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L E B E N S W A N D E L6 FREITAG, 12. OKTOBER 2012 MITTELDEUTSCHE ZEITUNG

HALLE/MZ - Wenn Sachsen-Anhalteinen Demografie-Papst hat, dannist es Klaus Friedrich. Der Profes-sor für Sozialgeographie an der UniHalle ist Vorsitzender der Len-kungsgruppe des Expertenkreises„Demografischer Wandel in Sach-sen-Anhalt“. Mit ihm sprachen un-sere Redakteure Bärbel Böttcherund Alexander Schierholz.

Demografischer Wandel - das klingtso bedrohlich. Müssen wir davorAngst haben?Friedrich: Wenn wir nicht reagie-ren, dann wird es bedrohlich. Dannwird beispielsweise in bestimmtenRegionen die Infrastruktur wegbre-chen, Sozialleistungen werdennicht mehr bezahlbar sein undFachkräfte fehlen. Wir werden zu-nehmend Wohnungsleerstände ha-ben, wir werden den Pflegebedarfnicht mehr decken können.

Und immer mehr junge Leute kehrendem Land den Rücken...Friedrich: Das ist ein Mythos. DieAbwanderung wird in ihrer Wir-kung überschätzt. Für Ostdeutsch-land ist das vor allem in den 1990erJahren ein Problem gewesen. Da-mals gingen die jungen und quali-fizierten Leute in den Westen. Heu-te aber spielt die Ost-West-Wande-rung praktisch keine Rolle mehrim Bevölkerungsverhältnis. Wirhaben in Studien festgestellt, dassjunge Ostdeutsche sogar noch sel-tener wandern als junge Westdeut-sche. Aber wenn sie weggehen,dann integrieren sie sich sehrstark im Westen. Und wenn siedort erfolgreich sind, haben sie garkein Interesse daran zurückzu-kommen - höchstens dann, wennsie das Gleiche verdienen wie imWesten.

Ministerpräsident Reiner Haseloffwirbt unter Verweis auf den Fach-kräftemangel seit einiger Zeit starkum Rückkehrer.Ist das die Lö-sung für Sach-sen-AnhaltsProbleme?Friedrich:Nein. Es ist keinguter Weg, dendie Landesregierung da einschlägt.Wenn er sagt, wir brauchen euchirgendwann in der Zukunft, kommtdann zurück, das wäre in Ordnung.Aber derzeit haben wir gar keineMöglichkeit, Massen von Rückkeh-rern adäquat zu beschäftigen.

Heißt das, der vielbeschworeneFachkräftemangel existiert garnicht?Friedrich: Das ist die Gretchenfra-ge. Fachkräftemangel fängt in ganzbestimmten Branchen an, in derChemie zum Beispiel. Das Problemist aber lösbar, indem man das vor-handene Potenzial nutzt. Also älte-re Arbeitnehmer weiterbildet oderwieder in die Firmen holt. Das wä-re der richtige Weg.

Wenn Abwanderung überschätztwird in ihrer Wirkung, was ist danndas große Problem?Friedrich: Die Spätfolgen des Ge-burteneinbruchs nach der Wende.Damals haben sich die Geburtenra-ten halbiert, sind sogar noch stär-ker zurückgegangen, weit unterdas Westniveau. Das wirkt nach.Die Elterngeneration ist heute nurnoch halb so groß wie zur Zeit derdeutschen Vereinigung. Das istdramatisch. Familiengründung ba-siert auf jungen Leuten. Wenn dienur noch zur Hälfte da sind, kön-nen die Wohnungsunternehmenihre Wohnungen nicht mehr ver-mieten, die MZ kann nicht mehr soviele Zeitungen verkaufen und soweiter.

