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_ Seit rund drei Jahrzehnten werden Definitionen und Diagnosekriterien für funktionelle Magendarmerkran-kungen entwickelt (Rom-Kriterien). Sie dienen der internationalen Vereinheit-lichung der Nomenklatur und der Stan-dardisierung von Studienprotokollen. Der Begriff Reizdarm (irritabler Darm, irritables Kolon, IBS) bezeichnet dem-nach wiederholte abdominelle Schmer-zen oder Beschwerden an wenigstens drei Tagen pro Monat, in den letzten drei Monaten, vergesellschaftet mit zwei oder mehr der folgenden Krite-rien, die während der letzten drei Mo-nate vorhanden gewesen sein und de-ren Beginn mindestens sechs Monate zurückliegen muss [1]:■ Besserung mit der Stuhlentleerung, ■ Beginn mit einer Änderung der

Stuhlfrequenz, ■ Beginn mit einer Änderung der

Stuhlform (Aussehen). Demgegenüber hat die 2011 publi-

zierte Leitlinie der Deutschen Gesell-schaft für Verdauungs- und Stoffwechsel-krankheiten (DGVS) die Kriterien modi-fiziert und die Forderung aufgestellt, dass

Die Diagnose Reizdarm ist eine Ausschlussdiagnose. Die Patienten befinden sich daher oft auf einer Odyssee durch Arztpraxen und Krankenhäuser. Und selbst wenn die Diagnose steht, ist die Therapie alles andere als einfach. Verschaffen Sie sich auf den folgenden Seiten einen Kompass, um Ihren Patienten die Heimkehr nach Ithaka zu ermöglichen!

Reizdarm

Meist blande, aber extrem belastend

alle drei erfüllt sein sollen, um die Dia-gnose „Reizdarm“ zu stellen [2]:

Es bestehen chronische, d. h. seit län-ger als drei Monaten Beschwerden (Bauchschmer zen, Blähungen), die von Patient und Arzt auf den Darm bezogen werden und in der Regel mit Veränderungen des Stuhlgangs ein-hergehen.

Die Beschwerden sollen begründen, dass der Patient deswegen Hilfe sucht und/oder sich sorgt, und so stark sein, dass die Lebensqualität hier-durch relevant beeinträchtigt wird.

Voraussetzung ist, dass keine für an-dere Krankheitsbilder charakteris-tischen Veränderungen vorliegen, die wahrscheinlich für diese Symp tome verantwortlich sind.Der Unterschied zu den Rom-Krite-

rien besteht demnach darin, dass Ände-rungen des Stuhlverhaltens nicht zwin-gend sind, Menschen mit den genannten Beschwerden nur dann als Reizdarmpa-tienten gelten, wenn sie deswegen einen Arzt aufsuchen oder erheblich beein-trächtigt sind, und dass eine Ausschluss-diagnostik als Regelfall gilt.

Epidemiologie und PrognoseÜber Beschwerden, die mit einem Reiz-darm vereinbar sind, klagen weltweit 10–20% der Bevölkerung [3]. Im west-lichen Kulturkreis sind Frauen etwa doppelt so häufig betroffen wie Männer. Die Beschwerden bleiben nur bei etwa der Hälfte der Patienten über mehrere Jahre gleich. Andere Betroffene werden beschwerdefrei oder entwickeln andere Symptome, z. B. Symptome des Reizma-gens.

Prof. Dr. med. Stefan Müller-LissnerAbteilung für Innere Medizin, Park-Klinik Weissensee, Berlin

In Zusammenarbeit mit der Bayerischen Landesärztekammer

Teilnahme unter www.springermedizin.de/kurse-mmw

CME DER MMW ZERTIFIZIERTE FORTBILDUNG– FOLGE 366

Reizdarm – ein Feuer im Leib, auf das man lieber verzichtet.

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FORTBILDUNG–ÜBERSICHT

Nur etwa ein Drittel bis zur Hälfte der Patienten, welche die Kriterien für einen Reizdarm erfüllen, sucht wegen dieser Beschwerden einen Arzt auf. Manche Patienten haben bei neu aufge-tretenen Symptomen Angst vor einer schwerwiegenden Erkrankung und sind nach der Klärung beruhigt, andere su-chen auch bei geringfügigen Beschwer-den den Arzt auf. Patienten mit Reiz-darm haben eine deutlich reduzierte Le-bensqualität [4]. Ihre Lebenserwartung ist jedoch nicht eingeschränkt.

