Nachrichten aus dem
Stadtarchiv Gera
Ausgabe 2/2021
Liebe Leserinnen und Leser,
in der zweiten diesjährigen Ausgabe der „Nachrichten aus dem Stadtarchiv Gera“ werfen
wir unter anderem einen Blick zurück auf den Besuch der Kaiserin Auguste Viktoria in
Gera vor 130 Jahren.
Ein weiterer Beitrag nimmt Bezug auf die von Zeitgenossen als „Clara Zetkin von Gera“
bezeichnete Frauenrechtsaktivistin Anna Schneider, die von 1919 bis 1933 sowie nach
1945 in Gera kommunalpolitisch tätig war und auch über unsere Stadtgrenzen hinaus
Bekanntheit erlangte.
In einem dritten Artikel wird das Sterbebuch des Jahres 1922 statistisch ausgewertet und
den Zahlen manch‘ familien- und individualhistorisch interessante Fragestellung
entlockt.
Der vierte Beitrag wendet sich der Namensgebung der heutigen „Gagarinstraße“ vor 60
beziehungsweise 30 Jahren zu und ermöglicht einen Blick auf den Besuch des russischen
Fliegermajors in Gera im Jahr 1963.
Bei der Lektüre unseres Informationsbriefes wünsche ich Ihnen viel Vergnügen!
Ihre Christel Gäbler
Leiterin des Stadtarchivs Gera
Beiträge dieser Ausgabe:
Der Besuch von Kaiserin Auguste Viktoria in Gera vor 130 Jahren
***
Anna Schneider, geb. Wernig – „Die Clara Zetkin von Gera“
***
Einblicke in die Zeitgeschichte durch Geras Sterberegister von 1922
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Die Namensgebung der Gagarinstraße in den Jahren 1961 und 1991
***
Der Besuch von Kaiserin Auguste Viktoria in Gera vor 130 Jahren
Große Freude herrschte in der Hauptstadt des kleinen Fürstentums Reuß jüngerer Linie
als die Geburt des Prinzen Heinrichs XL. am 17. September 1891 verkündet werden
konnte. Nach den beiden Töchtern Viktoria Feodora (1889-1918) und Luise Adelheid
(1890-1951) handelte es sich bei dem kleinen Prinzen um das bis dahin dritte Kind aus
der Ehe Heinrichs XXVII. (1858-1928) Reuß jüngerer Linie und dessen Ehefrau Elise,
geborene Prinzessin zu Hohenlohe-Langenburg (1864-1929).
Glaubt man Zeitungsberichten, so seien sowohl das Fürstenhaus als auch die Geraer Ein-
wohnerinnen und Einwohner von zusätzlichem Jubel ergriffen gewesen, als bekannt
wurde, dass die Kaiserin Auguste Viktoria (1858-1921) anlässlich der Taufe des späteren
Erbprinzen persönlich nach Gera reisen würde.
Bereits als Kind war die Kaiserin Ende der 1860er Jahre das erste Mal zu Gast in Gera
um mit ihren Eltern das Residenzschloss Osterstein zu besuchen.
Wegen der Ankunft des hohen Gastes appellierte der Geraer Oberbürgermeister Ruick
1891 an die Einwohnerschaft seiner Stadt: „Wenn auch eine Besichtigung der Stadt nicht
in Aussicht genommen ist, so wird die Einwohnerschaft doch gewiß gern ihrer Freude
über den Besuch der hohen Frau zur Verherrlichung des schönen Festes auf Schloß Os-
terstein Ausdruck geben, und bitten wir sie daher, die Häuser mit Flaggenschmuck zu
versehen und diejenigen Gebäude, welche von Schloß Osterstein oder von dem vorbe-
zeichneten Wege aus gesehen werden können, an den beiden Abenden, oder wenigstens
am ersteren festlich zu beleuchten.“
In der „Geraer Zeitung“ wurde ausführlich über die Rahmenbedingungen des Besuchs
sowie über den symbolisch am Reformationsfest durchgeführten Taufakt berichtet.
Von Weißenfels aus hatte sich die Kaiserin mit einem Sonderzug auf den Weg in die
Residenzstadt Gera gemacht, wo sie am Abend des 30. Oktober 1891 eintraf. Tausende
Bürgerinnen und Bürger aus der Stadt und der ländlichen Umgebung sollen dem Besuch
der Monarchin entgegen gefiebert haben, so die Ausführungen in der Lokalzeitung. Zu
den Empfangsfeierlichkeiten im Fürstenzimmer des Bahnhofes waren unter anderem der
Landesherr, Erbprinz Heinrich XXVII., Prinz Heinrich XVIII., Graf Dönhoff, weiterhin
der Kommandeur des 96. Thüringischen Infanterie-Regiments sowie Geras Oberbürger-
meister erschienen.