Es heißt immer, gerade junge gebil-dete Frauen gehen weg. Verschärftdas nicht noch das Problem des Ge-burteneinbruchs?Friedrich: Diese Mär haben wirlange geglaubt. Das ist auch so einMythos. Wir haben uns über einenZeitraum von 20 Jahren die Zahlenangeschaut: Es wandern nicht

mehr junge Frauen ab als Männer,aber es ziehen mehr Männer in dieneuen Länder, deshalb dieses Un-gleichgewicht in der Wanderungs-bilanz. Was bisher zudem völligvernachlässigt worden ist, ist dieBinnenwanderung innerhalb Ost-deutschlands. Junge Frauen gehenüberproportional häufig aus struk-turschwachen ländlichen Regionenin die Kleinstädte und in die Groß-städte, weil sie dort bessere beruf-liche Chancen haben oder studie-ren können.

Kann man ih-nen das verden-ken?Friedrich:Nein. Mit jederWanderungsteigt die Quali-

fikation. Damit ist ein sozialer Auf-stieg verbunden, das zeigen Lang-zeitstudien. Es ist gut, wenn jungeMenschen wandern. In modernenGesellschaften ist das ein normalerProzess.

Ist das der Grund dafür, dass in Hal-le und Magdeburg die Einwohner-zahlen in den vergangenen beidenJahren sogar leicht gestiegen sind,im Gegensatz zum Rest des Landes?Friedrich: Ja, das ist sicherlich einGrund. Der Einwohnerzuwachs istaber auch der Tatsache geschuldet,dass das Umland die inzwischenerwachsenen Kinder abgibt an dieStädte. Das ist aber keine Re-Urba-nisierung. Es kann keine Rede da-von sein, dass die Städte boomen.

Welche Chance haben ländliche Ge-biete, aus denen man nicht in einerStunde in der Großstadt ist oder inwestdeutschen Ballungsräumen?Friedrich: Die Menschen in struk-turschwachen Regionen hatten esimmer schon schwerer als in urba-nen Zentren. Wer sich bewusst füreinen ländlichen Wohnstandortentschieden hat, der genießt Vor-teile wie Naturnähe, geringere öko-logische Belastungen und geringe-re Lebenshaltungskosten. Aber ermuss auch gewisse Nachteile ak-zeptieren, zum Beispiel weite We-ge. Deshalb halte ich den imGrundgesetz verankerten An-spruch, die Gleichwertigkeit derLebensverhältnisse in allen Lan-desteilen zu sichern, für problema-tisch, zumindest in dünn besiedel-ten Räumen. Wenn solche Gebietesich weiterhin entleeren, werdenwir es nicht schaffen, dort die glei-che Infrastruktur aufrechtzuerhal-ten wie in Ballungszentren.

Was heißt das konkret?Friedrich: Wir müssen in solchenRegionen die öffentliche Infra-

struktur auf die Zentren konzen-trieren und gute Verbindungen indie Dörfer schaffen. Wo nur nochwenige Menschen wohnen, könnenwir zum Beispiel die Abwasserent-sorgung auf Dauer nicht auf demNiveau sichern wie in der Stadt.Dann würden die Kosten steigen.Überdimensionierte Entsorgungs-modelle werden nicht mehr funk-tionieren.

Weil die Fixkosten solcher Anlagengleichbleiben...Friedrich: Genau. Die machen biszu 80 Prozent aus, das wäre nichtmehr bezahlbar.

Was wäre denn die Alternative da-für?Friedrich: Dezentrale Lösungenwie zum Beispiel Teich-Kläranla-gen für jedes Dorf ohne riesige Lei-tungen, die nicht ausgelastet sind.Das ist lösbar. Lebensqualität lässtsich nicht nur an Infrastrukturmessen. Wichtig ist, dass die Leuteweiterhin am Leben teilhaben kön-nen, dass Ärzte und Krankenhäu-ser vernünftig erreichbar sind.Deswegen müssen wir das Straßen-netz und den öffentlichen Nahver-kehr ausbauen.