PathophysiologieBeim Reizdarm handelt es sich nicht um eine Krankheitsentität. Es gibt aber gute Gründe, den Begriff beizubehalten, näm -lich die ähnliche Symptomatik, die Ne-gativbefunde bei üblicher Diagnostik und die gute Prognose.

Es wurden Störungen der gas tro-intes tinalen Motilität, der mukosalen Immunologie, der Sensibilität auf ver-schiedenen Ebenen und der Psyche identifiziert, die einzeln oder in Kom-bination in variabler Ausprägung zur Symptomatik führen. Bei der Mehrzahl der Patienten lassen sich eine vermehr-te Sensibilität des Kolons auf Deh-nungsreize nachweisen [5]. Die Mecha-nismen hierfür sind bisher nur teilwei-se geklärt. In der Darmmukosa ist die Zahl der Immunzellen (Mastzellen, T-Lymphozyten) und/oder entero-chromaffine (EC-) Zellen erhöht [6]. Beim Reizdarm mit Diarrhö wird die Symptomatik häufig durch einen ente-ralen Infekt ausgelöst und kann über Wochen, Monate und Jahre persistieren.

Weiterhin wurden Schmerzen infolge spinaler Transmissions- und spinothala-mischer Modulationsprozesse oder korti-kaler und limbischer Verarbeitungsvor-gänge beschrieben [7]. Eine emotionale Belastung („Stress“) mit Auswirkungen auf die gastrointestinale Motilität und Sensitivität scheint bei einem Teil der Pa-tienten die Symptomatik auslösen oder verstärken zu können (Abb. 1). Reiz-darmpatienten unterscheiden sich von gesunden Vergleichspersonen hinsicht-lich der individuellen Bewertung visze-raler Empfindungen und der Bereit-schaft, diese zu berichten.

BasisdiagnostikZur Sicherung der Diagnose soll bei je-dem Patienten eine Basisdiagnostik durchgeführt werden, die je nach Anam-nese und Symptomen ergänzt wird. Wei-terhin werden eine abdominelle Ultra-schalluntersuchung und bei Frauen eine gynäkologische Untersuchung, an Labor-parametern Blutbild, BSG oder CRP und Urinstatus empfohlen, deren Wert aller-dings nicht belegt ist. Weiterhin werden Serumelektrolyte, Nierenreten tions werte, Leber- und Pankreasenzyme, TSH, Blut-zucker und/oder HbA1c, Stuhlmikrobio-logie (vor allem bei Diarrhö), Zöliakie-Antikörper (Transglutaminase-Antikör-per) sowie Calprotectin und Lactoferrin im Stuhl genannt.

Von der Bestimmung von IgG-Titern auf Nahrungsmittelallergene sowie der quan titativen Analyse der Stuhlflora (z. B. „Darmökogramm“) wird dagegen ausdrücklich abgeraten. Besteht Diarrhö als wesentliches Symptom, so soll grund sätzlich eine eingehende diagnos-tische Abklärung durchgeführt werden. Wenn nach sorgfältiger initialer Dia-gnosestellung im weiteren Verlauf keine neuen Aspekte auftauchen, soll eine er-neute Diagnostik vermieden werden.

EndoskopieUm die Diagnose eines Reizdarmsyn-droms zu sichern, empfiehlt die Leitlinie der DGVS eine Ileokoloskopie zur Aus-

Diagnostik Nach der Leitlinie der DGVS sollen grundsätzlich zwei Komponenten er-füllt sein:■ Anamnese, Muster und Ausmaß der Beschwerden sind mit einem Reizdarm-syndrom vereinbar.■ Die „Sicherung“ des Reizdarmsyn-droms erfordert den – symptomabhän-gig gezielten – Ausschluss relevanter Differenzialdiagnosen (insbesondere bei Vorliegen von Alarmsymptomen).

AnamneseSie ist die wichtigste diagnostische Maß-nahme und zielt unter anderem auf die Identifizierung auslösender Situationen und Faktoren wie akute oder chronische emotionale Belastungen („Stress“), unbekömm liche Nahrungsmittel und frühere Infektionen oder Entzündungen.