Der Weg von dem im Bahnhof befindlichen Fürstenzimmer zum Ausgang des Gebäudes
war dem Anlass entsprechend imposant geschmückt. In diesem Sinn war am Ausgang
des Bahnhofs eine mit Fahnenmasten, kleinen Waldbäumen sowie Treibhauspflanzen
geschmückte Nische eingerichtet worden, in welcher die Büsten des Kaisers, der Kaise-
rin sowie des aktuellen reußischen Fürsten platziert waren.
In Form einer aufwändig beleuchteten „via triumphalis“ führte der Weg den allseits ge-
schätzten Gast und seine Entourage vom Bahnhof durch die Küchengartenallee hinauf
zum Schloss Osterstein. Darüber hinaus war der Weg zum Schloss gesäumt von illumi-
nierten Häusern sowie den zahlreichen Bürgerinnen und Bürgern, die mit ihren Lampi-
ons und Fackeln einen Blick auf die Kaiserin werfen zu können erhofften. Dies blieb
jedoch zum Leidwesen der Versammelten aus, sodass am Morgen des darauffolgenden
Tages gegen 10:30 Uhr eine Umfahrt von Auguste Viktoria durch die Stadt veranstaltet
wurde. Die nun passierte Route führte vom Schloss über die Hofwiesen durch die Hain-
straße, Roßplatz, Heinrichstraße, Johannisplatz, Kleine Kirchgasse, Marktplatz, Große
Kirchgasse, Steinweg, Leipziger Straße, Adelheidstraße (heute Clara-Zetkin-Straße),
Bahnhofstraße und zurück. Besonders wohlwollend wurde vom Publikum vernommen,
dass die Kaiserin bei dieser Rundfahrt durch die Stadt wohl ein aus Geraer Stoffen her-
gestelltes Kleid getragen haben soll.
Um 14 Uhr, am Nachmittag, traf schließlich die Festgesellschaft, die neben den adligen
Verwandten unter anderem auch aus hochrangigen Vertretern staatlicher und kommuna-
ler Behörden sowie den Direktoren der Geraer Lehranstalten bestand, in der Schlosska-
pelle zusammen. Darüber hinaus wohnten dem Taufakt als Paten des Täuflings in Ver-
tretung des deutschen Kaisers und Königs von Preußen der Generaladjutant Generalleut-
nant von Wittich, Prinz Ernst von Sachsen-Altenburg in Vertretung des Herzogs von
Sachsen-Altenburg, sowie persönlich der Fürst und die Fürstin zu Hohenlohe-Langen-
burg als Eltern der Erbprinzessin und Großeltern des Täuflings, die Prinzessin zu Solms-
Braunfels (eine geborene Prinzessin zu Reuß jüngerer Linie), Herzog Nikolaus von
Württemberg, Prinz Max von Baden, Heinrich IV. von Reuß-Köstritz sowie Prinz Hein-
rich XXIII. Reuß jüngerer Linie bei. Nicht anwesend waren der Fürst Reuß älterer Linie
sowie Prinzessin Alberta zu Leiningen.
In die Kapelle getragen wurde der Täufling durch die Schwester der Erbprinzessin, Prin-
zessin Feodora zu Hohenlohe-Langenburg, welche den jüngsten Spross des fürstlichen
Hauses Reuß jüngerer Linie sogleich der Kaiserin übergab, die ihn liebevoll in ihren
Armen gewiegt haben soll, während der Oberhofprediger Lotze das Gebet sprach. Wäh-
rend der anschließenden Taufzeremonie wurde Prinz Heinrich XL. von seiner Großmut-
ter, der Fürstin zu Hohenlohe-Langenburg, die ebenfalls als Patin fungierte, gehalten.
Im Anschluss an die Taufe fand im Marmorsaal des Schlosses eine Festtafel statt, zu
welcher ungefähr 60 Personen eingeladen waren.
Nach diesen Feierlichkeiten trat die Kaiserin bereits am Abend des Reformationstages
1891 gegen 18:30 Uhr ihre Heimreise aus der erneut mit jubelnden Sympathisanten des
deutschen Kaiserhauses angefüllten reußischen Residenzstadt an.
