gadamers Konzeption von der Sinnautonomie des Textes folgt, so
besteht die Gefahr, daß Willkür und Beliebigkeit in der Interpretation nicht mehr
auszuschließen sind. Es muß im Auge behalten werden, daß Gadamer sich gegen den
wissenschaftlichen Anspruch der Methode und die darauf begründete Objektivität
stellt und die von Schleiermacher postulierte Aufgabe der Rekonstruktion des
ursprünglichen Sinnes als „rohen historisch-hermeneutischen Kanon“ bezeichnet.
Infolgedessen ist es schwer, in der philosophischen Hermeneutik Gadamers eine
Antwort auf die Frage zu finden, wie man angemessene von unangemessenen,
legitime von illegitimen Interpretation unterscheiden kann. Eben weil die
Interpretation als Wiederherstellung des Sinnes gilt, ist es wichtig zu fragen, welcher
Sinn des Textes wiederhergestellt werden soll. Die einzige Norm, unter die Gadamer
die Interpretation gestellt hat, ist die von ihm so genannte „sachliche Norm“: „weil es
159 Johann Martin Chladenius: Einleitung zur richtigen Auslegung vernünftiger Reden und Schriften, Leipzig 1742. Nachdruck mit einer Einleitung von Lutz Geldsetzer (Düsseldorf 1969).Gadamer meint, für Chladenius sei die Auslegungsbedürftigkeit ein Sonderfall, „weil man im allgemeinen eine Stelle unmittelbar versteht, sofern man die Sache kennt, die in der Stelle abgehandelt wird“ (WM, 186). 160 Diesen Hinweis verdanke ich der Abhandlung von Gunter Scholtz: Das Unverständliche bei Chladenius und Schlegel, in: Grenzen des Verstehens. Philosophische und humanwissenschaftliche Perspektiven, hg. v. Gudrum Kühne-Bertram/Gunter Scholtz, Göttingen 2002, S. 17-33, bes. S. 23. Scholtz weist darauf hin, daß Chladenius nicht nur schwankt, „ob es die Absicht des Verfassers oder seine Rede zu verstehen gilt, sondern auch, ob das Verstehen sich auf die geäußerte Meinung des Autors oder auf die Wahrheit seiner Aussage richten soll.“
94
auf die Mitteilung des wahren Sinnes eines Textes ankommt, ist seine Auslegung
bereits unter eine sachliche Norm gestellt“ (WM, 398). Anknüpfend an die
platonische Dialektik schreibt Gadamer: „die besondere Schwäche der Schrift, ihre
gegenüber der lebendigen Rede gesteigerte Hilfsbedürftigkeit, hat die Kehrseite, daß
sie die dialektische Aufgabe des Verstehens mit verdoppelter Klarheit hervortreten
läßt“ (ebd.). Das heißt: „den Sinn des Gesagten stärker zu machen“ (ebd.). Gadamer
konstatiert dazu:
„Was im Text gesagt ist, muß von aller Kontingenz, die ihm anhaftet, abgelöst und in seiner vollen Idealität erfaßt werden, in der es allein Geltung hat. So läßt die schriftliche Fixierung, gerade weil sie den Aussagesinn von dem Aussagenden ganz ablöst, in dem verstehenden Leser den Anwalt seines Wahrheitsanspruches entstehen. Der Lesende hat, was ihn anspricht und was er versteht, eben damit in seiner Geltung erfahren. Was er verstand, ist immer schon mehr als eine fremde Meinung – es ist immer schon mögliche Wahrheit. Das ist es, was durch die Ablösung des Gesprochenen von dem Sprecher und durch den Bestand von Dauer, den die Schrift verleiht, zutage kommt“ (WM, 398; vgl. WM, 399).
Das bedeutet nämlich, daß das Verstehen bei Gadamer nicht auf die Meinung oder den
vom Autor gemeinten Sinn, sondern auf die sachliche Wahrheit des Textes gerichtet
ist. Der Text erhebt somit den Anspruch, als Wahrheit verstanden zu werden. Die
Frage ist aber, ob jeder Text den Anspruch auf Wahrheit erheben könnte, ob jede
Schrift die gleiche hohe Stellung wie kanonische Schriften beanspruchen dürfte. Mir
scheint eine solche Formulierung von der Textinterpretation als Teilhabe an der
Wahrheit eine Art religiöse Erfahrung von Wahrheit ähnlich zu sein, die nur für den
jeweiligen Erfahrenden allein zählt und insofern nichts mit dem wissenschaftlichen
Anspruch auf Objektivität oder Gültigkeit des Wissens zu tun hat.
Darüber hinaus läßt sich fragen, ob der Text „den Anwalt seines
Wahrheitsanspruches“ „in dem verstehenden Leser“ allein entstehen lassen sollte. Soll
95
dies also bedeuten, daß der Leser allein entscheidet, ob die Schrift eine Aussage der
Wahrheit ist? Wie ist es aber dann, wenn verschiedene Leser verschiedene Meinungen
über die Wahrheit der Schrift haben, was nicht selten der Fall ist? Was geschieht,
wenn jeder Leser die Erkenntnis der alleinigen Wahrheit für sich beansprucht? Welche
ist dann die echte Wahrheit? Ist der wirkliche Sinn des Textes nach Gadamer
überhaupt noch bestimmbar oder ist jede Interpretation wahr, da jeder Leser an der
Wahrheit teilnimmt? Wir erinneren daran, daß bei Gadamer ein Kriterium für die
Unterscheidung zwischen wahren und falschen Vorurteilen bzw. Interpretationen fehlt.
Insofern ist der Wahrheitsanspruch im Hinblick auf den Konflikt der Interpretationen
als eine Interpretationsnorm nicht dienlich, da der Sinn des Textes ebenso wie die
Wahrheit bei Gadamer unbestimmt bleibt. 161 Denn der Wahrheitsanspruch von
Aussagen führt aus der Hermeneutik heraus, zur Kritik. 162 Die Aufgabe der
Interpretation liegt eben nicht darin, die Aussage des Anderen auf ihren
Wahrheitsgehalt zu prüfen, sondern vielmehr die Aussage des Anderen genau so
aufzufassen, wie sie vom Autor gemeint ist.
2.3. Wesenswandel der hermeneutischen Aufgabe
Der Wesenswandel des Fremdheitsproblems bei Gadamer führt dazu, daß die
eigentliche Aufgabe der Hermeneutik im Bezug auf die Überwindung der Fremdheit
von Sinnrekonstruktion zur Verständigung über die Sache umgewandelt wurde. Die
Aufgabe des Verstehens ist es nicht mehr, den Sinngehalt des Fremden zu erfassen
bzw. zu erschließen, sondern sich mit dem Text über eine Sache zu verständigen und 161 Vgl. Jean Grondin: Hermeneutische Wahrheit? Zum Wahrheitsbegriff Hans-Georg Gadamers, Königstein 1982. 162 Vgl. dazu Scholtz’ Kritik an Gadamers Wahrheitsanspruch. Im Hinblick auf den Wahrheitsanspruch der Interpretation hat Scholtz Gadamer zurückgewiesen. Er ist der Meinung, “daß der Interpret die Pflicht hat, die Rede eines anderen so aufzufassen, wie sie gemeint ist, mag man sie für wahr oder für falsch halten.” Gunter Scholtz: Ethik und Hermeneutik, a. a. O., S. 144.
96
Einverständnis in der Sache zu erzielen. Dieses läßt sich anhand seiner
Auseinandersetzung mit der Hermeneutik Schleiermachers und Spinozas am
deutlichsten herausstellen.
2.3.1. Vom Sinnverständnis zur Verständigung über die Sache: Verstehen als
Gespräch
Gadamer sieht in dem Satz Schleiermachers, ‚Verstehen heißt zunächst, sich
miteinander verstehen’, eine wichtige Wendung in der Geschichte der Hermeneutik,
die bei Schleiermacher selbst aber gar keine Rolle spiele163 und seit Schleiermacher
aus der Fragestellung der Hermeneutik gänzlich verschwunden sei, die aber zugleich
das Problem der Hermeneutik beherrsche und Schleiermachers Stellung in der
Geschichte der Hermeneutik erst verständlich mache (WM, 183). So lesen wir bei
Gadamer,
„Verständnis ist zunächst Einverständnis. So verstehen die Menschen einander zumeist unmittelbar, bzw. sie verständigen sich bis zur Erzielung des Einverständnisses. Verständigung ist also immer Verständigung über etwas. Sich verstehen ist Sichverstehen in etwas. Die Sprache sagt es schon, daß das Worüber und Worin nicht nur ein an sich beliebiger Gegenstand der Rede ist, von dem unabhängig das wechselseitige Sichverstehen seinen Weg suchte, sondern vielmehr Weg und Ziel des Sichverstehens selber“ (WM, 183f., Hervorhebung von mir, Chen).
Es zeigt sich, daß das Verstehen bei Gadamer weniger ein Problem des Verstehens
von Fremdem im Sinne eines noch zu erreichenden Ziels ist, wie etwa bei
163 Das ist sicherlich eine ungerechte Bemerkung von Gadamer. Denn sowohl Schleiermacher als auch Dilthey gehen vom zwischenmenschlichen Verkehr aus. Die Wichtigkeit und Sittlichkeit gegenseitigen Verstehens in der Hermeneutik bei Schleiermacher und Dilthey habe ich bereits oben aufgewiesen (s. o. Kap. 1, S. 12). Das gegenseitige Verstehen unter Menschen spielt eine unübersehbar wichtige Rolle in den hermeneutischen Überlegungen bei Schleiermacher und Dilthey. Diese enge Beziehung zwischen Ethik und Hermeneutik bei Schleiermacher wurde bei Gadamer nicht zur Kenntnis genommen.
97
Schleiermacher, sondern vielmehr „Weg und Ziel des Sichverstehens selber“, welches
dem Erkenntnisvollzug selbst ähnelt164, was zur Folge hat, daß die Unterscheidung
zwischen Selbstverständnis und Textverständnis bei Gadamer verschwimmt165.
Für Gadamer gibt es die eigentliche Aufgabe des Verstehens nur da, wo ein
Meinungsunterschied zwischen Interpreten und Autor entsteht:
„Das eigentliche Problem des Verstehens bricht offenbar auf, wenn sich bei der Bemühung um inhaltliches Verständnis die Reflexions-Frage erhebt: Wie kommt er zu seiner Meinung? Denn es ist klar, daß eine solche Fragestellung eine Fremdheit ganz anderer Art bekundet und letztlich einen Verzicht auf gemeinsamen Sinn bedeutet“ (WM, 184).
Die an der Meinung des Autors festgemachte Reflexionsfrage bekundet für Gadamer
„eine Fremdheit ganz anderer Art“ und bedeutet „einen Verzicht auf gemeinsamen
Sinn“, welcher eben einen Abstand zu der Meinung der Überlieferung zeigt. Das
eigentliche Problem des Verstehens bei Gadamer besteht sonach nicht darin, ein
inhaltliches Verständnis des Textes, im grammatisch-historischen Sinne, zu erwerben,
sondern im Erzielen einer Übereinstimmung in der Sache zwischen Text und Interpret.
Dieses „Einverständnis in der Sache“ als gleiche Meinung soll also nach Gadamer die
eigentliche Aufgabe des Verstehens sein. Das spezifische Problem der Hermeneutik
ist folglich „kein Problem der richtigen Sprachbeherrschung, sondern der rechten
Verständigung über eine Sache“ (WM, 388). Das eigentliche Problem des Verstehens
liegt bei Gadamer also nicht mehr in der Gewinnung von inhaltlichem Verständnis,
sondern in dem sachlichen Meinungsunterschied zwischen Text und Interpreten. Und
das Einverständnis in der Sache der Überlieferung wird das Ziel des hermeneutischen
164 Vgl. G. Scholtz: Ethik und Hermeneutik, S. 141f. 165 Vgl. dazu Scholtz’ Hinweis auf Gadamers „Überwindung“ des Historismus anhand der Auflösung der Unterscheidung von Tatsachen und Werten, die sich dann in der Auflösung der Unterscheidung von Selbstverständnis und Textverständnis konkretisiert. Gunter Scholtz: Zum Historismusstreit in der Hermeneutik, a.a.O., S. 200.
98
Verstehens. Die Aufgabe des Verstehens wurde vom Erfassen vom fremden Sinn
umgewandelt zur Verständigung über die Sache, wie es in seinem Modell des
„hermeneutischen Gesprächs“ noch deutlicher zum Ausdruck kommt.
Für Gadamer ist Spinozas historische Interpretationsmethode der Bibelkritik166 ein
gutes Beispiel für eine derartige Fragestellung. „Nur weil es unbegreifliche Dinge (res
imperceptibiles) in den Erzählungen der Bibel gebe, sei deren Verständnis davon
abhängig, daß wir den Sinn des Autors aus dem Ganzen seiner Schrift zu eruieren
vermögen. Und da ist es in der Tat gleichgültig, ob das Gemeinte unserer Einsicht
entspricht – denn wir wollen ja nur den Sinn der Sätze (den sensus orationum), nicht
aber ihre Wahrheit (veritas) erkennen,“ kritisiert Gadamer (WM, 185). Wobei zu
bemerken ist, daß Spinoza zwar zwischen Sinn und Wahrheit der Rede unterscheidet,
aber nicht davon ausgeht, daß sich beide Aspekte gegenseitig ausschließen. Die
historische Forschung und die Unterscheidung zwischen Sinn und Wahrheit der Rede
dient vielmehr dazu, die Wahrheit der Rede von der Vernunft prüfen zu können167.
Gegenüber Spinozas Betonung der Notwendigkeit der historischen Interpretation
„im Geiste des Verfassers“ findet Gadamer die Hermeneutik Chladenius’ „sachlich
166 Gadamer bezieht sich hier auf das 7. Kapitel des »Tractatus theologico-politicus« von Spinoza. Siehe Baruch de Spinoza: Tractatus Theologico-Politicus, De Interpretatione Scripturae, Cap. VII. Zitiert nach: Theologisch-politischer Traktat. Hg. v. C. Gebhardt, Leipzig 1908. S. 135-145. 167 In der Darstellung über die Schritte der Ausarbeitung der Geschichte der Schrift, die eine Zusammenstellung und Ordnung der Aussprüche nach Hauptgesichtspunkten sowie Anmerkung der dunkelen Stellen einschließen, unterscheidet Spinoza zwischen dem Sinn und der Wahrheit der Rede: “Zuerst muß die Geschichte die Aussprüche eines jeden Buches zusammenstellen und sie nach Hauptgesichtspunkten ordnen, damit man alles, was sich über einen und denselben Gegenstand findet, gleich zur Hand hat. Dann muß sie alle Aussprüche anmerken, die zweideutig oder dunkel sind oder sich widersprechen scheinen. Dunkel oder klar nenne ich Aussprüche, je nachdem ihr Sinn aus dem Zusammenhang schwer oder leicht mit der Vernunft zu verstehen ist; denn bloß um den Sinn der Rede, nicht um ihre Wahrheit handelt es sich. Ja, man muß sich vor allem hüten, solange der Sinn der Schrift in Frage ist, daß man sich nicht durch die eigenen Erwägungen, soweit sie auf den Prinzipien natürlicher Erkenntnis beruhen (ganz zu schweigen von den Vorurteilen), dazu verleiten läßt, den wahren Sinn einer Stelle mit der Wahrheit ihres Inhalts zu verwechseln. Der Sinn ist bloß aus dem Sprachgebrauch zu ermitteln, oder aus solchen Erwägungen, die nur die Schrift als Grundlage kennen. Der Grund solcher Unterscheidung liegt darin, daß die Göttlichkeit Gottes nicht durch Wunder überzeugend gemacht werden kann, […] ganz abgesehen davon, daß ja auch falsche Propheten Wunder vollbringen konnten.“ Zitiert nach: Seminar: Philosophische Hermeneutik, hg. H.-G. Gadamer/ G. Boehm,Stuttgart 1976, S. 55, S. 54. Hier wird sehr deutlich, aus welchem Grund Spinoza die Unterscheidung zwischen Sinn und Wahrheit der Rede für notwendig hält.
99
zutreffender“ (WM, 186). „Nicht nur, daß der Fall der ‚Auslegung historischer
Bücher’ für ihn [Chladenius] gar nicht der wichtigste Punkt ist – in jedem Falle
handelt es sich um den sachlichen Inhalt der Schriften, und das ganze Problem der
Auslegung stellt sich ihm im Grunde als ein pädagogisches und ist okkasioneller
Natur“, erklärt Gadamer (ebd.).
Damit stellt Gadamer den Kontrast zwischen Spinoza und Chladenius deutlich
heraus: Während für Spinoza die Auslegung der Heiligen Schrift von Anfang an
notwendig unter Berücksichtigung der geschichtlichen Umstände der verschiedenen
Autoren vollzogen werden muß, um die Wahrheit der Schrift zu verstehen, ist für
Chladenius die Auslegungsbedürftigkeit einer Stelle grundsätzlich ein Sonderfall, weil
„man im allgemeinen eine Stelle unmittelbar versteht, sofern man die Sache kennt, die
in der Stelle abgehandelt wird, sei es, daß man von der Stelle an die Sache erinnert
wird, sei es, daß man erst durch die Stelle zur Erkenntnis der Sache gelangt“ (WM,
186). „Unzweifelhaft ist somit für das Verstehen hier noch das Sachverständnis, die
sachliche Einsicht, das Entscheidende – es ist kein historisches noch gar ein
psychologisch-genetisches Verfahren,“ betont Gadamer (WM, 186f, Hervorhebung im
Orig.). Damit wird die Selbstverständlichkeit des Textsinnes und die Unmittelbarkeit
des Verstehens betont. Die Möglichkeit des Mißverstehens und des Nichtverstehens
wird hier zugunsten der Betonung der Selbstverständlichkeit und der Unmittelbarkeit
des Verstehens außer Betracht gelassen.
Der Vorrang des Sachverständnisses in der Hermeneutik von Chladenius führe dazu,
daß die Norm für das Verständnis eines Buches keineswegs die Meinung des Autors,
sondern die sachliche Wahrheit sei: „Bereits Chladenius stellt fest: Einen Autor
vollkommen verstehen, sei nicht dasselbe wie, eine Rede oder Schrift vollkommen
verstehen (§86),“ betont Gadamer (WM, 187). Hieraus läßt sich erkennen, aus
welchem Grund das Sachverständnis in Gadamers Hermeneutik immer den Vorrang
100
hat und die Meinung des Autors als sekundär bezeichnet wird. Mit dieser
Hervorhebung des Kontrastes zwischen Spinozas und Chladenius’ Hermeneutik wird
auch deutlich, daß Gadamer die Unterscheidung zwischen Sinn und Wahrheit der
Rede sowie die Notwendigkeit historischer Interpretation unter Berücksichtigung der
Meinung des Autors grundsätzlich in Frage stellt. Die historische Interpretation der
Heiligen Schrift bei Spinoza bedeutet für Gadamer einen “Verzicht auf gemeinsamen
Sinn” (WM, 184), also einen “Verzicht auf Einverständnis in der Sache” (WM, 297),
das zum „Bruch mit der Sinnkontinuität der Überlieferung“ führe.
Es versteht sich, daß es Gadamer hier um „den gemeinsamen Sinn“ als die Sache
bzw. die sachliche Wahrheit der Heiligen Schriften und der Klassiker geht, die nicht
durch die historische Interpretation oder die Meinung der Interpreten in Frage gestellt
oder beeinträchtigt werden soll. Denn er sieht darin „eine katastrophale Folge für das
Christentum“, weil „ein adäquates Verständnis der Schrift die Anerkennung der
Verschiedenheit ihrer Verfasser, also die Preisgabe der dogmatischen Einheit des
Kanon voraussetzt“ (WM, 180). Mit dem „Einverständnis in der Sache“ (WM, 180ff,
297ff u.ö.) meint Gadamer dagegen „die inhaltliche Einheit der Überlieferung“, die
bei allem Verstehen und aller Verständigung wiederhergestellt werden soll. Diese zielt
jedoch ausschließlich auf die inhaltliche Einheit der Überlieferung beider Traditionen
(der griechischen Antike und des Christentums) ab, welche Gadamer zufolge einmal
durch Luther und Melanchton vereinigt (WM, 178) und dann von dem Philologen
Friedrich Ast vorbildlich als Aufgabe der Hermeneutik weiter bestimmt wurde (WM,
297).
Das zeigt sich nicht nur (wie oben dargestellt) in seiner Betonung der Vorrangigkeit
des Sachverständnisses in Chladenius‘ Hermeneutik gegenüber der historischen
Interpretation der Bibelhermeneutik bei Spinoza, sondern auch in seiner Kritik an der
Begründung der allgemeinen Hermeneutik bei Schleiermacher.
101
Für Gadamer ist die Begründung der allgemeinen Hermeneutik bei Schleiermacher
mustergültig zur Bezeichnung des Wesenswandels der Hermeneutik zwischen
Aufklärung und Romantik, da in dieser allgemeinen Hermeneutik nicht nur eine
Wendung hin zum historischen Bewußtsein, das schon bei Semler und Ernesti erkannt
und von Dilthey als eine „Befreiung der Auslegung vom Dogma“ 168 bezeichnet
wurde, sondern auch „die Auflösung des normativen Anspruchs des klassischen
Altertums“, und „die Preisgabe der dogmatischen Einheit des Kanon“ zu erkennen sei
(WM, 180f). Die „Universalität“ der Hermeneutik Schleiermachers liegt Gadamers
Auffassung nach in der „Abgelöstheit von dem Wahrheitsanspruch des Textes“ (WM,
200). Indem Schleiermacher in seiner allgemeinen Hermeneutik die Aussage, „die ein
Text darstellt, unter Absehung von ihrem Erkenntnisgehalt als eine freie
Produktion“ (ebd.), und „den Akt des Verstehens als den rekonstruktiven Vollzug
einer Produktion“ (WM, 196) sieht, wird „die vom Sachverständnis geführte Kritik
aus dem Bereich der wissenschaftlichen Auslegung“ (WM, 200) herausgedrängt, so
zumindest Gadamer 169 . Es ist aber eine „höchst fragwürdige
Unterscheidung“ zwischen dem „Sachverständnis“ und dem „Textverständnis“, die
Gadamer hier macht. Gadamers Kritik unterstellt, daß es bei der historischen
Interpretation nicht um das Sachverständnis, sondern um das Autorverständnis gehe,
was sich psychologisch vollziehe. Im Gegenteil soll das Autorverständnis eben zu
einem besseren Verständnis von der von ihm behandelten Sache beitragen. Insofern
kann man mit Hans Ineichen fragen, ob man das Verständnis des Textes vom
Verständnis der Sachen einfach trennen kann170, wie das Gadamer hier voraussetzt. Es
168 Dilthey: Ges. Schriften, Bd. V, S. 326. 169 Das ist gewiß eine unberechtigte Kritik Gadamers. Denn wir wissen, daß Hermeneutik und Kritik für Schleiermacher zwei einander bedingende und ergänzende Disziplinen sind. Siehe: Schleiermacher: Hermeneutik und Kritik, a. a. O.. Vgl. dazu Gunter Scholtz: Ethik und Hermeneutik, S. 144. 170 Vgl. Hans Ineichen: Philosophische Hermeneutik, Freiburg/München 1991, S. 123. Nach Ineichen werde die Gleichsetzung vom Sachverständnis und Textverständnis durch Gadamers „höchst fragwürdige Unterscheidung“ zu etwas Problematischen stilisiert.
102
läßt sich jedenfalls nicht behaupten, daß es sich in der Hermeneutik
Schleiermachers nicht um das Verständnis der vom Autor behandelten Sache handelt.
Gadamers Betonung der Selbstverständlichkeit der Schrift bedeutet zugleich eine
Entproblematisierung des Verstehens überhaupt171. Das Verstehen ist überhaupt kein
Problem für Gadamer. Das Verstehen geschieht einfach, da Gadamer ausschließlich
vom gelungenen Verstehen spricht. Die Möglichkeit des Mißverstehens und
Nichtverstehens wegen der Unklarheit, Mehrdeutigkeit oder Fremdheit des Textsinnes
kommt bei Gadamer überhaupt nicht vor. Das eigentliche Problem der Hermeneutik
bei Gadmer ist nicht das Verstehen im Sinne des Sinnverständnisses, sondern das
Wiederherstellen des ausbleibenden, gestörten Einverständnisses in der sachlichen
Wahrheit der Tradition.
Hieran wird der Unterschied zwischen Gadamer und Schleiermacher deutlich.
Während bei Schleiermacher die Fremdheit mit Bezug auf die Verschiedenheit der
Individualität der Sprachen und der Sprecher als der Grund der Schwierigkeit sowie
auch als das allgemeine Problem des Verstehens angesehen wurde und Hermeneutik
dementsprechend als theoretische Anleitung und Prinzipienwissenschaft für die
Lösung solcher Verständnisschwierigkeiten konzipiert war, wurde die Fremdheit bei
Gadamer hinsichtlich der Selbstverständlichkeit des Textsinnes, nicht so sehr als
Problem des Verständnisses des Sinngehaltes, sondern vielmehr als Problem der
Verständigung über die Sache betrachtet. Das heißt, während die allgemeine
Hermeneutik Schleiermachers von den Bemühungen zur Erfüllung der von Gadamer
so genannten „Vorbedingungen“ (wie sprachliche, sachliche und menschliche 171 Vgl. ähnlich dazu den Hinweis Werner Kogges auf die Entproblematisierung des Verstehens und den Widerspruch bei Gadamer: „Am deutlichsten zeigt sich, wie widersprüchlich Wahrheit und Methode einerseits die Bedingtheit jeglichen Verstehens in den Bedingungen aufweist, andererseits Verstehen als unbedingte Selbstdarstellung von Welt völlig entproblematisiert, in Gadamers Ausführungen über den Begriff der Welt selbst.“ Werner Kogge: Verstehen und Fremdheit in der philosophischen Hermeneutik. Heidegger und Gadamer, Hildesheim 2001, S. 139. Dieser Selbstdarstellungscharakter der Welt und die Betonung der Selbstverständlichkeit der Schrift weisen darauf hin, daß es sich bei Gadamer stets um problemloses Verstehen handelt.
103
Kenntnisse als Bedingungen des Verstehens) handelt, die bei Schleiermacher erst
durch die grammatische und die psychologische Interpretation schrittweise
herausgearbeitet werden können, geht es Gadamer um die Verständigungsfrage, die
auf das Einverständnis in der Sache des im Text Dargestellten abzielt.
Die hermeneutische Aufgabe des Verstehens wird infolgedessen durch Gadamer
vom Sinnverständnis zur Verständigung über die Sache umgewandelt. In diesem
Zusammenhang begreift Gadamer seine philosophische Hermeneutik als eine „Kunst
der Verständigung“ und faßt unter ihren Aufgabenbereich alle Bereiche
zwischenmenschlicher Verständigung. Das eigentliche und bleibende Problem bleibt
dann die zu erzielende Übereinstimmung in der Sache der Tradition. Daher begreift
Gadamer das Verfahren des Verstehens als Resultat eines „Gesprächs“ mit dem Text
(WM, 297, 308, 368ff, 374, 391). Die Gemeinsamkeit zwischen dem Textverständnis
und der Verständigung im Gespräch besteht Gadamer zufolge vor allem darin, daß
„jedes Verstehen und jede Verständigung eine Sache im Auge hat, die vor einen
gestellt ist“ (WM, 384). Das impliziert, daß der Verstehende mit sachlicher Einsicht
mit dem Text umgehen sollte, daß man also bereits eine Vorstellung von der Sache des
Textes hat.
Gadamer beschreibt das Verstehen von Schriftlichem als eine „Bewegung in einer
Dimension von Sinnhaftem“, das in sich verständlich ist und als solches „keinen
Rückgang auf die Subjektivität des anderen motiviert“. Deshalb ist es die Aufgabe der
Hermeneutik, „dieses Wunder des Verstehens aufzuklären, das nicht eine
geheimnisvolle Kommunion der Seelen, sondern eine Teilhabe am gemeinsamen Sinn
ist“ (WM, 297). Dabei wird die Möglichkeit des Mißverstehens oder Nichtverstehens
immer schon beiseite gelassen. Allein fragt sich, ob das Verstehen von Schriftlichem
wirklich immer so problemlos geschieht, ob die Schrift wirklich so selbstverständlich
wäre.
104
Das Verstehen als das Ins-Gespräch-Kommen mit dem Text bei Gadamer ist aber
nicht als ein Dialog zwischen zwei Personen wie Autor und Interpret zu denken,
welches aus dem ethischen Verhältnis zwischen zwei Personen entspringt, sondern als
ein Dialog zwischen dem Interpreten und seiner eigenen Kulturüberlieferung, welcher
aus dem „Lebensverhältnis“ bzw. der sittlichen Verbindung des Interpreten zu seiner
eigenen Kulturtradition zu verstehen ist. Denn: „Das Ziel aller Verständigung und
alles Verstehens ist das Einverständnis in der Sache. So hat die Hermeneutik von
jeher die Aufgabe, ausbleibendes oder gestörtes Einverständnis herzustellen,“ betont
Gadamer (WM, 297, Hervorhebung von Chen).
Um diesen Punkt sichtbar zu machen, greift Gadamer auf die Geschichte der
Hermeneutik zurück.
„Die Geschichte der Hermeneutik kann das bestätigen, wenn man z.B. an Augustin denkt, wo das Alte Testament mit der christlichen Botschaft vermittelt werden soll, oder an den frühen Protestantismus, dem das gleiche Problem gestellt war, oder endlich an das Zeitalter der Aufklärung, wo es freilich einem Verzicht auf Einverständnis nahekommt, wenn der vollkommene Verstand eines Textes nur auf dem Wege historischer Interpretation erreicht werden soll. Es ist nun etwas qualitativ Neues, wenn die Romantik und Schleiermacher ein geschichtliches Bewußtsein von universalem Umfang begründen, indem sie die verbindliche Gestalt der Tradition, aus der sie kommen und in der sie stehen, nicht mehr als feste Grundlage für alle hermeneutische Bemühung gelten lassen“ (ebd.).
Dagegen habe Gadamers Ansicht nach der Philologe Friedrich Ast, ein Vorläufer
Schleiermachers, ein besseres Verständnis der Aufgabe der Hermeneutik, weil er
forderte, „sie [Hermeneutik] solle das Einverständnis zwischen Antike und
Christentum, zwischen einer neugesehenen wahren Antike und der christlichen
Tradition herstellen“ (WM, 297f). Asts Hermeneutik ist nicht nur etwas Neues für
Gadamer, sonders auch etwas sehr Vorbildliches: „Sofern sie [...] die beiden
105
Traditionen, in denen sie sich weiß, zu einer sinnhaften Übereinstimmung zu bringen
sucht, hält eine solche Hermeneutik grundsätzlich an der Aufgabe aller bisherigen
Hermeneutik fest, im Verstehen ein inhaltliches Einverständnis zu gewinnen,“ hebt
Gadamer die Bedeutung solcher Aufgabenbestimmung der Hermeneutik bei Ast
gegenüber Schleiermacher hervor (WM, 298).
Es ist eindeutig zu sehen, daß es das Hauptanliegen der Hermeneutik Gadamers war,
die Übereinstimmung beider Traditionen wieder in den Aufgabenbereich der
Hermeneutik zurückzubringen, die Gadamer zufolge durch Schleiermachers
Begründung der allgemeinen Hermeneutik abgelöst ist. Es läßt sich nicht bezweifeln,
daß er sich auch bemüht, diese beiden Traditionen „zu einer sinnhaften
Übereinstimmung zu bringen“. Der entscheidende Grund, aus dem Gadamer
Schleiermachers allgemeine Hermeneutik kritisiert, liegt darin, daß der dogmatische
Anspruch auf das Einverständnis in der Sache der Tradition in der allgemeinen
Hermeneutik Schleiermachers aufgegeben ist. Der Hermeneutik Schleiermachers und
Diltheys geht es Gadamer zufolge nur darum, „den historischen Horizont zu
gewinnen“, „den Horizont des anderen kennenzulernen“ (WM, 308), nicht aber „im
Verstehen ein inhaltliches Einverständnis zu gewinnen“ (WM, 298), also nicht „in der
Überlieferung für einen selber gültige und verständliche Wahrheit zu finden“ (WM,
309). Die für uns entscheidende Frage ist, ob solcher Anspruch auf sachliches
Einverständnis im Verstehen aller historischen Überlieferungen in den
Geisteswissenschaften angemessen ist und ob alle Überlieferungen den Anspruch
erheben dürfte, als fraglose Wahrheit verstanden zu werden.
Es versteht sich, daß Gadamer hier die „Selbstverständlichkeit der Wahrheit“ dem
Vorgang des Verstehens gleichsetzen möchte, sofern im Verstehen die Wahrheit der
Heiligen Schrift und die Vorbildlichkeit der griechischen Antike unmittelbar vermittelt
und eingesehen werden sollte. Eine Ablösung vom Wahrheitsanspruch des Textes
106
bedeutet für ihn eben „einen Verzicht auf Einverständnis in der Sache“ und einen
„Bruch mit der Sinnkontinuität der Überlieferung“, den es zu überwinden gilt, wie im
ersten Abschnitt gezeigt wurde. Insofern geht es im hermeneutischen Gespräch bei
Gadamer eigentlich nicht um die Verständigung zwischen zwei Personen, sondern um
die Verständigung mit eigenen Kulturtraditionen, die auf die Wiederherstellung des
„ausbleibenden, gestörten Einverständnisses“ in der sachlichen Wahrheit der Tradition
abzielt.
2.3.2. Verstehen als Auslegen und Anwenden
Um dem Wahrheitsanspruch der Tradition ihr Recht im Verstehen historischer
Überlieferung wiederzugeben, stellt Gadamer sich die Aufgabe, „die
geisteswissenschaftliche Hermeneutik von der juristischen und philologischen
Hermeneutik her neu zu bestimmen“ (WM, 316, Hervorhebung im Orig.). Er meint,
daß „die romantische Hermeneutik und ihre Krönung in der psychologischen
Auslegung, d.h. dem Enträtseln und Ergründen der anderen Individualitäten, das
Problem des Verstehens viel zu einseitig faßt“ (ebd.). So greift Gadamer auf die
Geschichte der Hermeneutik zurück, in der es neben der philologischen eine
theologische und eine juristische Hermeneutik gab, die „gemeinsam mit der
philosophischen Hermeneutik erst den vollen Begriff der Hermeneutik
ausfüllten,“ und meint, daß „im Verstehen immer so etwas wie eine Anwendung des
zu verstehenden Textes auf die gegenwärtige Situation des Interpreten
stattfindet“ (WM, 313). Denn „damals galt es als ganz selbstverständlich, daß die
Hermeneutik die Aufgabe hat, den Sinn eines Textes der konkreten Situation
anzupassen, in die hinein er spricht,“ erklärt Gadamer (ebd.).
Sein Beispiel dafür ist der ‚Dolmetscher des göttlichen Willens’. Gadamer
107
behauptet, die Aufgabe jedes Dolmetschers sei nicht nur die Wiedergabe dessen, was
der Verhandlungspartner wirklich gesagt habe, sondern „er muß dessen Meinung so
zur Geltung bringen, wie es ihm aus der echten Gesprächssituation nötig
scheint“ (WM, 313). Er meint:
„Ein Gesetz will nicht historisch verstanden werden, sondern soll sich in seiner Rechtsgeltung durch die Auslegung konkretisieren. Ebenso will ein religiöser Verkündigungstext nicht als ein bloßes historisches Dokument aufgefaßt werden, sondern er soll so verstanden werden, daß er seine Heilswirkung ausübt. Das schließt in beiden Fällen ein, daß der Text, ob Gesetz oder Heilsbotschaft, wenn er angemessen verstanden werden soll, d.h. dem Anspruch, den der Text erhebt, entsprechend, in jedem Augenblick, d.h. in jeder konkreten Situation, neu und anders verstanden werden muß. Verstehen ist hier immer schon Anwenden“ (WM, 314).
Daraus folgt, daß sowohl im gerichtlichen Urteil wie auch in der Predigt der Text
„seine Anwendung im konkreten Augenblick der Auslegung erlangt“ (WM, 314).