Zwar soll nach so genannten Alarm-symptomen gezielt gefragt werden, die auf eine organische Erkrankung hinwei-sen, wie allgemeines Krankheitsgefühl, ungewollter Gewichtsverlust, Dyspha-gie, Blut im Stuhl, Fieber, sowie nach Medikamenten, die gastrointestinal un-verträglich sein könnten. Der Wert der Alarmsymptome ist allerdings fraglich, da sie vorwiegend bei bereits fortge-schrittenen Malignomen auftreten [8] und bei Reizdarmpatienten oft vorhan-den sind, ohne dass tatsächlich ein alar-mierender Befund zugrunde liegt [9].

Peripheres Signal Symptom(e)

Periphere Schwelle

Spinale Synapse

ZNS Projektion

Affektive Bewertung

Abnorme Motilität

Nahrung

GasBakterien

???

Normale Motilität

Beschwerden

– Abbildung 1

Abb. 1 Reizdarmsymptome können durch die unterschiedlichsten Reize ausgelöst werden.

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schlussdiagnostik, insbesondere bei chro nischer Diarrhö. Diese Empfehlung ist allerdings durch die Datenlage nicht gedeckt, da die Ausbeute an relevanten pathologischen Befunden nicht größer ist als bei Koloskopien zur Früherken-nung von Darmkrebs [10]. Bei Diar-rhöen wird eine Gastroduodenoskopie mit Duodenalbiopsien zum Ausschluss einer Sprue empfohlen.

Wiederholte Koloskopien bei unver-änderter Symptomatik sind unangemes-sen und fördern eine Somatisierung. Sig-madivertikel ohne Nachweis einer Ent-zündung erklären die Beschwerden nicht und rechtfertigen keine Darmresektion.

FunktionstestsDa malabsorbierte Kohlenhydrate nach Spaltung durch die Kolonflora Be-schwerden im Sinne eines Reizdarms (mit-)verursachen können, liegt es nahe, mittels H2-Atemtest nach solchen Un-verträglichkeiten zu suchen. Dies be-trifft Laktose, Fruktose und Sorbit. Ein pathologisches Testergebnis ist aber noch kein Beweis für deren Ursächlich-keit. Dieser lässt sich nur durch die Bes-serung der Beschwerden nach diäte-tischer Restriktion führen.

Therapie Bei vermuteten gastrointestinalen Ne-benwirkungen einer bestehenden Medi-kation ist ein Auslassversuch sinnvoll.

Allgemeine MaßnahmenDer erste Schritt ist die Vermittlung eines plausiblen individuellen Krank-heitsmodells. Da Reizdarmpatienten de-finitionsgemäß „ergebnislos“ untersucht wurden, sind die Aufklärung über die Gutartigkeit der Erkrankung, Empathie, Akzeptanz des Vorliegens einer funktio-nellen Erkrankung und die Vermittlung eines Erklärungsmodells (z. B. „Störung des Bauchgehirns und seiner Kommuni-kation mit dem Gehirn“) wichtige erste Therapieschritte.

ErnährungsempfehlungenWeiterhin sind Modifikationen des Le-bensstils zu erwägen. Spezifische Diät-maßnahmen sind nur dann sinnvoll, wenn entsprechende Unverträglich-keiten identifiziert wurden. Nur von

wiederholt (!) nicht vertragenen Nah-rungsmitteln sollte abgeraten werden.

Analysen der Daten zur therapeu-tischen Effizienz von Ballaststoffen beim Reizdarm kommen zu widersprüch-lichen Einschätzungen. Ein Therapie-versuch empfiehlt sich am ehesten bei Obstipationsneigung mit wasserlös-lichen Ballaststoffen. Nicht wasserlös-liche Ballaststoffe wie Kleie können die Beschwerden verschlechtern [11].

Medikamentöse TherapieDie medikamentöse Therapie orientiert sich an den Symptomen. Da der Reiz-darm keine Krankheitsentität darstellt, ist nicht zu erwarten, dass ein einzelnes Medikament bei allen Patienten wirk-sam ist. Der therapeutische Gewinn (die Überlegenheit des Verums über Place-bo) der Medikamente liegt meist bei 20%. Die Wahl des Medikaments orien-tiert sich an der Symptomatik. Bei Miss-erfolg soll daher ein anderes Medika-ment probiert werden.