Neben einem ausführlichen Bericht über die Tauffeierlichkeiten und die Rahmenbedin-
gungen anlässlich des vielfach gepriesenen Besuchs der deutschen Kaiserin kam die
„Geraer Zeitung“ nicht umhin auch über Taschendiebstähle im Gedränge der aus diesem
Anlass versammelten Menschenmassen am Bahnhof zu berichten, wenngleich auch die
Möglichkeit eingeräumt wurde, dass die vermissten Gegenstände einfach verloren ge-
gangen sein könnten.
Die Euphorie dieses hohen Besuchs hielt jedoch nicht lange an, denn wenige Tage später
ereilte die Menschen des kleinen thüringischen Fürstentums bereits die traurige Nach-
richt, dass der wenige Tage zuvor mit dem heiligen Sakrament der Taufe versehene Prinz
Heinrich XL. „nach kurzem Unwohlsein wieder aus dieser Welt“ geschieden sei, wie es
in einer Anzeige in der Lokalzeitung hieß.
Die Kaiserin sollte den Weg nach Gera erst einige Jahre später wieder finden, nämlich
aus Anlass der Konfirmation ihres Patenkindes, der Prinzessin Viktoria Feodora Reuß
jüngerer Linie am 8. Mai 1905.
Besuch der Kaiserin Auguste Viktoria am 8. Mai 1905 anlässlich der Konfirmation ihres Patenkindes
Prinzessin Feodora Reuß jüngerer Linie in Gera
(Quelle: Stadtmuseum Gera, A2 – 0711)
Quellen: Geraer Zeitung Nr. 256 vom 31. Oktober 1891; Nr. 257 vom 3. November
1891; Nr. 259 vom 5. November 1891.
Text: Christel Gäbler, Leiterin des Stadtarchivs Gera
Anna Schneider, geb. Wernig – „Die Clara Zetkin von Gera“
Marie Anna Wernig wurde am 6. März 1875 in Gera geboren. Ihre Eltern waren Ernes-
tine Louise, geb. Kittelmann, und der Harmonikamacher Hermann Heinrich Wernig. Die
Familie hatte sechs Kinder, die bei der Heimarbeit des Vaters helfen mussten. Ihre Auf-
gabe bestand darin, Messingplättchen auf die Stimmplatten zu befestigen, was eine sehr
anstrengende Arbeit für die Augen war. Anna besuchte die II. Bürgerschule. Allerdings
starb ihr Vater früh und die Familie konnte das Schulgeld nicht mehr aufbringen. Sie
wechselte dann auf die III. Bürgerschule, auf die die ärmsten Kinder der Stadt gingen.
Im Alter von 12 Jahren wurde Anna Aufwärterin, zu deren Aufgaben es gehörte, Kohlen
zu holen, Holztreppen zu scheuern und Kartoffeln zu schälen. Ihre Mutter arbeitete als
Waschfrau. Sie starb auch infolge schwerster körperlicher Arbeit an Tuberkulose. Anna
lernte Weberin, indem sie ihrem Meister bei der Arbeit sechs Wochen zuschaute und
dann selbst webte. Obwohl ihre tägliche Arbeitszeit elf Stunden betrug, las sie danach
Bücher und bildete sich weiter. Mit 15 Jahren stand sie zum ersten Mal als Streikposten
bei der Firma Bauer und Focke. Die Arbeiter streikten allerdings erfolglos gegen eine
neue Fabrikordnung, die schlechtere Arbeitsbedingungen brachte. Anna musste als Pos-
ten, wenn nötig auch körperlich verhindern, dass ein Arbeiter als Streikbrecher aktiv
wurde.
Am 15. August 1897 heiratete sie in Gera den Eisendreher Carl Gustav August Schnei-
der, welcher der politischen Arbeit von Frauen fortschrittlich gegenüber stand. 1908 trat
Anna Schneider in die SPD ein.
In einer Publikation von Getrud Behr mit dem Titel „Aus dem kämpferischen Leben der
Genossin Anna Schneider“ ist über die Aktivitäten Anna Scheiders folgendes zu lesen:
„Anna Schneider sprach schon ab 1907 auf öffentlichen Versammlungen, was viel Mut
und Schlagfertigkeit erforderte. Im selben Jahr sollte sie in einem Gasthaus in Dür-
renebersdorf / Gera über Frauenrechte sprechen. Die Versammlung war leer, der Wirt
unfreundlich. Sie gab nicht auf und zog von Haus zu Haus und lud alle persönlich ein.