Verstehen wird somit Auslegen und Anwenden zugleich. Damit erhebt Gadamer die
konkrete Situation des Interpreten und das Zur-Geltung-bringen des zuverstehenden
Textes zur Hauptsache. Er bezieht die praktische, zeitlich konkrete Situation des
Interpreten in den Geisteswissenschaften in die Überlegung mit ein. Er geht davon aus,
daß auch das in den Geisteswissenschaften geübte Verstehen ein wesenhaft
geschichtliches sei, d.h. daß auch dort ein Text nur verstanden wird, wenn er jeweils
anders verstanden wird. Das Verstehen eines Textes wird hier unmittelbar als die
Anwendung des zu verstehenden Textes gekennzeichnet und zwar als historische
Variable aufgrund der konkreten Situation des Interpreten, die die „geschichtliche
Bewegtheit des Verstehens“ bedingt. Hiervon ausgehend gelangt Gadamer zu seiner
These, daß die Aufgabe einer historischen Hermeneutik darin bestehe, „daß sie das
Spannungsverhältnis durchreflektiert, das zwischen der Selbigkeit der gemeinsamen
108
Sache und der wechselnden Situation besteht, in der dieselbe verstanden werden
soll“ (WM, 314). Er fügt nun hinzu, „daß das Verstehen nicht so sehr eine Methode ist,
durch die sich das erkennende Bewußtsein einem von ihm gewählten Gegenstand
zuwendet und ihn zu objektiver Erkenntnis bringt, als vielmehr das Darinstehen in
einem Überlieferungsgeschehen zur Voraussetzung hat“ (WM, 314).
Für Gadamer ist die Aufteilung in die „Subjektivität des Interpreten“ und die
„Objektivität des zu verstehenden Sinnes“ in der romantischen Hermeneutik
unbefriedigend unter dem Gesichtspunkt der Integration der drei Bestandteile der
hermeneutischen Methode (Verstehen, Auslegung, Anwendung). Er wendet sich
gegen die Voraussetzung der „Kongenialität“, die die Übereinstimmung des
„Schöpfers“ mit dem „Interpreten eines Werkes“ fordert und für das vollkommene
Verstehen unentbehrlich ist. Nach seiner Auffassung besteht das Wunder des
Verstehens vielmehr darin, daß es keiner Kongenialität bedürfe, um das wahrhaft
Bedeutsame und das ursprünglich Sinnhafte in der Überlieferung zu erkennen. „Wir
vermögen uns vielmehr dem überlegenen Anspruch des Textes zu öffnen und der
Bedeutung verstehend zu entsprechen, in der er zu uns spricht“ (WM, 316). Er meint:
„Die Hermeneutik im Bereich der Philologie und der historischen Geisteswissenschaften ist überhaupt nicht ‚Herrschaftswissen’, d.h. Aneignung als Besitzergreifung, sondern ordnet sich selbst dem beherrschenden Anspruch des Textes unter. Dafür aber ist die juristische und die theologische Hermeneutik das wahre Vorbild. Auslegung des gesetzlichen Willens, Auslegung der göttlichen Verheißung zu sein, das sind offenkundig nicht Herrschafts-, sondern Dienstformen. Im Dienst dessen, was gelten soll, sind sie Auslegungen, die Applikation einschließen“ (WM, 316).
Gadamers Überlegung führt schließlich dazu, daß auch die historische Hermeneutik
eine Leistung der Applikation zu vollbringen hat, weil auch sie „der Geltung von Sinn
dient, indem sie ausdrücklich und bewußt den Zeitenabstand überbrückt, der den
109
Interpreten vom Texte trennt und die Sinnentfremdung überwindet, die dem Texte
widerfahren ist“ (WM, 316).
Im Falle des juristischen Urteils und der religiösen Predigt hat Gadamer den
normativen Anspruch des Textes durch die Integration von Verstehen, Auslegen und
Anwenden überzeugend dargestellt. Das Urteil erwies sich als die Auslegung und
Anwendung des Gesetzes durch den Richter, indem das Gesetz schon vom Richter
verstanden sein muß. Bei der Predigt verhält es sich ähnlich. Bis hierher kann man mit
Gadamer übereinstimmen. Doch trifft auch seine Behauptung zu, daß dies für alles
Verstehen in den Geisteswissenschaften in gleicher Weise gelte? Erfordert tatsächlich
jedes Verstehen immer schon eine Anwendung des zu verstehenden Textes auf die
gegenwärtige Situation des Interpreten? Die Aufgabe des Rechtshistorikers zum
Beispiel ist doch vollkommen anders als die des Richters im Gerichtssaal172. Diesen
Anspruch auf Anwendung des zu verstehenden Textes auf die gegenwärtige Situation
des Interpreten hat Scholtz am Beispiel der Interpretation älterer Gesetze sehr
überzeugend zurückgewiesen: „Nun wird man aber nicht behaupten wollen, alle
Gesetze vergangener Jahrhunderte gehörten nach wie vor zu der Überlieferung, die ‚in
die Gegenwart hineinspricht’, sondern zugeben müssen, daß viele Gesetze der
Vergangenheit ihre Bedeutung für die Gegenwart schlicht verloren haben. Durch
keine Hermeneutik werden sie ihre Geltung zurückerlangen, und in den meisten
Fällen werden wir dies auch begrüßen“173. Darüber hinaus können und dürfen nicht
alle Texte den Anspruch auf Wahrheit oder unbedingte Geltung beanspruchen.
Politische Propaganda von Diktatoren zum Beispiel darf keinen Geltungsanspruch für
die gegenwärtige Situation des Historikers erheben.
172 Vgl. dazu die Kritik von Franz Wieacker: Notizen zur rechtshistorischen Hermeneutik. Nachrichten der Ak. d. Wiss. Göttingen, phil.-hist. Kl., Göttingen 1963, S. 1-22. 173 Gunter Scholtz: Das Interpretandum in der philosophischen Hermeneutik Gadamers, in: Gadamer verstehen, a.a.O., S. 13-34, Zit. S. 15f.
110
Darüber hinaus besteht die Gefahr, daß Unwahrheiten oder Mißverständnisse
zugunsten der gegenwärtigen Situation des Interpreten als Wahrheit in der Auslegung
zur Geltung gebracht werden könnten, wenn der Interpret allein über die Wahrheit des
zu verstehenden Textes entscheidet. Ist es nicht naiv, die Wahrheit der Überlieferung
mit der Wahrheit der Auslegung gleichzusetzen, indem das Textverstehen als
Applikation des verstandenen Sinns bzw. der Wahrheit auf die jeweilige Situation des
Interpreten bezeichnet wird? Gadamer sagt:
„Wir haben gesehen: Einen Text verstehen, heißt immer schon, ihn auf uns selbst anwenden. Wissen, daß ein Text, auch wenn er immer anders verstanden werden muß, doch derselbe Text ist, der sich uns jeweils darstellt. Daß damit der Wahrheitsanspruch einer jeden Auslegung nicht im geringsten relativiert wird, wird daran deutlich, daß aller Auslegung wesensmäßig Sprachlichkeit zukommt. Die sprachliche Ausdrücklichkeit, die ein Verstehen durch Auslegung gewinnt, erzeugt nicht einen zweiten Sinn neben dem verstandenen und ausgelegten“ (WM, 401f).
Mit der Sprachlichkeit aller Auslegung verbunden, wird der Wahrheitsanspruch der
Schrift zu dem Wahrheitsanspruch jeglicher Auslegung. Der Interpret wird so zum
alleinigen Verwalter der Wahrheit der Auslegung. Die Frage ist nun, wie der
Wahrheitsanspruch einer jeglichen Auslegung nicht relativ sein kann, wenn die Schrift
bzw. der Text „immer anders verstanden werden muß“ (WM, 401f), und der
gemeinsame Sinn sowie die Sache als die inhaltliche Einheit der Überlieferung
unbestimmt bleibt und allein vom Interpreten abhängt. Walter Schulz hat bemerkt, daß
hier das Erbe des Relativismus am Werke ist, indem diese Einheit „in die Vielheit
verschiedener Weltsichten, oder wie man nun sagt, in die Vielheit verschiedener
Horizonte zersplittert“ 174 . Hier scheint sich Gadamer selbst dem Problem der
Verzerrung der Perspektiven nicht entziehen zu können. Wenn aber alle inhaltlichen 174 Walter Schulz: Anmerkungen zur Hermeneutik Gadamers, in: Hermeneutik und Dialekitik I, hg. von R. Bubner/K. Cramer/R. Wiehl, Tübingen 1970, S. 304-316. Hier S. 308.
111
Einheiten relativierbar sind, dann kann einzig „die formale Einheit des Gespräches
mit der Vergangenheit“ nicht relativierbar sein. „Sie ist die einzige Einheit, die
‚unbedingt’ ist,“ so Schulz 175.
2.3.3. Universale Sprachlichkeit als universale Verständlichkeit?
Die Schwierigkeit des Verstehens fremder Sprachen und fremder Überlieferungen
wurde bei Gadamer so formuliert:
„Wer in einer Sprache lebt, ist von der unübertrefflichen Angemessenheit der Worte, die er gebraucht, zu den Sachen, die er meint, erfüllt. Es scheint wie ausgeschlossen, daß andere Worte fremder Sprachen dieselben Sachen ebenso angemessen nennen können. [...] Je empfindlicher unser historisches Bewußtsein reagiert, desto mehr scheint es die Unübersetzbarkeit des Fremden zu empfinden. Damit wird aber die innige Einheit von Wort und Sache zu einem hermeneutischen Skandalon“ (WM, 406).
Es gilt aber für Gadamer, diesen Gedankengang als scheinhaft zu durchschauen. Denn
die Sprache bedeutet für Gadamer „die Sprache der Vernunft“, die „eine alle
Schranken überwindende Unendlichkeit in sich tragen muß“ (WM, 405). Die
„überlegene Allgemeinheit“, mit der „sich die Vernunft über die Schranken jeder
gegebenen Sprachverfassung erhebt,“ gilt hier als Argument dafür, daß es immer
schon möglich ist, eine fremde Überlieferung zu verstehen, auch wenn wir in der
Sprache, die wir sprechen, „gebannt“ sind (WM, 406). Damit wird dem Verstehen bei
Gadamer grundsätzlich keine Grenze gesetzt.
Hier drängt sich die Frage auf, wie sich die Vernunft mit der überlegenen
Allgemeinheit über die Schranken jeder gegebenen Sprachverfassung erheben kann,
wenn die Vernunft nicht Herr ihrer selbst ist und „stets auf die Gegebenheiten 175 Walter Schulz, a.a.O..
112
angewiesen“ bleibt, wie Gadamer selbst auf die geschichtliche Bedingtheit der
Vernunft hingewiesen hat. Einerseits will Gadamer die Macht der Vernunft durch die
geschichtlichen Gegebenheiten annullieren, so daß sie für ihn nur eine „reale
geschichtliche“ (WM, 280), also geschichtlich bedingte sein soll. Wir erinnern uns
daran, daß Gadamer Diltheys Voraussetzung der „Gleichartigkeit der
Menschennatur“ für das Verstehen gerade als „ungeschichtliches Substrat“ kritisiert
(WM, 295) und Diltheys Konzeption der Schrankenlosigkeit der historischen Vernunft
als einen Wahn, als „eine falsche Selbstinterpretation unseres geschichtlichen Seins
und Bewußtseins“176 kritisiert. Andererseits behauptet er, daß sich die Vernunft mit
der „überlegenen Allgemeinheit“ „über die Schranken jeder gegebenen
Sprachverfassung erheben“ kann. Das scheint ein Widerspruch zu sein. Der
Widerspruch bei Gadamer zeigt sich auch darin, daß er einerseits „die Versetzung des
Historikers in die ideele Gleichzeitigkeit mit seinem Gegenstand“ als eine
„Psychologie des Verstehens“ und als „ästhetisch“ kritisiert (WM, 236), andererseits
aber das Wunder des Lesens als „die Erzeugung und Hervorbringung der reinen
Gegenwart der Vergangenheit“ beschreibt.
Wenn die Vernunft von Gadamer selbst als eine reale geschichtliche verstanden
wird, die auch geschichtlich bedingt sein muß, wie kann sich eine solche geschichtlich
bedingte Vernunft „über die Schranken jeder gegebenen Sprachverfassung erheben“?
Stimmt es, daß alles, was sprachlich ist, tatsächlich verständlich ist? Mir scheint es
genauso zu stimmen, daß alles, was sprachlich ist, auch mißverständlich sein kann.
Sprache ist gewiß ein wichtiges Medium der Vermittlung zwischen Vergangenheit und
Gegenwart, zwischen Ich und Du, zwischen dem Denken des Einzelnen und der
Gemeinschaft. Es ist aber zu naiv zu glauben, daß durch die Hervorhebung der
Sprachlichkeit als dem universalen Medium der Traditions- und Weltvermittlung das 176 Gadamer: Ges. Werke, Bd. 2, S. 331.
113
Problem des Fremden und des Mißverstehens gelöst wird.
„Das Sein des Kunstwerks war kein Ansichsein, von dem sich seine Wiedergabe oder die Kontingenz seiner Erscheinung unterscheidet [...]. Ebenso war [...] die Bedeutung eines Ereignisses oder der Sinn eines Textes, kein fester an sich seiender Gegenstand, den es nur festzustellen gilt. Auch das historische Bewußtsein schloß in Wahrheit die Vermittlung von Vergangenheit und Gegenwart ein. Indem wir nun als das universale Medium solcher Vermittlung die Sprachlichkeit erkannten, weitete sich unsere Fragestellung von ihren konkreten Ausgangspunkten, der Kritik am ästhetischen und historischen Bewußtsein und der an ihre Stelle zu setzenden Hermeneutik, zu einer universalen Fragerichtung aus. Denn sprachlich und damit verständlich ist das menschliche Weltverhältnis schlechthin und von Grund aus. Hermeneutik ist, wie wir sahen, insofern ein universaler Aspekt der Philosophie und nicht nur die methodische Basis der sogenannten Geisteswissenschaften“ (WM, 479, Hervorhebung von mir, Chen).
Die hermeneutische Erfahrung beruht, so Gadamer, auf dem „Geschehenscharakter
der Sprache“. Es sei buchstäblich richtiger zu sagen, „daß die Sprache uns spricht, als
daß wir sie sprechen, [...] daß dieses Geschehen nicht unser Tun an der Sache,
sondern das Tun der Sache selbst ist“ (WM, 467). Nach Hans Albert bezeichnet diese
Formulierung gerade den Offenbarungscharakter des Verstehens bei Gadamer. „Das
Sein selbst meldet sich zu Wort und offenbart sich dem Verstehenden, wie früher in
der theologisch bestimmten Metaphysik Gott sich in der Natur offenbart hatte,“ so
Albert177. Insofern wird nicht nur das Sein der Kunstwerke und das der Geschichte,
sondern auch das der Sprache in ihrer Selbstdarstellung und Selbstverständlichkeit
charakterisiert.
Daß alle Auslegung wesensmäßig nur im Rahmen der Sprachlichkeit stattfindet,
garantiert nicht, daß alle Auslegung den Wahrheitsanspruch der Schrift erfüllt. Die
Sprachlichkeit kann nicht das Kriterium für die Wahrheit der Aussage und die 177 Hans Albert: Kritik der reinen Hermeneutik. Der Antirealismus und das Problem des Verstehens, Tübingen 1994, S. 72f.
114
Wahrheit der Auslegung sein. Gadamer will zwar den Unterschied von richtiger und
falscher Interpretation nicht aufgeben, jedoch führt seine Radikalisierung der
Autonomie des Textes und der Abgelöstheit vom Autor dazu, daß ihm ein
angemessenes Kriterium für die Richtigkeitsprüfung fehlt. Seine Erhebung der
Sprachlichkeit und Schriftlichkeit über die zeitlichen Grenzen widerspricht seiner
Konzeption der Geschichtlichkeit, in der das Wiedererkennen des vermeintlich
ursprünglichen, entfremdeten Sinns der Schrift unmöglich erscheint, während die
Gleichzeitigkeit und Selbstverständlichkeit der Schrift gerade für das problemlose
bzw. grenzenlose Verstehen der Überlieferung steht.
Die Frage ist nun, ob sich das „lesende Bewußtsein“, also das „mit der
geschichtlichen Überlieferung in Freiheit kommunizierende Bewußtsein“ bei
Gadamer, von der „geheimnisvollen Kommunion der Seelen“ (WM, 297) bei
Schleiermacher und Dilthey unterscheidet. Ist es nicht vielmehr so, daß an die Stelle
des Diltheyschen historischen Bewußtseins bzw. der historischen Vernunft, die die
„Souveränität eines allseitigen und unendlichen Verstehens“ (WM, 236) der
geschichtlichen Überlieferung gegenüber hat und von Gadamer kritisiert wird, nun
das zu seiner vollen Souveränität gelangte „verstehende Bewußtsein“ tritt? An die
Stelle der Vergegenwärtigung der vergangenen Schrift tritt bei Gadamer also eine
„Gleichzeitigkeit der Schrift“ mit jeder Gegenwart, die durch das Lesen die reine
Gegenwart der Vergangenheit erzeugen und hervorbringen kann. Es fragt sich, ob wir
es hier nicht auch mit einer „Ästhetisierung“, einer „undurchschaute[n]
Idealisierung“ zu tun haben.
Die Erhebung der Sprachlichkeit zum universalen Medium, die Herausarbeitung
der Schriftlichkeit mit ihrer Selbstverständlichkeit und Gleichzeitigkeit, können uns
nicht helfen, wenn der Text nicht verständlich wird oder wenn der Sinn des Textes
mehrdeutig ist. Die Behauptung, daß alles Verstehen sprachlich und alle Sprachen
115
verständlich seien, reicht nicht aus, die konkreten Verständnisschwierigkeiten sowie
den Konflikt diverser Interpretationen zu lösen. Gadamer erkennt den Anspruch auf
Richtigkeit der Interpretation zwar an (WM, 401), verwirft aber die
methodisch-orientierte technische Hermeneutik Schleiermachers und bietet keine
Antwort auf die Frage nach dem Entscheidungskriterium für die Richtigkeit des
Verständnisses oder die Wahrheit der Interpretation. Für ihn ist der Verstehensvollzug
stets „die Konkretion des Sinnes selbst“. Die ontologische Wendung Gadamers
ebenso wie jene Heideggers kann die Probleme des Fremden nicht beseitigen. Ricoeur
hat eingesehen, daß die radikale Fragestellung Heideggers die Probleme der
traditionellen Hermeneutik nicht nur ungelöst läßt, sondern sie auch aus dem
Blickfeld rückt.178 Das gleiche trifft auch auf Gadamers philosophische Hermeneutik
zu.
Weiter stellt sich die Frage, ob Gadamers Gründung des Verstehens auf die
Tradition als Quelle der Vorurteile und Vorverständnisse ebenfalls Bedingungen für
das Verstehen fremder Kulturen aufzeigen kann und ob Konzeptionen wie
Selbstverständlichkeit und Gleichzeitigkeit der Schrift die konkreten Probleme wie
den Konflikt der Interpretationen oder Verstehensschwierigkeiten auf Grund
kultureller Fremdheit und individuellen Unterschieds zu lösen vermag.
Die Fremdheit, die aufgrund des geschichtlichen und kulturellen Abstandes bzw.
der relativen Differenz zwischen Ich und Du, zwischen Eigenem und Fremdem, ferner
zwischen eigenen und fremden Kulturtraditionen entstanden und alles andere als
„selbstverständlich“ oder „unmittelbar verständlich“ ist, wird in der von Gadamer
178 Für Ricoeur werden die Probleme, wie das der Begründung der Geisteswissenschaften gegenüber den Naturwissenschaften und das des Konflikts der rivalisierenden Interpretationen, in einer Fundamentalhermeneutik „tatsächlich nicht berücksichtigt; und dies mit Absicht, denn eine solche Hermeneutik ist nicht dazu angelegt, sie zu lösen, sondern sie aufzulösen. [...] er [Heidegger] wollte uns dazu anleiten, die historische Erkenntnis dem ontologischen Verstehen unterzuordnen wie eine abgeleitete Form einer ursprünglichen.“ Paul Ricoeur: Hermeneutik und Strukturalismus. Der Konflikt der Interpretationen I, München 1973, Zit. S. 19.
116
hervorgehobenen „Selbstverständlichkeit“ der Überlieferung und „Zugehörigkeit zur
Tradition“ nivelliert und entproblematisiert. Axel Horstmann macht darauf
aufmerksam, daß das Wissen der älteren Hermeneutik Friedrich Schleiermachers und
August Boeckhs um die „kulturelle Fremdheit“ unter der Wirkung der
philosophischen Hermeneutik Gadamers und seiner Betonung des einen gemeinsamen
Überlieferungszusammenhangs, der einen gemeinsamen Tradition und der einen
gemeinsamen Geschichte in Vergessenheit geraten sei179. Tatsächlich wird das alte
Wissen der älteren Hermeneutik um die kulturelle Fremdheit unter der Wirkung der
philosophischen Hermeneutik Gadamers an den Rand gedrängt. Erst bei Betti und
Hirsch wird die Bedeutung der älteren Hermeneutik für das Verstehen von
fremdkulturellen Überlieferungen wieder ans Licht gebracht. So kommen wir zu
Hirsch.
179 Vgl. hierzu den Hinweis von Axel Horstmann in seinem Aufsatz: Interkulturelle Hermeneutik – eine neue Theorie des Verstehens?, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 47 (1999) 3, S.427-448. Horstmann ist der Ansicht, in der älteren Hermeneutik „eine ausschließlich ‚intrakulturell’ orientierte Verstehenslehre zu sehen, hieße zu verkennen, daß es die Beispieldisziplinen dieser älteren Hermeneutik und neben den genannten namentlich orientalistischen Fächern doch immer auch mit kultureller ‚Fremdheit’ zu tun hatten und daß dies seinen Niederschlag auch in der hermeneutischen Theoriebildung gefunden hat.“ Ein gutes Beispiel sei A. Boeckhs Überlegungen zum Problem der „ägyptischen Philologie“, wo nicht einmal die Sprache als solche „gegeben“ sei. (August Boeckh, Enzyklopädie und Methodenlehre der philologischen Wissenschaften, hg. v. E. Bratuscheck, 1. Hauptteil: Formale Theorie der philologischen Wissenschaft. Darmstadt 1966; Nachdruck der 2. von R. Klussmann besorgten Auflage, Leipzig 1886, 54).
117
3. Gültigkeit der Interpretation des Fremden als Thema der Hermeneutik bei
Hirsch
Das Problem des Fremden in der Hermeneutik bei Hirsch wird von vornherein im
Rahmen der Diskussion über die Möglichkeit und Notwendigkeit rekonstruktiver
Interpretation fremder Texte und fremder Kulturen aus ethischen Gründen
behandelt180. Hirsch bezieht seine hermeneutischen Überlegungen sowohl auf das
„romantische“ Ideal vom „kulturellen Pluralismus“ („cultural pluralism“) als Sinn und
Aufgabe der geisteswissenschaftlichen Forschung zurück, das von Herder,
Schleiermacher und Ranke repräsentiert wird, als auch auf die erkenntnistheoretische
und methodologische Reflexion über die Grundlage der Geisteswissenschaften bei
Dilthey und auf die Hervorhebung der schriftlichen Lebensäußerungen als „fremdem
Gedankengut“ bei Betti 181 . Ähnlich wie Schleiermacher (der Individualität zum
Repräsentanten der menschheitlichen Idee erklärt) und Dilthey (für den fremde
Personen und ihre schriftlich fixierten Lebensäußerungen Gegenstände
geisteswissenschaftlicher Forschung waren) hat Betti die Bedeutung der Hermeneutik
aus dem Verhältnis des Interpreten zu seinen Mitmenschen heraus betrachtet, indem er 180 Vgl. dazu Gelders Untersuchung über die „ethische Begründung“ der Wissenschaftlichkeit der Literaturwissenschaft bei Hirsch. Kathrin Gelder: Zur Wissenschaftlichkeit der Literaturwissenschaft. Rekonstruktion und kritische Evaluation der Interpretationstheorie von Eric Donald Hirsch, Frankfurt a. M./Bern/New York 1985, s. bes. S. 25-61. Es ist gewiß einer der wichtigsten Ansatzpunkte von Hirsch, „die Unvermeidbarkeit ethischer Entscheidungen bei der Bestimmung von Zielsetzungen und Normen in der Literaturwissenschaft“ hervorzuheben, wie Gelder mit Recht herausgestellt hat. Dennoch, der Intention Hirschs nach trifft die ethische Begründung der Wissenschaftlichkeit nicht nur auf die Zielsetzungen und Normen in der Literaturwissenschaft zu, sondern auf alle Aufgabenbestimmungen der Geisteswissenschaften, da er seine Theorie als einen Beitrag zur allgemeinen Hermeneutik sieht und die ethische Dimension der Hermeneutik hervorzuheben versucht. 181 Nach Betti ist der Interpret dazu berufen: „das fremde Gedankengut in sich nachzubilden und von innen her, als etwas Eigenwerdendes nachzuerzeugen, und trotzdem, obwohl es sein eigen wird, soll er es sich gleichwohl als ein Anderssein, als etwas Objektives und Fremdes gegenüberstellen. Es befinden sich somit im Widerstreit, einerseits die von der Spontanietät des Verstehens nicht zu trennende Subjektivität und andererseits die Objektivität, die Fremdheit des zu ermittelnden Sinnes. Es wird gleich einleuchten, wie aus dieser Antinomie die ganze Dialektik des Auslegungsprozesses herfließt und auf ihr eine allgemeine Theorie der Auslegung aufgebaut werden kann, wie sich übrigens aus der Antinomie zwischen Fürsichsein des Subjekts und dem Andersseins des Objekts die Dialektik jedes Erkenntnisprozesses entwickelt.“ Emilio Betti: Hermeneutik als allgemeine Methodik der Geisteswissenschaften, Tübingen 1962, S. 7.
118
sagt: „Nichts liegt dem Menschen so sehr am Herzen, als sich mit seinen
Mitmenschen zu verstehen. [...] alles was von fremdem Geist an den unsrigen
herantritt, richtet eine Anforderung an unser Verständnisvermögen in der Erwartung
erschlossen zu werde.“182 Es wird sich zeigen, daß Hirsch solche Ansichten von Betti
teilt, die wiederum auf die hermeneutischen Konzeptionen von Schleiermacher und
Dilthey zurückgeführt werden können. Insofern kann die Konzeption der
Interpretation in der Tradition der Schleiermacherschen Hermeneutik als ein
erkennendes Verhalten zum fremden Leben betrachtet werden, das eben die ethische
Dimension der Hermeneutik ausmacht, wie wir sehen werden.
Hirsch versteht sein Buch Validity in Interpretation 183 als einen Beitrag zur
allgemeinen Hermeneutik mit besonderem Augenmerk auf dem Problem der
Gültigkeit184 („the problem of validity“), weil ihm dieser Aspekt vernachlässigt zu
werden erscheint: „the very concept of absolute valid interpretation has come to be
regarded with profound scepticism“ (VI, viii). Daher kündigt Hirsch im Vorwort von
Validity seine Grundposition an:
182 Bettis Anliegen war es, „die Idee der Hermeneutik als einer allgemeinen Methodik der Geisteswissenschaften zu umreißen; dabei einen Beitrag zum Unterschied von Auslegung und Sinngebung zu liefern, um die Objektivität der Ergebnisse des Auslegungsprozesses gegenüber neueren Anfechtungen zu verteidigen.“ Emilio Betti: a. a. O., S. 13. 183 Eric Donald Hirsch: Validity in Interpretation, New Haven, London 1967. Im Text als VI mit Seitenzahl zitiert (= VI). Deutsche Übersetztung: Prinzipien der Interpretation, übersetzt v. Adelaide Anne Späth, München 1972. Im Text als PI mit Seitenzahl zitiert (= PI). Wo mir die englischen Ausdrücke wichtig sind, zitiere ich die Originalausgabe, sonst die deutsche Übersetzung. 184 Das engliche Wort „valid“ bei Hirsch bedeutet nicht ohne weiteres „richtig“, wie Späth übersetzt hat. Vgl. die deutsche Übersetzung von Späth. Wir übersetzen „valid interpretation“ mit „gültige Interpretation“ statt „richtige Interpretation“, um der Flexibilität der Hirschschen Argumentation zu entsprechen. „Valid“ bedeutet vielmehr „gültig“ im weiteren Sinne des Wortes. Denn es geht bei ihm nicht um die Behauptung der absoluten Richtigkeit oder der Gewißheit der Interpretation, wie Madison ihm zu Unrecht vorwirft, sondern lediglich um die Begründung der Möglichkeit allgemeingültiger Interpretation („objective valid interpretation“). Madisons Kritik an Hirschs Begriff der ‚Richtigkeit’ ist nicht ohne Mißverständnis des Wortes „validity“ geübt worden und weicht ziemlich stark von dem von Hirsch gemeinten Sinn ab. Das ist eben ein Beispiel für das Problem der Interpretation, das Hirsch in seiner Theorie zu lösen sucht. Siehe G. B. Madison: Eine Kritik an Hirschs Begriff der ‚Richtigkeit’, in: Die Hermeneutik und die Wissenschaft, hg. von H.-G. Gadamer u. G. Bohem, Frankfurt a. M. 1978, S. 393-425.
119
„The theoretical aim of a genuine discipline, scientific or humanistic, is the attainment of truth, and its practical aim is agreement that truth has probably been achieved. Thus the practical goal of every genuine discipline is consensus – the winning of firmly grounded agreement that one set of conclusion is more probable than others – and this is precisely the goal of valid interpretation” (VI, viiif).
Demnach ist das theoretische Ziel einer wissenschaftlichen Disziplin die Gewinnung
von Wahrheit, und das praktische Ziel ist die Übereinstimmung darüber, daß Wahrheit
wahrscheinlich erreicht wurde. Folglich ist es das praktische Ziel jeder echten
Wissenschaft, einen Konsens, also eine fest begründete Übereinstimmung darüber zu
erreichen, daß eine Gruppe von Schlußfolgerungen wahrscheinlicher ist als die andere,
„und genau dies ist das Ziel der gültigen Interpretation.“ Insofern ist es das
Hauptanliegen der Hermeneutik von Hirsch, die Notwendigkeit sowie die Möglichkeit
rekognitiver Interpretation („re-cognitive interpretation“)185 von fremden Texten und
fremden Kulturüberlieferungen zu begründen und die Prinzipien für objektiv gültige
Interpretationen herauszustellen.
Die Frage ist nun, wie läßt sich ein Konsens in der Interpretation gewinnen?
Welche Normen der Interpretation lassen sich als wissenschaftlich sinnvoll
herausstellen? Ist objektives Verstehen und Interpretieren von Fremdem überhaupt
möglich? Wie läßt sich „Objektivität“ in der Hermeneutik als sinnvoller
wissenschaftlicher Anspruch begründen? Im folgenden soll zunächst darauf
eingegangen werden, wie und aus welchem Grund Hirsch für die Notwendigkeit und
185 Hirsch bezieht sich hier auf namentlich Emilio Bettis Begriff der „rekognitiven Interpretation“. Siehe Emilio Betti: Teoria generale della interpretazione, 2 Bde, Milan 1955, Bd. 1, S. 343-432. Für Betti ist der Auslegungsprozeß „überhaupt dazu bestimmt, das epistemologische Problem des Verstehens zu lösen. [...] Hier ist also das Verstehen ein Wiedererkennen und Nachkonstruieren des Sinnes, mithin des durch die Formen seiner Objektivation zum denkenden Geiste sprechenden Geistes, der sich jenem in gemeinsamen Menschentum verwandt fühlt.“ In: ders.: Zur Grundlegung einer allgemeinen Auslegungslehre: ein hermeneutisches Manifest, in: Festschrift für Ernst Rabel (1954) II, S. 70-168, S. 91ff.; vgl. ders.: Hermeneutik als allgemeine Methodik der Geisteswissenschaften, Tübingen 1962. Der Begriff der „rekognitiven Interpretation“ evoziert natürlich den Verstehensbegriff von August Boeckh: „Erkenntnis des Erkannten“.
120
die Möglichkeit objektiv gültiger Interpretation fremder Texte und fremder
Kulturtraditionen argumentiert, um danach die rekognitive Interpretation als ein
Modell für das Verstehen fremder Texte und fremder Kulturen bei ihm genauer
aufzuzeigen.
3.1. Ethische Begründung der Notwendigkeit rekognitiver Interpretation
An Diltheys Bestimmung der Aufgabe der Hermeneutik anknüpfend, die „die
Allgemeingültigkeit der Interpretation theoretisch begründen [soll], auf welcher alle
Sicherheit der Geschichte beruht“186, versucht Hirsch die Notwendigkeit historischer
Rekonstruktion als objektiv gültige Interpretation aus ethischer Perspektive zu
begründen, die er am Leitfaden der Geschichte des Interpretationsstreits zwischen
anachronistischer und historischer Interpretation entfaltet. Die Möglichkeit zur
rekonstruktiven Interpretation als objektiv gültiger Interpretation fremder Texte und
fremder Kulturen wird anhand der Einbeziehung der Autorintention als der formalen
Bedingung gültiger Interpretation innerhalb der Möglichkeit sprachlicher Normen
begründet. Hirsch versteht seine gesamte hermeneutische Konzeption als einen
Versuch, die Diltheyschen Konzeptionen wie „Sichhineinfühlen“ und „Verstehen“ mit
Hilfe der Husserlschen Erkenntnistheorie und der Sprachtheorien von Saussure und
Wittgenstein zu begründen.187
186 Dilthey: Die Entstehung der Hermeneutik, Ges. Schriften, Bd. V, S. 331. 187 Hirsch: Validity, S. 242, Anmerkung.
121
3.1.1. Das Wesen des Textes und der Konflikt der Interpretationen
Im Gegensatz zu Gadamers Betonung der Selbstverständlichkeit der
Überlieferung, die zu uns spreche, geht Hirsch vom Konflikt der Interpretationen aus,
welcher den praktischen Problembereich der Hermeneutik darstellt und der auf den
Text bezogen werden muß. Im Hinblick auf das Wesen des Textes geht Hirsch wie
Gadamer davon aus, daß ein Text erst einen Sinn hat, nachdem er rekonstruiert bzw.
interpretiert worden ist. Nach Gadamer stellt sich der Begriff des Textes „nur im
Zusammenhang der Interpretation und von ihr aus als das eigentlich Gegebene, zu
Verstehende“ dar.188 Ähnlich klingt es bei Hirsch, wenn er sagt: “the nature of a text is
to have no meaning except that which an interpreter wills into existence.“189 Im
Grunde genommen sind beide der gleichen Meinung, nämlich, daß der Text erst einen
Sinn hat, nachdem der Interpret diesen in seiner Interpretation konstruiert hat, aber
eben nur im Hinblick auf das Wesen des Textes und der Interpretation. Denn was sie
unter dem Sinn des Textes verstehen, ist wohl ganz verschieden. Dies führt dazu, daß
beide ganz unterschiedliche hermeneutische Forderungen formulieren.
Da „the nature of a text is to mean whatever we construe it to mean,“ und „the
nature of interpretation is to construe from a sign-system (for short, ‘text’) something
more than its physical presence,” brauchen wir, so Hirsch, eine Norm. Und die
Theorie der Interpretation soll normative Kriterien für die Unterscheidung zwischen
guter und schlechter, legitimer und illegitimer Interpretation eines Textes anbieten.
Hier geht es Hirsch nicht darum, Normen für die literarischen Qualitäten oder für die
Beurteilung der Wahrheit eines Textes, sondern Normen für die Gültigkeit der
Interpretation eines Textes herauszustellen, die auf die Rekonstruktion des originären
188 Gadamer: Text und Interpretation, Ges. Werke Bd. 2, S. 340. 189 E.D.Hirsch: The Aims of Interpretation, Chicago and London 1976, S. 75. Weiter im Text als AI mit Seitenzahl zitiert (= AI).
122
Textsinns abzielt190. Dennoch ist Hirsch bewußt, daß die Theorie allein das Wesen der
Interpretation nicht ändern kann. Denn ontologisch gesehen sind alle Interpretationen
gleich wahr („ontologically equal“), sie sind alle „equally real“ (AI, 76).
Im Gegensatz zu Gadamer, der die Möglichkeit und Notwendigkeit der
Übereinstimmung des gegenwärtigen Sinnes mit dem ursprünglichen Sinn des Textes
bestreitet und die Autonomie des Textes aufgrund der Abgelöstheit des Textsinns von
seinem Verfasser gegenüber der gegenwärtigen Situation des Interpreten am Beispiel
der Literatur, der Gesetze und der Heiligen Schriften betont, geht Hirsch davon aus,
daß die Hermeneutik „die Rekonstruktion der Ziele und der Einstellungen des Autors
betonen muß, um die Anweisungen und Normen für die Konstruktion des Textsinns
ableiten zu können“ (VI, 224, Übersetzung von mir).