Die möglichen pharmakologischen Ansatzpunkte sind in Abbildung 2 dar-gestellt. Intensität, Häufigkeit und Art der Symptome bestimmen Ausmaß und Art der Behandlung. Bei Patienten mit komplexen Symptomen oder schwerem Krankheitsverlauf können die Kombina tion medikamentöser An-sätze oder eine (zusätzliche) psycho-therapeutische Intervention notwendig werden.Leitsymptom Schmerz. Von den bei uns erhältlichen Spasmolytika haben sich in einer Metaanalyse Butylscopolamin und Pfefferminzöl als wirksam erwiesen,

Obstipation

Schmerzen,aufgetriebener Bauch

Diarrhö

ButylscopolaminPfefferminzöl

Loperamid

SSRI

MacrogolPrucaloprid

Linaclotidzyklische

Antidepressiva

– Abbildung 2

Abb. 2 Differenzialtherapie des Reizdarms.

– Tabelle 1

Gesicherte Therapieverfahren der PsychotherapieVerfahren Inhalte

Hypnose Hypnose-Induktion Suggestion angenehmer Sensationen im Abdominalbereich Verknüpfung mit Handauflegen auf den Unterbauch

Psychotherapie

Kognitiv orientierte Psychotherapie

Ausführliches Interview: somatische und emotionale Probleme Aufzeigen möglicher Zusammenhänge Vertiefung in weiteren Sitzungen

Verhaltenstherapie Einüben von Verhaltensweisen, die Symptome vermeiden helfen

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nicht jedoch Mebeverin [11]. Aufgrund ihrer antinozizeptiven Wirkung können Antidepressiva als viszerale Analgetika betrachtet werden, da sie die gastrointes-tinale Sensitivität reduzieren. Leitsymptom Obstipation. Obwohl ad-äquate Studien beim Reizdarm fehlen, gehören Laxantien zur symptoma-tischen Basistherapie. Osmotische La-xantien wie Polyäthylenglykol, Macro-gol, PEG oder Magnesiumhydroxid sind wirksam. Von Laktulose ist allerdings abzuraten, da sie Blähungen verursacht [12]. 5-HT4-Rezeptoragonisten wirken prokinetisch auf den Magendarmtrakt. Prucaloprid ist bei Obstipation wirksam und sicher, bisher aber nur für diese zu-gelassen [13]. Lubiproston und Linaclo-tid steigern die Sekretion von Elektro-lyten und Flüssigkeit.

Linaclotid wurde kürzlich zugelas-sen. Seine Wirkung beim Reizdarm mit Obs tipation wurde in mehreren Studien belegt [14]. Bemerkenswert ist, dass ne-ben der laxativen auch eine eigenstän-dige analgetische Wirkung vorzuliegen scheint. Persönliche Erfahrungen aus Deutschland gibt es noch nicht.

Beim obstipationsbetonten Reizdarm kann zur Behandlung chronischer Schmerzen ein Versuch mit einem SSRI (Citalopram, Fluoxetin) oder Venlafaxin unternommen werden [15]. Leitsymptom Diarrhö. Loperamid wirkt beim Reizdarm auf die Diarrhö, aber nicht auf die Schmerzen. Hingegen bessern trizyklische Antidepressiva die Schmerzen und wegen ihrer anticho-linergen Wirkung gleichzeitig auch die Diarrhö. Dazu wird eine initial niedrige tägliche Dosis (z. B. 10 mg Amitriptylin zur Nacht) über einige Wochen auf die optimal wirksame und verträgliche Do-sis (bei Amitriptylin bis maximal 50 mg) gesteigert. Gallensalze. Sie stimulieren im Kolon die Sekretion und senken die Schmerz-schwelle. Sie kommen daher bei Patien-ten mit idiopathischem Gallensalzver-lust (nach Cholezystektomie oder Ileumresektion) als Auslöser von Rei z-darm symp tomen in Betracht. Daher ist ein Behandlungsversuch mit Gallesalz-bindern vernünftig (Cholestyramin, Co-lesevelam).

