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Muße in Zeiten sozialer Beschleunigung

Kulturelle Auszeiten als gesellschaftliche Herausforderung

4.4.2014

Prof. Dr. Stefan Schmidt

Sektion Komplementärmedizinische Evaluationsforschung Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie

Universitätsklinikum Freiburg

Juniorprofessor für transkulturelle Gesundheitswissenschaften Europa Universität Viadrina

Frankfurt/Oder

Prof. S. Schmidt

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Übersicht

• Was macht unsere Zeit aus?

– Merkmale der Moderne

– Soziale Beschleunigung

• Stress und Burnout

• Achtsamkeit

• Muße

• Anstöße zur Veränderung

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Was ist die Moderne?

Moderne

– Säkularisierung

– Individualisierung

– Funktionalisierung

– Rationalisierung

– Kapitalisierung

– Überangebot

– Beschleunigung

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Überangebot • Aus knappen

Ressourcen das Maximum ziehen

• Optionen ergreifen

• Bsp. Nahrung

• Bsp. Information

– Auswahl statt Aufsuchen

• Bsp. Freizeit

– Maximale Freizeit, maximaler Stress

Andreas Gursky, 99 cent

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Individualisierung

• Wert des sich abhebens, sich unterscheidens

• Autonomie

• Bsp. Berufsbiographie

• Verlagerung vom Kollektiv auf Einzelnen

– Kleidung, Wohnen etc.

– Telefon, Versicherung, Stromanbieter

– Religion -> Spiritualität

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Funktionalisierung

• Handeln in Bezug auf ein Ziel • Verdichtung und Umwidmung des

Lebensalltages • Zeitlich

– Wechsel von Ruhe und Aktivität – 24/7, Urlaub

• Räumlich – Bsp. Schule: Freiraum vs. Bildungserfolg (global) – Medien - > mobil

• Kommunikation jederzeit und kürzer • Email-Flut (Beschleunigung, Überangebot,…)

– Funktionalisierung von natürlichen Freiräumen • Warten, Reisen

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„Handy ist die Zigarettenpause des 21. Jahrhunderts“

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Michel aus Lönneberga

– 93s, 3 Szenen,

– 31s pro Szene

Shaun das Schaf

– 22s 16 Szenen

– 1,4s pro Szene

22,5 mal so schnell

Beschleunigung

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• Kennzeichen der Moderne • Kollektiv • Individueller Entzug ist nicht

möglich • Eigendynamik unserer Zeit

Hartmut Rosa

Lebenstempo

Technische Beschl.

Sozialer Wandel

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• Koselleck: Sattelzeit

• Erfahrungshorizont ≠ Erwartungshorizont

Tempo des Wandels

Vormoderne Klass.

Moderne Spät-

moderne

Geschichte Statisch Singular, gerichtet,

Fortschritt

Auflösung, hohe Wandlung ohne

Richtung

Beruf und Familie

generationen-übergreifend

Im Tempo der Generationen

Schneller als Generationen-

folge

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Paradoxien

Beeilen schafft keine freie Zeit!

Zeitspartechnologien schaffen keine freie Zeit!

Lebensgefühl der Moderne:

„Ich bin eigentlich ganz anders, nur komme ich so selten dazu“

Ö. v. Horváth

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Interpretation der Beschleunigung

• Zeitmangel als Auszeichnung – Gesellschaftlich integriert – ‚Wer Zeit hat macht sich

verdächtig‘

• Mensch ist nicht für das Tempo gemacht (?)

• Herauskippen aus der Beschleunigung – Depression

• Schneller: Verheißung der unendlichen Lebensoptionen – Flucht vor dem Tod

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Stress und Burnout • Druck auf den Einzelnen

erhöht • Unterschiedliche

Stresstoleranz • Tempo ist nicht durchhaltbar

– Kurzfristig vs. langfristig

• Erkrankungen – Ausdruck in anerkannte Diagnosen

• Depression • Somatisierung • Chronische Schmerzen • ‚Burnout‘

• Paradox : Individuelle Regulation – Neuer Stress

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Achtsamkeit ist eine Erfahrung

• Beschreibung ≠ Erfahrung

• Keine Konzepte, präverbal

• Problem mit der Wissenschaft

• Das gute Leben

• Erfahrungen macht man/frau – Bsp. Schokolade essen

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“Nicht-wertendes

Gewahrsein des

gegenwärtigen

Momentes”

Jon Kabat-

Zinn

Präsenz und

Akzeptanz

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Eine Erfahrung machen…..