Als ersten Schritt versucht Hirsch das Recht des Autors zu rehabilitieren, das durch
die Verbannung des Autors in der Literaturtheorie191 und in der philosophischen
190 Dieser Punkt wurde häufig von Literaturkritikern übersehen. Christopher E. Arthur zum Beispiel will aus der Interpretationstheorie die Normen für die Bewertung literarischer Qualität erstellen, indem er die Hermeneutik von Gadamer und Hirsch am Maßstab der kanonischen Werke mißt, die aber nicht die Aufgabenbestimmung der Interpretationstheorie von Gadamer und Hirsch betrifft. „Neither quite explains what prior expectations bring him to literature in the first place, nor why he finds a particular work worthy of exegesis.” Christopher E. Arthur, Gadamer and Hirsch: The canonical Work and the Interpreter’s Intention. In: Cultural Hermeneutics 4 (1977) 183-197, S. 184. Arthurs Kritik an Gadamer und Hirsch trifft nicht zu, wenn man den Sinn des Verstehens bei Gadamer und Hirsch mitbetrachtet. Für Gadamer liegt der Sinn des Verstehens in der totalen Vermittlung von Wahrheit und Geschichte. Bei Hirsch bedeutet Textinterpretation eine Erweiterung eigener Horizonte und Vermittlung der verschiedenen Ideen zwischen den Menschen und Kulturen. Arthurs Kritik trifft auf Hirsch besonders deshalb nicht zu, weil seine Frage eine Bewertung eines Werkes vor der Interpretation implizit vorausgesetzt hat, was aber widersinnig erscheint. Wie kann man wissen, ob ein Werk interpretationswürdig oder –bedürftig ist, ohne es zuerst zu verstehen zu suchen? Arthurs Frage scheint eine Verwechselung der Aufgabe der Hermeneutik (bzw. des Verstehens) mit der der Kritik (bzw. der Bewertung, Beurteilung) zu beinhalten. Die Literaturtheorie bzw. –kritik behandelt die Frage nach den Werten und Kriterien für die Beurteilung der literarischen Qualität verschiedener Schriften, während es bei der Hermeneutik um die Frage danach geht, wie fremde Rede, vor allem fremder Text, interpretiert werden kann und soll. Beide haben mit Textinterpretation zu tun. Die Aufgabe der allgemeinen Hermeneutik besteht jedoch hauptsächlich darin, Prinzipien allgemeingültiger Interpretation herauszustellen, und dient als Grundlage der Kritik. 191 Zur Interpretationskritik in den Literaturtheorien siehe die Untersuchungen von Axel Spree: Kritik der Interpretation. Analytische Untersuchungen zu interpretationskritischen Literaturtheorien, Paderborn/ München 1995. Bezüglich der Verbannung des Autors hat Spree auf Roland Barthes‘ These vom „Tod des Autors“ als Grundbegriff der Literaturkritik hingewiesen. Hier S. 155f. In der Hermeneutik hat diese Situation mit der „Schwäche der Schrift“ zu tun, auf die sich Gadamer besonders berufen hat. Hirsch erkennt dies als das Wesen des Textes und den Grund der Konflikte der Interpretation.
123
Hermeneutik Gadamers zu verschwinden droht. Er meint, die von T. S. Eliot und
seinen Verbündeten angeführte These, daß die Bedeutung des Textes unabhängig vom
Willen des Autors sei, wurde mit der Literaturtheorie verbunden, „daß die beste
Dichtung unpersönlich, objektiv und autonom sei, daß sie ihr eigenes Leben führe,
völlig abgeschnitten von dem ihres Schöpfers“ (PI, 15). „Dieser gleiche Gedanke der
semantischen Autonomie“ wurde später dann „aus anderen Gründen“ auch „von
Heidegger und seinen Anhängern vorgetragen,“ so Hirsch. Der Grund liegt Hirsch
zufolge darin, daß die Theorie von der Unwichtigkeit des Autors sich äußerst günstig
auf Literaturkritik und philologische Gelehrsamkeit auswirkte, weil sie das Zentrum
der Untersuchung vom Autor auf sein Werk verlagerte (PI, 16). Aber indem man den
Autor als den Bestimmenden für den Sinn seines Textes dermaßen verbannte, blieb
kein eindeutiges Kriterium mehr für die Gültigkeit einer Interpretation, weil
“interpreters can and do disagree” (VI, 4).
Hirsch ist der Meinung, daß die Theorien der semantischen Autonomie solche
Konflikte in der Interpretation nicht lösen können, weil sie die Tatsache ignorieren,
daß Sinn im Bewußtsein entsteht: „meaning is an affair of consciousness not of
words“ (VI, 4). „Whenever meaning is connected to words, a person is making the
connection, and the particular meanings he lends to them are never the only legitimate
ones under the norms and conventions of his language,” erklärt Hirsch (VI, 4). Es gibt
innerhalb der Normen und der Konventionen der Sprache neben dem durch den Autor
intendierten Sinn noch mehrere mögliche Wortsinne und Textsinne. Daher können die
Textsinne, die die Leser bzw. der Interpret konstruieren, „entweder vom Autor und
Leser geteilt werden oder nur zu dem Leser allein gehören,“ so Hirsch (VI, 23).
Folglich muß die Frage nach der Norm der Interpretation nicht im Hinblick auf das
Wesen des Textes, sondern auf die Zielsetzung der Interpretation selbst gestellt
werden. Daher konstatiert Hirsch:
124
„Any normative concept in interpretation implies a choice that is required not by the nature of written texts but rather by the goal that the interpret sets himself. […] [T]he object of Interpretation is no automatic given, but a task that the interpreter sets himself. He decides what he wants to actualize and what purpose his actualization should achieve” (VI, 24f, Hervorheb. im Orig.).
Die Norm der Interpretation ist hier mit der Zielsetzung der Interpretation verbunden,
die der Interpret sich gestellt hat. Da aber die Entscheidung für die Norm der
Interpretation als Zielsetzung bzw. Aufgabenbestimmung der Interpretation Hirschs
Auffassung nach “a free social and ethical act” (VI, 26) ist, kann jeder Leser oder
Interpret in der Tat für sich beliebig entscheiden, was für eine Norm er für seine
Interpretation eines Textes aufnehmen oder ablehnen möchte. Aber „indem man seine
Interpretation für gültig behauptet,“ sagt Hirsch, „so wird man unmittelbar im Netz
der logischen Notwendigkeit gefangen“ (VI, 26, vgl. PI, 46).
Der Grund für die Notwendigkeit einer Norm für die gültige Interpretation liegt
ganz einfach darin, daß immer dann, wenn die Gültigkeit bzw. Richtigkeit der eigenen
Interpretation behauptet wird, notwendigerweise ein Kriterium dafür befragt werden
muß. Ohne ein solches Kriterium wären alle Interpretationen gleich gültig. Wenn alle
Interpretationen schlechthin gleich gültig wären, dann wäre es eben gleichgültig, ob
es sich um eine wissenschaftlich begründete Interpretation oder aber nur um eine
private persönliche Erfahrung des Lesens von Texte handelt. Daher ist die
Herausstellung der Normen Hirschs Meinung nach erforderlich, „um die guten von
den schlechten, die legitimen von den illegitimen Interpretationen unterscheiden zu
können, auch wenn Theorie allein die Natur der Interpretation nicht ändern kann“ (VI,
26). Das einzig überzeugende normative Prinzip der Interpretation für Hirsch ist dann
das alte Ideal der Wiederherstellung des vom Autor gemeinten Sinns des Textes („the
old-fashioned ideal of rightly understanding what the author meant”). Hirschs
125
Argument beruht folglich nicht auf den starken moralischen Argumenten für die
wiedererkennende Interpretation, sondern auf der Tatsache, „daß sie die einzige
Interpretation ist, die ein determiniertes Ziel besitzt und folglich auch die einzige, die
den Anspruch erheben kann, zu gültigen Ergebnissen in einer normalen und
praktischen Sinn des Wortes zu führen“ (PI, 46).
Demnach wird der vom Autor gemeinte Textsinn mit dem Sinn des Textes
gleichgesetzt. Was der Text bedeutet ist das, was der Autor damit sagen will. Insofern
kann Hirschs Hermeneutik als eine Erneuerung der hermeneutischen Konzeptionen
von Schleiermacher, Boeckh und Dilthey betrachtet werden, indem das alte Ideal der
Rekonstruktion des vom Autor gemeinten Textsinns als das normative Prinzip der
Hermeneutik von ihm rehabilitiert und die Möglichkeit objektiv gültiger
Interpretation erneut begründet wird.
Daß Hirsch hier die Mannigfaltigkeit und die Unkontrollierbarkeit der
Interpretation im Hinblick auf das Wesen des Textes und die freie Wahl der
Zielsetzung der Interpretation einsieht, ist deutlich. Es ist auch der Grund dafür, daß
er versucht, den Sinn des Textes durch das Einbeziehen der Autorintention zu
bestimmen und die Möglichkeit der Interpretation dadurch zu beschränken. Aber die
Möglichkeit, die Interpretationen beschränken und unterscheiden zu können, ist nur
ein Grund für die Bestimmung des Textsinns durch den Autor. Es gibt einen noch
wichtigeren Grund bei Hirsch, den Sinn des Textes als „what the author meant“ zu
definieren, nämlich den Sinn der Textinterpretation.
Der Hauptgrund für die Beschäftigung mit Texten, besonders mit alten, liegt
Hirschs Auffassung nach darin, daß dadurch der eigene Horizont erweitert werden
kann, indem man sich die immensen Möglichkeiten menschlichen Tuns und Denkens
erschließt, d.h. indem man sieht und fühlt, was andere gesehen und gefühlt haben, und
weiß, was sie wußten:
126
„the main reason for studying texts, particularly old ones, is to expand the mind by introducing it to the immense possibilities in human actions and thoughts – to see and feel what other men have seen and felt, to know what they have known. Furthermore, none of these expansive benefits comes to the man who simply discovers his own meanings in someone else’s text and who, instead of encountering another person, merely encounters himself “ (VI, 25).
Der Text bedeutet für Hirsch wie für Schleiermacher, Dilthey und Betti die
Artikulation und Objektivierung der Lebenserfahrungen sowie der Gedanken eines
Autors. Das Verstehen und Interpretieren von Texten bedeutet für Hirsch wie für
Dilthey das Sichhineinfühlen bzw. das Nacherleben fremder Lebensäußerungen.
Interpretation ist Nachkonstruktion und Nacherleben des von dem Anderen Erlebten
bzw. Gewußten im Diltheyschen Sinne. Einen Text interpretieren heißt dann, nicht nur
die Gedanken und die Lebenserfahrungen des Autors nachzuvollziehen, sondern dies
auch den anderen Lesern zu vermitteln. Daher ist der Interpret bei Hirsch mehr als ein
Leser. Seine Aufgabe ist über ein bloßes Verständnis hinaus die Rekonstruktion und
das „Verständlichmachen“192. Folglich hat der Interpret die Aufgabe, den Sinn des
Textes, den der Autor durch den Text objektiviert hat, in seiner Interpretation
nachzukonstruieren und den anderen Lesern zu vermitteln bzw. verständlich zu
machen. Daher sagt Hirsch:
„The interpreter’s primary task is to reproduce in himself the author’s ‚logic’, his attitudes, his cultural givens, in short, his world. Even though the process of verification is highly complex and difficult, the ultimate verificative principle is very simple – the imaginative reconstruction of the speaking subject” (VI, 242).
Die primäre Aufgabe des Interpreten ist es dann, die Logik, die Einstellungen, die 192 Das Verständlichmachen als wichtige Aufgabe geisteswissenschaftlicher Interpretation wurde bei Gadamer durchaus außer Acht gelassen und von Frithjof Rodi im Hinblick auf das Problem des Nichtselbstverständlichen und Problematischen besonders hervorgehoben. Dazu Frithjof Rodi: Über einige Grundbegriffe einer Philosophie der Geisteswissenschaften, in: Dilthey-Jahrbuch für Philosophie und Geschichte der Geisteswissenschaften, hg. v. F. Rodi, Bd. 1/1983, S. 13-38.
127
kulturellen Besonderheiten, also die Welt des Autors zu rekonstruieren. Es ist eine
imaginäre Rekonstruktion des sprechenden Subjekts. Insofern hat die Rekonstruktion
des ursprünglich vom Autor gemeinten Sinns des Textes als Aufgabe der
Interpretation den Vorrang.
3.1.2. Ethische Dimension der Interpretation von kulturell Fremdem
Als erster der Gegenwartswissenschaftler hat Hirsch die ethische Dimension der
allgemeinen Hermeneutik Schleiermachers hervorgehoben193. Hirsch weist in dem
Aufsatz Three Dimensions of Hermeneutics194 darauf hin, daß es eine Verwechselung
von drei verschiedenen Dimensionen der Interpretation in den Diskussionen über
Hermeneutik gibt, die für den Streit zwischen verschiedenen Interpretationstheorien
verantwortlich ist. Hirsch meint, man sollte die deskriptive, die normative und die
metaphysische Dimension der Hermeneutik voneinander unterscheiden, welche auf
jeweils verschiedene Ausrichtungen der Interpretationstheorien verweisen. Die
deskriptive Hermeneutik behandelt hauptsächlich eine Analyse des üblichen
Verfahrens und des Wesens der Interpretation, während es bei der normativen
Hermeneutik um die Zielsetzung und Aufgabenbestimmung der Interpretation geht.
Unter metaphysischer Hermeneutik versteht Hirsch die hermeneutische Philosophie
der Heidegger-Schule, die durch ihren historischen Skeptizismus im Geschäft der
Interpretation einen Verlust von Orientierungsvermögen hervorbringen kann.
Als Beispiel für die normative Dimension der Interpretation wählt Hirsch den Streit
zwischen der anachronistischen bzw. allegorischen und historischen
193 Vgl. den Hinweis von Scholtz. Nach Scholtz ist Hirsch als der erste, der die ethische Dimension der Hermeneutik bei Schleiermacher nachweist. Gunter Scholtz: Ethik und Hermeneutik, Frankfurt a. M. 1995, S. 144. 194 Eric Donald Hirsch: Three Dimensions of Hermeneutics, in: New Literary History, III (1972) 2, S. 245-262, auch in: ders.: The Aims of Interpretation, a. a. O., S. 74-92.
128
Interpretationstheorie, die sich über „die beste Interpretation“ streiten und die seiner
Meinung nach aus ethischen Motiven entstanden sind. Hirschs Beispiele hierfür sind
die mittelalterliche Exegese und der hermeneutische Kanon der Interpretation von
Schleiermacher. Für die Interpreten des Mittelalters war die christliche Allegorese von
Texten Homers und Virgils als anachronistische Interpretation besser als die
historische Rekonstruktion des originären, nicht-christlichen Sinns. Durch den
Schleiermacherschen Kanon, daß „alles was noch einer näheren Bestimmung bedarf
in einer gegebene Rede, nur aus dem dem Verfasser und seinem ursprünglichen
Publikum gemeinsamen Sprachgebiet bestimmt werden“ 195 darf, wurden solche
anachronistischen Allegorien jedoch illegitim, da Homer und Virgil eben nicht
christlich waren und die christliche Bedeutung nicht intendiert haben könnten. Daß
aber ein antiker Text im Mittelalter als christliche Allegorie interpretiert worden war,
zeigt wiederum, daß er eben so interpretiert werden kann. Insofern ist das
mittelalterliche Prinzip logisch gesehen stärker als der Kanon von Schleiermacher,
denn: „the nature of a text is to mean whatever we construe it to mean“ (AI, 75).
Das bedeutet aber, daß Schleiermachers Bevorzugung der Rekonstruktion des
originären Sinns als Aufgabe der Interpretation weder von der empirischen
Wirklichkeit noch von der theoretischen bzw. logischen Notwendigkeit, sondern von
einer ethischen Entscheidung her zu erklären ist, welche auf einem Wert-Vorrang
(„value-preference“) beruht. „His preference for original meaning over anachronistic
meaning is ultimately an ethical choice,” behauptet Hirsch (AI, 77). Ein solcher
hermeneutischer Kanon enthält die normative Dimension der Interpretation und stellt
eben die ethische Dimension der Hermeneutik dar. Der Grund für die Bevorzugung
des originären Sinns durch einen Humanisten der Renaissance oder einen Romantiker
wie Schleiermacher liegt Hirschs Meinung nach in folgender Annahme: „every 195 Schleiermacher: Hermeneutik, hg. v. Heinz Kimmerle, Heidelberg 1959, S.90.
129
culture has infinite value in its own right; each culture is a note in the divine
symphony, as Herder rhapsodize; or as Ranke preached, every age is immediate to
God“ (AI, 78). Jede Zeitepoche, jede Nation und jede Kultur soll in ihrer
Individualität, in ihrer Einzigartigkeit begriffen und verstanden werden, weil jede
Zeitepoche und jede Kultur ihre eigenen Werte in sich enthält.196 Dies sind eben die
Grundideen des „älteren Historismus“197 aus dem 18. Jahrhundert. Nach Hirsch
beginnt der Historismus mit dem Glauben an eine göttliche Gegebenheit der Kulturen,
„with the belief that all human cultures were immediate to God; that was its root
concept in its inaugural years from Herder to Ranke. Every cultural era was, to use
Herder’s metaphor, another melody in the divine symphony, and every melody had its
own divine individuality.” Dieser Historismus bestehe auf dem Eigenwert der
Kulturen: “every culture was worth knowing for its own sake, as ‘it really was’” (VI,
40f). Die Individualität, die Einzigartigkeit und der Eigenwert aller Zeitepochen und
jeder Kultur war der Ansatzpunkt der Hermeneutik der Romantik und des historischen
Bewußtseins am Ende des 18. und im 19. Jahrhundert. Die Forderung nach
196 Zur Kulturphilosophie und Geschichtsphilosophie Herders siehe: Johann Gottfried Herder. Geschichte und Kultur. Hg. von Martin Bollacher, Würzburg 1994; Nationen und Kulturen. Zum 250. Geburtstag Johann Gottfried Herders. Hg. von Regine Otto, Würzburg 1996, und weitere Literatur dort. 197 Über den Begriff des »Historismus« und seinen geschichtlichen Wandel siehe die einschlägige Untersuchungen von Gunter Scholtz: Das Historismusproblem und die Geisteswissenschaften im 20. Jahrhundert, in: ders.: Zwischen Wissenschaftsanspruch und Orientierungsbedürfnis. Zur Grundlage und Wandel der Geisteswissenschaften , Frankfurt a. M. 1991, S. 130-157, und weitere Literatur dort. Unter dem Begriff des Historismus sind nach Scholtzs Untersuchung fünf Grundbedeutungen zu unterscheiden: 1. universelle geschichtliche Betrachtung, 2. Geschichtsmetaphysik, 3. Romantizismus und Traditionalismus, 4. Objektivismus und Positivismus, 5. Relativismus. Der ältere Historismus bezieht sich hier auf die 1. und 2. Bedeutung, für welche die ganze Geschichte der Menschheit vernünftig und göttlich sei. Der Historismus bedeutet hier „die Ausweitung der geschichtlichen, genetischen Betrachtungsweise auf alle Phänomene der Kultur, also universelle geschichtliche Betrachtung der menschlichen Welt, die dadurch als geschichtliche, als geschichtsbestimmte Welt in den Blick kommt.“ Unter den Vertretern des älteren Historismus werden W. von Humboldt und J. G. Droysen eingeordnet. Nach Scholtz bilden historischer Positivismus und Relativismus die beiden Seiten des Historismusproblems der Gegenwart. Mehr dazu, ders.: Zum Historismusstreit in der Hermeneutik, in: Historismus am Ende des 20. Jahrhunderts, hg. v. G. Scholtz, Berlin 1997, S. 192-214; Ernst Troeltsch: Der Historismus und seine Probleme. Das logische Problem der Geschichtsphilosophie, Aalen 1977 (2. Neudruck der Ausg. Tübingen 1922); Friedrich Meinecke: Die Entstehung des Historismus, Werke Bd. 3, hg. u. eingeleit. v. Carl Hinrichs, München 1965; ders.: Zur Entstehungsgeschichte des Historismus und des Schleiermacherschen Individualitätsgedankens. Werke, Bd. 4, Stuttgart 1959, S. 341-357.
130
Perspektivenerweiterung und Erfahrungsgewinnung durch die hermeneutische Praxis
und durch Aneignung fremder Sichtweisen gehört eben dem Ideal des älteren
Historismus an198. Gegenwärtige Diskussionen über die Möglichkeit‚ interkultureller
Vermittlung’ der Kulturverständnisse könnten auf das romantische Ideal des
kulturellen Pluralismus zurückgeführt werden199.
Dennoch, dieses romantische Ideal des kulturellen Pluralismus und der damit
verbundene wissenschaftliche Anspruch auf eine Objektivität des Verstehens und
Interpretierens gegenüber vergangenen Zeitepochen und fremden Kulturen wurde
zum Beginn des 20. Jahrhunderts von Vertretern des »radikalen Historismus« von
verschiedenen Seiten her in Frage gestellt. Die Betonung der Individualität
verschiedener Kulturen wurde Hirschs Ansicht nach später zum Anlaß, eine
unüberbrückbare Kluft zwischen den Kulturen zu sehen. “The earlier emphasis on
individuality which had given significance to the study of other cultures in their own
right became, by one or two turns of the Hegelian gyre, an emphasis on the
impossibility of studying other cultures in their own right,“ so Hirsch in einem
Hinweis auf den Wandel des Historismus zum radikalen Historismus (VI, 41).
Die Ursache dieses Wandels sieht Hirsch vor allem in der Idee der
„Geschichtlichkeit“ 200 , die als eine Art Bedingtheit des Menschen durch die
Geschichte in Diltheys Konzeption des historischen Bewußtseins201 auftaucht, die
198 Vgl. dazu Gunter Scholtz: Historismus und Wahrheit in der Wissenschaftstheorie, in: ders.: Zwischen Wissenschaftsanspruch und Orientierungsbedürfnis, a. a. O., S. 158-200, hier S. 176. 199 Nach Bollacher kannte Herder zwar den Begriff der ‚interkulturellen’ Vermittlung noch nicht, „orientierte sich aber in seinem Denken und Schreiben an einem Kulturverständnis, das das eigene Volk wie die Völker dieser Erde sowohl in ihrem individuellen Soseins als auch in ihrem unlösbaren gegenseitigen Verflochtensein zu würdigen wußte.“ Martin Bollacher (Hg.): Johann Gottfried Herder. Geschichte und Kultur, Würzburg 1994, Vorwort. 200 Über den Wandel und die damit verbundenen Problematik des Geschichtlichkeitsbegriffs siehe die Untersuchung von Ludwig von Renthe-Fink: Geschichtlichkeit. Ihr terminologischer und begrifflicher Ursprung bei Hegel, Haym, Dilthey und York, Göttingen 1968, und die Abhandlung von Gerhard Bauer, »Geschichtlichkeit«. Wege und Irrwege eines Begriffs, Berlin 1963. 201 Hirsch bezieht sich hier auf den Satz von Dilthey: „denn man stösst hier eben an die Geschichtlichkeit des menschlichen Bewusstseins als eine Grundeigenschaft desselben“, aus den Gesammelten Schriften, Bd. VIII , hg. v. Georg Misch, S. 38. Es ist zu bemerken, daß der Begriff der
131
aber schon bei Herder202 angelegt und später von Heidegger203 radikalisiert wurde:
„From Dilthey’s conception that human consciousness was constituted by its historical givens – an idea that was implicit in Herder – it was not a very long step to Heidegger’s conception of the temporality and historicity of human being” (ebd.).
Nach Hirsch gehören der Pragmatismus der Jurisprudenz, die Bultmann-Nachfolger in
der Theologie sowie die Literaturtheorie der semantischen Autonomie, vor allem aber
die Hermeneutik von Heidegger und Gadamer zum radikalen Historismus, welcher
das Geschäft der wiedererkennenden Interpretation durch die Behauptung bedrohe,
daß die Vergangenheit uns wesentlich fremd wurde, so daß wir keinen authentischen
Zugang mehr zu ihr haben und den Sinn älterer Texte nicht, wie er wirklich war,
verstehen können (VI, 40). Solche Betonung von radikaler Differenz der Kulturen und
der Zeitepochen neigt Hirschs Meinung nach dazu, das Gefühl für Gemeinsamkeit bei
allem historischen Wandel auszulöschen:
„[T]he popular emphasis on the radical difference of cultural eras – or even on the radical difference between one decade and another – has tended to obliterate
Geschichtlichkeit bei Dilthey vieldeutig ist, und die Bedingtheit des Menschen durch die Geschichte nur eine davon ist, wie Gerhard Bauer herausgearbeitet hat. Siehe Bauer: a.a.O. „Diltheys Historismus“, in: ders.: »Geschichtlichkeit «, S. 60-72, bes. S. 63f. 202 Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Hg. v. Martin Bollacher, Frankfurt a. Main 1989. Nach Simon wird Herders Historismus „durch die Momente der Einfühlung in vergangene geschichtliche Gestalten, der Auffassung ihrer irreduziblen Individualität, des Verbots ihrer Vergleichbarkeit und der Ablehnung von Wertmaßstäben beschrieben.“ Ralf Simon: Historismus und Metaerzählung. Methodische Überlegungen zur Erzählbarkeit von Geschichte in Herders Geschichtsphilosophie. In: Nationen und Kulturen, a.a.O., S. 77-95. Zit. S. 77. Über den Historismus Herders siehe: Johann Gottfried Herder. Geschichte und Kultur. Hg. von Martin Bollacher, Würzburg 1994, und weitere Literatur dort. 203 Zum Begriff und Problem der Geschichtlichkeit bei Heidegger vergleiche die Untersuchung von Karlfried Gründer: Martin Heideggers Wissenschaftskritik in ihren geschichtlichen Zusammenhängen, in: ders.: Reflexion der Kontinuitäten. Zum Geschichtsdenken der letzten Jahrzehnten, Göttingen 1982, S. 29-47. Nach Gründer bedeutete Geschichtlichkeit bei Heidegger die Eigentlichkeit des Daseins, die in der Jemeinigkeit und der Jeweiligkeit des Daseins liege und eine Leugnung einer Wesensallgemeinheit des Menschen bedeutete. Dies würde Gründers Meinung nach gerade eine neue Aporie in Heideggers Denken bilden, denn „die Leugnung einer Wesensallgemeinheit des Menschen muß unvermeidbar als eine allgemeine Kennzeichnung des menschlichen Daseins erscheinen. Heidegger spricht ja nicht von diesem oder jenem Menschen als diesem oder jenem, sondern seine Phänomenologie formalisiert die Geschichtlichkeit als solche.“
132
sensitivity to sameness amid historical change and has lent broad credence to the view that we cannot ‚truly’ understand the texts of another age” (VI, 42).
Damit wird nicht nur die Möglichkeit eines gleichen Verständnisses von historischen
Texten, sondern auch die Möglichkeit des Verständnisses von fremden Kulturen in
Frage gestellt. Folglich wird auch das Gefühl für die Gemeinsamkeiten der Kulturen
und der Menschheit von einer Auslöschung bedroht. Insofern stehen die
hermeneutischen Überlegungen über die Notwendigkeit und Möglichkeit
rekonstruktiver Interpretation bei Hirsch nicht nur im Kontext des Historismusstreits
um die Möglichkeit allgemeingültiger Erkenntnisse von der Geschichte, sondern auch
im Kontext des Streites um die Bedeutung und die Verstehbarkeit des kulturell
Fremden.
Wir erinnern uns daran, daß sowohl bei Schleiermacher als auch bei Dilthey die
Betonung der Individualität der Sprachen und der Kulturen in den
geisteswissenschaftlichen Forschungen auf die Überschreitung der Schranken eigener
Zeitepochen und eigener Kultur, also auf die Erweiterung eigener Horizonte und die
Bereicherung der Kenntnisse der Menschheit abzielt, wie wir im ersten Kapitel
gezeigt haben. Die Betonung der Individualität bzw. Verschiedenheit der Sprachen
und der Kulturen bei Schleiermacher und Dilthey ist jedoch unter der Voraussetzung
der gemeinsamen Menschennatur zu verstehen, die als Voraussetzung für die
Möglichkeit des Verstehens der Menschen untereinander überhaupt gilt, die aber von
Gadamer im Hinblick auf die Geschichtlichkeit des Daseins und des Verstehens als
„ungeschichtliches Substrat“ verworfen wurde, wie wir im 2. Kapitel gezeigt haben.
In dem hier aufgezeigten Zusammenhang unterscheidet Hirsch jedenfalls vorsichtig
zwischen „radikalem Historismus” und der allgemeinen Konvention, daß jede Zeit die
Texte der Vergangenheit für sich selbst re-interpretieren solle (VI, 42). Er meint, die
allgemeine Konvention „that every age must reinterpret for itself the texts of the past”
133
ist nicht mit dem Dogma des radikalen Historismus gleichzusetzen, „that every age
understands the texts of the past differently, and that no age truly understands them as
they were“, weil Re-Interpretation und das „Anders-verstehen“ nicht dasselbe sind.
Für Hirsch ist das Verstehen etwas anderes als die geschriebene Interpretation, auch
wenn in der Interpretation das Verstandene dargestellt wird. Das Verstehen vollzieht
sich in der Sprache des Textes, die geschriebene Interpretation aber ist Auslegung: sie
stellt das Verstandene in eigener Sprache dar. Die Auslegung oder Interpretation fällt
je nach Adressat und Situation verschieden aus. Vor allem in der Gleichsetzung von
Interpretation und Anders-Verstehen wird die unvermeidbare Verschiedenheit der
Verständnisse in den Vordergrund gestellt. Die Möglichkeit eines gleichen
Verständnisses bzw. allgemeingültigen Wissens in der historischer Rekonstruktion
wird jedoch ausgeschlossen.
Insofern liegt es für Hirsch nahe, eine Kritik an Heideggers hermeneutischer
Philosophie und Gadamers philosophischer Hermeneutik zu üben. Heideggers
Konzeption von Welt und „hermeneutischem Zirkel“ sind seiner Meinung nach nicht
nur unfruchtbar sondern schädlich für die Praxis der Interpretation.
3.1.3. Unzulänglichkeit metaphysischer Hermeneutik
Nach Hirsch ist Heideggers Expansion des hermeneutischen Zirkels eine
Hervorhebung der „Welt“ als einem Ganzen, das nicht nur das Verfahren der
Textinterpretation, sondern auch all unser Wissen und all unsere Erfahrungen
vorbestimmt. Folgt man der These Heideggers, dann wäre die geschichtliche Welt all
unseren Erfahrungen vorgegeben und folglich auch konstitutiv für jede
Textinterpretation. Unsere Gegenwart wäre dann bloß die Folge aus dem
Vorgegebenen und Vorgeschehenen. Trifft dies zu, so wäre der wissenschaftliche
134
Anspruch auf die Objektivität historischer Rekonstruktion eine Illusion, weil wir
unsere eigene Welt nicht ausschließen können, in welcher und durch welche allein die
Vergangenheit sich uns zeigt.
Indessen scheint die Anwendung solcher metaphysischer Überlegungen auf die
Textinterpretation für Hirsch voreilig zu sein, und zwar aus zwei Gründen. Erstens:
die metaphysische Hermeneutik Heideggers „says nothing about subtle questions of
degree” (AI, 82, Hervorhebung von mir). In der metaphysischen Hermeneutik wird
zwar argumentiert, daß in jeder historischen Rekonstruktion bestimmte
anachronistische Züge unentbehrlich sind, aber über die graduellen Unterschiede und
Gemeinsamkeiten der Interpretationen kann diese Metaphysik nichts sagen: “It argues
that some degree of anachronism is necessarily present in any historical
reconstruction, but as to whether a particular reconstruction is severely or trivially
compromised the principle says nothing” (AI, 83). Hirsch führt hierzu die
Hamlet-Rezeption der vergangenen Jahrhunderte als Beispiel an.
Die Geschichte der Interpretation zeigt Hirschs Meinung nach, daß es
bemerkenswerte Gemeinsamkeiten in der Hamlet-Rezeption des 19. und 20.
Jahrhunderts und eindeutige Konflikte der Interpretationen innerhalb des jeweiligen
Jahrhunderts gibt. “Obviously, the pre-given historical world cannot be the decisive
factor that accounts in such cases for the similarities between different periods or the
un-reconcilable differences of interpretation within the same period” (AI, 82f).
Folglich kann die vorgegebene historische Welt nicht der entscheidende Faktor für die
Erklärung der Ähnlichkeiten der Interpretationen zwischen verschiedenen
Zeitepochen und der unübersehbaren Verschiedenheit der Interpretationen innerhalb
der gleichen Periode sein. Analog dazu kann die vorgegebene historische Welt die
Gemeinsamkeiten der Weltanschauungen verschiedener Kulturen und die
Verschiedenheit der Weltanschauungen innerhalb gleicher Kulturtraditionen auch
135
nicht erklären, wenn wir den Begriff Kultur im weitesten Sinne verstehen. Das gilt
auch für das Verstehen der Menschen untereinander, intra- und interkulturell
betrachtet.
Hirschs Argument gegen die Radikalisierung der Verschiedenheit geschichtlicher
Interpretationen der Zeitepochen und der Kulturen in der hermeneutischen
Philosophie Heideggers basiert darauf, daß es nicht nur Verschiedenheiten, sondern
auch Gemeinsamkeiten zwischen den Interpretationen verschiedener Zeitepochen gibt,
was auch auf die Möglichkeit eines gemeinsamen bzw. allgemeingültigen
Verständnisses, eines Konsenses hinweist, was wiederum die Möglichkeit
allgemeingültigen Verstehens und Interpretierens von fremden Texten und fremden
Kulturen aufzeigt. Die Geschichtlichkeit als die Geworfenheit und Bedingtheit des
menschlichen Daseins bei Heidegger hingegen suggeriert eher eine absolute
Verschiedenheit und Andersheit der Menschen, der Zeitepochen und der Kulturen und
bedeutet so eine Leugnung der Wesensallgemeinheit des Menschen und der
Möglichkeit der Allgemeingültigkeit geschichtlicher Erkenntnisse.
Ein noch wichtigerer Grund für Hirsch, sich gegen Heideggers „metaphysische
Hermeneutik“ auszusprechen, liegt darin, daß Heideggers Konzeption vom
hermeneutischen Zirkel in entscheidender Hinsicht falsch sein kann. Das Prinzip des
hermeneutischen Zirkels “does not lead inevitably to dogmatic historical skepticism,”
behauptet Hirsch. Wenn eine Interpretation auf die ganze Welt des Interpreten gebaut
wäre, dann würde sie zweifellos anders ausfallen als irgendein vergangener Sinn, da
die ganze geistige Welt einer Person anders ist als die geistige Welt vergangener
Zeiten. Dennoch bleibt es für Hirsch fraglich, ob das Ganze (hier die Welt des
Interpreten), welches den Sinn bzw. unser Verstehen vor-strukturiert bzw.
vor-bestimmt, auf diese Weise verstanden werden muß. Hirsch meint:
136
“The very introduction of »historicity« as a chief characteristic of Welt means
that a boundary has been drawn, since historicity is not the chief component of a person’s spiritual world. It is, rather, a limited domain of shared cultural experience apart from the bigger domain of unshared experience that makes up a person’s world” (AI, 83).
Die Geschichtlichkeit des menschlichen Daseins kann daher nicht der
Hauptbestandteil der geistigen Welt einer Person sein. Sie ist vielmehr nur ein
beschränkter Bereich der geteilten kulturellen Erfahrung, welche sich von dem
größeren Bereich der ungeteilten Erfahrung unterscheidet, die die Welt einer Person
bildet. Insofern gilt es nach Hirsch, die Welt, die eine Interpretation vorstrukturiert, als
„a highly selective sub-cosmos of an interpreter’s world” zu betrachten. (AI, 84).
Im Hinblick auf die Bedingungen des Verstehens ist es nicht die Welt des
Interpreten, auch nicht der ontologisch angedeutete hermeneutische Zirkel, worin der
Interpret geworfen ist bzw. sich befindet, die über den Sinn des zu verstehenden
Textes entscheiden, sondern die bezüglich des Verstehens des Textes benötigten
Vorkenntnisse, die einen höchst selektiven Subkosmos des Interpreten ausmachen.
Das heißt, die Verstehbarkeit des Textes hängt nicht von der ganzen Welt des
Interpreten ab, sondern von der auf den Text bezogenen spezifischen Welt der
Vorkenntnisse des Interpreten, die aus den erlernten sprachlichen Normen und
Konventionen entstanden sind.
Das gleiche gilt auch für seine Kritik an der Konzeption der „Zugehörigkeit“ zur
Tradition bei Gadamer. Bei Gadamer werden die Vorurteile und die Zugehörigkeit zur
Tradition zu Grundbedingungen des Verstehens erhoben. Nach Hirsch kann Gadamers
Konzeption von Tradition jedoch nicht als der entscheidende Faktor bzw. das
normative Prinzip für die Interpretation gelten.