Selektive 5-HT3-Antagonisten. Diese Substanzen verzögern den Kolontransit und steigern die Natrium- und Wasser-absorption. Alosetron und Cilansetron sind in der Therapie des Reizdarms mit Diarrhö wirksam, stehen aber in der EU nicht zur Verfügung, da es vermehrt zu ischämischen Kolitiden kam. Ein indivi-dueller Heilversuch mit z. B. Ondan-setron ist aber denkbar. Phytopharmaka. Diese sind bei vielen Patienten als sogenannte „natürliche Be-handlung“ beliebt. Die gezeigten Effekte, beispielsweise für das in Deutschland verfügbare STW5, sind angesichts guter Verträglichkeit interessant [16]. Probiotika. Placebokontrollierte Stu-dien zeigen divergierende Ergebnisse zu Wirkungen verschiedener Probiotika-stämme. Die Qualität der Studien mit Probiotika ist deutlich schlechter als die der Studien mit definierten Pharmaka. Allerdings gilt auch hier, dass die Ak-zeptanz dieser Behandlungsform bei vielen Patienten hoch ist und ein Ver-such gerechtfertigt erscheint. Antibiotika. Für das nicht resorbierbare Antibiotikum Rifaximin liegen meh rere positive Studien vor, die eine Besserung des Blähungsgefühls zeigen. Das lässt sich durch die Hemmung des bakteriel-len Metabolismus der Ballaststoffe erklä-ren. Die Gabe von Antibiotika gegen ein chronisches, aber harmloses Leiden stößt freilich auf grundsätzliche Bedenken.

Psychotherapie und Entspannungsverfahren Diese können allein (Tab. 1) oder in Kombina tion mit Antidepressiva güns-tige Effekte haben, besonders bei psychi-schen Co-Morbiditäten (Angst, Depres-sion) oder Problemen bei der Krank-heitsverarbeitung („Coping“).

SchlussbemerkungDer Grad der Beeinträchtigung der Le-bensqualität ist unterschiedlich. Wäh-rend manche mit der Beruhigung, dass die Prognose gut ist, und der Aufklärung über die vermutliche Pathophysiologie zufrieden sind, sind andere Patienten eine erhebliche Herausforderung an die Geduld des Therapeuten. Daher ist es wichtig, sich der „Diagnose“ Reizdarm

Irritable bowel syndrome

Irritable bowel syndrome – consti-pation – diarrhea – abdominal pain – bloating

Keywords

InteressenkonfliktDer Autor erklärt, dass er sich bei der Erstellung des Beitrages von keinen wirtschaftlichen Interessen lei-ten ließ. Er legt folgende potenzielle Interessenkon-flikte offen: Referent, Advisory Board Mitglied oder Berater der Firmen Almirall, Boehringer Ingelheim, Falk Foundation, Janssen, Movetis, Mundiphrma GmbH und Shire-Movetis Der Verlag erklärt, dass die inhaltliche Qualität des Beitrags von zwei unabhängigen Gutachtern geprüft wurde. Werbung in dieser Zeitschriftenaus-gabe hat keinen Bezug zur CME-Fortbildung. Der Verlag garantiert, dass die CME-Fortbildung sowie die CME-Fragen frei sind von werblichen Aussagen und keinerlei Produktempfehlungen enthalten. Dies gilt insbesondere für Präparate, die zur Therapie des dargestellten Krankheitsbildes geeignet sind.

Der Reizdarm ist keine Krankheits-entität. Der Begriff ist jedoch nützlich aufgrund der ähnlichen Symptomatik, der Negativbefunde bei üblicher Diagnostik und der guten Prognose. Die Anamnese ist die wichtigste dia-gnostische Maßnahme, es soll aber in der Regel auch eine Basisdiagnostik erfolgen. Wiederholte Koloskopien bei unveränderter Symptomatik sind unangemessen. Die Vermittlung eines plausiblen individuellen Krankheitsmo-dells ist ein wichtiger Therapieschritt. Modifikationen des Lebensstils und der Ernährung sind nicht immer erfolg-reich. Die medikamentöse Therapie orientiert sich an der Symptomatik, bleibt aber eine Probebehandlung. Psychotherapeutische Verfahren sind wirksam, aber aufwändig. Sie kommen nur für einen kleinen Teil der Reizdarm-patienten in Frage.