Der Raum füllte sich. Sie sprach und ein Arbeiter rief: „Du, junge Frau, du hast gut
reden! Meine Frau hat drei kleine Kinder zu Hause. Was denkst Du, was sie zu tun hat!“
Anna Schneider antwortete: ‚Gib nicht so an mit deinen drei Kindern! Mein Karl und
ich, wir haben ihrer sechse‘. Sie wischte sich danach den Schweiß von der Stirn und
hatte statt einem Taschentuch ein Säuglingshemdchen in der Hand. Alle lachten, aber
hörten ihr auch zu.“
Sie besuchte häufig Versammlungen der SPD-Frauen, was nicht alle sozialdemokrati-
schen Männer gern sahen. Anna Schneider sprach völlig frei und konnte Menschen in
ihren Bann ziehen. Sie war eine Zeit lang auch Mitarbeiterin der von Clara Zetkin gelei-
teten Zeitung „Die Gleichheit“. Das alles schaffte sie, obwohl sie mit ihrem Mann ins-
gesamt elf Kinder hatte.
Während der Novemberrevolution 1918 war sie Mitglied des Arbeiter- und Soldatenra-
tes in Gera. Von 1919 bis 1933 war Anna Schneider Abgeordnete der SPD im Stadtrat
und ist damit die einzige Frau, die über die gesamte Weimarer Republik in Gera kom-
munalpolitisch tätig gewesen ist. Im August 1944 wurde sie im Alter von fast 70 Jahren
verhaftet, war einige Tage im Gestapo-Gefängnis Leipzig und Weimar inhaftiert und
wurde anschließend im Konzentrationslager Ravensbrück interniert.
Nach 1945 war Anna Schneider erneut Mitglied der SPD und nahm am Vereinigungs-
parteitag der KPD und SPD zur SED in Gotha teil. Sie wurde Mitglied des Geraer Frau-
enausschusses und war im Vorstand des Demokratischen Frauenbundes Deutschlands
(DFD) tätig. Sie leitete die Frauengruppe Gera-West und war Patin für einen großen
Kindergarten. Außerdem war Anna Schneider Mitglied des Kreisvorstandes der SED
und aktives Gemeinderatsmitglied. Sie wurde von ihren Zeitgenossen das „soziale Ge-
wissen der Stadt“ genannt.
Anna Schneider starb am 29. November 1953 in Gera.
Text: Dr. Lilia Uslowa (Gleichstellungsbeauftragte der Stadtverwaltung Gera) und Judy
Slivi (Soziologin)
Einblicke in die Zeitgeschichte durch Geras Sterberegister von 1922
Um genealogische Anfragen leichter beantworten zu können, werden derzeit zu den Per-
sonenstandsregistern im Stadtarchiv Gera Indizes erstellt. Diese Arbeit ermöglicht zu-
gleich einen Blick auf das damalige Leben.
Es ist faszinierend mit diesen alten handgeschriebenen Registern – die als Verwaltungs-
arbeit vor 98 Jahren entstanden - zu arbeiten und in den festen großen A3-Seiten zu
blättern. Beim Erfassen der Personenstandsdaten versinkt man in eine frühere Welt und
lernt sehr viel. Die Vornamen sind zum Beispiel oft wieder die gleichen wie heute, aber
wiederum auch völlig unbekannte tauchen auf. Die häufigsten Vornamen in dem Erfas-
sungsjahr sind Anna und Friedrich. Die seltensten Vornamen sind Irmintraut (w) und
Lebrecht (m). Es gab auch viele Berufsbezeichnungen die wir heute nicht mehr kennen,
z. B. Plättlehrerin, Stubenmädchen, Leichenwäscherin, Geschirrführer.
Wir finden viele Ortschaften in denen die Menschen damals geboren worden sind, die
es heute nicht mehr gibt. Diese Ortschaften verschwanden weil sie dem Bergbau bzw.
der Wismut zum Opfer gefallen sind. Eine der verschwundenen Gemeinden Culmitzsch
lag zwei Kilometer östlich von Berga/Elster. Bedingt durch den Uranabbau wurden die
Bewohner zwangsumgesiedelt. Ein anderes Beispiel ist der Ort Nowawes (Abwandlung
des tschechischen Nová Ves und bedeutet neues Dorf) östlich von Potsdam auf dem Ge-
biet des heutigen Stadtteils Babelsberg. Der Ort wurde von Friedrich dem Großen als
friderizianische Kolonie für die wegen ihres Glaubens verfolgten evangelischen Weber
und Spinner aus Böhmen gegründet. Im Zuge von Ortszusammenlegungen verschwand
die Gemeinde.