137
„For the concept of tradition with respect to a text is no more or less than the history of how a text has been interpreted. Every new interpretation by its existence belongs to and alters the tradition. Consequently, tradition cannot really function as a stable, normative concept, since it is in fact a changing, descriptive concept” (VI, 250).
Hirschs Pointe besteht darin, daß Gadamers Konzeption der Tradition nichts anderes
als die Geschichte der Textinterpretation bedeutet. Nach dieser Konzeption würde
jede neue Interpretation nicht nur der Tradition zugehören, sondern auch die Tradition
selbst gleich verändern, denn Gadamer selbst hat gesagt: „Tradition ist selbst nur in
beständigem Anderswerden“204. Das heißt, die Tradition ändert sich mit jeder neuen
Interpretation. Sie ist in Wirklichkeit ein sich ständig änderndes Konzept. Folglich
kann „Tradition“ Hirschs Meinung nach nicht als ein stabiles und normatives Prinzip
der Interpretation gelten.
Dagegen versucht Hirsch, dem romantischen Ideal vom kulturellen Pluralismus
folgend, in seinen hermeneutischen Schriften „the original meaning“ (of the author)
als „the best meaning“ und „the dominant ethical norm for interpretation“ zu
begründen, nicht nur, weil alle gültige Interpretation auf das Wiedererkennen des vom
Autor gemeinten Textsinns gegründet ist, sondern auch weil es für ihn „verständlicher
und humanistischer ist, die Pluralität der Kulturen zu empfangen als in eigener
Tradition und eigener Kultur gefangen zu bleiben“ (VI, 248). Diese Idee kann als
Hirschs Gegenthese und Kritik an der Radikalisierung des Geschichtlichkeitsbegriffs
bei Heidegger und Gadamer betrachtet werden, welcher zum ontologischen Begriff
des hermeneutischen Zirkels umgedeutet wurde und die faktische Bedingung und
Beschränkung alles Verstehens der Menschen darstellt.
Hirsch gibt zu bedenken, ob Metaphysik „irgendeine praktische Natur für die
hermeneutische Theorie anbietet“ (AI, 84). Die Gründe seiner Zweifel an der 204 Gadamer: Replik zu »Hermeneutik und Ideologiekritik«, Ges. Werke, Bd. 2, S. 251-275, hier S. 268.
138
Fruchtbarkeit der Heideggerschen Hermeneutik für die Praxis der Interpretation
liegen darin, daß die metaphysische Hermeneutik Heideggers sowohl bei der
Entscheidung für Aussagen der Interpretation als auch für die Begründung der
Entscheidung zwischen verschiedenen Aufgaben der Interpretation machtlos sei (AI,
85). „It does not demonstrate that fairly accurate reconstruction is impossible; it does
not […] even prove that absolutely accurate reconstruction doesn’t actually occur, for
metaphysics has no power to legislate what is or is not the case in the realm of the
possible. It cannot, therefore, help us in specific instances,” erklärt Hirsch (AI, 84).
Folglich können die Zielsetzungen der Interpretation Hirschs Meinung nach weder auf
die Metaphysik noch auf die neutrale Analyse des Wesens der Interpretation
gegründet werden. “We have to enter the realm of ethics. For, after rejecting
ill-founded attempts to derive values and goals from the presumed nature of
interpretation, or from the nature of Being, what really remains is ethical persuasion,”
so Hirsch (ebd.).
Der Zweifel an der Möglichkeit objektiven Verstehens ist darauf gegründet, daß die
Standortgebundenheit des Verstehenden unentbehrlich bleibt, d.h. daß wir nicht
vorurteilsfrei einen Text verstehen können, wenn wir dazu benötigte Vorkenntnisse
oder Vorverständnisse mit Gadamer schlicht „Vorurteile“ nennen. Dennoch scheint es
gerade verwirrend zu sein, Vorverständnis mit Vorurteilen zu verwechseln und aus
diesem Grund den Objektivitätsanspruch abzulehnen. Denn Objektivität der
Interpretation liegt Hirschs Auffassung nach nicht darin, daß wir mit Sicherheit den
Sinn des Textes vollkommen bzw. vollständig rekonstruieren können, sondern darin,
daß es für diejenigen allgemein möglich sei, den originären Sinn des Textes
wiederzuerkennen, die sich bemühen, sich mit der Sprache des Textes und des Autors
vertraut zu machen und sich dem Sinn des Textes schrittweise anzunähern, auch wenn
die Rekonstruktion immer unvollkommen bleiben muß.
139
Hirsch geht davon aus, daß wissenschaftliche Interpretation nicht nur mit der
Wissenschaftlichkeit der Interpretation zu tun hat, sondern auch im Zusammenhang
des sozial-ethischen Verhältnisses zwischen Text, Autor und Interpret begriffen
werden muß, weil der Text für ihn stets der Text eines Anderen ist und die Interpreten
die Vermittlung des Aussagesinnes eines Anderen als Fremden zur Aufgabe haben.
Textinterpretation schließt bei Hirsch eine ethische Haltung gegenüber dem Autor als
einem Anderen ein. Dazu gehört eben die möglichst treue Vermittlung des vom Autor
als einem Anderen intendierten Textsinns bzw. Aussagesinns. Das betrifft aber nicht
nur das Verstehen und Interpretieren klassischer Texte oder Texte in fremden
Sprachen, sondern auch das Verstehen und Interpretieren zeitgenössischer,
fremdkultureller Reden und Lebensäußerungen. Dabei sollte die Möglichkeit
wiedererkennender Interpretation als Rekonstruktion des ursprünglich vom Autor
gemeinten Sinns des Textes ihr Recht zurückerhalten. Das Problem für ihn bleibt dann
zu zeigen, daß der vom Autor intendierte Wortsinn determiniert und reproduzierbar ist.
Dafür wird nicht nur eine Erklärung der Bestimmbarkeit und Wiedererkennbarkeit des
Textsinns erforderlich, sondern auch eine wissenschaftlich begründete Norm für die
Gültigkeit der Interpretation notwendig
Hieraus läßt sich erkennen, daß das Problem des Fremden in der Hermeneutik bei
Hirsch sich um die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit und Gültigkeit
wiedererkennender Interpretation von fremden Texten und fremden Kulturen dreht
und mehr aus ethischen und humanistischen als aus wissenschaftstheoretischen
Gründen behandelt wird. Insofern kann die hermeneutische Theorie von Hirsch als
eine Hermeneutik des Fremden verstanden und im Kontrast zu Gadamers
„Hermeneutik der Traditionsaneignung“ betrachtet werden.
Im folgenden werden wir darauf eingehen, wie die Möglichkeit des Verstehens und
der wiedererkennenden Interpretation bei Hirsch auf der Determiniertheit und
140
Reproduzierbarkeit des vom Autor intendierten Sinns des Textes basiert und wie die
Objektivität und die Gültigkeit rekognitiver Interpretation davon ausgehend begründet
wird.
3.2. Bedingungen der Möglichkeit rekonstruktiver Interpretation
Die Verstehbarkeit und Wiedererkennbarkeit des Textsinns wird bei Hirsch anhand
der Erhebung der Determiniertheit und der Reproduzierbarkeit des Wortsinns im
Hinblick auf die „Doppelseitigkeit der Rede“ („the double-sidedness of speech“) unter
den allgemeinen Normen der Sprache und dem individuellen Prinzip der
Autorintention erklärt. Dabei wird eine Dialektik von Hypothesenbildung und
Hypothesenbestätigung aus der Genre-Konzeption und dem „Genre-Trait-Modell“ als
ein progressives Verfahren der Interpretation und als eine moderne Version des
hermeneutischen Zirkels herausgestellt.
3.2.1. Determiniertheit und Reproduzierbarkeit des Wortsinns
Hirsch geht davon aus, daß alle Formen geschriebener Interpretation und alle
interpretativen Ziele, die über ein bloß privates Erlebnis hinausgehen, es erfordern,
daß der Sinn von irgendeinem Autor determiniert und reproduzierbar sein muß. Denn
„selbst wenn der ursprüngliche Autor abgelehnt oder nicht beachtet wird, bildet doch
jede Auslegung des Textes einen Sinn, der einen Autor besitzen muß, wenigstens den
Kritiker selbst,“ argumentiert Hirsch (PI, 46; vgl. VI, 27). Der Sinn des Autors, auf
den die „rekognitive“ Interpretation abzielt, soll daher als die Grundlage für alle
anderen interpretativen Ziele gelten.
Hirsch vertritt die These, daß die Rede von Natur aus doppelseitig ist, weil Rede
141
nicht bloßer Sinn-Ausdruck („expression of meaning“) ist, sondern auch
Sinn-Interpretation („interpretation of meaning“) bedeutet: “each pole existing
through and for the other, and each completely pointless without the other“ (VI, 68).
Das bedeutet, daß die Rede sowohl mit der „Besonderheit des Sinnes“ („the
particularity of meaning“) als auch mit der „Gemeinschaftlichkeit der
Interpretation“ („the sociality of interpretation“) zu tun hat.
Das erinnert an Schleiermachers Ausführungen über die Vermittlungsfunktion der
Rede und „die zwei Momente, worauf sich alles Verstehen bezieht“ (HK, 80ff). Nach
Schleiermacher ist das Reden „die Vermittlung für die Gemeinschaftlichkeit des
Denkens“ und „die Vermittlung des Denkens für den Einzelnen“ (HK, 80). Jede Rede
setzt eine gegebene Sprache voraus, und „die Mitt[h]eilung se[t]zt auf jeden Fall die
Gemeinschaftlichkeit der Sprache [,] also eine gewisse Kenntniß derselben
voraus“ (ebd.). Die Gemeinschaftlichkeit der Sprache bedeutet eben die Teilbarkeit
bzw. die Mitteilungsfunktion der Sprache, durch welche Menschen einander verstehen
und miteinander Gedanken austauschen können. „Wie jede Rede eine zwiefache
Beziehung hat auf die Gesammtheit der Sprache und auf das gesammte Denken ihres
Urhebers: so besteht auch alles Verstehen auf den zwei Momenten[:] die Rede zu
verstehen als herausgenommen aus der Sprache und sie zu verstehen als Thatsache im
Denkenden,“ sagt Schleiermacher (HK, 81). Demnach ist jede Rede sowohl auf die
Gesamtheit der Sprache als auch auf die individuellen Gedanken des Sprechers
bezogen.
Angesichts dieser Doppelseitigkeit der Rede kann der Sinn der Rede nur aufgrund
der Kenntnisse der in der Rede gesprochenen Sprache und der Kenntnisse der
subjektiv bedingten Verwendungsweise und Mitteilungsintention des Sprechers
verstanden werden, was zugleich für Hirsch ein Paradox bedeutet, weil die
allgemeinen Normen der Sprache sehr umfangreich und variable sind, während die
142
Normen für die Bestimmung des Sinnes einer bestimmten sprachlichen Äußerung wie
einer Rede oder eines Textes definitiv und determinierend sein müssen (VI, 69).
Um dieses Paradox zu lösen hat Hirsch sich auf die Sprachtheorien von Cassirer205
und Saussure 206 berufen. Nach Hirsch ist der Wortsinn bei Cassirer aus den
wechselseitigen Bestimmungen von objektiven sprachlichen Möglichkeiten und
subjektiven Spezifikationen solcher Möglichkeiten entstanden. Der Wortsinn ist der
innerhalb der Möglichkeiten der sprachlichen Normen durch die subjektive
Spezifikation des Autors entstandene Sinn des Wortes. „Ebenso wie die Sprache
Subjektivität bildet und färbt, färbt auch die Subjektivität die Sprache. Der subjektive
Akt des Autors oder Sprechers ist für den Wortsinn unentbehrlich; jede Theorie, die
den Autor als sinnbestimmendes Element abschaffen will, indem sie behauptet, der
Textsinn sei völlig objektiv determiniert, jagt Truggebilden nach,” betont Hirsch (PI,
280, vgl. VI, 225f). Der subjektive Akt eines Autors oder Sprechers ist der
notwendige Faktor für die Bestimmung des Wortsinns eines Textes bzw. einer Rede.
Hirschs Pointe besteht darin, daß ohne die subjektive Bestimmung des Sprechers der
Sinn des Wortes bzw. des Textes unbestimmbar wäre. Die Doppelseitigkeit der Rede
bzw. des Textes wird als die wechselseitige Abhängigkeit des Wortsinns von
allgemeinen Normen der Sprache und individueller Intention des Autors dargestellt.
Saussures Unterscheidung zwischen langue (“Sprache”) als dem „System der
sprachlichen Möglichkeiten” („the system of linguistic possibilities shared by a
speech community at a given point of time“) und parole (“Rede”) als “Wirklichkeit”
(„the actual verbal utterances of individuals who draw upon it”) hat eine ähnliche
Bedeutung für Hirsch. „Ein Text kann nur die ‘parole’ eines Sprechers oder Autors
205 Siehe Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Bd.1, Die Sprache, Darmstadt 2. Aufl. 1953. 206 Siehe Ferdinand de Saussure: Course de linguistique générale, englische Übersetzung: Course In General Linguistics, eds. C. Bally and A. Sechehaye, trans. W. Baskin, New York 1959; deutsche Übersetzung: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, hg. v. C. Bally, Berlin 1967.
143
repräsentieren,“ sagt Hirsch (VI, 234). Das bedeutet nämlich, daß eine Rede oder ein
Text eines Sprechers oder eines Autors bedarf. Saussures Unterscheidung zwischen
Sprache als den Möglichkeiten innerhalb eines gegebenen sprachlichen Systems und
Rede als wirklicher sprachlicher Äußerung eines Individuums ist für Hirsch wichtig,
weil die Determiniertheit des Textsinns durch die beimmende Intention des Sprechers
festgestellt und die besonderen Probleme bei umstrittenen Texten durch die Sprache
als sprachlichen Möglichkeiten geklärt werden könnten (VI, 232f).
3.2.2. Autorintention und Teilbarkeit der Sprache
Die Doppelseitigkeit der Rede und die wechselseitigen Bestimmungen des
Wortsinns durch allgemeine sprachliche Normen und individuelle subjektive Willen
zeigen, daß sowohl „the determining will of an author” als auch “the norms of
language” den Sinn der Rede bestimmen, sie beide “expose an unavoidable limitation
on the possibilities of verbal meaning“ (VI, 27f). Die Möglichkeit der Interpretation
eines Textes wird sowohl von dem bestimmenden Willen eines Autors oder eines
Interpreten als auch unter den Normen der Sprache bestimmt bzw. beschränkt.
Die allgemeinen Normen der Sprache allein reichen für die Bestimmung des
Wortsinns deshalb nicht aus, „weil die Normen der Sprache nicht aus einer
einheitlichen Sammlung von Einschränkungen, Erfordernissen und
Erwartungsmustern bestehen, sondern daß sie eine ungeheure Menge verschiedener
Grundregeln darstellt, die bei verschiedenen Äußerungen stark voneinander
abweichen, worauf Wittgenstein klar und deutlich hingewiesen hat“ (PI, 50; vgl. VI,
31) 207. Die Normen der Sprache „ändern sich mit jeder zu interpretierenden Art von
207 Wittgenstein hat die „Bedeutung“ eines Wortes im Hinblick auf „die Mannigfaltigkeit der Werkzeuge der Sprache und ihrer Verwendungsweisen“ sowie „die Mannigfaltigkeit der Wort- und Satzarten“ als seinen „Gebrauch in der Sprache“ definiert. Vgl. Ludwig Wittgenstein: Philosophische
144
Äußerung,“ sagt Hirsch, Wittgenstein zustimmend (ebd.). Ein Text ist eben eine
besondere Art von Äußerung, die mehr als einen Komplex von Sinn hat. Im Bezug auf
die Bestimmung des Wortsinns durch die Normen der Sprache hat Hirsch sich gegen
die Thesen von Metalinguisten und den Verfechtern der Muttersprachen-Theorie
gewendet, die behaupten, daß die Sprache die Gedanken und den Sinn eines Sprechers
unausweichlich bestimmen könne. Nach Hirsch gehen jedoch diese Behauptungen
viel zu weit. Denn
„diese Beobachtungen machen nicht den unbeweisbaren und unwahrscheinlichen Schluß nötig, daß eine einmalige Verwendung der Sprache auch immer einen einmaligen Sinn bestimmt. Das Argument, daß eine Muttersprache denjenigen, die sie sprechen, unausweichlich eine bestimmte Weltanschauung aufzwingt, ignoriert die bemerkenswerte Verschiedenheit der Anschauungen und Haltungen von Sprechern gleicher Muttersprache” (PI, 48, Hervorhebung von mir, Chen).
Hirschs Pointe besteht darin, daß unsere Muttersprache zwar bei der Bildung unserer
Weltanschauung eine wichtige Rolle spielt, wie Humboldts epochemachende
Auffassung der Sprache als energeia208 gezeigt hat, sie kann aber nicht allein den
Sinn einer sprachlichen Äußerung bestimmen. Der Begriff der Sprache oder der
Muttersprache ist genauso umfangreich und variabel wie die Normen der Sprache, so
daß damit die Verschiedenheit der Weltanschauungen der Menschen gleicher Sprache
nicht erklärt werden kann. Und umgekehrt kann dadurch die Gemeinsamkeit der
Weltansichten der Menschen verschiedener Sprache ebenso wenig erklärt werden.
Denn der Grund der Verschiedenheit der Weltanschauungen der Menschen liegt nicht
ausschließlich in der Sprache, sonst würden alle Menschen, die die gleiche
Muttersprache sprechen, gleiche Weltansichten haben. Er liegt vielmehr in der
Untersuchungen, Frankfurt a. M. 1967, s. bes. S. 24f, 35f. 208 Vgl. Wilhelm von Humboldt: Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluß auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts, in: ders.: Schriften zur Sprache, hg. v. Michael Böhler, Stuttgart 1995, s. bes. S. 36, 45ff, 53f.
145
Verschiedenheit der Individualität des Individuums, die auch die Verschiedenheit der
Weltanschauungen und Wertvorstellungen von Angehörigen gleicher Familien,
gleicher Volksstämme oder gleicher Kulturtraditionen erklären kann, wie
Schleiermacher uns hinsichtlich des Fremdheitsproblems gelehrt hat. Die
Doppelseitigkeit der Rede impliziert schon die enge Verbindung zwischen der
Sprache als allgemeinem Mitteilungsmittel und dem individuellen Willen und
Gedanken des Sprechers.
Daher sagt Hirsch, daß „die Theorie der Interpretation nicht lediglich sprachliche
Normen als Syntax, Grammatik, Bedeutungskerne, Bedeutungsfelder, Gewohnheiten,
Engramme, Verbote u.s.w. zu beschreiben braucht, die alle äußerst variabel sind und
sich wahrscheinlich nicht in angemessener Weise beschreiben lassen“ (PI, 51; vgl. VI,
31). Für ihn ist es viel wichtiger, die Vermittlungsfunktion der Rede oder des Textes
unter dem Prinzip der Teilbarkeit der Sprache hervorzuheben, also „die riesigen, nicht
zu umgrenzenden Sinnräume, die durch die Sprache repräsentiert werden, in den
Mittelpunkt zu rücken, einschließlich des emotionalen und durch Haltung
vorgegebenen Sinnes“ (ebd.). Das Prinzip der Teilbarkeit ist für Hirsch das
entscheidende Element aller sprachlichen Normen, welches eben die
Mitteilungsfunktion der Sprache darstellt. Aus diesen Gründen wird der Wortsinn des
Autors bei Hirsch wie folgt dargestellt:
„An author´s verbal meaning is limited by linguistic possibilities but is determined by his actualizing and specifying some of those possibilities. Correspondingly, the verbal meaning that an interpreter construes is determined by his act of will, limited by those same possibilities. […] Verbal meaning is whatever an author wills to convey by his use of linguistic symbols and which can be so conveyed” (VI, 47ff).
Der Wortsinn des Autors ist sonach der durch die Aktualisierung und Spezifizierung
146
des Autors aus Möglichkeiten der Sprache bestimmte Sinn des Wortes. Das gleiche
gilt auch für den vom Interpreten konstruierten Wortsinn, der sowohl vom Akt seines
Willens als auch von den gleichen Möglichkeiten der Sprache bestimmt ist. „Verbal
meaning“ bei Hirsch ist dann der Wortsinn, der innerhalb der sprachlichen Normen
nur beschränkte Möglichkeiten von Sinn hat und sowohl durch die Intention des
Autors als auch durch die des Interpreten bestimmt werden kann.
Folglich müssen die Normen der Interpretation Hirschs Meinung nach sowohl die
allgemeinen Normen der Sprache, welche elastisch und variabel sind, als auch die
Normen für die Determiniertheit des Wortsinns von bestimmten Äußerungen wie die
Intention und den Willen des Autors einschließen, weil beide den Sinn des Textes
bestimmen. Die Autorintention ist die Norm für die Determiniertheit des Wortsinns
bzw. Textsinns, und die Teilbarkeit der Sprache ist dann die Norm für die
Reproduzierbarkeit bzw. Wiedererkennbarkeit des Wortsinns.
Aus diesem Zusammenhang geht hervor, daß Hirsch die Reproduzierbarkeit und
die Determiniertheit des Wortsinns als die formalen Bedingungen wiedererkennender
Interpretation hervorzuheben sucht. „Verbal meaning“ als eine Reihenfolge von
schriftlichen Zeichen ist für Hirsch nur eine Seite des Textsinns hinsichtlich der
sprachlichen Normen. Er betrachtet den Sinn des Textes jedoch nicht nur unter dem
Gesichtspunkt der Sprachlichkeit und der Schriftlichkeit des Textes, wie es bei
Gadamer der Fall ist. Er sucht hier, den Sinn des Textes durch die Autorintention als
die subjektive Aktivität des Autors zu bestimmen. Der Textsinn bei Hirsch, der zwar
den Normen und Konventionen der Sprache, nämlich „the social principle of
linguistic genre“ unterliegt, ist aber hauptsächlich durch das Prinzip der
Autorintention („the individual principle of authorial will“) bestimmt worden (VI,
127). Die Unvermeidbarkeit der Einbeziehung der Autorintention in die Bestimmung
des Textsinns gilt als ein wichtiger Einwand Hirschs gegen die Theorien, die die
147
Subjektivität des Sprechers leugnen und einem Text schlicht als „ein Stück
Sprache“ („a piece of language“) betrachten.
Hirschs spezifische Wendung besteht darin, daß aufgrund des sprachlichen
Charakters des Textes und der Ausdrucksintention des Autors hier nämlich die
Reproduzierbarkeit (als die Teilbarkeit der Sprache) und die Determiniertheit (als die
Ausdrucksintention des Autors) des Wortsinns das Verstehen und die Interpretation
des Textes überhaupt erst möglich machen.
„Reproducibility is a quality of verbal meaning that makes interpretation possible: if meaning were not reproducible, it could not be actualized by someone else and therefore could not be understood or interpreted. Determinacy, on the other hand, is a quality of meaning required in order that there be something to reproduce. Determinacy is a necessary attribute of any sharable meaning, since an indeterminacy cannot be shared: if a meaning were indeterminate, it would have no boundaries, no self-identity, and therefore could have no identity with a meaning entertained by someone else” (VI, 44).
Reproduzierbarkeit ist demnach die Eigenschaft eines Wortsinns, die das Verstehen
und die Interpretation ermöglicht; die Determiniertheit ist eine Eigenschaft des Sinnes,
die wir brauchen, damit es etwas zu reproduzieren gibt. Insofern hat ein determinierter
Wortsinn einen determinierenden Willen zur Voraussetzung. „Determinacy, then, first
of all means self-identity. This is the minimum requirement for sharability. Without it
neither communication nor validity in interpretation would be possible,” so Hirsch
(VI, 45).
Determiniertheit bedeutet in erster Linie Selbst-Identität und gilt als die minimale
Bedingung für die Teilbarkeit des Wortsinns, ohne welche weder die Kommunikation
noch die Gültigkeit in der Interpretation möglich wäre. „Aber der Wille eines Autors
als förmliche Voraussetzung eines jeden determinierten Wortsinns besagt nicht, daß
Wille und Sinn dasselbe sind, ebenso wenig ist der Wortsinn mit dem ‚Inhalt’
148
identisch, dessen sich ein Autor bewußt ist,“ betont Hirsch (PI, 70). Der Wortsinn ist
nicht mit dem Inhalt des Bewußtseins eines Autors zu identifizieren. Der Wille oder
die Intention des Autors ist nicht der Sinngehalt des Wortes selbst, sondern der
bestimmende Faktor des Sinnes. Die Determiniertheit des Wortsinns durch den
bestimmenden Willen des Autors konstituiert hauptsächlich die Begrenztheit des
Wortsinns, welcher als ein Ganzes selbst-identisch bleiben muß, um wiedererkennbar
und kommunizierbar zu sein.
Daraus folgt, daß der Begriff des Wortsinns bei Hirsch gar nicht so streng ist, wie
es auf den ersten Blick scheint. Jeder Sinn, der sich aus den vom Autor
zusammengesetzten schriftlichen Zeichen innerhalb der Möglichkeit sprachlicher
Normen ergibt, könnte der vom Autor intendierte Sinn sein. Insofern kann ich
Burhanettin Tatar’s These nicht teilen, die davon ausgeht, daß in Hirschs Theorie der
Sinn des Textes nichts mit den Kontexten zu tun habe, unter denen der Sinn
rekonstruiert sei, und daß „the being of the meaning“ auf die Autorintention reduziert
worden sei 209. Denn bei Hirsch gibt es mehrere Möglichkeiten, den Sinn des Textes
zu erschließen. Autorintention gilt für Hirsch nur als normatives Prinzip für die
Determiniertheit des Textsinns und für die Gültigkeit einer Interpretation.
Autorintention ist zwar der bestimmende Faktor des Textsinns, ist aber nicht identisch
mit dem Textsinn. Darüber hinaus unterscheidet Hirsch vorsichtig zwischen der
Intention des Autors, die den Sinn des Textes entscheidet, und den anderen privaten
Intentionen bzw. den anderen Teilen der Subjektivität des Autors, die nichts mit dem
Sinn des Textes zu tun haben. Das ist auch der Grund für Hirsch, sich als „in
wesentlicher Übereinstimmung mit den amerikanischen Anti-Intentionalisten“ zu
bekennen, weil sie „zu Recht private Assoziationen vom Wortsinn ausschließen“ (PI,
209 Burhanetti Tatar: Interpretation and the Problem of the Intention of the Author: H.-G. Gadamer vs E.D. Hirsch, Washington 1998, S. 116f.
149
298; vgl. VI, 243) 210 . Insofern ist es durchaus falsch, Hirsch als einen
„Intentionalisten“ zu bezeichnen211.
Man übersieht dabei, daß Hirschs Definition des Wortsinns als des vom Autor
intendierten bzw. determinierten Sinns nicht eine interpretative Methode, sondern ein
normatives Prinzip ist, das eher einen formalen Charakter hat.
3.2.3. Typus-Charakter des Wortsinns: Wortsinn als „willed type“ und „shared
type“
Wir haben oben gezeigt, daß Hirsch die Determiniertheit und die
Reproduzierbarkeit des vom Autor intendierten Wortsinns als die Grundbedingungen
wiedererkennender Interpretation zu begründen versucht. Die Autorintention ist
sozusagen die formale Bedingung für die Determiniertheit des Wortsinns und die
normative Bedingung für die Gültigkeit der Interpretation. Die Reproduzierbarkeit des
Wortsinns wird bei Hirsch aufgrund der Teilbarkeit der Sprache als der Bedingung der
Möglichkeit rekonstruktiver Interpretation angedeutet. Die von Hirsch erhobene
Determiniertheit und Reproduzierbarkeit des Wortsinns bleiben bisher aber bloße
formale Bedingungen für die Möglichkeit wiedererkennender Interpretation. Wie läßt
sich die Möglichkeit wiedererkennender Interpretation konkret nachweisen?
210 Hirsch bemerkt in einer Anmerkung in Validity in Interpretation (S. 243, unten):„It should be clear that I am here in essential agreement with the American anti-intentionalists (term used in the ordinary sense). I think they are right to exclude private associations from verbal meaning. But it is of some practical consequence to insist that verbal meaning is that aspect of an author’s meaning, which is interpersonally communicable. This implies that his verbal meaning is that which, under linguistic norms, one can understand, even if one must sometimes work hard to do so.” Aus diesem Grund sind all die Thesen, die davon ausgehen, Hirschs Interpretationstheorie sei intentionalistisch, zurückzuweisen. 211 Burhanettin Tatar zum Beispiel bezeichnet die hermeneutischen Konzeptionen von Hirsch und Betti als „intentionalist models of interpretation“. Burhanetti Tatar, a. a. O., S. 116. Vgl. die Diskussionen um den „semantischen Intentionalismus“ in: Intentionalität und Verstehen, hg. v. Forum für Philosophie Bad Homburg, Frankfurt a. M. 1990; und die Diskussionen um Axel Bühlers These des „hermeneutischen Intentionalismus als Konzeption von den Zielen der Interpretation“ in: Ethik und Sozialwissenschaften, 4 (1993) Heft 4, S. 511-585.
150
Nach den zunächst rein formalen Bestimmungen versucht Hirsch die Möglichkeit
wiedererkennender Interpretation weiterhin im sprachlichen Charakter des Wortsinns
und des Verstehens festzumachen. Er hebt den Typus-Charakter des Wortsinns und die
Genre-gebundenheit allen Verstehens und Interpretierens hervor, um die
Verständlichkeit und die Wiedererkennbarkeit des Wortsinns wie auch des Textsinns
als die sprachlichen Bedingungen allen Verstehens und wiedererkennender
Interpretation zu begründen. Dabei wird das Verstehen und Interpretieren von Texten
nicht als ein Erkenntnisvollzug selbst dargestellt, in dem alles unmittelbar verstanden
wird, wie es bei Gadamer der Fall ist, sondern als ein Mittel auf dem Weg der
Erkenntnis, also als ein sich allmählich entwickelnder, progressiver Prozeß des
Lernens und ein progressives Verfahren der Sinn-Konstruktion, welches sich in
wechselseitiger Bestimmung von Sinn-Erwartung, Züge-Prüfung und Sinn-Revision
vollzieht.
Die Determiniertheit und Teilbarkeit des Wortsinns hängen Hirschs Auffassung
nach davon ab, daß der Wortsinn einem Typus von Sinn angehört beziehungsweise
einen Typus-Charakter aufweist, indem er sagt: „The determinacy and sharability of
verbal meaning resides in its being a type” (VI, 51). Der besondere Typ eines Sinnes
wird durch den bestimmenden Willen des Autors festgelegt. Daher wird der Wortsinn
hier bei Hirsch als „der gewollte Typ“ definiert, „den der Autor mit sprachlichen
Symbolen ausdrückt, und der von anderen durch diese Symbole verstanden werden
kann“ (PI, 72).
Für Hirsch ist die Betonung des Typus-Charakters des Wortsinns deshalb wichtig,
weil „nur dadurch die Auffassung vom Wortsinn als determiniertem Gegenstand des
Bewußtseins, der aber gleichzeitig über den Inhalt des Bewußtsein hinausgeht,
möglich ist“ (PI, 72). Nach Hirsch ist ein Typ eine Einheit mit zwei entscheidenden
Charakteristika. Er ist zunächst „eine Einheit, die eine Grenze besitzt, auf Grund derer
151
etwas zu ihm gehört oder nicht.“ Das zweite entscheidende Charakteristikum eines
Typs ist, „daß er immer durch mehr als einen Fall wiedergegeben werden kann” (PI,
72). Daraus folgt, daß jeder Wortsinn einem erkennbaren Typ von Sinn zugehören
muß, um kommunikativ zu sein, da er sonst nicht teilbar sein könnte. „Der Wortsinn
kann aber niemals auf einen einheitlichen konkreten Inhalt begrenzt werden. Er kann
sich zwar auf ein einheitliches Ganzes beziehen, aber nur durch Mittel, die über
einheitliche Ganzheiten hinausgehen; dieses Überschreiten hat immer den Charakter
einer Typisierung,“ betont Hirsch (PI, 72f). Folglich muß der Wortsinn sowohl ein
„willed type“ (als ein vom Autor „gewollter“ Sinn) als auch ein „shared type“ (als ein
von anderen „teilbarer“ Sinn) sein, welcher sich als ein Ganzes von möglichem Sinn
darstellt und niemals auf einen einzigen konkreten Inhalt begrenzen läßt.
An diesen Punkt anschließend versucht Hirsch das Verhältnis zwischen Sinn und
Implikation zu erklären und den Unterschied zwischen Sinn und Bedeutung zur
Geltung zu bringen. Denn die Tatsache, daß der Wortsinn irgendeine Grenze besitzen
muß, um mitteilbar und fähig für eine gültige Interpretation zu sein, schließt den
sogenannten unbewußten Sinn nicht aus. Die Frage ist nun, wie sich der bewußte bzw.
„gewollte“ Wortsinn von dem unbewußten, aber möglichen Wortsinn unterscheiden
läßt. Nach Hirsch ist das Prinzip für die Annahme oder Ablehnung eines unbewußten
Sinnes das gleiche wie das für den bewußten Sinn. Er meint:
„Die Identität des Wortsinns mit sich selbst hängt von einem Zusammenhang ab, der zumindest teilweise analog zu physikalischer Kontinuität ist. Wenn ein Text Züge aufweist, die auf einen unbewußten Sinn hindeuten (das gilt sogar für bewußten Sinn), dann gehören sie zum Wortsinn des Textes nur dann, wenn sie mit dem bewußt gewollten Typ in einem Zusammenhang stehen, der den Sinn als Ganzes definiert. Steht so ein Sinn mit dem gewollten Typ nicht in Zusammenhang, dann gehört er nicht zum Wortsinn, der per definitionem gewollt ist“ (PI, 77; vgl. VI, 54).
152
Der gewollte Typ von Wortsinn kann Hirschs Meinung nach nur ein Teil der
sprachlichen Konventionen sein, welcher dem sichtbaren Teil eines Eisbergs ähnelt.
Unter dem Wasser muß aber mit einem größeren unsichtbaren Teil des Eisbergs
gerechnet werden. Die Variabilität und Breite des Wortsinns schließen sowohl
bewußten als auch unbewußten Sinn ein, wie der Eisberg aus einem sichtbaren und
unsichtbaren Teil besteht.
Die Frage ist nun, wie man entscheiden soll, ob ein bestimmter Sinn mit dem
gewollten Typ in Zusammenhang bzw. in Kohärenz steht oder nicht. Die
Eisberg-Metapher soll bei Hirsch dazu dienen, diese Frage durch das Prinzip der
Kohärenz („the principle of coherence“) und das Prinzip der Grenze („the principle of
boundary“) (VI, 54; vgl. PI, 77) zu beantworten.
„Alles was kontinuierlich in den sichtbaren Teil eines Eisbergs übergeht, liegt innerhalb seiner Grenzen, und alles was innerhalb seiner Grenzen liegt, fällt unter das Kriterium der Kontinuität. Die zwei Begriffe definieren sich gegenseitig; das Prinzip der Grenze hängt [...] von dem Begriff des Typs ab. Jeder Sinn, der einen Zug oder Züge besitzt, durch die ein Typ definiert wird, gehört zu diesem Typ, und jeder Sinn, der diese Züge nicht besitzt, gehört nicht dazu. Das Prinzip der Kontinuität ist das der Mitgliedschaft zu einem Typ“ (PI, 77).
Da ein Wortsinn ein Typ und ein Ganzes ist, wird bei Hirsch zwischen einem
Untersinn einer Äußerung und einer ganzen Reihe von Untersinnen, die sie besitzen,
unterschieden. Diese ganze Reihe von Untersinnen einer Äußerung nennt Hirsch den
„Sinn der Äußerung“. Jeden Untersinn, der zu dieser Reihe gehört, nennt Hirsch eine
„Implikation“.
Wir haben oben dargestellt, daß der Wortsinn bei Hirsch notwendigerweise den
Charakter eines durch sprachliche Zeichen zu übermittelnden gewollten Typs besitzt.