Welche Rolle spielt da bürgerschaft-liches Engagement? Eltern, die einefreie Schule gründen. Leute, die sich

zu einer Genossenschaft zusammen-tun, um einen Dorfladen zu eröff-nen. Ein ehrenamtlich betriebenerBürgerbus - sind das Modelle, die Zu-kunft haben in dünn besiedelten Re-gionen?Friedrich: Ich würde sagen ja.Wenn die Leute bereit sind, einenEuro mehr zu bezahlen für ihre Le-bensmittel, dann könnte das funk-tionieren mit dem Dorfladen. Eswäre auch schon ein Riesenge-winn, wenn sich zwei, drei Dörferzusammenschließen und man imNachbardorf einkaufen könntestatt in die Stadt zu müssen. Ichdenke, da würden sich auch ältereMenschen gerne engagieren. War-um sollte der, der rüstig ist, nichtbeim Verkauf helfen oder auchdreimal am Tag den Bürgerbussteuern? Wir dürfen nicht immernur warten, dass der Staat es rich-tet.

Was können rüstige Ältere dennnoch - außer ihre Nachbarn zum Ein-kaufen fahren?Friedrich: Sie sind nicht nur dieKostenträger, als die sie häufig le-diglich angesehen werden. Sie ha-ben Erfahrung, die leider langeZeit in den Betrieben nicht genutztworden ist. Ältere sind viel zu frühentlassen worden. Da fängt manjetzt langsam an umzudenken. Zu-dem bergen ältere Menschen ein

MZ-SERIE TEIL 1 Demografie-Forscher Friedrich über Abwanderung, junge Frauen und Dorfläden

„Es gibt viele Mythen“

großes wirtschaftliches Potenzial.Viele Branchen, denken Sie an denGesundheitsmarkt, sind davon ab-hängig, dass Ältere zu Kunden wer-den. Darüber hinaus geben sie derGesellschaft eine ganze Menge.Wir bräuchten weitaus mehr Pfle-geheime, wenn nicht so viele Men-schen in den Familien gepflegtwürden, oft von älteren Frauen undMännern, die jeweils den Partnerpflegen. Das ist bürgerschaftlichesEngagement.

Und wie sieht das mit der Politikaus? Reagiert die auf den Wandelentsprechend?Friedrich: Ich denke ja. Die Lan-desregierung bezeichnet den de-mografischen Wandel als die größ-te Herausforderung der nächstenJahrzehnte. Das zeigt, das Problem-bewusstsein ist vorhanden. BeimMinisterium für Landesentwick-lung und Verkehr gibt es eineStabsstelle demografische Ent-wicklung. Das Wissenschaftsmi-nisterium hat mit mehreren Millio-nen Euro 17 Projekte zum Themagefördert, die im wesentlichen vonWissenschaftlern aus dem Landbetreut werden. Dies stärkt unserWissen um die Probleme und lie-fert Lösungsansätze, erhöht alsodie Rationalität im Handeln derPlanungsverantwortlichen. Zudemgibt es im Lande eine Demografie-Allianz und zahlreiche themenbe-zogene Konferenzen.

Wo sehen Sie Sachsen-Anhalt imJahr 2030?Friedrich: Wenn wir den Progno-sen folgen, wird das Land dann un-ter die Grenze von zwei MillionenEinwohnern gerutscht sein. Dassehe ich nicht als dramatisch an.Sachsen-Anhalt ist dann auf einemguten Weg, wenn die Großstädteund die Mittelzentren, also dieKreisstädte, sich stabilisieren undauf die Region ausstrahlen können.Den ländlichen Raum müssen wirnicht „den Wölfen“ überlassen,aber gerade dort wird eine stärkereKonzentration auf zentrale Orteund kleinere Zentren notwendigsein. Wir haben damit Erfahrung-en in Osthessen gemacht. Das warmal Hessens Armenhaus. In den1960er und -70er Jahren hat dortjedes Dorf ein Dorfgemeinschafts-haus und ein Hallenbad unter demMotto „Hessen vorn“ bekommen.Später konnte diese nach den Gieß-kannenprinzip verteilte Infrastruk-tur niemand mehr bezahlen. DieOrte ächzten unter den finanziel-len Lasten. Das spätere Umdenkenund die vorrangige Förderung vonZentralen Orten hat Osthessen unddas Oberzentrum Fulda aus derStagnation geführt.