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Achtsamkeit

• bewusst

• beobachtend nicht interagieren

• akzeptierend nicht wertend

• offenherzig, liebevoll

• sensorisch > kognitiv

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Andere Spirituelle Kontexte

Immer ist die wichtigste Stunde die gegenwärtige,

immer ist der wichtigste Mensch der, der Dir

gerade gegenüber steht,

immer ist die wichtigste Tat die Liebe.

Meister Eckhart

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Achtsamkeitsmeditation

• üben, üben,….

• Hier und Jetzt

• Innehalten

• “So wie es ist, ist es in Ordnung”

• Einsichten

• Musterunterbrechung

• Übertragung in den Alltag

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Informelle Achtsamkeit

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„Es gibt zwei Möglichkeiten Geschirr zu spülen: Man spült das Geschirr, damit das

Geschirr sauber wird, oder man spült Geschirr um Geschirr zu spülen.“

Thich Nhat Hanh

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MBSR

• Achtsamkeitsbasierte Stressbewältigung

• 8 Wochen Kurs

• Formale Meditation – Body-Scan, im Sitzen, Gehmeditation

• Informelle Praxis im Alltag

• Yoga

• Hausaufgaben

• Informationen zu Stress & Gesundheit

• www.mbsr-verband.org

• Öffnung für die Wissenschaft

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Forschung zu MBSR (Achtsamkeit)

• Positive Effekte bei – Stresswahrnehmung – Emotionsregulation – Depression – Angststörungen – Bewältigung chronischer Erkrankungen

• Chronische Schmerzen • Krebs • Weitere…

– Weitere Bereiche • Sucht • Zwang • …

• Arbeitswelt und Pädagogik

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• 125 Studien

• d=o.54

• 3 Gruppen

– MM, TM, andere

• Dauer

– 2 yr. r=.68

– 10yr. r=.13

Sedlmeier, Psychol. Bulletin (2012)

mittel klein groß

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Achtsamkeit und Moderne

• Konzept der Achtsamkeit – Gute Passung auf Anforderungen der Moderne

– Themen- und inhaltsübergreifend

– Entschleunigend

– Nicht funktional (Paradox)

– Intentionale Unterbrechung/Rückzug

– Reflexion/Reaktionsverhinderung (Überangebot)

• These:

Popularität der Achtsamkeit als Selbstregulation der Gesellschaft

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Problem Sozial vs. Individuell

• Beschleunigung ist sozial/kollektiv

• Achtsamkeit ist individuell

• Funktionalisierung der Achtsamkeit

– „Meditieren Sie aber bitte so effektiv wie möglich“

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Problem: Entschleunigung

• klingt gut!

• Slow xy

• Problem: Orientierung in der Zeit verbleibt (auch Freizeit)

• Besser: Heraustreten aus der sequentiellen Zeit – Zeitvergessenheit

– Ausdehnung der Gegenwart

– Raumerfahrung

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Muße „Freiheit, die in der Zeit

nicht der Herrschaft der Zeit unterliegt“

„Erfülltes Tun in Freiheit und Gelassenheit“

• Historischer Begriff

• Simultanität

• Räumlichkeit

• Potentialität – Unbestimmtheit

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Sonderforschungsbereich 1015

Muße

Konzepte. Räume. Figuren.

• Universität Freiburg

• 14 Teilprojekte

– Philosophie, Theologie, Germanistik, Romanistik, Anglistik, Slawistik, Soziologie, Kunstgeschichte, Ethnologie, Philologie, Psychosomatik

• 2013-2016

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Veränderung der Kultur

• Aufwertung von Mußepraktiken

– Nichtfunktionalität, Seele baumeln lassen

– Orte der Stille, Naturerleben

– Zeiten der Nichtkommunikation

• Schweigen, Telefon aus, emailfreier Tag, ….

– Unterbrechungen, Innehalten, Trödeln

– Sabbatjahr, Retreat

• Institutionalisierung

– Kristallisationspunkte schaffen

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Muße Orte • Klassisch

– Kirche, – Museum, – Bäder

• Betonen – Parkanlagen – Cafés

• Sperrig – Raum der Stille – Ruheabteil (ICE) – Essen in Schweigen (Kantine)

• Muße als kulturelle Praktik

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Foto Bahn

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Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!

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Berufsbegleitender Masterstudiengang

Kulturwissenschaft

Komplementäre Medizin

Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) http://kwkm.eu/info


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