Als ein Sinn-Typ ist der Wortsinn Hirschs Auffassung nach als ein Ganzes, eine
153
Einheit zu betrachten, die aber in mehr als einem Einzelfall verkörpert ist oder durch
mehr als einen Einzelfall wiedergegeben werden kann. Daher gehört eine Implikation
zum Wortsinn „wie ein Teil zum Ganzen“ (PI, 88). Eine Implikation ist eben nur ein
möglicher Einzelfall des Wortsinns bzw. ein möglicher Zug des Sinn-Typs. Daher sagt
Hirsch: „Eine Implikation gehört zu einem Sinn wie ein Zug zu einem Typ gehört“ (PI,
91). Das bedeutet nämlich, daß der Sinn-Typ teilbar sein muß, damit eine Implikation
zu einem Wortsinn gehören kann, sonst kann der Interpret nicht wissen, wie er
Implikationen hervorbringen soll; er würde nicht wissen, welche Züge zu dem Typ
gehören und welche nicht. Weiter erklärt Hirsch:
“Implications are derived from a shared type that has been learned, and therefore the generation of implications depends on the interpreter’s previous experiences of the shared type. The principle for generating implications is, ultimately and in the broadest sense, a learned convention” (VI, 66. Hervorhebung von mir).
Das heißt, Implikationen werden von einem geteilten und gelernten Typ abgeleitet.
Die Hervorbringung von Implikationen hängt deshalb vom früheren Erlebnis des
geteilten Sinn-Typs durch den Interpreten ab. Nach Hirsch hat der Sinn-Typ den
Charakter der „Familienähnlichkeit“ der Sprache im Wittgensteinschen Sinne (VI,
70f). Daher sagt er: „Der Interpret kann die Charakteristika des Typs nur auf eine
Weise kennenlernen, indem er sie nämlich lernt“ (PI, 90). “Das Prinzip für die
Hervorbringung von Implikationen ist letztlich im weiteren Sinne eine gelernte
Konvention,“ sagt Hirsch (PI, 91). „Der gewollte Typ muß ein geteilter Typ sein,
damit Kommunikation stattfinden kann. Damit wird aber nur gesagt, daß der gewollte
Typ sich im Rahmen bekannter Konventionen befinden muß, damit er geteilt werden
kann – eine Notwendigkeit, die dem Konzept der Teilbarkeit von Anfang an
innewohnte,“ erklärt Hirsch (PI, 91f). Insofern wird das Vorhandensein geteilter bzw.
gelernter Konventionen als die notwendige Voraussetzung für die Teilbarkeit des
154
Wortsinns herausgestellt.
Damit gelangt Hirsch zu folgendem Schluß: „Da ein Typ in mehr als einem
Einzelfall verkörpert sein kann, sind seine bestimmenden Charakteristika allen Fällen
dieses Typs gemeinsam. Da der Typ weiterhin durch mehr als einen Einzelfall
wiedergegeben werden kann, kann er von mehr als einer Person geteilt oder gewußt
werden. Wenn eine zweite Person die Charakteristika des Typs in Erfahrung gebracht
hat, kann sie diese Charakteristika ‘hervorbringen’, ohne daß diese ihr explizite
übermittelt worden sind” (PI, 90f).
3.2.4. Genre-gebundenheit allen Verstehens und Interpretierens: der
hermeneutische Zirkel
Da die Implikationen von einem geteilten und gelernten Sinn-Typ abgeleitet
werden, wird das Verstehen und die Interpretation von einem geteilten Typ, von der
„Genre-Konzeption“ abgeleitet. Die Genre-Konzeption ist nach Hirsch die Idee des
Textsinns als eines Ganzen, die beim Vorgang der Interpretation durch
„Sinnerwartungen“ („expectations“) begleitet ist. Die Rolle des Genres als der
Vorstellung von einem Sinn-Typ bei der Interpretation hat Hirsch wie folgt
geschildert:
„Der Sinn, der gerade verstanden wird, hat sich normal und mehr oder weniger erwartungsgemäß enthüllt, bis völlig unerwartete Wort- oder Ausdruckstypen vorkommen. Wenn das geschieht, kann ein Interpret entweder alles von ihm bis dahin Verstandene revidieren und einen neuen und anderen Sinntyp annehmen, oder er kann den Schluß ziehen, daß er den Sinn, welcher Art dieser auch immer sein mag, nicht verstanden hat“ (PI, 97; vgl. VI, 72).
Solche Erfahrungen, bei denen ein Mißverständnis während des Vorgangs der
155
Interpretation erkannt wird, „veranschaulichen“ Hirschs Meinung nach „einen höchst
wichtigen, normalerweise verborgenen Aspekt der Sprache“ (ebd.). Sie zeigen, „daß
völlig unabhängig von der Wortwahl des Sprechers und was noch bemerkenswerter ist,
völlig unabhängig vom Kontext einer Äußerung, die von einem Interpreten
verstandenen Sinndetails in erheblichem Maße von seinen Sinnerwartungen bestimmt
und gebildet werden. Diese Erwartungen ergeben sich wiederum aus der Auffassung
des Interpreten vom gerade ausgedrückten Sinntyp,“ erklärt Hirsch (PI, 98). Das heißt,
indem wir unsere generische Auffassung revidieren, haben wir bereits wieder von
vorne begonnen, bis schließlich unser ganzes Verständnis von der neuen generischen
Auffassung gebildet und zum Teil bestimmt worden ist. Das ist ein Beweis dafür, daß
„jedes Verständnis des Wortsinns notwendigerweise vom Genre bestimmt wird“ (PI,
102).
Für Hirsch sind solche Erwartungen stets eine notwendige Voraussetzung für das
Verständnis, „weil der Interpret nur durch sie die Wörter, auf die er trifft, sinnvoll
auslegen kann“ (ebd.). Da aber Erwartungen nicht aus dem Nichts entstehen, müssen
sie zum größten Teil aus früheren Erlebnissen hervorgebracht werden. Das heißt, „wir
erwarten in diesem Typ von Äußerung diesen Typ von Zügen, weil wir aus Erfahrung
wissen, daß solche Züge sich bei solchen Äußerungen finden“ (ebd.). Die
Erwartungen sind wie das bisher gewonnene Vorverständnis bzw. die erlernten
Konventionen der Sprache das, was unser Verstehen von Texten schrittweise leitet
oder aber verleitet.
Diese Beschreibung der Genre-gebundenheit des Verstehens bildet für Hirsch eine
neue Version vom „hermeneutischen Zirkel“. Nach Hirsch bietet solch eine Definition
des hermeneutischen Zirkels in den termini von Genre und Einzelzug anstatt von Teil
und Ganzem „nicht nur eine exaktere Beschreibung des interpretativen Vorgangs,
sondern sie löst auch das widerspenstige Paradox auf“ (PI, 104). Der hermeneutische
156
Zirkel von Ganzem und Teil wird hier bei Hirsch durch den Zirkel von Genre (als
Vorstellung vom Ganzen) und Einzelzügen ersetzt und als ein progressives Verfahren
der Interpretation dargestellt, welches sich in wechselseitigen Bestimmungen von
Sinn-Erwartungen und Sinn-Revisionen vollzieht. Diese Vorstellung von einem Genre
bei Hirsch ist aber nicht etwas Festes, sondern etwas, das sich beim Vorgang des
Verstehens verändert, weil die Möglichkeit des Erfahrens von Mißverständnissen und
der Revision im Vollzug des Verstehens miteingerechnet ist.
„Sie ist zunächst vage und unausgefüllt; später, mit zunehmendem Verständnis, wird das Genre expliziter, der durch ihn ausgelöste Erwartungsbereich wird viel enger. Diese spätere, explizitere und engere generische Konzeption muß natürlich unter die ursprüngliche, weitere generische Konzeption subsumiert werden, wie eben eine Variante unter eine Gattung zu subsumieren ist.“ (PI 104).
Dieses System der Erwartungen, das zunächst vage ist, später expliziter wird, bildet
eben die unser Verständnis bestimmende Vorstellung vom Ganzen. Der wichtige
Punkt ist hier, daß das Verständnis des Textsinns sich im Vorgang der Interpretation
schrittweise aufbaut und revidierbar ist und daß das Mißverständnis im selben
Vorgang der Interpretation vom Interpreten selbst erkannt und korrigiert werden kann.
Die Konzeption des Genres in der Interpretation ist für Hirsch von entscheidender
Bedeutung, weil dadurch das Problem des Paradoxes zwischen der Individualität des
Sinnes („the individuality of meaning“) und der Variabilität der Interpretation („the
variability of interpretation“) gelöst werden kann, indem behauptet wird, „daß ein
Sprecher und ein Interpret nicht nur die variablen und instabilen Normen der Sprache
beherrschen, sondern sich auch in den besonderen Normen eines besonderen Genres
gut auskennen muß“ (VI, 71). Nur solch eine Brücke kann die Besonderheit eines
Sinnes („particularity of meaning“) mit der Gemeinschaftlichkeit der Interpretation
(„the sociality of interpretation“) verbinden (ebd.). Das bedeutet, daß die
157
Genre-Konzeption als die Sinnerwartung bzw. die Vorstellung von einem Sinn-Typ
nicht nur für den Interpreten beim Vorgang der Interpretation, sondern auch für den
Sprecher bzw. den Autor beim Vorgang der Rede oder des Schreibens gilt.
„Der Sprecher kann die Sozialisierung seiner Erwartungen nur dann erreichen,
wenn er die ihm selbst und seinem Interpreten gemeinsamen typischen früheren
Verwendungsweisen und Erlebnisse kennt,“ meint Hirsch (PI, 107). Daraus folgt, daß
der Sinntyp „stets notwendigerweise an Typen des Sprachgebrauchs gebunden“ ist.
„Dieses ganze komplexe System von gemeinsamen Erlebnissen, von Zügen des
Sprachgebrauchs und Sinnerwartungen, auf die sich der Sprecher verläßt, bilden die
generische Konzeption, die seine Äußerung bestimmt“ (ebd.). Sonach ist dieses
System von gemeinsamen Erlebnissen und Zügen des Sprachgebrauchs und
Sinnerwartungen eben ein System von geteilten und gelernten Konventionen. Daher
sagt Hirsch, „daß Verständnis sich nur vollziehen kann, wenn der Interpret unter dem
gleichen System von Erwartungen vorgeht“ (PI, 107).
Diese gemeinsame generische Konzeption, die sowohl für den Sinn als auch für das
Verstehen konstitutiv ist, nennt Hirsch „das wahre Genre der Äußerung“ („the
intrinsic genre“) (PI, 108). Ein „intrinsic genre“ ist für ihn „ein System von
Konventionen“. Denn: „everything depends on something learned,“ so Hirsch (VI,
92). Das Wort “Konvention” umfaßt Hirschs Auffassung nach das ganze System von
Verwendungsweisen, Regeln, Gewohnheiten, formalen Notwendigkeiten und
Wahrscheinlichkeiten, welches einen Typ von Wortsinn konstituiert. Das System von
Konventionen wird als teilbar und erlernbar dargestellt. Die Gewinnung des wahren
Genres bedarf auch der Kongenialität des Interpreten, da das richtige Erraten des
Wortsinns von den Sinntyp-Erlebnissen des Interpreten abhängt. Insofern ist hier ein
gradueller Unterschied des Verständnisses bzw. der Interpretation unter den
Interpreten denkbar. Das Verständnis und die Vollständigkeit der Interpretation sind
158
sozusagen durch das individuelle Talent und die Sinntyp-Erfahrungen des Interpreten
bedingt.
Das impliziert wiederum, daß jede Interpretation nur eine mögliche Repräsentation
des Textsinns sein kann und daß der Inhalt des Textsinns nicht auf eine einzige
Interpretation beschränkt werden darf. „Textual meaning“ bei Hirsch ist dann der
Textsinn, der innerhalb der sprachlichen Normen nur beschränkte Möglichkeiten von
Sinn hat und sowohl durch die Intention des Autors als auch durch die des Interpreten
bestimmt ist. Daher kann der vom Autor intendierte Sinn des Textes innerhalb solcher
Möglichkeiten vom Interpreten auch erkannt und verstanden werden, wenn die
Interpreten das gleiche System von Konventionen wie das des Autors kennengelernt
haben.
In diesem Zusammenhang hebt Hirsch eine interessante Konzeption von Verstehen
hervor, um sich gegen den radikalen Historismus zu wenden, für welchen das
Verstehen und Rekonstruieren von vergangenen und fremden Kulturüberlieferungen
unmöglich erscheint. Hirsch meint:
„All understanding of cultural entities past or present is constructed. The various languages of a culture (taking ‘language’ in the broadest possible sense) are acquired through learning, and not inborn. Furthermore, since all the various languages of a culture are learned by more than one person, they can, implicitly, be learned by any person who takes the trouble to acquire them“ (VI, 43).
Die unterschiedlichen Sprachen einer Kultur sind durch das Erlernen von mehr als
einer Person erworben und können im Prinzip von jedem gelernt werden, der sich die
Mühe gibt. All unser Verstehen von Kulturgebilden sowie Sprachen, sei es
vergangenen oder gegenwärtigen, ist Hirschs Meinung nach ein progressives
Verfahren des Lernens, Sinn zu konstruieren. Gerade deshalb können fremde
Sprachen und fremde Kulturen auch von uns gelernt und verstanden werden.
159
Verstehen ist sonach ein Vorgang des Erlernens von Sinnkonstruktion. Das Verstehen
als ein Lernprozeß bedeutet zugleich, daß im Vollzug des Verstehens das Gelernte und
das Vorverstandene aufgrund der neu gewonnenen Erkenntnisse korrigiert werden
können, wie wir oben im Genre-Züge-Modell bei Hirsch gesehen haben. Daher gibt es
bei Hirsch keine Unmittelbarkeit und Gewißheit des Verständnisses im Vollzug des
Verstehens: „There is no immediacy in understanding either a contemporary or a
predecessor, and there is no certainty. In all cases, what we understand is a
construction, and if the construction happens to be unthinking and automatic, it is not
necessarily more vital and authentic for that” (VI, 43). Alles, was wir von einem Text
verstehen, ist Hirschs Auffassung nach eine Sinnkonstruktion und kann höchstens die
Wahrscheinlichkeit der Richtigkeit beanspruchen.
3.3. Prinzipien objektiv gültiger Interpretation und Geltungsprüfung
Es ist eindeutig zu sehen, daß Hirsch zwar versucht, den Sinn des Textes mit dem
ursprünglich vom Autor intendierten Sinn gleichzusetzen und daß er die
Wiederherstellung des ursprünglichen Textsinns als die Aufgabe und die Grundlage
aller gültigen Interpretation fordert. Ihm geht es jedoch nicht darum, die Gewißheit
der Übereinstimmung der Interpretation mit dem originären Sinn des Textes
vorauszusetzen, sondern lediglich darum, eine Norm der gültigen Interpretation durch
das Einbeziehen der Autorintention in den Sinn des Textes vorzustellen und dadurch
eine Möglichkeit zu schaffen, die Interpretationen zu beschränken, zu unterscheiden
und vor allem Willkür und Beliebigkeit zu vermeiden, denn: „no one can establish
another’s meaning with certainty“ (VI, 236). Das Ziel eines Interpreten liegt folglich
darin, “to show that a given reading is more probable than others” (VI, 236). Insofern
hat die Hermeneutik bei Hirsch die Aufgabe, nicht die Methode der Interpretation,
160
sondern die Prinzipien der Geltungsprüfung der Interpretation hervorzubringen.
3.3.1. Objektivität der Interpretation und Subjektivität des Sprechers
Die Doppelseitigkeit der Rede und die wechselseitige Bestimmung des Wortsinns
bzw. Textsinns von allgemeinen Normen der Sprache und individuellem Prinzip der
Autorintention sind bei Hirsch mit dem Paradox zwischen Objektivität der
Interpretation und Subjektivität des Sprechers verbunden, das zugleich den
Ansatzpunkt seiner Theorie bildet und an die These der Dialektik zwischen
Objektivität der Interpretation und Subjektivität des Sprechers bei Betti erinnert,
nämlich: „objectivity in textual interpretation requires explicit reference to the
speaker’s subjectivity“ (VI, 237, Hervorhebung von mir, Chen). Also, die Objektivität
der Textinterpretation bedarf der expliziten Referenz auf die Subjektivität des
Sprechers.
Das sprechende Subjekt ist nach Hirsch jedoch mit der Subjektivität des Autors als
einer wirklichen, historischen Person nicht identisch. Es entspricht vielmehr nur
einem ziemlich beschränkten und besonderen Aspekt der Subjektivität des Autors.
Das sprechende Subjekt ist so zu sagen jener Teil des Autors, welcher den Wortsinn
bestimmt. Hier macht Hirsch auf den Unterschied zwischen dem sprechenden Subjekt
(„the speaking subject“) und der Subjektivität des Autors („the subjectivity of the
author“) in der Interpretation aufmerksam. Hirsch sieht die primäre Aufgabe der
Interpretation zwar darin, die Welt des Autors zu rekonstruieren. Mit der Welt des
Autors meint Hirsch aber nicht die ganze Welt, sondern die Logik, die Einstellung und
das kulturelle Erbe des Autors, die sich im Text oder in der Rede widerspiegeln und
objektiviert sind. Daher ist das letzte Prinzip der Interpretation für Hirsch “the
imaginative reconstruction of the speaking subject” (VI, 242).
161
Für Hirsch bedeutet das sprechende Subjekt eben nur jenen „sehr begrenzten und
speziellen Aspekt der gesamten Subjektivität des Autors“ (PI, 298), der den Wortsinn
bzw. den Textsinn bestimmt. Dieser Unterschied ist am deutlichsten zu erkennen im
Falle der Lüge. „Bei einer Lüge nimmt das sprechende Subjekt an, daß es die
Wahrheit sagt, während das tatsächliche Subjekt ein privates Bewußtsein der
Täuschungsabsicht behält,“ erklärt Hirsch (PI, 299; vgl.VI, 244). Darüber hinaus sind
das Drama und die Ironie für Hirsch auch gute Beispiele für die Erklärung des
Unterschieds zwischen „dem sprechenden Subjekt“ („the speaking subject”) und „der
Subjektivität des Autors“ („subjectivity of the author”). Er sagt: „In a play [...] the
total meaning of an utterance is not the intentional object of the dramatic character;
that meaning is simply a component in the more complex intention of the dramatist”
(VI, 243). Ähnliches gilt auch im Falle der Ironie. „Irony, for example, always entails
a comprehension of two contrasting stances (intentional levels) by a third and final
complex intention. The speaking subject may be defined as the final and most
comprehensive level of awareness determinative of verbal meaning,” führt Hirsch fort
(VI, 244). Der Grund hierfür liegt darin, daß ein Autor eine Haltung einnehmen kann,
die sich von seinen innersten Haltungen unterscheiden; „ebenso muß auch der
Interpret stets eine Haltung einnehmen, die von seiner eigenen verschieden ist,“ so
Hirsch (PI, 299). Insofern sind die privaten Erfahrungen des Autors für den Vorgang
der Interpretation ohne Bedeutung. “In construing and verifying verbal meaning, only
the speaking subject counts” (VI, 244). Der einzige relevante Aspekt der Subjektivität
ist derjenige, der den Sinn des Textes bestimmt. „The only relevant aspect of
subjectivity is that which determines verbal meaning or, in Husserl’s terms, content,”
sagt Hirsch. (ebd.). Das ist auch der Grund für Hirsch, sich als „in wesentlicher
Übereinstimmung mit den amerikanischen Anti-Intentionalisten“ zu bekennen, weil
162
„sie zu Recht private Assoziationen vom Wortsinn ausschließen“212.
Die Bestrebung nach einer Begründung der Möglichkeit und Gültigkeit
wiedererkennender Interpretation bei Hirsch hängt mit seiner Verteidigung der
Objektivität wissenschaftlicher Interpretation zusammen. Zur Erklärung der
Objektivität der Interpretation hat Hirsch sich auf Husserls Logische
Untersuchungen213 berufen. Husserl sah sich darin „in immer steigendem Maße zu
allgemeinen kritischen Reflexionen über das Wesen der Logik und zumal über das
Verhältnis zwischen der Subjektivität des Erkennens und der Objektivität des
Erkenntnisinhaltes gedrängt.“214 „Er [Husserl] ging jedoch nicht von einem strengen
platonischen Idealismus aus, nach welchem Sinne eine eigene, von Sinnerlebnissen
getrennte Existenz besitzen. Er betonte statt dessen die Objektivität des Sinnes, indem
er die beobachtbare Beziehung zwischen ihm und jenen durchaus geistigen Vorgängen,
in denen er aktualisiert wird, analysiert; Objektivität und Beständigkeit des Sinns
werden nämlich durch jene Sinnerlebnisse selbst bestätigt,“ meint Hirsch (PI, 271, vgl.
VI, 217). Damit scheint Hirsch zu sagen, daß die Objektivität der Interpretation
gerade in der Objektivität als Objektivation und Beständigkeit des Textsinnes liegt,
weil Interpretation ein Sinnerlebnis ist. Werden die Objektivität und Beständigkeit des
Sinns durch Sinnerlebnisse selbst bestätigt, wird die Objektivität der Sinnerlebnisse
selbst auch bestätigt.
Nach Hirsch ist es Husserls Anhaltspunkt, daß „different intentional acts (on
different occasions) ‚intend’ an identical intentional object“ (VI, 218). Das bedeutet,
daß verschiedene intentionale Akte ein identisches Objekt intendieren können, oder 212 Hirsch bezieht sein Argument hier auf Eduard Sprangers Konzeption des ‚kulturellen Subjekts’ (‚cultural subject’) und dessen Aufsatz: „Zur Theorie des Verstehens und zur geisteswissenschaftlichen Psychologie“ (in: Festschrift Johannes Volkelt zum 70. Geburtstag, München 1918, S. 369) in einer Anmerkung in Validity in Interpretation, S. 243. Vgl. oben Kap.3.2.3., S. 152. 213 Edmund Husserl: Logische Untersuchungen, 3 Bde, Tübingen 1968. Hirsch bezieht sich hauptsächlich auf den zweiten Band. 214 Edmund Husserl: Logische Untersuchungen, Bd. 1, Prolegomena zur reinen Logik, Tübingen 1968, Vorwort, vii.
163
daß ein identisches Objekt von verschiedenen intentionalen Akten intendiert bzw.
erkannt werden kann, sei es in der Wiederherstellung im Gedächtnis derselben Person,
sei es im Textsinn, den verschiedene Interpreten zu verstehen haben. Das würde
bedeuten, daß die Objektivität der Interpretation darin liegt, daß der identische
Textsinn von verschiedenen Interpreten wiedererkannt und rekonstruiert werden kann.
Hierauf könnte auch die Möglichkeit objektiver Erkenntnisse als allgemeingültiger
Erkenntnisse von vergangenen Zeiten und fremden Kulturen gegründet werden.
Daher versucht Hirsch, sich auf die Begriffe „intentionales Objekt“ und „intentionaler
Akt“ von Husserl berufend, den Charakter von „verbal meaning“ zu verdeutlichen.
Für Hirsch ist verbal meaning nur eine besondere Art von Sinn (“meaning”), der,
wie andere, auch ein intentionales Objekt ist („an intentional object, that is, something
there for consciousness“). Er kann daher auch von verschiedenen intentionalen Akten
“intendiert” werden, d.h. verschiedene intentionale Akte können den gleichen
Textsinn intendieren. Daher ist verbal meaning per Definition „jener Aspekt einer
‘Intention’ des Sprechers, der innerhalb sprachlicher Konventionen mit anderen geteilt
werden kann“ (PI, 273; vgl. VI, 218).
Um einen Überblick zu bekommen, faßt Hirsch Husserls Analyse wie folgt
zusammen:
„Verbal meaning, being an intentional object, is unchanging, that is, it may be reproduced by different intentional acts, and remains self-identical through all these reproductions. Verbal meaning is the sharable content of the speaker’s intentional object. Since this meaning is both unchanging and interpersonal, it may be reproduced by the mental act of different persons” (VI, 219).
Als ein intentionales Objekt ist der Wortsinn unveränderlich, d.i. er kann durch
verschiedene intentionale Akte reproduziert werden und bleibt bei all diesen
Reproduktionen mit sich selbst identisch. Der Wortsinn ist der mit anderen teilbare
164
Inhalt des intentionalen Objekts des Sprechers. Da dieser Sinn sowohl unveränderlich
als auch überpersönlich ist, kann er durch geistige Akte verschiedener Personen
reproduziert werden. Für Hirsch ist Husserls These historistisch, indem Husserl
behaupte, daß jede besondere, geschriebene oder gesprochene sprachliche Äußerung
geschichtlich bestimmt sei, “for even though he insists that verbal meaning is
unchanging, he also insists that any particular verbal utterance, written or spoken, is
historically determined” (VI, 219). Damit kommt Hirsch zu dem Schluß, daß „der
Sinn ein für alle mal durch den Charakter der Intention des Sprechers bestimmt
ist“ (ebd.). Hiervon ausgehend gelangt Hirsch zu seiner These, daß verbal meaning
als der ursprünglich vom Autor intendierte Sinn von den anderen bzw. verschiedenen
Interpreten wiedererkannt werden und immer derselbe bleiben kann.
3.3.2. Unterscheidung zwischen Sinn und Bedeutung, Interpretation und Kritik
Das Einbeziehen der Autorintention in die Bestimmung des Textsinns bei Hirsch
deutet den Unterschied zwischen ihm und Gadamer an. Gadamer geht von der
Selbstverständlichkeit der Schriftlichkeit des Textes aus, um die Ablösung des
Textsinns vom Autor und die Autonomie des Textes zu behaupten, wie wir im 2.
Kapitel herausgestellt haben. Für Gadamer ist die neue Aussage, bzw. das
Andersverstehen des Textes, wichtiger als die Wiederherstellung des originären
Textsinnes, den der Autor im Sinne hatte. Indem Gadamer den ursprünglich vom
Autor gemeinten Textsinn von dem Sinn des Textes ablöst, ist es jedoch schwer
einzusehen, wie der Sinn einer schriftlichen Aufzeichnung „grundsätzlich
identifizierbar und wiederholbar“ sein kann, vor allem wenn das Wiederholen „nicht
die Zurückbeziehung auf ein ursprünglich Erstes, in dem etwas gesagt oder
geschrieben ist, als solches“ ist (WM, 396). Das Problem bei Gadamer liegt darin, daß
165
mit dem zu wiederholenden Sinn nicht der ursprüngliche gemeint ist. Das in der
Wiederholung Identische „allein ist es, das in der schriftlichen Aufzeichnung wirklich
niedergelegt war“ (ebd.). Damit wird der Sinn des Textes bei Gadamer ins Unendliche
geführt und bleibt unbestimmbar. So könnten bei Gadamer weder Determiniertheit
noch Reproduzierbarkeit des Textsinns im Hinblick auf die Schriftlichkeit und die
Autonomie des Textes bestehen.
Daher kritisiert Hirsch Gadamer: “to view the text as an autonomous piece of
language and interpretation as an infinite process is really to deny that the text has any
determinate meaning” (VI, 249). Nach Hirschs Ansicht ist Gadamers Hervorhebung
der Autonomie der Sprache und der Unendlichkeit des Verfahrens der Interpretation
eine Verleugnung der Determiniertheit des Textsinnes. Ihm scheint die Formulierung
von Gadamer zu sagen, daß der Sinn des Textes “self-identical and repeatable” sei,
und im nächsten Augenblick sei das Wiederholen nicht wirklich ein Wiederholen, und
das Identische sei nicht wirklich ein Identisches (VI, 252). Das Problem bei Gadamer
liegt Hirschs Auffassung nach in seiner Gleichsetzung vom meaning und significance.
Der fundamentale Unterschied, den Gadamer übersehen hat, sei der zwischen dem
Sinn eines Textes und der Bedeutung dieses Textsinns für die gegenwärtige Situation.
“The fundamental distinction overlooked by Gadamer is that between the meaning of
a text and the significance of that meaning to a present situation. It will not do to say
in one breath that a written text has a self-identical and repeatable meaning and in the
next that the meaning of a text changes” (VI, 255).
Dagegen versucht Hirsch, unter Berufung auf Freges Unterscheidung zwischen
Sinn und Bedeutung 215 , den Unterschied zwischen meaning und significance
hervorzuheben. Hirsch meint: „The distinction between meaning and significance of a
215 Gottlob Frege: Über Sinn und Bedeutung. In: Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik, 100 (1892), S. 25-50.
166
text was first clearly made by Frege in his article ‚Über Sinn und Bedeutung’, where
he demonstrated that although the meanings of two texts may be different, their
referent or truth-value may be identical“ (VI, 211). Bei Frege liegt der Unterschied
zwischen Sinn und Bedeutung darin, daß der jeweilige Sinn von zwei Texten zwar
verschieden sein kann, ihre Bezüge bzw. Bedeutungen oder Wahrheitswerte könnten
aber identisch sein. Ähnlich wird die Unterscheidung zwischen meaning und
significance bei Hirsch folgendermaßen formuliert:
„Meaning is that which is represented by a text; it is what the author meant by his use of a particular sign sequence; it is what the signs represent. Significance, one the other hand, names a relationship between that meaning and a person, or a conception, or a situation, or indeed anything imaginable” (VI, 8).
Für Hirsch ist meaning der Sinn des Textes, also das, was der Autor durch seine
Verwendung von bestimmten linguistischen Zeichen ausdrücken möchte und das, was
diese schriftlichen Aufzeichnungen repräsentieren. Significance ist dann der Textsinn
im Bezug auf eine andere Person als Leser oder Interpreten, auf eine Konzeption oder
eine Situation, also die Bedeutung des Textes für alles mögliche, welche von Zeit zu
Zeit, von Person zu Person, von Sache zu Sache verschieden sein kann.
Eine für die Theorie und Praxis der Interpretation entscheidende Frage ist nun:
Wie lassen sich die möglichen Implikationen, die wirklich zu dem „gewollten“ Sinn
des Textes gehören, von denen, die nicht dazu gehören, unterscheiden? Dazu sagt
Hirsch: „Die Determiniertheit des Wortsinns hängt völlig von der Determiniertheit der
Implikationen ab, d.h. von der Existenz eines Prinzips, das ihre Zugehörigkeit oder ihr
Ausschluß regelt. Das wichtigste Prinzip einer vorläufigen Unterscheidung ist
zweifellos das, welches den Wortsinn von der Bedeutung trennt“ (PI, 86f; VI, 62).
Hier versucht Hirsch diese Unterscheidung nochmals zur Geltung zu bringen, bevor er
167
sich dem allgemeinen Problem der Implikation zuwendet216.
Die Bedeutung ist Hirschs Meinung nach „jeder Sinn, der eine Beziehung zu dem
so definierten Wortsinn aufweist“ (PI, 87). „Bedeutung ist immer das Verhältnis eines
Sinnes zu etwas, niemals der Sinn in etwas. Bedeutung schließt immer eine
Beziehung zwischen dem, was in jemandes Wortsinn ist, und dem, was nicht dazu
gehört, ein, selbst wenn diese Beziehung etwas mit dem Autor selbst oder mit seinem
Gegenstand zu tun hat“, betont Hirsch (ebd.). So gesehen ist die Bedeutung eines
Wortes oder eines Textes grenzenlos, im Vergleich zur Begrenztheit und Einheit des
Wortsinns oder Textsinns. „Nicht nur kann sein Wortsinn zu allen erdenklichen
Verhältnissen in Beziehung gesetzt werden (historischen, linguistischen,
psychologischen, physischen, metaphysischen, persönlichen, familiären und
nationalen), sondern er kann auch zu verschiedenen Zeiten zu den sich wandelnden
Zuständen aller möglichen Verhältnisse in Beziehung gesetzt werden“, erklärt Hirsch
(PI, 87f). Eine Implikation dagegen gehört aber zu einem Sinn, wie ein Einzelzug zu
einem Sinntyp gehört. Sie ist nur ein Teil bzw. ein Einzelfall des Wortsinns. Damit ist
der Unterschied zwischen Implikation (als Teil bzw. Einzelfall des Wortsinns) und
Bedeutung (als Wortsinn in Beziehung auf etwas anderes) bei Hirsch geklärt.
Durch diese Unterscheidung gelingt es Hirsch, die Wiedererkennbarkeit des
Textsinnes und die Verschiedenheit der Interpretationen zu erklären. Er sagt:
„The meaning of a text is that which the author meant by his use of particular linguistic symbols. Being linguistic, this meaning is communal, that is, self-identical and reproducible, it is the same whenever and wherever it is understood by another. However, each time this meaning is construed, its meaning to the construer (its significance) is different. Since his situation is
216 Hirsch bezieht sich hier auf August Boeckhs Unterscheidung zwischen „Wortsinn an sich“ und „Wortsinn in Beziehung auf reale Verhältnisse“, die auf seine Aufgabenbestimmung der Hermeneutik bezogen ist. Siehe August Boeckh: Enzyklopädie und Methodenlehre der philologischen Wissenschaften, hg. v. Ernst Bratuscheck, Darmstadt 1966, S. 81ff. Nachdruck der 2., von Rudolf Klussmann besorgten Auflage, Leipzig 1886.
168
different, so is the character of his relationship to the construed meaning” (VI, 255).
Der Sinn des Textes bleibt aufgrund des sprachlichen Charakters im Laufe der Zeit
unverändert und kann dadurch immer wieder von jedem Interpreten wiedererkannt
und verstanden werden, da der Sinn kommunikativ, d.h. selbst-identisch und
wiederholbar ist, während die Bedeutung des Textes in bezug auf den Kontext und die
Situation des jeweiligen Interpreten jeweils anders sein kann.
Es scheint Hirschs Absicht zu sein, durch die Unterscheidung zwischen Textsinn
und Bedeutung, die Möglichkeit des Identischen so wie die des Unterschieds in der
Interpretation zu erklären. Insofern ist Hirschs Unterscheidung zwischen Textsinn und
Bedeutung zuzustimmen, indem er die Wiederherstellung des ursprünglichen
Textsinns als Grundlage aller gültigen Interpretationen voraussetzt. Das Problem
bleibt nur noch, daß der ursprüngliche Sinn des Textes nie ganz von der Bedeutung
des Textes getrennt werden kann217. Dennoch ist zu bemerken, daß bei Hirsch die
Wiederholung des ursprünglichen Textsinnes in der Interpretation nur als eine
Möglichkeit der Übereinstimmung der Interpretation mit dem Textsinn dargestellt ist,
während diese Möglichkeit bei Gadamer hinsichtlich der Geschichtlichkeit
ausgeschlossen bleibt. Das heißt, bei Hirsch geht es lediglich darum, einen Hinweis
auf die Möglichkeit der Übereinstimmung der Interpretation mit dem ursprünglichen
Textsinns darzulegen, indem er die Identität und die Wiederholbarkeit des Textsinns
anhand der Unterscheidung zwischen Textsinn und Bedeutung hervorhebt.
Es ist eindeutig zu sehen, daß Hirsch zwar versucht, den Sinn des Textes mit dem
vom Autor intendierten Sinn zu identifizieren, ohne aber die anderen Möglichkeiten 217 Hier liegt offensichtlich ein Problem vor, wie Manfred Frank mit dem Hinweis auf die Dialektik von Allgemeinem und Individuellem bei Schleiermacher gezeigt hat: „Die Dialektik von Allgemeinem und Individuellem macht es faktisch unmöglich, über den verbal meaning einer Äußerung unabhängig von ihrer significance (und zwar sowohl auf Seiten des Autors wie des Interpreten) zu urteilen, da diese den Verwendungssinn jener erst festlegt, die »Bedeutung « mithin im »Sinn« gründet.“ Manfred Frank, Das individuelle Allgemeine, Frankfurt a. M. 1977, S. 255f.
169
des Textsinns zu übersehen. Ihm geht es offenbar nicht darum, zu behaupten, daß der
von uns erkannte Sinn des Textes der ursprünglich vom Autor gemeinte Textsinn sein
muß, sondern darum, daß der ursprünglich vom Autor intendierte Sinn aus dem Text
wiederzuerkennen und nur durch das Einbeziehen der Autorintention bestimmbar ist.
Mit der Unterscheidung zwischen meaning und significance kommt Hirsch dazu, in
Berufung auf August Boeckhs Unterscheidung zwischen Hermeneutik und Kritik den
Gegenstand der Hermeneutik als „textual meaning in and for itself“ vom Gegenstand
der Kritik als „that meaning in its bearing on something else“ d.h. „the significance of
the text“ zu unterscheiden, wodurch auch eine Unterscheidung zwischen
„Interpretation“ und „Kritik“ deutlich zu erkennen ist. Boeckh hat bekanntlich in
seinem Hauptwerk Enzyklopädie die Hermeneutik und die Kritik ihrer Aufgabe und
ihren Gegenständen nach als gesonderte Momente des Verstehens unterschieden. Die
Aufgabe der Hermeneutik ist es, „die Gegenstände an sich zu verstehen“; die Aufgabe
der Kritik ist „das Verhältnis der Lesart zu ihrer Umgebung, oder das Verhältnis, in
welchem die Beschaffenheit jenes Werkes zu der Individualität des betreffenden
Schriftstellers steht.“218 Dennoch setzen Hermeneutik und Kritik Boeckhs Auffassung
nach einander wechselseitig voraus.