Im Jahr 2030 wäre ich 87 Jahrealt. Da wäre ich zuerst einmal

froh, wenn ich das überhaupterlebe. Ein Schauspieler gehtja aufgrund seiner Lust, zu spie-len, eigentlich nie in Rente. Alsowünsche ich mir, dass ich - so-zusagen im Erlebensfall - nochdie Lust und die Kraft habe, zuspielen. Aber besser wäre eswohl, man schaut zu, was dienachgewachsene Generationdann so auf der Bühne treibt.

Insgesamt schaue ich aller-dings nicht gerade rosig in dieWelt und auf die Zukunft imJahr 2030. Es ist ja eine Unver-schämtheit, wie Manager Rie-senmengen von Geld hin- undherschieben können, das ihnennicht gehört, und damit hor-rende Gehälter „verdienen“,ohne nachhaltig irgendwelchewirklichen Werte zu schaffen.Das ist eine Perversion und ichhoffe, dass die Menschheit dieEinsicht hat, dass dies nichtder Sinn des Lebens sein kann,auf Kosten der Allgemeinheitzu zocken. Es wäre für michein großes Glücksgefühl, wennman 2030 sagen könnte, dassdie Menschheit da Vernunftangenommen hat. Das Geld,das die Gierköpfe scheffeln,sollten besser die bekommen,die Erfindungen machen, wel-che die begrenzten Ressourcender Erde und die Natur schonen.

Für meine unmittelbare Le-benssituation mit 87 wäre esfür mich ein furchtbarer Ge-danke, wenn mich im Falle vonGebrechen ein Angehörigerpflegen sollte, der dadurch seineigenes Leben drastisch be-schränken müsste. Da gibt esja schließlich Leute, die dafürausgebildet worden sind. Wenndann etwa durch Krankheit oderAlter die Persönlichkeit undder Körper sehr stark verliert,wünsche ich mir die Charak-terstärke, tschüss zu sagen.Dann würde ich, obwohl ichsehr am Leben hänge, gernemeine Familie und Freundezusammenholen, Abschied neh-men und dann abtreten. Dasist zwar ein theoretischer, aberwunderbarer Gedanke.

Mehr Lebenszeit,weniger Kinder,neue Aufgaben -wie Sachsen-Anhaltsich verändertThema heute:

Morgen: Salzlandkreis verändert sich

Fluch oder Segen?

Sachsen-Anhalt wird bis zumJahr 2025 knapp 20 Prozentseiner Einwohner verlieren.Die Bevölkerung wird zudemÄlter. Welche Folgen hat dasfür unser Land? Das beleuch-tet die neue MZ-Serie. DenAuftakt bildet das Interviewmit dem Demografie-Exper-ten Klaus Friedrich.

Die Serie im Netz und viele Zu-satzinformationen unter:

www.mz-web.de/lebenswandel

Schreiben Sie uns: Wie sehenSie die Zukunft Sachsen-Anhalts?

Wie möchten Sie selbst im Jahr 2030leben?Mitteldeutsche Zeitung, 06075 Hal-le, Stichwort: Lebenswandeloder per Mail an:[email protected]

MEIN 2030WOLFGANG WINKLERSchauspieler in Halle.

„Die Abwanderungwird in ihrerWirkungüberschätzt.“

Spiellust,Kraft und Mut

Professor Klaus Friedrich: Wir leiden unter den Spätfolgen des Geburteneinbruchs nach der Wende. FOTO: ANDREAS STEDTLER

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