Fazit für die Praxis

sicher zu sein und dies gegenüber dem Patienten auch überzeugend zu vertreten. Dies ist die Basis für die Behandlung, de-ren Art von der im Vordergrund stehen-den Symptomatik und deren Schwere ab-hängt.

Literatur unter mmw.de

Anschrift des Verfassers:Prof. Dr. Stefan Müller-LissnerAbteilung für Innere MedizinPark-Klinik WeissenseeSchönstr. 80D-13086 BerlinTel. 030 9628 3600Fax 030 9628 3605E-Mail: [email protected]

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Bitte beachten Sie:• Die Teilnahme ist nur online unter www.springermedizin.de/eAkademie möglich.• ausführliche Erläuterungen unter www.springermedizin.de/info-eakademie

Reizdarm – Diagnostik und Therapie

Ein 63-jähriger, bis dahin immer gesunder, nicht voruntersuchter Patient berichtet über Schmerzen im Unterbauch, die seit wenigen Wochen bestehen, mit einer Durchfallsneigung verbunden sind und jeweils nach der Stuhlentleerung besser werden. Der körperliche Befund inkl. rek-taler Untersuchung ist unauffällig. Sie veranlassen zunächst die folgende Dia-gnos tik:

☐ Koloskopie ☐ bakteriologische Stuhluntersuchung ☐ Bestimmung von TSH ☐ H2-Atemtest ☐ Laparoskopie

Für die Diagnostik bei Verdacht auf Reiz-darm trifft zu:

☐ Die Anamnese erlaubt mit großer Zuver-lässigkeit, die Diagnose zu stellen.

☐ Auslöser wie diätetische oder emotiona-le Einflüsse („Stress“) sprechen gegen das Vorliegen eines Reizdarmsyndroms.

☐ Aus dem Beschwerdencharakter lässt sich auf die zugrundeliegende Funk-tionsstörung schließen.

☐ Der Nachweis von Sigmadivertikeln bei der Sonografie erklärt die Beschwerden hinreichend.

☐ Ohne eine Koloskopie lässt sich die Dia-gnose nicht stellen.

☐ veranlassen die Betroffenen fast immer, ärztliche Hilfe zu suchen.

Eine ätiopathogenetische Rolle beim Reiz-darm mit Diarrhö kann als gesichert gelten für

☐ Pilze im Darm, vor allem Candida albi-cans.

☐ eine neuronale Aktivierung infolge im-munologischer Prozesse in der Mukosa.

☐ eine bakterielle Fehlbesiedelung. ☐ eine Infektion durch Tropheryma Whippelei.

☐ eine intestinale Allergie.

Für die Diagnosestellung des Reizdarms gilt:

☐ Die anorektale Manometrie kann die Verdachtsdiagnose sichern.

☐ Die Diagnose kann nur nach Erhalt eines Darmökogramms mit unauffälligem Be-fund gestellt werden.

☐ Es bestehen Schmerzen im Unterbauch, meist mit Bezug zum Stuhlgang, ohne fassbare Ursache.

☐ Lichtmikroskopisch lässt sich eine lym-phozytäre Infiltration der Kolonschleim-haut darstellen.

☐ Ein H2-Atemtest sollte immer durchge-führt werden.

Chronische Bauchbeschwerden, die vom Arzt auf den Darm bezogen werden und für die sich keine Ursache finden lässt, be-zeichnet man als Reizdarm oder

☐ Akutes Abdomen ☐ Dyspepsie ☐ Psychogene Bauchbeschwerden ☐ Irritables Kolon ☐ Chronische Kolitis

Funktionelle gastrointestinale Beschwer-den

☐ sind mit einer eingeschränkter Lebens-erwartung verbunden.

☐ belasten die Patienten kaum. ☐ beeinträchtigen die Lebensqualität negativ.

☐ sind sozioökonomisch wenig bedeut-sam.

☐ sind ein typisches Adoleszentenprob-lem.

Zur Epidemiologie von Reizdarm-beschwerden gilt: Sie

☐ betreffen höchstens 3% der Bevölke-rung.

☐ treten bei Männern deutlich häufiger auf als bei Frauen.

☐ bleiben in etwa der Hälfte der Fälle über Jahre bestehen.

☐ sind ein typisch deutsches Phänomen.