Boeckhs Unterscheidung zwischen Interpretation und Kritik ist für Hirsch
einleuchtend, insofern er die Interpretation als die Konstruktion des Textsinnes an sich,
welchen der Text explizit oder implizit repräsentiert, und die Kritik als die auf die
Ergebnisse der Textinterpretation aufgebaute Interpretation des Textsinns im größeren
Kontext darstellt:
“Boeckh’s discussion of this distinction is illuminating: interpretation is the construction of textual meaning as such; it explicates (legt aus) those meanings, and only those meanings, which the text explicitly or implicitly represents.
218 A.a.O. S. 77.
170
Criticism, on the other hand, builds on the results of interpretation; it confronts textual meaning not as such, but as a component within a larger context“ (VI, 210).
Die Kritik wird bei Boeckh als „diejenige philologische Funktion“ definiert, wodurch
„ein Gegenstand nicht aus sich selbst und um seiner selbst willen, sondern zur
Festsetzung eines Verhältnisses und einer Beziehung auf etwas Anderes verstanden
werden soll, dergestalt, dass das Erkennen dieses Verhältnisses selbst der Zweck
ist.”219
„The object of interpretation is textual meaning in and for itself and may be called the meaning of the text. The object of criticism, on the other hand, is that meaning in its bearing on something else (standards of value, present concerns, etc), and this object may therefore be called the significance of the text“ (VI, S.210).
Die Hermeneutik dient daher als die Grundlage für die Kritik.
Neben der Unterscheidung zwischen Sinn und Bedeutung macht Hirsch auf den
Unterschied zwischen Sinn und Sache in der Hermeneutik aufmerksam, den er am
Beispiel der Lutherischen Lehre „Qui non intelliget res non potest ex verbis sensum
ellicere“ zu zeigen versucht (VI, 248; vgl. S.92). Der Satz von Luther besagt: Wer die
Sache nicht versteht, kann auch nicht den Sinn aus den Wörtern herausziehen. Dies ist
der Punkt, an dem Hirsch Gadamer kritisiert. Für Gadamer ist die Sache entscheidend
für den Sinn des Textes, nicht der Autor. Hirsch macht darauf aufmerksam, „daß
Luther hier zwischen res und sensus vorsichtig unterscheidet, während Gadamer es
nicht tut“ (VI, 248, übersetzt v. mir). „Indeed, Gadamer identifies meaning and
subject matter – as though meaning were an autonomous entity quite independent of
consciousness – which is a repudiation not simply of psychologism but of
219 A.a.O. S. 170.
171
consciousness itself“ (ebd.). Gadamers Gleichsetzung von Sinn und Sache bedeutet
für Hirsch eine Leugnung des Bewußtseins in der Bestimmung des Textsinns, als ob
der Textsinn eine vom Bewußtsein unabhängige Autonomie besäße.
Hirschs Pointe besteht darin, daß ohne die subjektive Bestimmung des Autors der
Sinn des Textes unbestimmbar wäre. Folglich könnte es auch kein sachgemäßes
Sinnverständnis und Sachverständnis von Texten geben, wenn man Gadamers
Hermeneutik folgt220. Wir haben im 2. Kapitel gezeigt, daß das Verstehen in der
Hermeneutik bei Gadamer mehr an der Verständigung über die Sache als der
sachlichen Wahrheit des Textes, als am Verständnis von Textsinn orientiert ist, indem
er das Verstehen und die Interpretation von Heiligen Schriften und Gesetzen als
Beispiel nennt. Gadamer bestimmt die Übereinstimmung in der Sache als das Ziel
allen Verstehens und aller Verständigung und stellt sich die Aufgabe, „die
geisteswissenschaftliche Hermeneutik von der theologischen und juristischen
Hermeneutik her neu zu bestimmen“ (WM, 316). Das ist auch der Grund dafür, daß
der Wille und die Intention des Autors von ihm für unwichtig erklärt und die
Rekonstruktion des vom Autor gemeinten Textsinn als Aufgabe der Interpretation
abgewertet wird. Hier bieten sich uns erneut die Überlegungen an, ob es überhaupt
notwendig ist, das Recht des Autors als des Anderen bei der Bestimmung des
Textsinns in der Textinterpretation aufzuheben, und ob es noch möglich ist, ohne eine
Übereinstimmung im Sinnverständnis eine Übereinstimmung in der Sache zu erzielen,
selbst wenn das Sachverständnis eine durchaus berechtigte Aufgabe
geisteswissenschaftlicher Hermeneutik sein soll. Insofern ist Hirschs Kritik an
Gadamer durchaus berechtigt.
Die Wiedererkennbarkeit des Textsinns als Bedingung wiedererkennender
220 Ich haben oben (Kapitel 2.3.1., S. 103.) auf Hans Ineichens Kritik an Gadamers fragwürdiger Trennung des Sinnverständnisses von dem Verständnis der Sache eines Textes hingewiesen.
172
Interpretation ist bei Hirsch auch die Bedingung für die Möglichkeit
zwischenmenschlicher Kommunikation. Denn ohne diese Wiederholbarkeit des
Textsinns als Voraussetzung des Verstehens und Interpretierens wäre auch das
Verstehen der Menschen untereinander nicht möglich. Daher kritisiert Hirsch
Heidegger und Gadamer:
„Heidegger, on Gadamer´s interpretation, denies that past meaning can be reproduced in the present because the past is ontologically alien to the present. The being of a past meaning cannot become the being of a present meaning, for being is temporal and differences in time are consequently differences in being. If this is the argument on which Gadamer wishes to found his doctrine of historicity, he should acknowledge that it is ultimately an argument against written communication in general and not just against communication between historical eras” (VI, 256).
Die Leugnung der Möglichkeit zur historischen Rekonstruktion des Textsinns aus
einer vergangenen Zeit aufgrund der Geschichtlichkeit des menschlichen Daseins und
des Verstehens bei Heidegger und Gadamer bedeutet für Hirsch nicht nur eine
Leugnung der Möglichkeit der Kommunikation zwischen verschiedenen Zeiten,
sondern auch eine Leugnung der Möglichkeit der schriftlichen Kommunikation im
allgemeinen.
3.3.3. Autorintention als universales Prinzip gültiger Interpretation
Hirschs Anliegen ist es, durch das Einbeziehen der Autorintention in die
Bestimmung des Textsinns die Determiniertheit und die Reproduzierbarkeit des
Textsinns zu begründen und die Möglichkeit der Rekonstruktion des ursprünglichen
Sinnes dadurch zu verteidigen. Es sagt: „Defining textual meaning as the verbal
intention of the author argues implicitly that hermeneutics must stress a reconstruction
173
of the author’s aims and attitudes in order to evolve guides and norms for construing
the meaning of his text“ (VI, 224).
Es bleibt jedoch zu fragen, wie die guten von den schlechten, die legitimen von den
illegitimen Interpretationen zu unterscheiden sind, wenn Hirsch von der Annahme
ausgeht: “theory should try to provide normative criteria for discriminating good from
bad, legitimate from illegitimate constructions of a text“ (AI, 75).
Im Gegensatz zum radikalen Historismus, der an der Möglichkeit historischer
Rekonstruktion als gültiger Interpretation zweifelt, geht Hirsch davon aus, daß das
Ziel der gültigen Interpretation „nicht einfach aufgrund der Unsicherheit und
Ungewißheit der Interpretation als ein nutzloses Ziel weggelassen werden“ soll. Denn
„Gewißheit ist nicht das gleiche wie Gültigkeit, und Wissen von Unklarheit muß nicht
unbedingt unklares Wissen sein,“ sagt Hirsch (VI, Vorwort, ix). Ihm geht es folglich
nicht um die Sicherung und die Suche nach der „besten“, „absolut
richtigen“ Interpretation, sondern um die Möglichkeit der Gewinnung von Konsensus
unter den Interpreten über die Gültigkeit der Interpretation, weil jede Interpretation
eines Textes in gewisser Hinsicht anders als jede andere Interpretation desselben ist.
Eben diese Tatsache, daß es sehr unterschiedliche mögliche Implikationen gibt,
fordert eine Theorie der Interpretation und Gültigkeit: “The variability of possible
implications is the very fact that requires a theory of interpretation and validity” (VI,
123).
Das Prinzip für das Einschließen oder Ausschließen der Implikationen liegt Hirschs
Auffassung nach darin, „to ask whether they are embraced by the author’s will to
mean ‘all traits belong to this particular type’” (VI, 124). Selbst für die Interpretation
der Heiligen Schriften und literarischen Werke gilt das Prinzip der Einschränkung der
Implikationen unter dem „willed type“ des Autors. Hirsch meint:
174
„The ‚sensus plenior’, a conception in scriptural interpretation under which the text’s meaning goes beyond anything the human author could have consciously intended, is, of course, a totally unnecessary entity. The human author’s willed meaning can always go beyond what he consciously intended so long as it remains within his willed type, and if the meaning is conceived of as going beyond even that, then we must have recourse to a divine Author speaking through the human one. In that case it is His willed type we are trying to interpret, and the human author is irrelevant. We must not confuse his text with God’s. In either instance the notion of a sense beyond the author’s is illegitimate. The same point holds, of course, for inspiration in poetry: either we are interpreting the poet’s text or that of the muse who possesses him, one or the other” (VI, 126).
„Validity requires a norm – a meaning that is stable and determinate no matter how broad its range of implication and application. A stable and determinate meaning requires that an author’s determining will, and it is sometimes important, therefore, to decide which author is the one being interpreted when we confront texts that have been spoken and re-spoken. All valid interpretation of every sort is found on the re-cognition of what an author meant,“ stellt Hirsch fest (VI, 126, Hervorhebung von mir).
Hier macht Hirsch auf den Unterschied zwischen einem humanen Autor und einem
göttlichen Autor der Heiligen Schriften aufmerksam.
Demnach ist die Unterscheidung zwischen verschiedenen Sorten von Texten
Hirschs Auffassung nach weiterhin notwendig. „The fact that two different minds can
intend quite different meanings by the same word sequence should not by now be
surprising. Nothing is gained by conflating and confusing different ‘texts’ as though
they were somehow the same simply because they both use the same word sequence,”
meint Hirsch (ebd.). Gadamers Konzeption von Text ist Hirschs Meinung nach zu
sehr auf kanonische Werke wie die Bibel und die Verfassung beschränkt. „For
Gadamer all texts are like the Constitution and the Bible“ (VI, 123). Dagegen versteht
Hirsch unter Texten nicht nur kanonische Werke wie Gesetze, Verfassung oder die
Bibel, bei denen die Autorintention für Gadamer unwichtig erscheint, sondern Texte,
die verschiedenen Genres angehören, die aber unter dem gleichen Prinzip der
175
Autorintention zu verstehen und interpretieren sind. Selbst die Gesetze oder die
Verfassung sind mit der Intention des Gesetzgebers verbunden, die eine Ordnung der
Gesellschaft herstellen oder die Gerechtigkeit in einem Staat erhalten möchte.
3.3.4. Prinzip der Wahrscheinlichkeit und interpretativer Evidenz
Hirschs Überlegung führt schließlich dazu, daß jede Interpretation nur einen
Teilbereich erfassen kann. Er sagt:
„Every interpretation is partial. No single interpretation can possibly exhaust the meanings of a text. Therefore, to the extent that different interpretations bring into relief different aspects of textual meaning, the diversity of interpretations should be welcomed; they all contribute to understanding. The more interpretation one knows, the fuller will be one’s understanding” (VI, 128).
Auch die Definition von Wortsinn als des vom Autor intendierten Sinnes kann,
Hirschs Ansicht nach, den Sinn des Textes nicht wirklich beschränken. „The
definition places no rigid limit on the number of implications verbal meaning might
have” (VI, 139). Da es mehr als eine Implikation von Wortsinn gibt, ist es die
Aufgabe des Interpreten, „to distinguish what a text implies from what it does not
imply; he must give the text its full due, but he must also preserve norms and
limits“ (VI, 219). Daher liegt das Problem für die hermeneutische Theorie Hirschs
Meinung nach darin, “a principle for judging whether various possible implications
should or should not be admitted” zu finden (ebd.). Insofern geht es in der
Hermeneutik bei Hirsch um das Prinzip der Geltungsprüfung der Interpretation. Das
Ziel der Geltungsprüfung ist es: „eine bestimmte interpretative Hypothese als richtig
festzustellen und dadurch die einzig mögliche Grundlage für einen Consensus
omnium bezüglich des Textes herzustellen“ (PI, S.216; vgl. VI, 169f). Dieser Konsens
176
würde Hirschs Auffassung nach jedoch nicht eine bestimmte Interpretation stützen,
sondern eher „den ganzen Sinn, auf den sich verschiedene Interpretationen beziehen
können – eine besondere Art von wahrem Genre, das Implikationen bestimmen
kann“ (PI, 216; vgl. VI, 170). Insofern sollten die Probleme der Interpretation bei
Hirsch nicht mit den Problemen des Verständnisses verwechselt werden:
“Der systematische Teil der Interpretation beginnt, wo der Prozeß des Verständnisses aufhört. Das Verständnis kommt zu einer Erschließung des Sinns; die Aufgabe der Geltungsprüfung besteht darin, unterschiedliche Erschließungen, zu denen das Verständnis gelangt ist, gegeneinander abzuwägen. Die Geltungsprüfung ist folglich die fundamentale Aufgabe der Interpretation als Disziplin, da da, wo Übereinstimmung bereits besteht, kein praktisches Bedürfnis für die Feststellung der Richtigkeit vorliegt” (PI, 216f; vgl.VI, 170).
Um den falschen Eindruck zu vermeiden, daß die Feststellung der interpretativen
Richtigkeit oder der Konsens, den sie zu erreichen sucht, in irgendeiner Weise
permanent ist, zieht Hirsch hier den Begriff „validation“ („Geltungsprüfung“) dem
endgültiger klingenden Wort „verification“ („Verifizierung“) vor: „To verify is to
show that a conclusion is true; to validate ist to show that a conclusion is probably
true on the basis of what is known“ (VI, 171) 221 . Daher muß das Ziel der
Interpretation als Disziplin ein bescheidenes sein, nämlich „die so definierte
Richtigkeit festzustellen“ (PI, 217). Daraus ergibt sich, daß Interpretation für Hirsch
implizit eine stets fortschreitende, “progressive discipline” ist: „Ihre neuen
Schlußfolgerungen, auf größeres Wissen gegründet, sind wahrscheinlicher als die
früheren Schlußfolgerungen, die sie zurückgewiesen hat“ (PI, 217; vgl. VI, 171).
Folglich besteht das Ziel der Feststellung der Richtigkeit bei Hirsch nicht 221 Hier vollzieht sich nach Hirschs eigener Angabe seine Wendung von „verification“ zu „validation“. Der Grund solcher Wendung liegt Hirsch zufolge darin, daß es im täglichen Gebrauch von einer „gültigen Schlußfolgerung“ dann gesprochen würde, wenn sie durch überzeugende Argumentation erreicht wurde, auch wenn sie möglicherweise nicht mit Sicherheit richtig ist. „Der Ausdruck, „eine verifizierte Schlußfolgerung“, deutet andererseits auf direkte Bestätigung und Gewißheit hin,“ so Hirsch (PI, 217 unten Anmerkung 2.).
177
notwendigerweise darin, einen einzelnen Sieger zwischen zwei solchen Hypothesen
festzustellen, sondern darin, zu einem objektiven Schluß über die relative
Wahrscheinlichkeit einer jeden Hypothese zu gelangen. Eine der wichtigsten
Funktionen der Geltungsprüfung für die Interpretation liegt folglich darin, „zu zeigen,
daß zwei oder mehr unterschiedliche Interpretationen gleichermaßen gültig sind.
Damit kann diese Prüfung der Forschung einen Ansporn geben, da zwei
unterschiedliche Interpretationen nicht zugleich richtig sein können“ (PI, 219f; vgl. VI,
173).
Diese Unterscheidung zwischen der momentanen Gültigkeit einer Interpretation
(die festgestellt werden kann) und ihrer letztlichen Richtigkeit (über die niemals
endgültig entschieden werden kann) bedeutet für Hirsch jedoch nicht, daß richtige
Interpretationen unmöglich seien. Denn Hirsch geht davon aus, daß Richtigkeit nach
wie vor das Ziel der Interpretation sein muß, und daß dies in der Tat erreicht werden
kann, obwohl man niemals wissen kann, ob es erreicht worden ist. „Wir können im
Besitz der Wahrheit sein, ohne sicher zu sein, daß wir sie besitzen; und auch in der
Abwesenheit von Gewißheit können wir Wissen haben, Wissen über das
Wahrscheinliche,“ so Hirsch (PI, 220; vgl. IV,173).
Damit leitet Hirsch zur Logik der Geltungsprüfung der Interpretation über. Bei
Hirsch gehören die Prinzipien der Wahrscheinlichkeit und interpretatives
Beweismaterial zur Logik der Geltungsprüfung. Für ihn ist eine interpretative
Hypothese letztlich ein „Wahrscheinlichkeitsurteil“ („a probability judgment“), das
durch „interpretative Evidenz“ gestützt wird (VI, 180). Das Wahrscheinlichkeitsurteil
ist „compounded of numerous subhypotheses (i.e. constructions of individual words
and phrases) which are also probability judgments supported by evidence,” erklärt
Hirsch (ebd.). Folglich hängt die Objektivität der Interpretation als Disziplin von
unserer Fähigkeit ab, “eine objektiv begründete Wahl zwischen zwei
178
unterschiedlichen Wahrscheinlichkeitsurteilen auf der Basis des ihnen gemeinsamen
Beweismaterials zu treffen“ (PI, 229). Die Objektivität einer solchen Erkenntnis über
Texte ist Hirschs Auffassung nach „immer in Zweifel gezogen worden, und wird auch
weiterhin in Zweifel gezogen werden, solange Literaturkritik durch ihre Tendenz, sich
für bestimmte Thesen einzusetzen, sie aber nicht mit gleichem Interesse einer
Bewertung zu unterziehen, beeinträchtig wird“ (PI, 220). Damit ist klar, daß es bei
Hirsch nicht um die „Gewißheit der Richtigkeit”, sondern um die „Wahrscheinlichkeit
der Gültigkeit“ der Interpretation geht. Die Objektivität der Interpretation als
Disziplin hängt folglich von unserer Fähigkeit ab, eine objektiv begründete Wahl
zwischen zwei unterschiedlichen Wahrscheinlichkeitsurteilen auf der Basis des ihnen
gemeinsamen Beweismaterials zu treffen. Solche Erkenntnis bleibt für Hirsch
objektiv und auf solide etablierte Prinzipien gegründet 222 . Folglich liegt die
Objektivität der Interpretation bei Hirsch nicht in der Methode der Interpretation,
sondern in der objektiv begründeten Geltungsprüfung der Interpretation.
Dieses Wissen von der Wahrscheinlichkeit der Gültigkeit einer Interpretation kann
nur durch die Geltungsprüfung gewährleistet werden. Daher macht Hirsch die
Geltungsprüfung (“validation”) zum Prinzip der Interpretation. Das ist auch der Punkt,
an dem Paul Ricoeur sich an Hirsch anschließt (und mit Hirsch übereinstimmend
findet). Nach Ricoeur eröffnet uns die Logik der Validierung von Hirsch „einen
Interpretationsrahmen zwischen Dogmatismus und Skeptizismus,“ 223 und die
Validierung einer Textinterpretation erbringt „ein wissenschaftlich brauchbares
222 Hirsch bezieht seine Argumente hier auf J. M. Keynes Auffassung über Wahrscheinlichkeitsurteil. Hirsch meint: „Keynes wies (in A Treatise on Probability), darauf hin, daß die Anlehnung eines Wahrscheinlichkeitsurteils im Lichte neuen Beweismaterials die Objektivität oder Gültigkeit des früheren Urteils in keine Weise berührt. Dessen Gültigkeit war ganz und gar eine Funktion des Beweismaterials, auf das es gegründet war“ (PI, 220, unten Anmerkung). Vgl. J.M. Keynes: A Treatise on Probability, ed. by Torchback, New York 1962, s. bes. S. 3-9. 223 Paul Ricoeur: Der Text als Modell: hermeneutisches Verstehen (1971), in: H.-G. Gadamer u. G. Boehm (Hg.): Die Hermeneutik und die Wissenschaften, Frankfurt a. M. 1978, S. 83-117. Hier S. 105.
179
Wissen über den Text.“224
Die Gültigkeit einer Interpretation hängt davon ab, ob sie sich auf den vom Autor
intendierten Textsinn bezieht und ob sie durch Beweismaterial gestützt wird. Insofern
gilt die Autorintention bei Hirsch nach wie vor als ein normatives Prinzip für die
Geltungsprüfung der Interpretation. Das besagt nicht, daß die Intention des Autors
dadurch wirklich feststellbar ist. Dieses Problem tritt auf, sobald der Autor unbekannt
oder der Sinngehalt des Textes undeutlich ist.
Anders als bei Boeckh und Betti wird die Hermeneutik bei Hirsch nicht als eine
allgemeine Methodik, sondern als eine Disziplin der Interpretation dargestellt, die
nicht Kanons und Regeln, sondern Prinzipien der Geltungsprüfung der Interpretation
anbietet. Er meint: “There can be no canons of construction, but only canons which
help us to choose between alternative meanings that have already been constructed
from the text” (VI, 204). Es kann weder richtige Methoden noch interpretative Regeln
der Interpretation geben, die allgemein und zugleich praktisch sind. “There are no
correct ‘methods’ of interpretation, no uniquely appropriate categories“ (VI, 139).
Daher liegt die eigentliche Bedeutung der allgemeinen Hermeneutik Schleiermachers,
“not in his canons, but in his intelligent, lengthy, and digressive qualifications of
them” (VI, 202). Für Hirsch sind die praktischen Kanons der Interpretation
überwiegend “probability judgments based on past experience” (VI, 203). Denn: „no
possible set of rules or rites of preparation can generate or compel an insight into what
an author means“(ebd.).
“The act of understanding is at first a genial (or a mistaken) guess, and there are no methods for making guesses, no rules for generating insights. The methodical
activity of interpretation commences when we begin to test and criticize our guess. These two sides of the interpretive process, the hypothetical and the critical, are not of course neatly separated when we are pondering a text, for we
224 Ricoeur, a.a. O., S.104.
180
are constantly testing our guesses both large and small as we gradually build up a coherent structure of meaning” (VI, 203f, Hervorhebung von mir, Chen).
Das Verfahren des Verstehens bei Hirsch schließt zwei Vollzüge ein, nämlich den
Vollzug der Interpretation, in dem Hypothesen aufgestellt werden bzw. Sinn
konstruiert wird, und den Vollzug des Prüfens, in dem Hypothesen und
Schlußfolgerungen ständig geprüft und bestätigt werden. Diese Prozesse der
Interpretation sind Hirschs Meinung nach jedoch nicht voneinander zu trennen,
sondern bilden die beiden Seiten der Interpretation als Rekonstruktion des Textsinns.
„Während es also keine Methode und kein Modell der richtigen Interpretation gibt
und geben kann, kann es einen rücksichtslos kritischen Vorgang der Geltungsprüfung
geben, an dem viele Talente und viele Hände teilhaben können. Ebenso wie jeder
individuelle Interpretationsvorgang sowohl eine hypothetische als auch eine kritische
Funktion umfaßt, so besteht auch die Disziplin der Interpretation aus dem Haben der
Ideen und deren Überprüfung,“ so Hirsch (PI, 260; vgl. VI, 206).
Die Prinzipien dieser Logik sind Hirsch zufolge zugleich die Prinzipien, „nach
denen Wahrscheinlichkeitsurteile in allen Bereichen des Denkens gefällt werden”
(ebd.). Daraus folgt, daß die Prinzipien der Interpretation von verallgemeinerten
Maximen zu einer zunehmenden Besonderheit relevanter Beobachtungen tendieren.
Die Prinzipien, nach denen sich Wahrscheinlichkeitsurteile richten, erfordern, daß
jedes praktische interpretative Problem in seiner Besonderheit gelöst wird.
„The proper realm for generalizations in hermeneutics turns out to be the realm of principles, not of methods, for the principles underlying probability judgments require that every practical interpretive problem be solved in its particularity and not in accordance with maxims and approaches which usurp the name of theory” (VI, 207).
Das bedeutet, daß die hermeneutische Disziplin „positivistisch“ sein muß, um jedes
181
praktische Problem der Interpretation in seiner Besonderheit lösen zu können. Das
Grundproblem der Interpretation bleibt dann dasselbe, nämlich, „to guess what the
author meant“ (ebd.). Damit kommt Hirsch zu dem Schluß: „Wenn wir auch niemals
sicher sein können, daß unsere interpretativen Vermutungen richtig sind, so wissen
wir doch, daß sie richtig sein können und das Ziel der Interpretation als Disziplin
besteht darin, die Wahrscheinlichkeit ihrer Richtigkeit dauernd zu erhöhen” (PI, 262;
vgl. VI, 207). Insofern gründet sich die Hermeneutik als eine Disziplin der
Interpretation bei Hirsch „nicht auf eine Methodologie der Auslegung, sondern auf
eine Logik der Geltungsprüfung“ (VI, 207; vgl. PI, 261).
182
4. Hermeneutik zwischen eigener Tradition und fremder Kultur: Gadamer und
Hirsch im Vergleich
Im Ganzen betrachtet, lassen sich die Hermeneutiken von Gadamer und Hirsch
bezüglich des Fremdheitsproblems als die zwischen eigener Tradition und fremder
Kultur betrachten. Zum einen, weil die Konzeption von Hirsch auf das Verstehen
fremder Texte und fremder Kulturen gerichtet ist und das sittliche Verhältnis des
Interpreten zu fremdem Leben und fremden Kulturen in den Vordergrund stellt, was
auch sehr für die Bezeichnung Hermeneutik fremder Kulturen spricht, während
Gadamers Überlegungen auf die Wiederbelebung der normativen Werte eigener
Tradition abzielen und die sittlich Bindung des Interpreten an die eigene Tradition
hervorheben, weshalb sie einer Hermeneutik der eigenen Tradition zugeordnet werden
können. Zum anderen kann man jene Hermeneutiken so betrachten, weil dem
Verstehen in ihren Konzeptionen eine Vermittlungsfunktion zugeschrieben wird, die
sich in einer Dialektik zwischen Fremdheit und Vertrautheit abspielt, die aber nicht
nur das Verstehen von Texten der eigenen Kulturtradition, sondern auch das Verstehen
fremder Kulturen betrifft und damit auch das sittliche Verhältnis der Hermeneutik (in
Theorie und Praxis) zu eigener Tradition und fremder Kulturen ausmacht.
Insofern liegt es nahe, die Tragfähigkeit der hermeneutischen Konzeptionen von
Gadamer und Hirsch für das Problem des Fremden und für das Verstehen fremder
Kulturen in einem zusammenfassenden Vergleich zu verdeutlichen.
183
4.1. Traditionsvermittlung vs. Vermittlung fremder Meinung und fremder
Kulturen
In den vorigen Kapiteln wurde herausgestellt, daß die Wiederherstellung der
„gestörten normativen Sinneinheit“ der abendländischen Kulturtraditionen (die
Tradition der griechischen Antike und die Tradition des christlichen Glaubens) das
eigentliche Hauptanliegen der philosophischen Hermeneutik Gadamers war 225 ,
während die Begründung der Vermittlungsmöglichkeit und –notwendigkeit von
fremden Texten und fremden Kulturen durch rekognitive Interpretation den
Kernpunkt der philologisch-methodologischen Hermeneutik von Hirsch bildet.
Es wurde gezeigt, daß das Problem der Fremdheit, das Gadamer in seiner
philosophischen Hermeneutik überwinden möchte, nicht das Problem der kulturellen
Fremdheit ist, sondern das Problem der Verfremdung im Sinne der „Abstandnahme
von der eigenen Tradition“ durch eine kritisch distanzierende wissenschaftliche
Einstellung, die ihm zufolge seit der Entstehung des historischen Bewußtseins in der
Bibelhermeneutik Spinozas und seit der neuzeitlichen Aufklärung über
Schleiermachers Begründung der allgemeinen Hermeneutik in der Romantik bis zu
Diltheys hermeneutisch-methodologischer Begründung der Geisteswissenschaften am
Ende des 19. Jahrhundert allmählich auf den Weg gebracht wurde. Schuld daran
waren Gadamer zufolge „die Diskredierung des Vorurteils“ und der Tradition sowie
die Aufwertung der Vernunft als „letzte Quelle aller Autorität“ durch die Aufklärung
(WM 276ff). 225 Gadamer hat die Wiedergewinnung des Vorbildlichen und Maßgeblichen als das normative Motiv seiner Hermeneutik sowohl in Wahrheit und Methode als auch in Aufsätze über Hermeneutik mehrmals zum Ausdruck gebracht. In seiner Kritik an Schleiermachers Ablösung „von allem dogmatischen Interesse“ heißt es: „Weder die Heilswahrheit der Heiligen Schrift noch die Vorbildlichkeit der Klassiker sollte ein Verfahren beeinflussen, das in jedem Text seinen Lebensausdruck zu erfassen wußte und die Wahrheit des Gesagten dabei dahingestellt ließ“ (WM, 200f). „Es geht in der theologischen wie auch in der humanistischen Hermeneutik der Neuzeit um rechte Auslegung von solchen Texten, die das eigentlich Maßgebliche enthalten, das es zurückzugewinnen gilt“ (GW 2, 94f).
184
Um sich solchen „Vorurteilen gegen Vorurteile“ in der seit der Aufklärung
entstandenen Tendenz der „Verwissenschaftlichung“ des hermeneutischen Verstehens
und der „Überfremdung mit den objektivierenden Methoden der modernen
Wissenschaften“226 entgegenzustellen, versucht Gadamer die „Geschichtlichkeit“ im
Sinne der „Traditions- und Situationsgebundenheit“ als ontologische und normative
Bedingung des Verstehens zu verabsolutieren, womit er das „Vorurteilen“ im Sinne
des „niemals zu leugnenden Vorverständnisses“ jedes Verstehens227 unterstreichen
und die Bedeutung der Tradition für das Verstehen historischer Überlieferung und
damit den Sinn des Verstehens für die Fortwirkung und Fortsetzung der Tradition
erhellen möchte. „So erfüllt sich der Sinn der Zugehörigkeit, d.h. das Moment der
Tradition im historisch-hermeneutischen Verhalten, durch die Gemeinsamkeit
grundlegender und tragender Vorurteile,“ sagt Gadamer (WM, 300). Demnach müßte
jedes Verstehen und jede Auslegung faktisch von eigener Tradition (im Sinne der
eigenen Kultur und der eigenen Lebenswelt) getragen und bestimmt bleiben.
Sein Bedenken war die mögliche Konsequenz eines historisch-methodologischen
Bewußtseins in der Hermeneutik, das er auch „Historismus“ nannte, nämlich im Sinne
eines Wertrelativismus, der aus dem Bewußtsein der Vielfalt und Wandelbarkeit
menschlicher Kulturen und Wertsysteme entstehen und Desorientierungen
hervorbringen konnte. Seine Antwort auf das Verfremdungsproblem ist dann die
Rehabilitation der Autorität der Tradition als Wahrheitsquelle und
ontologisch-normative Bedingung des Verstehens. Gadamers Betonung der
„Zugehörigkeit zur Tradition“ will die vorlorengegange Überzeugungskraft
traditioneller Orientierungsmöglichkeiten wiederherstellen. Seine Beispiele für
226 Gadamer: Die Universalität des hermeneutischen Problem, Ges. Werke Bd. 2, S. 219-231, hier S. 220. 227 Vgl. Jens Loenhoff: Interkulturelle Verständigung. Zum Problem grenzüberschreitender
Kommunikation, Opladen 1992, S. 161.
185
traditionelle Orientierungsmöglichkeiten sind die philosophische Tradition der
griechischen Antike und die Tradition des christlichen Glaubens, die als das
Vorbildliche und Maßgebliche für das Verstehen in den Geisteswissenschaften weiter
Geltung haben sollen 228 . Insofern kann Gadamers Erhebung des
Wahrheitssanspruches der eigenen Tradition als eine Art Antwort auf das
Historismusproblem und auf den Wertrelativismus betrachtet werden229.
Damit wird die Aufgabe des hermeneutischen Verstehens bei Gadamer als die der
Traditionsvermittlung230 bzw. Traditionsaneignung besonders hervorgehoben. Eben in
diesem Sinne wird seine Hermeneutik von Michael Theunissen als eine auf die
„Traditionsaneignung“ gerichtete Hermeneutik genannt231, und von Gunter Scholtz
wird sie der „Hermeneutik der eigenen Tradition“232 zugeordnet, da es sich in
Wahrheit und Methode nicht nur um die Hervorhebung der Bedeutung der eigenen
Tradition für das Verstehen historischer Überlieferung handelt, sondern das Buch
selbst ein traditionsaneignender Versuch ist, indem Gadamer hier selbst die Tradition
der griechischen und abendländischen Philosophie und die Tradition des christlichen
228 Im Hinblick auf die Gegenwartssituation und den möglichen Beitrag der philosophischen Hermeneutik Gadamers für die Ethik meint Figal: „Der Verlust alltäglicher Selbstverständlichkeit hat sich durch das ‚Globalisierung’ genannte Phänomen beschleunigt; fremde Kulturen rücken einander näher und also gilt es, das Verhältnis unterschiedlicher Lebensorientierungen zueinander zu klären.“ Günter Figal: Ethik und Hermeneutik, in: Hermeneutik als Ethik, hg. v. München 2004, S.117-133. Hier S.119. Es bleibt jedoch zu fragen, ob Gadamers philosophische Hermeneutik das Verhältnis unterschiedlicher Lebensorientierungen zueinander überzeugend klären kann. Wie können fremde Kulturen zueinander näher kommen, wenn jede Kultur an ihren eigenen traditionellen Werte als unbedingte Wahrheit festhält, wie Gadamer hier die unbedingte Geltung eigener Kulturtradition als Maßstab alles Verstehens in den Geisteswissenschaften hervorhebt. Daraus kann keine Verständigungsmöglichkeit zwischen den Kulturen entstehen, die unterschiedliche Wertsysteme haben. 229 Vgl. dazu die Untersuchungen von Gunter Scholtz über „Das Historismusproblem und die Geisteswissenschaften im 20. Jahrhundert“, a.a.O., S.130-157. 230 Vgl. Karl-Otto Apel: Szientistik, Hermeneutik und Ideologiekritik, in: Hermeneutik und Ideologiekritik, hg. v. Rüdiger Bubner, Frankfurt a. M. 1975, S. 35. Für Apel gilt die „Traditionsvermittlung“ als die zentrale Aufgabe der philosophischen Hermeneutik Gadamers und als weiterhin notwendige Aufgabe der Geisteswissenschaften, die aber „eine andere Form annehmen muß als in der Zeit vor dem Aufkommen der historisch-hermeneutischen Geisteswissenschaften.“ 231 Theunissen hat die „Traditionsaneignung“ als das umfassende Thema von Wahrheit und Methode angedeutet, Michael Theunissen: Philosophische Hermeneutik als Phänomenologie der Traditionsaneignung. In: »Sein, das Verstanden werden kann, ist Sprache«. Hommage an Hans-Georg Gadamer, Frankfurt a. M. 2001, S.61-88. 232 Vgl. Gunter Scholtz: Zum Historismusstreit in der Hermeneutik, a.a.O. S. 213.
186
Glaubens in Übereinstimmung zu bringen sucht. Gadamer nennt es seine „eigene
kritische Besinnung“, die sich „der Wahrheit der Tradition“ erst wieder zuwendet und
sie zu erneuern sucht und die man „Traditionalismus“ nennen kann (WM, 286).
Folglich handelt es sich bei Gadamer weder um die Überwindung kultureller
Fremdheit noch um die Annäherung an fremde Meinungen oder fremde Kulturen
durch das hermeneutische Verstehen. Ganz im Gegenteil, ihm geht es um die
Wiederbelebung der unbedingten Geltung und Fortwirkung der sittlichen Normen der
eigenen Kulturtradition, aus der er kommt und in der er steht.
Das bedeutet zugleich eine Verwandlung des Fremdheitsproblems vom allgemeinen
Problem der Verständnisschwierigkeit von Texten in ein Problem der Verfremdung der
eigenen Tradition. Denn ursprünglich wurde, wie sich bei Schleiermacher zeigt, das
Problem des Fremden als das allgemeine Problem des Nichtverstehens und
Mißverstehens fremder Rede bestimmt, welches nicht nur beim Verstehen antiker
oder der in fremder Sprache gefaßten Schriften, sondern auch „im Gebiet der
Muttersprache und im unmittelbaren Verkehr mit Menschen“, also beim alltäglichen
Umgang mit anderen Mitmenschen vorkommen kann und dessen Überwindung früher
die Aufgabe der allgemeinen Hermeneutik war 233 . Bei Gadamer wird das
Spannungsverhältnis zwischen Fremdheit und Vertrautheit, das sich bei
Schleiermacher nicht nur zwischen Damals und Heute, sondern auch zwischen Ich
und Du als zwei Individuen und zwischen eigener und fremder Kulturen abspielt, auf
das Spannungsverhältnis zwischen „Zugehörigkeit“ und „geschichtlicher
Abständigkeit“ zur eigenen Tradition übertragen, da es sich ausschließlich um das
Verhältnis des Verstehenden zu seiner eigenen Tradition handelt.
Nach Ricoeur spiegelt dieses Spannungsverhältnis zwischen „Zugehörigkeit“ und
„Abstandnahme“ zur eigenen Tradition das Spannungsverhältnis zwischen Wahrheit 233 Siehe oben (Kapitel 1.1).
187
und Methode bei Gadamer wieder. Denn genau wie zwischen der Alternative von
Wahrheit und Methode, so müssen wir entweder die methodologische Einstellung
wählen, damit wir einen Anspruch auf Objektivität in den Geisteswissenschaften
stellen können, wobei wir aber dann den Verlust des ontologischen Verhältnisses zur
Tradition als geschichtlicher Wirklichkeit in Kauf nehmen müssen, oder wir müssen
uns für die Einstellung der Erfahrung von Wahrheit der Überlieferung entscheiden,
dann aber die Idee der Objektivität aufgeben234. Denn auf der einen Seite steht die
historisch distanzierende wissenschaftliche Einstellung, die in den
Geisteswissenschaften die dominierende Tendenz zur Objektivität möglich macht; auf
der anderen Seite aber bedeutet solche als Bedingung der Wissenschaftlichkeit
geltende Distanz zugleich einen Bruch mit dem fundamentalen und ursprünglichen
Verhältnis zur Tradition, zu der wir gehören und an der wir teilhaben, da wir sie in
einen Gegenstand der wissenschaftlichen Konstruktion verwandeln. Man muß sich
jedoch deutlich machen, daß die Geisteswissenschaften und mit ihnen auch die
Philosophie in der Neuzeit sich nicht nur mit Texten der eigenen Kulturtradition
begnügen und auch nicht begnügen dürften, wenn man nicht in der eigenen
Kulturtradition und in der eigenen Lebenswelt gefangen bleiben und die gegenwärtige
Situation der Intensivierung interkultureller Kontakte in allen Bereichen ignorieren
möchte.
Durch Gadamers Radikalisierung der Traditionszugehörigkeit als ontologischer und
normativer Bedingung des Verstehens kann die sittliche Bindung des Verstehenden an
seine eigene Kulturtradition zwar vielleicht wiederhergestellt oder sogar befestigt
werden. Das Verhältnis des Verstehenden zu Texten fremder Wertsysteme, fremder
Religionen und fremder Kulturen bleibt bei Gadamer aber ungeklärt und
234 Vgl. Paul Ricoeur: The Hermeneutical Function of Distanciation, in: Philosophy Today 17 (1973), S. 129-141. Ähnliches dazu vgl. Horst Turk: „Wahrheit oder Methode? H.-G. Gadamers »Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik«“, a. a. O.
188
problematisch. Während das in der romantischen Hermeneutik immer vorausgesetzte
Wissen um die kulturelle Fremdheit durch Gadamers Umdeutung des
Fremdheitsproblems in ein Verfremdungsproblem in Vergessenheit gebracht wird 235,
wird die Aufgabe des hermeneutischen Verstehens, die bei Schleiermacher, Boeckh,
Dilthey, Betti und Hirsch sich auf die ganze Vielheit der menschlichen Kulturen
bezieht, auf die eigene Kulturtradition und die eigene Lebenswelt reduziert und
eingeschränkt236.
Insofern ist in diesem Spannungsverhältnis zwischen „Zugehörigkeit“ und
„Abstandnahme“ zur eigenen Tradition bei Gadamer nicht nur die Alternative
zwischen Wahrheit und Methode, sondern auch die zwischen eigener Tradition und
fremden Kulturen zu erkennen. Denn die Kehrseite der Zugehörigkeit des Interpreten
zur eigenen Tradition bei Gadamer ist nicht nur die „geschichtliche
Abständigkeit“ zur eigenen Tradition sondern auch seine kritisch distanzierende
Haltung gegenüber fremden Wertsystemen und fremden Kulturen, die sich in seiner
„Verfremdungskritik“ an Schleiermacher und in seinem Vorwurf des
„Wertrelativismus“ gegenüber dem historischen Objektivismus Diltheys am
deutlichsten erkennen läßt.
Dagegen wird die Aufgabe der Hermeneutik bei Hirsch im Anschluß an das
romantische Ideal des kulturellen Pluralismus in der Vermittlung fremder Meinungen
und fremder Kulturen gesehen. Seine Wiederbelebung des alten Ideals rekonstruktiver
Interpretation des ursprünglich vom Autor gemeinten Textsinns basiert auf seiner
235 Vgl. dazu Axel Horstmann: Interkulturelle Hermeneutik – eine neue Theorie des Verstehens? In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 47 (1999) 3, S. 427-448. Axel Horstmann hat darauf hingewiesen, daß das Wissen der älteren Hermeneutik Schleiermachers und August Boeckhs um die kulturelle Fremdheit unter der Wirkung der philosophischen Hermeneutik Gadamers und seiner Betonung des einen gemeinsamen Überlieferungszusammenhangs, der einen gemeinsamen Tradition und der einen gemeinsamen Geschichte in Vergessenheit geraten sei. Horstmann verdanke ich vor allem den Hinweis auf August Boeckhs Überlegungen zum Problem der „ägyptischen Philologie“, wo nicht einmal die Sprache als solche „gegeben“ sei, und auf die „interkulturelle Orientierung“ solcher älteren Hermeneutik. 236 Vgl. Gunter Scholtz: Zum Historismusstreit in der Hermeneutik, a. a. O., S. 213.
189
ethischen Haltung gegenüber dem Autor als einem Anderen oder Fremden. Daher
wird die Möglichkeit des Verstehens von fremden Texten und fremden Kulturen bei
Hirsch in der Möglichkeit und Notwendigkeit philologisch-rekonstruktiver
Interpretation begründet.
Die Aufgabe der Interpretation bei Hirsch wird von vornherein aus dem sittlichen
Verhältnis des Interpreten zum Autor bzw. Sprecher und zum anderen Leser abgeleitet,
indem die Meinung bzw. die Intention des Autors als primärer Maßstab für die
Geltungspüfung der Interpretation betrachtet wird. Da der Interpret den fremden
Sinngehalt eines Textes weiteren Lesern vermitteln soll, enthält die rekognitive bzw.
rekonstruktive Interpretation bei Hirsch somit auch die Vermittlungsfunktion, die sich
aber nicht nur zwischen Text und Interpreten, sondern auch zwischen dem Autor und
anderen Lesern abspielt. Daher ist der Objektivitätsanspruch im Sinne der
intersubjektiv überprüfbaren Gültigkeit der Interpretation für Hirsch unerläßlich.
4.2 Wahrheit der Texte vs. Gültigkeit der Interpretation
Dieser Unterschied der Vermittlungsfunktion des Verstehens bei Gadamer und
Hirsch hängt damit zusammen, daß Hirsch an der Unterscheidung zwischen dem Sinn
(als Sinngehalt) eines Textes und dessen Bedeutung festhält und die Aufgabe der
Hermeneutik als möglichst richtiges Verstehen der Texte von der Aufgabe der Kritik
als Verständigung über die sachliche Wahrheit der Texte unterscheidet. Gadamer
dagegen möchte die Aufgabe der Hermeneutik auf die alte Tradition der biblischen
und juristischen Hermeneutik zurückführen, in der die Geltung der Texte immer schon
vorausgesetzt ist und in jedem Verstehen weiter gelten soll237. Daher wird Textsinn
237 Vgl. den Hinweis von Gunter Scholtz: Anerkennung als Element der Hermeneutik, in: Die geistigen Grundlagen einer Kultur der Anerkennung, hg. v. H. K. Keul u. J. Rüsen, demnächst Bukarest [Manuskript] S. 2: „Sowohl die Auslegung heiliger Schriften im religiösen Kultus als auch die
190
und sachlicher Wahrheit bei Gadamer gleichgesetzt. Das ist auch der Grund, warum
Gadamer in der historisch-methodologischen Hermeneutik Spinozas, Schleiermachers
und Diltheys einen „Bruch der Sinnkontinuität der Überlieferung“ sieht und warum er
ihnen eine „Verfremdung“ und „Entmachtung“ der Tradition vorwirft238.
Für Hirsch bedeutet das Verstehen das Verständnis des vom Autor gemeinten Sinns
und der gemeinten Sache des Textes und zielt nur darauf ab, den ursprünglich vom
Autor gemeinten Sinn und die Sache des Textes in der Interpretation zu rekonstruieren,
ohne den Anspruch auf ein Einverständnis des Interpreten mit dem im Text Gesagten
bzw. über die verhandelte Sache zu erheben, während das Verstehen von Texten bei
Gadamer als „Gespräch mit dem Text“ bzw. als „Abwandlungsmodus der
Dialogsituation“ begriffen werden muß239. Dementsprechend geht es Gadamer nicht
nur um ein Verständnis des Textes, sondern „um den Entwurf von Wahrheit in der
dialogischen Auseinandersetzung zwischen Text und Interpreten,“ wie Seebohm
sagt240 – wobei allerdings der Text die Wahrheit schon vorgibt.
Das hängt damit zusammen, daß der Text für Gadamer entweder stets einen so
hohen Status wie die kanonischen Schriften hat, die einen überlegenen Sinn und eine
unbedingte Geltung als Wahrheit beanspruchen, oder aber aufgrund der
„Wahrheit“ eigener Tradition verstanden werden soll. Die Unterlegenheit des
Verstehenden gegenüber dem Interpretandum als Gesprächspartner soll die
Überlegenheit der normativen Werte der eigenen Tradition und deren „überlegenen Interpretation der Gesetze in der Rechtsprechung setzen noch immer die Geltung der entsprechenden Texte voraus und bestätigen sie in jeweils neuer Situation. H.-G. Gadamer hat mit Blick auf diese Auslegungspraxis jenen ersten Grundtypus sogar zum leitenden Paradigma der Hermeneutik erklärt und zu erneuern gesucht.“ 238 Gadamer: Wahrheit und Methode, Ges. Werke Bd. 1, S. 180ff, 200f, 297f, u.ö.. 239 Nach Seebohm ist es wie ein „Grundsatz der fundamentalontologischen Theorie der Interpretation“, das Verstehen von Texten „als Abwandlungsmodus der Dialogsituation“ zu begreifen. Thomas H. Seebohm: Zur Kritik der hermeneutischen Vernunft, Bonn 1972, S. 85. Zum Thema des Gesprächsmodells in der Hermeneutik Gadamers siehe auch die Untersuchungen von Thomas Bettendorf: Hermeneutik und Dialog. Eine Auseinandersetzung mit dem Denken Hans-Georg Gadamers, Frankfurt a. M. 1984; Hans-Herbert Kögler: Die Macht des Dialogs. Kritische Hermeneutik nach Gadamer, Foucault und Rorty, Stuttgart 1992. 240 Thomas Seebohm, a. a. O., S. 85.
191
Sinn“ als die „feste Grundlage aller hermeneutischen Bemühungen“ unterstreichen.
Daher werden das Einverständnis und die Übereinstimmung in der Sache bei
Gadamer fast ausschließlich mit Beispielen biblischer Hermeneutik normativ zum
Ziel alles Verstehens und aller Verständigung erhoben241.
In dieser Weise können die Gesprächspartner in solchem Dialogsmodell keine
Gleichstellung haben. Insofern beschreibt Gadamer in Wirklichkeit nicht nur das, was
Verstehen ist und wie das Verstehen geschieht, wie er in seiner Antwort auf Emilio
Bettis Kritik sagte242, sondern auch das, was das Verstehen sein sollte, indem er den
Anspruch auf das Einverständnis in der sachlichen Norm eigener Tradition zum Ziel
alles Verstehens und aller Verständigung erhebt.
Daher wird das Verstehen bei Gadamer nicht als eine Handlung des verstehenden
Subjekts, sondern als „Einrücken in ein Überlieferungsgeschehen“ und als
„Wahrheitsgeschehen“ betrachtet, weil der Sinn bzw. die Wahrheit der Überlieferung
dem Interpret unmittelbar vermittelt werden sollen, wie er ja auch die Gleichzeitigkeit
und die Unmittelbarkeit des Verstehens im Sinne der „totalen Vermittlung zwischen
der eigenen Gegenwart und der Heilstat Christi“ in Anlehnung an Kierkegaards
Begriff der Gleichzeitigkeit hervorhebt (WM, 132). Damit enthält das Verstehen bei
Gadamer nicht nur die Vermittlungsfunktion zwischen Vergangenheit und Gegenwart,
241 Gadamer bezieht sich ausschließlich auf die Geschichte der Bibelhermeneutik: „Wir hatten gesehen: Das Ziel aller Verständigung und alles Verstehens ist das Einverständnis in der Sache. So hat die Hermeneutik von jeher die Aufgabe, ausbleibendes oder gestörtes Einverständnis herzustellen. Die Geschichte der Hermeneutik kann das bestätigen, wenn man z.B. an Augustin denkt, wo das Alte Testament mit der christlichen Botschaft vermittelt werden soll, oder an den frühen Protestantismus, dem das gleiche Problem gestellt war, oder endlich an das Zeitalter der Aufklärung, wo es freilich einem Verzicht auf Einverständnis nahekommt, wenn der vollkommene Verstand eines Textes nur auf dem Wege historischer Interpretation erreicht werden soll. Es ist nun etwas qualitativ Neues, wenn die Romantik und Schleiermacher ein geschichtliches Bewußtsein von universalem Umfang begründen, indem sie die verbindliche Gestalt der Tradition, aus der sie kommen und in der sie stehen, nicht mehr als feste Grundlage für alle hermeneutische Bemühung gelten lassen“ (WM, 297). 242 In seiner Antwort auf Emilio Bettis Kritik sagte Gadamer, daß er keine Methode des Verstehens vorschlagen wollte, und er hielt es allein für wissenschaftlich, „anzuerkennen, was ist, statt von dem auszugehen, was eben sein sollte oder sein möchte.“ Ihm gehe es lediglich darum zu zeigen, was das Verstehen in den Geisteswissenschaften ist, bzw. wie das Verstehen geschieht. Gadamer: Hermeneutik und Historismus, in: Ges. Werke, Bd. 2, Tübingen 1993, S. 387- 424, hier S. 394.
192
sondern auch einen „Offenbarungscharakter“, worauf Hans Albert hingewiesen hat243.
Das ist auch der Grund, warum Gadamer den Text nicht als den Lebensausdruck oder
die Lebenesäußerung anderer Person betrachten möchte und die Meinung des Autors
für das Verstehen des Textes für unwichtig hält.
Das wirkliche Problem des Fremden, das in Formen des Mißverstehens und
Nichtverstehens erscheint, sowie alles, was nicht selbstverständlich oder unmittelbar
verstehbar ist, kommen somit in seiner Hermeneutik überhaupt nicht vor. Das ist auch
der Grund, warum man keine konkrete Lösungen für das Problem des Mißverstehens
oder Nichtverstehens sowie für die Frage nach der Gültigkeit des Verstehens in
Gadamers Hermeneutik finden kann244.
Dagegen wird das Verstehen bei Hirsch als ein progressives Verfahren des Lernens
von Sinn-Konstitution beschrieben, das auf die Rekonstruktion des vom Autor
gemeinten Textsinns abzielt und sich in einer Dialektik zwischen Sinn-Konstitution
und Sinn-Überprüfung vollzieht. Im Gegensatz zu Gadamer hat Hirsch die Frage nach
der Gültigkeit der Interpretation von fremdem Textsinn in den Mittelpunkt seiner
hermeneutischen Überlegungen gestellt und sie durch das Einbeziehen der
Autorintention als einziger Norm der Geltungsprüfung beantwortet. Statt sich auf wie
Gadamer eine ontologische Bedingung wie die Traditionszugehörigkeit zu berufen,
die das Verstehen von Fremdem und fremder Kulturen, wenn nicht unmöglich, so
doch zumindest sehr schwer macht, sucht Hirsch die Möglichkeit des Verstehens in
243 Hans Abert: Kritik der reinen Hermeneutik, a.a.O. S.72f. 244Wie z.B. Frithjof Rodis Hinweis auf Gadamers Vernachlässigung des „Nichtselbstverständlichen“ als hermeneutisches Problem in den Geisteswissenschaften. Frithjof Rodi: Über einige Grundbegriffe einer Philosophie der Geisteswissenschaften, in: Dilthey-Jahrbuch, Bd. 1/ 1983, S. 13-38. Den Grund der Unzulänglichkeit der philosophischen Hermeneutik Gadamers im Bezug auf die Frage nach der Gültigkeit des Verstehens sieht Apel vor allem darin: „Es kann a priori nicht genügen, die Frage nach der Möglichkeit des Verstehens dadurch beantworten zu wollen, daß man die Struktur eines Seinsgeschehens (der Horizontverschmelzung oder der Vermittlung der Gegenwart mit der Vergangenheit) aufzeigt, die im Mißverstehen ebenso wie im adäquaten Verstehen als Geschehens-Struktur realisiert werden muß. Vielmehr muß ein Kriterium dafür angegeben werden, wie sich das adäquate Vertehen vom Mißverstehen unterscheidet, um die Frage nach der Möglichkeit des Verstehens zu beantworten.“ Karl-Otto Apel: Transformation der Philosophie, Bd. 1, a. a. O, S. 44.
193
der Grundfähigkeit des Lernens des Menschen und der Teilbarkeit der Sprache sowie
der Genre-Gebundenheit alles Verstehens zu begründen, die sowohl für das Verstehen
von Texten eigener Tradition als auch für das Verstehen fremder Kulturen ihre
Geltung beanspruchen können.
Insofern sind ihre Lösungen für das Problem des Fremden in der Hermeneutik nicht
nur an einem jeweils anderen Begriff der Fremdheit orientiert (Gadamer ist am
Verfremdungsproblem der Tradition interessiert, Hirsch in der Nachfolge von
Schleiermachers und Diltheys hermeneutischen Konzeptionen am Verständnisproblem)
sondern auch an einem jeweils anderen Wahrheitsbegriff: Gadamer legt einen
„Evidenzbegriff von Wahrheit“ zugrunde (im Verstehen soll die „Sage“ als das in der
Überlieferung stehende Wesen der Sache zur Geltung gebracht werden)245, Hirsch
aber orientiert sich am Korrespondenzbegriff der Wahrheit, indem er auf die
Übereinstimmung der Interpretation mit dem Sinngehalt des Textes abzielt. Gadamer
geht es nicht um „wahre Aussagen über Texte“, sondern um die „Wahrheit der
Texte“246.
Beiden liegt das hermeneutische Element der Anerkennung zugrunde247: In der
Hermeneutik Gadamers wird das Interpretandum - wie in der Tradition der
theologischen und juristischen Hermeneutik, in der die Geltung der entsprechenden
Texte vorausgesetzt und in jeweils neuer Situation bestätigt wird - als wahr und
richtig anerkannt; in der Hermeneutik von Hirsch wird der Text – wie in der Tradition
der allgemeinen Hermeneutik Schleiermachers, in der Text und Rede jedes
245 Siehe besonders Jean Grondin: „Hermeneutische Wahrheit? Zum Wahrheitsbegriff Hans-Georg Gadamers, Weinheim 1982. Vgl. Gunter Scholtz: Zum Historismusstreit in der Hermeneutik, a.a.O., S. 200. 246 Scholtz, a.a.O. Ähnlich meint Turk: Gadamer gehe es um die Gemeinsamkeit der »Sache«, Hirsch um die Gemeinsamkeit des »Wortsinns«. Horst Turk: „Wahrheit oder Methode? H.-G. Gadamers »Grungzüge einer philosophischen Hermeneutik«“, a.a.O., S. 127f. 247 Vgl. Gunter Scholtz: Anerkennung als Element der Hermeneutik, a.a.O., in chines. Übers. (承認之為詮釋學的要素) in: World Philosophy, Bejing 2006, Nr. 3, S. 33-41. Scholtz verdanke ich den Hinweise auf die verschiedenen Formen der Anerkennung in der Hermeneutik.
194
Individuums zunächst als sinnvoll vorausgesetzt wird - als die Meinung, die
Lebensäußerung und die Objektivation der Gedanken eines Anderen bzw. Fremden
anerkannt248.
Insofern sind die beide Hermeneutiken nicht als zwei Methodologien, sondern als
zwei ethischen Stellungnahmen anzusehen, wie Scholtz sehr schön formuliert hat:
„die erste, Theorie der Geschichtlichkeit, fordert als Wichtigstes die Fortsetzung der
Tradition, die zweite, die Theorie eines möglichst objektiven Verstehens, die
Erkenntnis und Anerkennung fremder Meinungen und fremder Kulturen.“249 Folglich
können wir die Hermeneutik von Gadamer und Hirsch nach ihren eigentlichen
Anliegen und Zielsetztungen jeweils als die der eigenen Tradition und die der fremden
Kulturen bezeichnen.
4.3. Hermeneutik und das Verstehen fremder Kulturen
Daß die Hermeneutik von Hirsch sich von Anfang an auf das Verstehen von
fremden Kulturen richtet, ist wohl mehr als deutlich nachgewiesen. Ob die
philosophische Hermeneutik Gadamers, die von Anfang an auf das Fortwirken der
normativen Werte eigener Tradition abzielt, auch für das Verstehen fremder Kulturen
fruchtbar sein könnte, läßt sich ernsthaft bezweifeln.
Der Wandel des Fremdheitsproblems bei Gadamer wurde in den meisten Arbeiten
über „Hermeneutik und das Problem des Fremden bzw. interkulturelles
Verstehens“ übersehen, was aber meines Erachtens für ihre Frage nach der
Tragfähigkeit Gadamerscher Hermeneutik für das Problem des Fremden, vor allem
das Problem des kulturell Fremden von entscheidender Bedeutung ist. Zum Beispiel
248 Vgl. Gunter Scholtz: Anerkennung als Element der Hermeneutik, a.a.O. (Manuskript 2006), S. 3. 249 Vgl. die Unterscheidung zwischen diesen zwei Historismen in der Hermeneutik bei Gunter Scholtz: Zum Historismusstreit in der Hermeneutik, a.a.O., S. 210.
195
in den neu erschienenen Arbeiten von Werne Kogge, Heike Kämpf und Andreas
Vasilache wird das Problem der Fremdheit bzw. des Fremden bei Gadamer
unreflektiert schlicht als Frage nach dem kulturell Fremden angesehen und seine
hermeneutische Konzeption als positives Modell für das Verstehen fremder Kulturen
eingesetzt. Das trifft weder die eigentliche Bedeutung des Fremdheitsproblems als
Verfremdung der Tradition noch das normative Motiv der Wiedergewinnung
normativer Werte eigener Tradition als Aufgabe der Hermeneutik bei Gadamer 250.
Kogge z. B. hat zwar erkannt, daß die Hermeneutik, die „sich seit Jahrhunderten
mit Problemen des Verstehens und Verständlichmachens beschäftigt“, bei den
gegenwärtigen Diskussionen um die Problematik von Kulturdifferenzen und
Fremderfahrungen kaum Beachtung gefunden hat 251 . Aber statt sich an die
philologisch-historische Hermeneutik zu wenden, welche sich seit der Romantik mit
dem Problem des Verstehens und Verständlichmachens von fremdem Sinn beschäftigt
hat, versucht Kogge aus der „philosophischen Hermeneutik Heideggers und
Gadamers“ Ansätze für eine „Hermeneutik des Fremden“252 abzuleiten, wo die
kulturelle Fremdheit bzw. das Verstehen fremder Kulturen überhaupt kein Thema
waren und keinen systematischen Ort hatten. Um so erstaunlicher erscheint es uns,
daß Kogge selbst die „Entproblematisierung des Verstehens“ und die „Nivellierung
des Fremden“ in der philosophischen Hermeneutik Gadamers mit großer
Überzeugungskraft nachgewiesen hat253, was eher gegen seinen eigenen Ansatz
250 Siehe Werner Kogge: Verstehen und Fremdheit in der philosophischen Hermeneutik. Heidegger und Gadamer, Hildesheim 2001; Heike Kämpf: Die Exzentrizität des Verstehens. Zur Debatte um die Verstehbarkeit des Fremden zwischen Hermeneutik und Ethnologie, Berlin 2003; Andreas Vasilache: Interkulturelles Verstehen nach Gadamer und Foucault, Frankfurt a. M. 2003. 251 Kogge: Verstehen und Fremdheit, a.a.O, S. 9. 252 Kogge: Verstehen und Fremdheit, ebd. 253 Kogge hat die „Nivellierung des Problems des Fremden“ bei Gadamer besonders in seiner Sprachontologie, und zwar in den Passagen über das „hermeneutische Skandalon“ gesehen, wo die von Gadamer wenig geachtete Vernunft plötzlich zum Schlüssel „über die Schranken jeder gegebenen Sprachverfassung“ (WM, 406) erhoben wird. Zu Recht kritisiert Kogge Gadamer, „wie wenig klar er das Problem der unterschiedlichen Sprachen verfolgt. [...] Hier verkehrt Gadamer Explanans und Explanandum der Problemstellung. Denn in Frage stand, wie Verstehen trotz unterschiedlicher
196
spricht.
Ein erster wichtiger Grund für ein solches Mißverständnis liegt meiner Ansicht
nach in der Zweideutigkeit, in der Gadamer das Wort „Fremdheit“ (gelegentlich das
„Fremde“) verwendet. Zunächst steht es bei ihm für das Fremde bzw. die Fremdheit
der historischen Überlieferung als Entfremdung der Überlieferung. In diesem Sinne
ist der Begriff des Fremden die allgemeine Bezeichnung für die
Verständnisschwierigkeit, also für die Befremdlichkeit oder Mißverständlichkeit
überlieferter Texte und fremder Rede, die auch Schleiermacher und Dilthey im Blick
hatten. Dann wird der Begriff des Fremden bzw. der Fremdheit bei Gadamer
umgedeutet zur Verfremdung als Abstandnahme zur eigenen Kulturtradition, wobei es
sich in Wahrheit nicht um das kulturell Fremde oder um die fremdkulturellen
Traditionen, sondern um das Verstehen eigener Kulturtradition handelt254. Gadamers
Erhebung der Überwindung der Fremdheit zur Aufgabe der Hermeneutik erweckt den
Anschein, als ob es sich um das Problem der Fremdheit im herkömmlichen Sinne
handelte.
Dieses Problem der Fremdheit im Sinne der wissenschaftlichen Verfremdung, das
Gadamer zu überwinden beansprucht, hat, wie gezeigt, viel mehr mit dem sittlichen
Verhältnis des Interpreten zur eigenen Tradition zu tun, da Gadamer hier die
Verfremdung auf die Distanzierung von der eigenen Tradition zurückführt und als
eine Problematik des Verstehens thematisiert. Diese Thesen setzen eine ursprüngliche
Sprachen und über Sprachgrenzen hinweg möglich sein könne. Darauf zu antworten, daß Verstehen ständig gelänge, bedeutet eine Suspension, nicht eine Lösung des Problems.“ Die Entproblematisierung des Verstehens hat Kogge in Gadamers Abgrenzung von Humboldts Gedanken der Sprachen als Weltansichten durch seine Ausführungen über den Begriff der Welt, die einen ‚Selbstdarstellungscharakter’ hat, nachgewiesen. Den Widerspruch in Wahrheit und Methode sieht Kogge vor allem zu Recht darin, daß es „einerseits die Bedingtheit jedes Verstehens in den Verstehensbedingungen aufweist, andererseits Verstehen [in Gadamers Ausführungen über den Begriff der Welt]als unbedingte Selbstdarstellung von Welt völlig entproblematisiert.“ Werner Kogge: Verstehen und Fremdheit, a.a.O., s. bes. S. 135, S. 138f. 254 Ähnlich meint Mirko Wischko, daß Gadamer den Sinn des Verstehens im Sich-Verstehen aufgehen zu lassen scheine. Vgl. Mirko Wischko: Die Schwäche der Schrift. Zur philosophischen Hermeneutik Hans-Georg Gadamers, Köln/ Weimar/ Wien 2001, S. 220f.
197
Vertrautheit und ein Einverständnis mit dem Text voraus, was aber nicht für alle Texte
der eigenen Tradition und schon gar nicht für Texte fremder Kulturen gelten kann.
Darüber hinaus geht Gadamer stets davon aus, daß das Verstehen sich von selbst
ergibt, wenn man seine Hervorhebung der Selbstverständlichkeit der Überlieferung
bzw. des Selbstdarstellungscharakters der Kunstwerke und der Geschichte255 und
schließlich des Selbstdarstellungscharakters der Welt256 zur Kenntnis nimmt. Das
Unverständliche, Befremdliche oder Mißverständliche vor allem aber auch die
kulturelle Fremdheit spielen hier überhaupt keine Rolle257.
Ein anderer Anlaß, in Gadamers philosophischer Hermeneutik Möglichkeiten für
die Diskussion über das Verstehen von kulturell Fremdem zu suchen, besteht darin,
daß in seinem Modell des hermeneutischen Gesprächs die Überlieferung als ein
Kommunikationspartner und das Verstehen als ein Gespräch mit der Überlieferung
beschrieben wird: „Denn ein echter Kommunikationspartner, mit dem wir ebenso
zusammengehören wie das Ich mit dem Du, ist auch die Überlieferung“ (WM, 364).
Die Überlieferung spreche von sich aus so wie ein Du. Die Anerkennung der
Überlieferung als eines Gesprächspartners schafft eine gute Voraussetzung für die
wohlwollende Assoziation mit der Problematik des Verstehens von kulturell Fremdem,
wie zum Beispiel die Bezugnahme auf die philosophische Hermeneutik Gadamers im
Rahmen der „Debatte um die Verstehbarkeit des Fremden zwischen Hermeneutik und
Ethnologie“ in der Habilitationsschrift von Heike Kämpf zeigt258. Kämpf stellt hier
255 Wir haben breits oben (siehe Kap. 2.3.3., S.117) auf den Selbstdarstellungscharakter der Kunstwerke, der Geschichte und der Welt, und auf die Gleichsetzung von geschichtlichen Wirklichkeiten und historischer Forschung bei Gadamer hingewiesen und die daraus folgenden Probleme in Horst Turks Kritik an Gadamer gezeigt. Nach Turk wird die Auslegung nach Gadamers These zur Selbstauslegung der Geschichte und der Begriff der Geschichte wird auf diese Selbstauslegung eingeschränkt (nämlich die Geschichte wird zur Geschichte der Textauslegung). 256 Vgl. Werner Kogge: Verstehen und Fremdheit, a.a.O., S. 139. 257 Ähnlich meint Hans Robert Jauss, daß das Verstehen der Alterität des Gesprächspartners möglicherweise für Gadamer von einer nur untergeordneten Bedeutung sei. Hans Robert Jauss: Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, Frankfurt a. M. 1991, S. 679. 258 Heike Kämpf: Die Exzentrizität des Verstehens: Zur Debatte um die Verstehbarkeit des Fremden zwischen Hermeneutik und Ethnologie, Berlin 2003. Bes. S. 165ff.
198
Helmut Plessners Konzeption der „Exzentrizität“ des Verstehens und Gadamers
Konzeption der „Unmittelbarkeit“ des Verstehens als zwei entgegengesetzte
Auffassungen des Verstehens dar. Die Kontrastierung zwischen Exzentrizität und
Unmittelbarkeit des Verstehens trifft für den Gegensatz der Auffassung des Verstehens
von kulturell Fremdem bei Plessner und Gadamer vollkommen zu. Das einzig
Fragwürdige in diesem Vergleich ist, Gadamers Hermeneutik überhaupt als eine
Hermeneutik für das Verstehen von kulturell Fremdem in Betracht zu ziehen.
Kämpf übersieht dabei, daß Gadamer seine Beschränkung auf den
„Zeitenabstand“259 und vor allem seine Vernachlässigung der Situation des kulturellen
Abstandes in einer Selbstkritik selbst eingestanden hat:
„Es muß sich nicht immer um einen geschichtlichen Abstand handeln, und es ist auch durchaus nicht immer der Zeitenabstand als solcher, der imstande ist, falsche Überresonanzen und verzerrende Applikationen zu überwinden. Der Abstand erweist sich sehr wohl auch in der Gleichzeitigkeit als ein hermeneutisches Moment, z.B. in der Begegnung zwischen Personen, die im Gespräch erst gemeinsamen Grund suchen, und vollends in der Begegnung mit Personen, die dabei fremde Sprachen sprechen oder in fremden Kulturen leben.“
260
Die von Kämpf zitierte Stelle, die auf das Fremde bezogen war, richtet sich
hauptsächlich auf Gadamers eigentliches Anliegen der Wiederherstellung der
ursprünglichen Aufgabe der Hermeneutik, die in den alten Traditionen der biblischen
und juristischen Hermeneutik praktiziert war, nämlich „die der Aneignung eines
259 Die Hervorhebung des Zeitenabstandes bei Gadamer wurde von Jean Grondin als
„Traditionsoptimismus“ und „einseitig“ kritisiert: „Ja, es steht zu befürchten, daß diese nivellierende Macht geschichtlicher Vorurteile in einer zunehmend homogener werdenden Welt nur im Wachsen sein kann. Gegen diese einseitige Hervorhebung des Zeitenabstandes spricht fernerhin, daß er nicht allzu viel Beistand leistet, wenn es um die Beurteilung zeitgenössische Ansätze geht, wo dennoch die Unterscheidung von wahren und falschen Vorurteilen ihren guten Sinn behält.“ Jean Grondin: Von Heidegger zu Gadamer. Unterwegs zur Hermeneutik, Darmstadt 2001, S. 127f. 260 Zwischen Phänomenologie und Dialektik. Versuch einer Selbstkritik (1985), Ges. Werke, Bd. 2, S. 3-23, hier S. 9.
199
überlegenen Sinnes“ (Hervorhebung von mir)261. Gadamers Satz lautet:
„Aber war es nicht von jeher der Antrieb der Hermeneutik, das Fremde, den unerforschlichen Götterwillen oder die Heilsbotschaft oder die Werke der Klassiker, durch Auslegung zu �verstehen�, und bedetutet das nicht immer eine
konstitutive Unterlegenheit dessen, der versteht, gegenüber dem, der sagt und zu verstehen gibt?“262
Mit dem Fremden meint Gadamer hier weder das kulturell Fremde noch den kulturell
Fremden, sondern die fremd gewordene Überzeugungskraft tradierter Werke, deren
normativer Sinn als überlegener Sinn in jedem Verstehen wieder zur Geltung gebracht
werden sollte 263 . Was Gadamer in seiner philosophischen Hermeneutik betonen
möchte, ist das sittliche Verhältnis des Interpreten zur eigenen Tradition, sie als
normgebend zu akzeptieren, also „sich etwas bedeuten zu lassen“ 264 und sich
überzeugen zu lassen. Daher wurde die Hermeneutik von Gadamer eine
Diener-Wissenschaft genannt: sie stehe „im Dienst dessen, was gelten sollte“ 265.
Das Ich-Du-Verhältnis in der Hermeneutik Gadamers ist somit das
Ich-Tradition-Verhältnis, also das Seinsverhältnis zu sittlichen Normen der Tradition.