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CME-Fragebogen FIN MM1323v3

springermedizin.de/eAkademie

gültig bis 11. April 2013

Diese CME-Fortbildungseinheit ist von der Bayerischen Landes ärztekammer mit zwei bzw. drei Punkten zur zerti�zierten Fort bildung anerkannt.

CME-Herausgeber- und Review-Board: Prof. Dr. A. Berghaus, Prof. Dr. M. Blumenstein, Prof. Dr. Dr. h.c. Th. Brandt, Prof. Dr. K. Friese, Prof. Dr. H. S. Füessl, Prof. Dr. B. Göke, Prof. Dr. M. Graw, Prof. Dr. H. Holzgreve, Prof. Dr. A. Imdahl, Prof. Dr. K.-W. Jauch, Prof. Dr. K. Krüger, Prof. Dr. H.-J. Möller, Prof. Dr. Dr. h.c. Th. Ruzicka, Prof. Dr. A. Schneider, Prof. Dr. Ch. Stief, U. Weigeldt.

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☐ Eine medikamentöse Kombinationsthe-rapie verbietet sich wegen der nicht kalkulierbaren Interaktionen der Wirk-stoffe.

☐ Therapeutisch erfolgt entweder eine medikamentöse oder eine psychothera-peutische Behandlung.

☐ Laxanzien sind fehl am Platz. ☐ Die Auswahl der Medikation orientiert sich an den im Vordergrund stehenden Beschwerden.

☐ Antidiarrhoika verbessern nicht nur die Diarrhö, sondern auch die abdominel-len Schmerzen.

Welche Aussage zur medikamentösen Behandlung des Reizdarms trifft zu?

☐ 5-HT3-Antagonisten sind wirkungslos. ☐ Reizdarmpatienten profitieren nur bei begleitender Depression von Antide-pressiva.

☐ Psychotherapeutika sind nur bei nach-

Für die nicht medikamentöse Therapie beim Reizdarm gilt:

☐ Diätetische Maßnahmen führen bei der Mehrzahl der Patienten zum Ziel.

☐ Weizenkleie ist eine billige, wirksame und gut verträgliche Behandlung des obstipationsbetonten Reizdarms.

☐ Eine Psychotherapie ist bei den meisten Patienten notwendig.

☐ Nachgewiesene Funktionsstörungen wie verlangsamter Darmtransit oder Laktose-malabsorption sollten bei diätetischen Empfehlungen und der Auswahl der Me-dikation unbeachtet bleiben.

☐ Die Aufklärung über die vermutete Pa-thophysiologie und die gute Prognose sind wichtige Komponenten der Be-handlung.

Welcher Grundsatz gilt für die in der The-rapie des Reizdarms eingesetzten Medika-mente?

Bitte beachten Sie:Diese zertifizierte Fortbildung ist 12 Monate auf springermedizin.de/eakademie verfügbar. Dort erfahren Sie auch den genauen Teilnahme-schluss.Pro Frage ist jeweils nur eine Antwortmöglichkeit zutreffend.Sowohl die Fragen als auch die zugehörigen Antwortoptionen werden im Online-Fragebogen in zufälliger Reihenfolge ausgespielt, weshalb die Nummerierung von Fragen und Antworten im gedruckten Fragebogen unterbleibt. Prüfen Sie beim Übertragen der Lösungen aus dem Heft daher bitte die richtige Zuordnung.

gewiesenen psychischen Erkrankungen indiziert.

☐ Bei Reizdarm mit Obstipation sind trizyk lische Antidepressiva zu bevorzu-gen.

☐ Antidepressiva verringern die intestina-le Sensibilität.

Die in der e.Akademie erworbenen CME-Punkte können auf Ihren Wunsch hin direkt an die Ärztekammer über-mittelt werden.

So einfach geht’s:

Einheitliche Fortbildungsnummer (EFN) hinterlegenMöchten Sie Ihre in der e.Akademie gesammelten CME-Punkte direkt an Ihre Ärztekammer übermitteln, hinter legen Sie bitte Ihre EFN bei der Registrierung. Wenn Sie bereits bei springermedizin.de registriert sind, können Sie Ihre EFN jederzeit unter dem Punkt Meine Daten nachtragen. Ihre CME-Punkte werden dann auto matisch an Ihre Ärzte-kammer übermittelt.

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