Demnach hat Gadamer „die quasi-wertneutrale Charakteristik der immer vorliegenden
Formalstruktur des Verstehens als Traditionsvermittlung nur nach der konservativen 261 Gadamer: Replik zu Hermneutik und Ideologiekritik, in: Ges. Werke, Bd.2, S.251-275. Hier S.264. 262 Ebd. 263 Hierin sieht Apel eine „Unterstellung der virtuellen Überlegenheit des Interpretandum“ bei Gadamer. Das normative Charakteristikum einer mythodologischen, theologischen oder klassisch-humanistischen Hermeneutik vor der europäischen Aufklärung wird Apel zufolge durch den Hinweis auf den »unerforschlichen Götterwillen oder die Heilsbotschaft oder die Werke der Klassiker« wieder zur Geltung gebracht. Vgl. Karl-Otto Apel: Transformation der Philosophie, Bd. 1: Sprachanalytik, Semiotik, Hermeneutik, Frankfurt a. M. 1973, Einleitung, S. 47. 264 Gadamer: Das Problem der Geschichte, Ges. Werke, Bd. 2, S. 27-36, hier S. 35. 265 Hier könnte man mit Apel gegen Gadamer einwenden: „Soll die Hermeneutik das Erbe der Aufklärung kritisch bewahren, so muß sie m.E. neben der Unterstellung der virtuellen Überlegenheit des Interpretandum auch die Einsicht Hegels in den prinzipiellen Anspruch der reflexiven Selbstdurchdringung des Geistes im Verstehen bewahren und daraus einen prinzipiellen Beurteilungsprimat des Interpreten herleiten: Wenn dieser nicht sich das Recht auf kritische Beurteilung des zu Verstehenden und insofern sich die Wahrheit zutraut, hat er sich noch nicht auf den Standpunkt einer philosophischen Hermeneutik gestellt, sondern beharrt auf dem einer Hermeneutik im Dienst eines dogmatischen Glaubens.“ Karl-Otto Apel: Transformation der Philosophie, Bd. 1, a. a. O., S. 47f.
200
Seite, z.B. der Rehabilitierung der Autorität, normativ transzendiert,“ wie Apel mit
Recht bemerkt (Hervorhebung von mir) 266 . Kämpf übersieht dabei, daß solche
normativ gemeinte sittliche Bindung des Interpreten an die eigene Tradition bei
Gadamer sich nicht ohne weiteres auf das Verstehen fremder Kulturen übertragen läßt.
Außerdem übersieht man dabei, daß Gadamer den Sinngehalt der Überlieferung
stets von dem meinenden Du als einer sprechenden, konkreten Person abgelöst
betrachtet und die Überlieferung nicht als Lebensäußerung oder Meinung des Du
verstehen möchte. Ohne die Anerkennung der Meinung des sprechenden Du läßt sich
ein gelungenes Gespräch jedoch kaum vorstellen. Man mag noch so sehr betonen, daß
Gadamer die Überlegenheit des Anderen anerkenne und daß dies eine wichtige
Bedingung für das Gespräch sei. Man übersieht dabei, daß mit dem Anderen bei
Gadamer nicht der kulturell Fremde sondern stets der historisch fremd gewordene
normative Sinn der eigenen Tradition267 gemeint ist, der dem Interpreten gegenüber
grundsätzlich überlegen sei. Ein wirkliches Gespräch kann aber nur stattfinden, wenn
beide Geprächspartner eine gleiche Stellung haben und beide die Meinung des jeweils
Anderen bzw. Fremden richtig verstehen wollen.
Selbst wenn das hermeneutische Verstehen bei Gadamer sich um die Erzielung von
gemeinsamer sachlicher Meinung zwischen dem Interpreten und dem Interpretandum,
d.h. einem Text fremder Kulturen, handeln sollte, bleibt das Wissen über das im Text
Gesagte, also die Arbeit historisch-philologischer Interpretation als Grundlage für die
Verständigung über die Sache unentbehrlich. Das ist besonders notwendig im Falle
266 Ebd. 267 Vgl. ähnlich dazu die aktuellste Untersuchung von Andreas Spahn: Der ‚Andere’ bei Gadamer werde nicht als der ‚Fremde’ gefaßt. „Daher ergibt sich in Bezug auf die Versuche, den Gadamerschen hermeneutischen Dialog für die Begegnung mit dem ‚Fremden’ (etwa im Sinne der interkulturellen Hermeneutik) fruchtbar zu machen, das Problem, daß es nach Gadamer zu den ontologischen Bedingungen des Verstehens zählt, der Überlieferung anzugehören, die man zu verstehen anstrebt.“ Andreas Spahn: Hermeneutik zwischen Rationalismus und Traditionalismus. Gadamers Wahrheitsbegriff vor dem Hintergrund zentraler Paradigmen der Hermeneutikgeschichte, Dissertation Bochum 2006 (im Erscheinen begriffen).
201
der Begegnung mit fremdkulturellen Überlieferungen. Gadamers normative
Forderung der Sinnkontinuität abendländischer Tradition als Grundlage aller
hermeneutischen Bemühungen macht besonders das Verstehen von kanonischen
Texten fremder Kulturen unmöglich, da sie für uns weder Selbstverständlichkeit
besitzen (im Sinne der Möglichkeit einer Unmittelbarkeit des Verstehens bzw. totaler
Vermittlung) noch schlicht mit den sittlichen Normen der eigenen Tradition gemessen
werden sollten.
Ein anderer Grund, die Tragfähigkeit von Gadamers Hermeneutik für das Verstehen
fremder Kulturen in Frage zu stellen, liegt in Gadamers Hervorhebung der
Zugehörigkeit des Interpreten zur Tradition als unentbehrlicher Bedingung des
Verstehens. Diese setzt voraus, daß es zwischen dem Interpretandum und dem
Interpreten eine ursprüngliche Vertrautheit und ein bereits bestehendes Einverständnis
gibt, was aber aufgrund des geschichtlichen und vor allem kulturellen Abstandes
unplausibel erscheint. Die Traditionszugehörigkeit kann das Verstehen der
Überlieferung eigener Kulturtradition zwar erleichtern, ist aber nicht die
entscheidende Bedingung der Möglichkeit des Verstehens, sonst wäre es unmöglich,
daß Menschen unterschiedlicher Herkunft einander verstehen. Und es kann
schließlich auch nicht behauptet werden, daß die europäische Kultur nur von
Europäern und chinesische Kultur nur von Chinesen verstanden werden kann. Auch
daran zeigt sich die Unzulänglichkeit Gadamerscher Hermeneutik im Bereich des
Verstehens von fremden Kulturen268.
Ein weiterer Grund, die Tragfähigkeit Gadamerscher Hermeneutik für das
Verstehen fremder Kulturen zu bezweifeln, liegt darin, daß sein Modell des
268 Vgl. ähnlich skeptisch dazu die Untersuchungen von Hans-Herbert Kögler: Die Macht des Dialogs – Kritische Hermeneutik nach Gadamer, Foucault und Rorty, Stuttgart 1994; Axel Horstmann: Interkulturelle Hermeneutik – eine neue Theorie des Verstehens? in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 3 (1999), S. 427-448; Stephan Schmidt: Die Herausforderung des Fremden, interkulturelle Hermeneutik und konfuzianisches Denken, Darmstadt 2005.
202
hermeneutischen Gesprächs, in welchem die Offenheit für den Anspruch des Anderen
besonders hervorgehoben wird, offensichtlich nur im Bezug auf seine eigene
Kulturtradition Geltung hat.269 Und so sind die Versuche, aus Gadamers Hermeneutik
eine Hermeneutik interkultureller Verständigung oder eine Hermeneutik
interkulturellen Verstehens abzuleiten, zum Scheitern verurteilt.
In seiner Abhandlung aus dem Jahr 1993 über „Europa und die Oikumene“270 hat
Gadamer bekanntlich betont, daß die Philosophie ganz und gar in Europa entstanden
sei. Dazu sagt Kimmerle: „Er öffnet sich zwar der Einsicht, ‚daß die Hochkulturen
Ostasiens und Indiens auf die Menschheitsfragen’ Antworten gesucht haben, die auch
‚in Europa durch die Philosophie immer wieder gefragt werden’. Aber er bleibt dabei,
daß ‚der Begriff Philosophie gleichwohl noch nicht’ auf diese großen Antworten
anwendbar sei“271. „Gadamer will innerhalb der europäisch-westlichen Traditionen
der Philosophie die von Plato ausgehende Offenheit dem/den Anderen gegenüber
stark machen, aber ohne damit zu einer Offenheit im Blick auf Formen und Stile der
Philosophie zu gelangen, die in anderen Kulturen hervorgetreten sind,“ kritisiert
Kimmerle272. Insofern hat die von Gadamer so oft betonte „Offenheit“ für den
Anspruch des Anderen im hermeneutische Dialog nur innerhalb seiner eigenen
Kulturtradition Geltung273.
269 Diesen konkreten Hinweis danke ich Heinz Kimmerle: Das Verstehen fremder Kulturen und die interkulturelle philosophische Praxis, in: Wolfdietrich Schmied-Kowarzik (Hg.): Verstehen und Verständigung. Ethnologie – Xenologie – Interkulturelle Philosophie. Justin Stagl zum 60. Geburtstag, Würzburg 2002, S. 290-302, s. bes. S. 295f. 270 Hans-Georg Gadamer: Ges. Werke, Bd. 10, Tübingen 1995, S. 267-284, s. bes. S. 267f. 271 Kimmerle: Das Verstehen fremder Kulturen, a.a.O., S. 293f. 272 Heinz Kimmerle: Das Verstehen fremder Kulturen, a.a.O., hier S. 295. 273 In Gadamers Festhaltung am ‚Universalitätsanspruch der Hermeneutik’ und seiner Haltung gegenüber den Philosopien nicht-europäischer Kulturen mit ihrer oft unüberwindlichen Fremdheit und seinem letztlich nicht zu unterminierenden Verstehensoptimismus sieht Kimmerle vor allem auch eine Bestätigung für seine These, die er in den „Prolegomena“ zu den Vorlesungen über Das Multiversum der Kulturen für die ‚europäisch-westliche Philosophie nach Hegel’, genauer gesagt von Schopenhauer bis zu Heidegger und Habermas, konstatiert hat, nämlich daß sich darin eine „doppelte Bewegung des Sich-öffnens und zugleich auch wieder –verschließens gegenüber anderen Kulturen“ und ihren Philosophien vollzieht. Heinz Kimmerle: Das Verstehen fremder Kulturen, a. a. O., S. 296. Vgl. dazu Heinz Kimmerle: Prolegomena, in: Heinz Kimmerle (Hg.): Das Multiversum der Kulturen, Amsterdam/Atlanta 1996, S. 9-29, s. bes. S. 25-27.
203
Es ist durchaus nicht verwunderlich, daß Gadamer sich dem Vorwurf des
„Ethnozentrismus“ 274 bzw. „Eurozentrismus“ 275 ausgesetzt hat, da er die
Wiederherstellung der gestörten Sinneinheit der abendländischen Kulturtraditionen als
die primäre Aufgabe der Hermeneutik bestimmt und den Wahrheitsanspruch der
eigenen Tradition als die sachliche Norm d.i. das Maßgebliche für alles Verstehen in
den Geisteswissenschaften hervorhebt. Demnach müßte alle Überlieferung mit dem
Wahrheitsmaßstab der eigenen Tradition verstanden werden. Es ist jedoch moralisch
bedenklich, das kulturell Fremde mit dem Wahrheitsmaßstab der eigenen Tradition zu
messen.
Im Hinblick auf die Gegenwartssituation der Intensivierung interkultureller
Kontakte in allen Bereichen sind deshalb Apels Überlegungen über die
Traditionsvermittlung als Aufgabe der Geisteswissenschaften im Vergleich zu
Gadamers dogmatischem Anspruch auf Einverständnis aufschlußreicher, indem er
einsieht:
274 Vgl. die Diskussion über das Ethnozentrismusproblem Gadamers von Michael Hofer: Nächstenliebe, Freundschaft, Geselligkeit. Verstehen und Anerkennen bei Abel, Gadamer und Schleiermacher, München 1998, S.126ff. Andreas Vasilache hat seinerseits versucht, den Ethnozentrismusvorwurf gegen Gadamer im Hinblick auf seine Sprachontologie zurückzuweisen, wobei er aber gestehen muß, daß „die Schlagwörter der Horizontverschmelzung bzw. des Einverständnisses durchaus suggerieren, daß es in der Hermeneutik schließlich um die Überwindung von Fremdheit zugunsten homogener Harmonie gehe.“ Andreas Vasilache: Interkulturelles Verstehen nach Gadamer und Foucault, Frankfurt a. M. 2003, S. 61f. 275 Dazu die kritische Besinnung von Bernhard Waldenfels über den Eurozentrismus als „ein Zentrismus besonderer Art“. Bernhard Waldenfels: Europa angesichts des Fremden, in: ders.: Topographie des Fremden: Studien zur Phänomenologie des Fremden I, Frankfurt a. M. 1997, S. 135f. Nach Waldenfels stellt der Eurozentrismus „eine raffinierte Form des Ethnozentrismus dar, nämlich eine Mischung aus Ethno- und Logozentrismus, aus Entdeckungsfreude und Eroberungsgier, aus Missionsgeist und Ausbeutung. [...] Aufs Ganze gesehen lebt der Eurozentrismus von der Erwartung, daß das Eigene sich selbst durch das Fremde hindurch allmählich als das Ganze und Allgemeine herausstellt. Noch bei Gadamer, dessen Hermeneutik von der Fremdheit des Unverständlichen und von der Infragestellung durch den Anspruch der Tradition ausgeht, steht die Auslegung, in gut hegelianischer Manier, im Zeichen von Aneignung und Überwindung des Fremden (1965, S. 365),“ so Waldenfels. Mir scheint der Eurozentrismus Gadamers darin zu liegen, daß er den Wahrheitsanspruch der eigenen Tradition als sachlichen Maßstab alles Verstehens in den Geisteswissenschaften hervorhebt. Wobei zugegeben werden muß, daß analoge Zentrierungsformen auch für andere Kulturen nicht auszuschließen sind, worauf Waldenfels hingewiesen hat. Die Zentrierungsformen sind so gesehen die Hauptursachen der Konflikte der Kulturen.
204
„Die Unmittelbarkeit der dogmatisch-normativen (institutionell festgelegten und sozial verbindlichen) Applikation des Traditionsverständnisses, wie sie bis in die Aufklärungszeit hinein in Europa, und bis in die Gegenwart hinein in den meisten außereuropäischen Kulturen, funktionierte, kann nicht wiederhergestellt werden.“276
Apel zufolge müsse Traditionsvermittlung zu einem komplizierten, wissenschaftlich
vermittelten Prozeß werden, „sobald die, wenn auch nur provisorische,
Objektivierung und Distanzierung des zu verstehenden Sinnes durch hermeneutische
Abstraktion von der normativen Geltung möglich geworden ist.“277
Hier danken wir Apel vor allem für seine Überlegungen zum Problem der
Traditionsvermittlung als Aufgabe der Geisteswissenschaften im Zeitalter der
„Globalisierung“, wo das Verfremdungsproblem der Tradition nicht nur eine
europäische Angelegenheit, sondern ein „globales Phänomen“ ist. Die
Überfremdungsangst gegenüber fremden Kulturen, vor allem fremden Religionen, ist
nicht nur in Europa, sondern auch in allen anderen Kulturkreisen zu spüren. Um so
wichtiger und erforderlicher erscheint doch das gegenseitige Verstehen und
Anerkennen zwischen den Kulturen, den Religionen aber auch zwischen den
Philosophien.
Die Betonung der Eingebundenheit des Interpreten in seine eigene Kulturtradition
ist im Hinblick auf die Fortwirkung und Bewahrung der normativen Werte eigener
276 Mir ist Apels Beobachtung über das Verfremdungsproblem bei nicht-europäischen Kulturen ebenfalls sehr einleuchtend. Apel meint: „Jene Kulturen, welche die technisch-industriellen Lebensformen und ihre wissenschaftlichen Grundlagen von Europa übernehmen mußten und noch müssen, sind zu einer weit radikaleren Distanzierung und Verfremdung ihrer Traditionen gezwungen als wir.“ Die außereuropäischen Kulturen sind besonders vom Problem der Traditionsverfremdung betroffen. Das erklärt auch die Popularität der Gadamerschen Hermeneutik für die Traditionalisten in den nicht-europäischen Länden, die die Wiederbelebung ihrer Kulturtraditionen für besonders wichtig halten. Karl-Otto Apel: Hermeneutik und Ideologiekritik, a. a. O., S. 35ff. 277 A.a.O. Apel versucht seinerseits „das (nihilistische) Historismus-Problem durch dialektische Vermittlung von objektiv-szientistischen und hermeneutischen Methoden in der Ideologiekritik“ philosophisch aufzulösen. Ähnlich wie Hirsch betont Apel auch die Notwendigkeit der Geltungsprüfung der Interpretation und deren Kriterien für die Erkenntnis. Es wäre interessant, die Hermeneutik von Apel und Hirsch zusammen zu betrachten. Es bedarf jedoch einer eigenen Untersuchung, um die These von Apel und Hirsch eingehend vergleichen zu können.
205
Tradition durchaus verständlich. Es muß aber nicht für jedes Verstehen bestimmend
sein. Es wäre sinnvoller, das Verstehen fremder Kulturen von dem normativen
Anspruch auf Einverständnis zu trennen, wie es in der historisch-philologischen
Hermeneutik immer schon geschehen war. Denn schließlich geht es in der
Hermeneutik um das gegenseitige Verstehen und Anerkennen der Menschen, nicht
aber um das gegenseitige Ausgrenzen mit eigenem Wahrheitsmaßstab. Dabei ist das
von Gadamer unterschätze Lernvermögen des Individuums, das jede vernünftige
Person über den eigenen Horizont hinauszubringen und den Blick auf die Welt zu
erweitern vermag, wieder zur Geltung zu bringen. In jedem Akt des Lesens und
Verstehens vollziehen sich Lernvorgänge, was bereits in der allgemeinen Hermeneutik
Schleiermachers am Beispiel des Sprechen- und Verstehenlernens von Kindern
angedeutet worden ist 278 . Die Fähigkeit des Verstehens wird in progressiven
Lernvorgängen allmählich ausgebildet. Daher rührt der unterschiedliche Grad des
Verständnisses zwischen erfahrenem Lehrer und unerfahrenem Schüler. Es ist auch
dieses angeborene Vermögen, das allen Menschen gemeinsam ist, das es uns
ermöglicht, die Sprache des Anderen zu lernen, das Gemüt und die Emotionen des
Anderen wachsend nachzuvollziehen, die Meinung und das Verständnis des Anderen
von sich selbst und von der Welt immer besser zu verstehen, die Perspektive zu
wechseln und sich in die Lage des Anderen hineinzuversetzen, und zwar sowohl intra-
als auch interkulturell betrachtet. Insofern ist es Zeit, der von Schleiermacher, Dilthey
und Hirsch vorausgesetzten, aber von Gadamer als „ungeschichtliches
Substrat“ verworfenen „allgemeinen Menschennatur“, hier also der Grundfähigkeit
des Lernens, die allen Menschen gemeinsam ist, ihr Recht als Grundbedingung des
Verstehens zurückzugeben279.
278 Vgl. dazu die Hervorhebung des Lernens in Schleiermachers Hermeneutik von Gunter Scholtz: Ethik und Hermeneutik, S. 143. 279 Vgl. dazu die ähnliche Ansicht von Andreas Spahn: „Eine ‚Hermeneutik des Fremden’ zielt aber
206
Dies hat der Kulturphilosoph Elmar Holenstein im Zusammenhang der Diskussion
über „Intra- und Interkulturelle Hermeneutik“ aus kulturphilosophischen Perspektiven
mit zahlreichen konkreten Beispielen und ähnlichen Argumenten von Hirsch gezeigt
und belegt280. Holenstein vertritt die These, daß die Verständigung zwischen den
Kulturen durch die menschliche Fähigkeit zum Perspektivenwechsel ermöglicht
werde, die für die Verständigung innerhalb ein und derselben Kultur (zwischen ihren
diversen Regionen und desgleichen zwischen ihren verschiedene Standpunkte
vertretenden Individuen) um nichts weniger erforderlich sei281.
Im Hinblick auf die Möglichkeit des Verstehens von historisch und kulturell
Fremdem und auf das Problem des Nichtverstehens und Mißverstehens innerhalb ein
und derselben Lebensformen und Kultursprache teilt Holenstein die Grundansichten
von Schleiermacher und Hirsch. Hirsch hat die Möglichkeit eines gemeinsamen
Verständnisses zwischen verschiedenen Zeitepochen und die Möglichkeit divergenter
Interpretationen innerhalb ein und derselben Zeitepoche am Beispiel der
Hamlet-Interpretationen gezeigt. Die Möglichkeit verschiedener Weltansichten
innerhalb ein und derselben Lebenswelt und Kultursprache wird in seinem Einwand
gegen Muttersprachentheorie gezeigt, die davon ausgehe, daß Sprache die
gerade auf die Begegnung mit anderen Kulturen, sie kann daher die Traditionszugehörigkeit gerade nicht als wesentliches Merkmal des hermeneutischen Prozesses gelten lassen. [...] Dennoch scheint mir aber auch und gerade eine interkulturelle Hermeneutik besser beraten zu sein, mögliche Aspekte einer ‚allgemeinen Gleichheit der Menschennatur’ stärker zu betonen, um sich dem ‚Fremden’ zu nähern.“ Andreas Spahn: Hermeneutik zwischen Rationalismus und Traditionalismus, a. a. O., S. 331f. 280 Vgl. dazu die synthetisch gefaßten Thesen von Holenstein, die versuchen, die „platonisch“ zu nennende universalistische These (alle Menschen haben es im wesentlichen mit denselben Themen und Problemen zu tun; nur deren Ausdrucksformen von Kultur zu Kultur variieren; zu einer Verständigung kommt man, wenn man zu den Sachen selbst zurückgeht und von den verschiedenen Worthülsen absieht) und die Individualität und Differenz betonende Gegenthese der Romantik (Inhalt und Form einer Sache, Bedeutung und Ausdruck und ebenso Text und Kontext einer Rede sind nicht unabhängig voneinander; man kann sich nicht das eine ohne das andere aneignen; eine Verständigung ist nur innerhalb ein und derselben Lebensform und Kultursprache möglich; untereinander sind die verschiedenen Lebensformen ‚inkommensurabel’ und die sprachlich determinierten Kulturen im Wesentlichen nicht ineinander übersetzbar) zu versöhnen: Elmar Holenstein: Intra- und interkulturelle Hermeneutik, in: ders.: Kulturphilosophische Perspektiven. Frankfurt a. M. 1998, S. 257-287, s. bes. S. 257, 272ff. 281 Holenstein, a. a. O., S. 257.
207
Weltansichten einer Kultur so sehr präge, daß Menschen gleicher Sprache auch
gleiche Weltansichten hätten. In diesem Sinne enthalten die hermeneutischen
Konzeptionen von Schleiermacher und Hirsch eigentlich auch schon intra- und
interkulturelle Dimension des Verstehens.
Im Gegensatz zu Gadamers Überbetonung der Traditionszugehörigkeit, die für eine
interkulturelle Verständigung eher hinderlich ist, hat Holenstein vier wegleitende
Erfahrungen für das gegenwärtige Modell interkultureller Verständigung
herausgestellt, die meiner Ansicht nach viel plausibler und aufschlußreicher sind als
das Gesprächsmodell Gadamers: „(a) Über Sprachgrenzen hinweg sind in
verschiedenen Kulturen Phänomenbereiche auszumachen, in denen dieselben
Gesetzmässigkeiten zum Zuge kommen. Solche Gesetzmäßigkeiten bilden einen
Brückenkopf, von dem aus eine fremde Kultur erschließbar ist. (b) Jeder Mensch
vermag jede Sprache und jede Kultur zu erwerben, in die er hineingeboren wird. Mit
denselben Verständigungsproblemen, denen wir im Kontakt mit einer fremden Kultur
begegnen, sehen wir uns in der eigenen Kultur konfrontiert, wenn wir uns
vergangenen Epochen oder neu sich anbahnenden Entwicklungen zuwenden. (c) In
unsere eigene stets vielgestaltige Kultur wachsen wir hinein, indem wir bereits als
Kinder lernen, verschiedene Standpunkte einzunehmen und gegeneinander
auszuspielen“ 282 . Daher ist das Lernvermögen und die Grundfähigkeit des
Perspektivenwechsels als Bedingungen der Möglichkeit des Verstehens der Menschen
untereinander grundlegender und überzeugender als die Zugehörigkeit des Interpreten
zur eigenen Tradition. Aus diesem Grund folgen wir Schleiermacher, Hirsch und
Holenstein, da Verstehen bei ihnen definiert wird als die Sprache des Anderen zu
lernen 283 und als Sichhineinversetzen in die Lage des Anderen im Sinne des
282 Holenstein, a.a.O., S. 272. 283 Vgl. Gunter Scholtz: Ethik und Hermeneutik, S. 145.
208
Perspektivenwechsels, egal aus welcher Tradition wir kommen und zu welcher
Tradition der Andere gehört.
Die Anerkennung der Eigenwerte fremder Zeitepochen und fremder Kulturen
finden wir also nicht in der philosophischen Hermeneutik Gadamers, sonst würde er
dem Historismus Schleiermachers und Diltheys keinen Wertrelativismus vorwerfen
und nicht die Zugehörigkeit des Interpreten zur Tradition als Lösung für das
Verfremdungsproblem hervorheben. Er plädiert eigentlich eher für das Festhalten an
den Werten und Normen der eigenen Tradition und wurde deshalb von Apel als ein
Hermeneutiker „im Dienst eines dogmatischen Glaubens“ kritisiert. Jene
Anerkennung des Fremden finden wir in der philologisch-historischen Hermeneutik
der Schleiermacher-Schule, die in der Interpretationstheorie von Hirsch wieder zur
Geltung gebracht worden ist, da hier Verstehen und Bewerten zwei getrennte
Aufgaben sind.
Schleiermacher und die Hermeneutik der Romantik hatten die Individualität der
Sprachen, der Individuen und der Kulturen sowie die Eigenwerte fremder
Zeitepochen und fremder Kulturen betont und damit auch die Einsicht in die
Notwendigkeit der Ablösung der hermeneutischen Aufgabe von der Rechtfertigung
normativer Ansprüche, die zur Sache von systematischen Disziplinen und der Kritik
wurde. Schließlich lassen sich divergente Standpunkte zwar annähernd verstehen,
aber man kann nicht alle Denkweisen sich zueigen machen. Und nur von dieser
Voraussetzung aus kann ein hermeneutischer Zugang zu fremden Kulturen
gewährleistet und die Andersheit des Anderen in seiner Andersheit verstanden
werden.
Das ist auch der Grund für Hirsch, an die Hermeneutik der Schleiermacher-Schule
anzuschließen und in seiner Hermeneutik auf Autorintention sowie die Meinung des
Anderen zu achten und die Notwendigkeit des Objektivitätsideals philologischer und
209
historischer Interpretation zu verteidigen 284 . Hirschs neue Version des
hermeneutischen Zirkels als einer Dialektik zwischen Hypothesenbildung,
Hypothesenprüfung und Hypothesenbestätigung bietet uns eine Möglichkeit,
wissenschaftlich brauchbares Wissen über den Text und damit auch über fremde
Kulturen zu gewinnen. Insofern ist die Hermeneutik von Hirsch für das Problem
kultureller Fremdheit und das Verstehen fremder Kulturen besser geeignet als die
dogmatisch-traditionalistisch orientierte Hermeneutik Gadamers.
4.4. Resümee und Ausblick
Wir stehen nicht nur zwischen „Zugehörigkeit“ und „Abstandnahme“ zur eigenen
Tradition, wie Gadamer es als die zwei Pole des geschichtlichen Verstehens beschreibt,
sondern auch zwischen eigener Tradition und fremden Kulturen, die aber keineswegs
Gegensätze oder Alternativen sein müssen. Es gibt zwar entwicklungsgeschichtlich
bedingte, individuelle Unterschiede zwischen den Menschen, den Sprachen, den
Kulturen und Religionen, die nicht übertragbar sind. Es gibt aber auch
Gemeinsamkeiten zwischen den Menschen, den Sprachen, den Kulturen und sogar
den Religionen, die sich aus der – um mit Dilthey zu sprechen - „allgemeinen
Menschennatur“ entwickelt haben und daher auch von allen Menschen bis zu einem
gewissen Grad verstanden werden können. Insofern kann die Traditionszugehörigkeit 284 Ähnlich hat Seebohm das Problem der Gadamerschen These des Verstehens als Wahrheitsentwurf darin gesehen, daß hier zwar Wichtiges über das Wesen des Umgangs mit Texten gesagt wird und die Strukturen des Verstehensprozesses aufgewiesen werden, daß aber „gerade mit dieser These der Objektivitätsanspruch philologischer Interpretation, wenn nicht zurückgewiesen, so doch zumindest nicht in seiner Möglichkeit begründet wird.“ Der Grund liegt vor allem in Folgendem: was über Interpretation gesagt wird, „bewegt sich von vorneherein auf so hoher Stufe der Allgemeinheit, so daß die Differenzen der verschiedenen Formen des Verstehens nicht mehr faßbar sind.“ Seebohm hat seinerseits versucht, den Objektivitätsanspruch philologischer Interpretation zu verteidigen und ihn theoretisch zu begründen. Wie Seebohm „objektives Verstehen in Dialogen und objektives Verstehen von Texte“ begründet, kann hier nicht nachgegangen werden. Seebohm hat sich auf Hirschs Begriffe wie „Bewährung“, „Falsifizierung“ und „Validierung“ berufen, die für die „philologische Wahrheit“ wichtig sind. Thomas M. Seebohm: Zur Kritik der hermeneutischen Vernunft, a. a. O., S. 85; S. 8f..
210
als Bedingung des Verstehens für das Verstehen fremder Kulturen nicht ausreichen. Es
wäre sinnvoller, die von Schleiermacher und Dilthey vorausgesetzte, aber von
Gadamer als „ungeschichtliches Substrat“ verworfene „allgemeine
Menschennatur“ im Sinne der Grundfähigkeit des Lernens und des
Perspektivenwechsels von Menschen als die Grundbedingung des hermeneutischen
Verstehens wieder zur Geltung zu bringen, wie es bei Hirsch zu sehen ist.
Die Andersheit des Anderen und Fremden zu erkennen und anzuerkennen hat die
historisch-philologische Hermeneutik der Schleiermacher-Schule zur Aufgabe
gemacht, nicht aber die Hermeneutik der Heidegger-Schule. Da Gadamer das
Kernproblem des Historismus bei Schleiermacher und Dilthey in der Ablösung des
hermeneutischen Verstehens von dem normativen Anspruch auf Wahrheit und von der
Vorbildlichkeit der eigenen Tradition sieht, also von dem „normativ verbindlichen
Verstehen der vorwissenschaftlichen Traditionsvermittlung,“ wie Apel sagt285, und
das Einverständnis in der Sache zum Ziel alles Verstehens und aller Verständigung
erhebt, erweist sich seine Hermeneutik als eine Art fundamentaler Traditionalismus,
welcher weder historische Kritik noch fremde Meinung zuläßt. Die Hervorhebung der
Wahrheit und Vorbildlichkeit eigener Kulturtradition als die einzige maßgebliche
Norm kann nicht für alles Verstehen in den Geisteswissenschaften gelten.
Wir haben bei Gadamer zwar einige Momente gesehen, die dazu veranlassen
können, seine Hermeneutik auch als eine Hermeneutik für das kulturell Fremde zu
interpretieren, wie etwa seine Hervorhebung der Überwindung der Fremdheit als
Aufgabe der Hermeneutik sowie seine Betonung der „Offenheit“ im
285 Apel sieht das Problem des nihilistischen »Historismus« im Sinne eines Historismus qua Relativismus als die praktischen (existentiellen) Konsequenzen der Abstraktion von der Frage nach der Wahrheit bzw. nach dem normativen Anspruch der zu verstehenden Sinnäußerungen, z.B. der überlieferten Texte in der philosophischen Begründung der Hermeneutik bei Schleiermacher und Dilthey auf dem normativ unverbindlichen aber wissenschaftlich allgemeingültigen Verstehen. Insofern ist er Gadamer ganz gefolgt. Karl-Otto Apel: Szientistik, Hermeneutik und Ideologiekritik, in: Hermeneutik und Ideologiekritik, hg. von Rüdiger Bubner, Frankurt a. M. 1975, S. 8-44. Hier S. 29f.
211
„hermeneutischen Gespräch“, die für die Meinung des Anderen Partei zu nehmen
scheint. Dies Argument wurde aber aus folgenden Gründen zurückgewiesen: Erstens
gilt das Fremdheitsproblem bei Gadamer nicht der kulturellen Fremdheit, sondern
dem Verfremdungsproblem der eigener Tradition; zweitens meint Gadamer mit dem
Anderen nicht den kulturell Fremden, sonder den fremd gewordenen normativen Sinn
der eigenen Tradition; drittens behauptet Gadamer mit seinem Anspruch auf die
unbedingte Geltung der eigenen Kulturtradition als Maßstab alles Verstehens und aller
Verständigung nicht nur eine ungleiche Stellung zwischen Interpreten und
Interpretandum, sondern schränkt die Geltung der von ihm geforderten Offenheit im
Gespräch auf die Offenheit gegenüber Positionen der eigenen Tradition ein. Daher ist
Gadamers philosophische Hermeneutik weder für das Verstehen fremder Kulturen
noch für eine interkulturelle Verständigung geeignet.
Dagegen kann die philologisch-methodologisch orientierte Hermeneutik von
Hirsch durchaus als möglicher Weg zum Verstehen fremder Kulturen dienen, da das
Verstehen bei ihm in erster Linie den Zweck verfolgt, den Sinn fremder Texte durch
progressives Verfahren des Sinn-Konstituierens und Sinn-Überprüfens allmählich zu
erkennen, was einen Lernprozeß der Annäherung an fremde Meinung und fremde
Kulturen bedeutet, ohne daß ein dogmatischer Anspruch auf Einverständnis erhoben
wird. Seine Hermeneutik bietet uns „einen Interpretationsrahmen zwischen
Dogmatismus und Skeptizismus,“ wie Ricoeur einmal sehr schön gesagt hat286. Die
Validierung einer Textinterpretation erbringt „ein wissenschaftlich brauchbares
Wissen über den Text“287 und damit auch über fremde Kulturen.
Die Auszeichnung eines Orientierungssystems in den Disziplinen der historischen
Geisteswissenschaften als des einzig verbindlichen kann hingegen laut Gunter Scholtz
286 Paul Ricoeur: Der Text als Modell: hermeneutisches Verstehen (1971), in: H.-G. Gadamer/ G. Boehm (Hg.): Die Hermeneutik und die Wissenschaften, Frankfurt a. M. 1978, S. 83-117. Hier S. 105. 287 Ricoeur, a.a. O., S. 104.
212
nur aufgrund eines Glaubens erfolgen, denn „faktisch ist die Geschichte
vielstimmig“288. Selbst innerhalb der eigenen Geschichte und Kultur ist die Erklärung
einer religiösen Konfession, eines Kunststils, einer Metaphysik zur einzig gültigen
Norm „nicht nur wissenschaftlich, sondern auch moralisch bedenklich,“ so Scholtz289.
Darüber hinaus wäre der Übergang von einem dogmatischen Wahrheitsanspruch zur
Gewalt nicht auszuschließen, insbesondere wenn es um das Verstehen von fremden
Religionen geht 290 . Insofern ist die hermeneutische Position der
Schleiermacher-Schule, die Hermeneutik von Hirsch einschließlich, die auf „das
normativ unverbindliche aber wissenschaftlich allgemeingültige Verstehen“ abzielt,
für das Problem des Fremden und für das Verstehen fremder Kulturen besser geeignet
als die philosophische Hermeneutik Gadamers.
288 Gunter Scholtz: Das Historismusproblem und die Geisteswissenschaften im 20. Jahrhundert, a. a. O. , S. 142. 289 A.a.O. 290 Vgl. dagegen Kämpfs positive Bewertung des Verstehensbegriffs bei Gadamer. Kämpf sieht in der Begründung der „konstitutiven Unterlegenheit des Verstehenden“ bei Gadamer kein Gewaltpotential und verwundert sich, dass es dem „zutiefst moralisch motiverte[n] Verstehensbegriff“ Gadamers zugeschrieben worden sei. Der Verstehende ist dem Text bzw. dem Anderen gegenüber „unterlegen“, weil Interpretationen „nicht Herrschafts- sondern Dienstformen“ seien, wie Kämpf Gadamer zitiert. Heike Kämpf: Die Exzentrizität des Verstehens, a. a. O., S. 164f. Kämpf übersieht dabei den wichtigsten Punkt, dass das Ziel alles Verstehens und aller Verständigung bei Gadamer das Einverständnis mit dem Anderen ist, in welchem ein Gewaltpotenzial nicht zu übersehen ist.
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Lebenslauf
Hsuan-Erh Chen, geboren am 26. Okt. 1965 als Tochter eines Grundschuledirektors in
Nantou, Taiwan. 1984-1988 Studium der Anglistik und Amerikanistik in der National
Central University in Taiwan. 1989-1998 Studium der Philosophie, Anglistik und
Sprachlehrforschung in Tübingen und Bochum; 2002-2008 Promotion in Philosophie
in Bochum.