Statistisch ist auffallend: 41 % der Verstorbenen sind auch in Gera geboren und 19 %
im Umland von Gera. Die Altersgruppen der Verstorbenen gliedern sich wie folgt: 30 %
hatten ein Alter von über 65 Jahren, 19 % waren 51-65-jährige, 15 % verstarben im Alter
zwischen 31-50 Jahren. Hervorzuheben ist die damalige Kindersterblichkeit. So verstar-
ben 14 % im Alter von unter einem Jahr. Zusätzlich waren 4 % der Todesfälle Totgebur-
ten (60 % (m), 40 % (w)). Auf die Gesamtdaten des Jahres 1922 bezogen sind 52 % der
Verstorbenen männlich und 48 % weiblich gewesen. 24 % aller Verstorbenen waren
verwitwet. 61 % der Verstorbenen sind zu Hause und 28 % im städtischen Krankenhaus
verstorben. Die Mitteilung des Todes erfolgte zu 48 % von Familienangehörigen und zu
36 % vom Rat der Stadt Gera, das heißt sie waren im Krankenhaus, im Altersheim oder
mit unklarer Todesursache verstorben (z.B. allein zu Hause, Unfall, Suizid, usw.).
Aus den Registern sind Familiengeschichten heraus zu lesen. Zum Beispiel ist eine un-
verheiratete Mutter mit ihren zwei Kindern durch eine Leuchtgasvergiftung umgekom-
men. Des Öfteren bemerkt man, dass nach dem Tod eines Ehepartners der Zurückgeblie-
bene ebenfalls bald aus dem Leben schied. Wir finden Auswanderer, die auf Heimatur-
laub in ihrer Geburtsstadt Gera verstarben. Zum Beispiel ein Mann der in Newark, New
Jersey, USA, lebte. Eine Frau war in Newark geboren und in Gera verheiratet und ver-
storben. Newark war und ist eine ethnisch stark gemischte Stadt. In deren Zentrum sie-
delten sich im 19. Jahrhundert viele Deutsche an, gefolgt von osteuropäischen Juden und
in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts von Afroamerikanern.
Aufschrift auf dem Buchdeckel des ersten Bandes des Sterberegisters 1922
Sterbeeintrag des Torpedoheizers Max Sigling aus dem Jahr 1922
Von einem großen Unglück erzählt der Sterbeeintrag Max Siglings, der Torpedoheizer
auf der SMS (Seiner Majestät Schiff) S126 war. Während eines Nachtmanövers im Jahr
1905, bei heftigem Schneefall, kollidierte sein Schiff mit dem Kreuzer „Undine“ und
versank innerhalb von wenigen Minuten in der Kieler Bucht. Es starben 33 Besatzungs-
mitglieder, darunter „unser Max“. Sein Tod wurde erst 1922 vom Kommandanten der
Marinestation der Nordsee in Wilhelmshaven mitgeteilt, sodass er erst im Sterberegister
1922 erfasst wurde.
Für mich als Sachbearbeiterin ergeben sich daraus viele Fragen. Lebten die Eltern von
Max in all den Jahren mit der Ungewissheit über das Schicksal ihres Sohnes? Wie haben
die Menschen damals gelebt? Sie kannten Hunger, Not und Angst vier Jahre nach dem
Ende des Ersten Weltkrieges.
Und so liest man sich immer tiefer in diese Zeit und die Geschichte hinein. Um diese
alten Dokumente überhaupt lesen zu können ist eine Grundvoraussetzung sich vorab in
die damalige Handschrift (Kurrentschrift) einzulesen. Mit Interesse und Neugier gelingt
einem dies durchaus und erschließen sich uns die Zeugnisse der damaligen Zeit aus ers-
ter Hand.
Quellen: Stadtarchiv Gera III P Nr. 848 und III P Nr. 849.
Text: Juliane Töpfer, Sachbearbeiterin im Stadtarchiv Gera
Die Namensgebung der Gagarinstraße in den Jahren 1961 und 1991
Bereits am 12. April dieses Jahres jährte sich der erste bemannte Raumflug durch Juri
Alexejewitsch Gagarin (1934-1968) zum 60. Mal. Der damit eingeläutete Auftakt in das
Zeitalter der bemannten Raumfahrt wurde auch in der damaligen Bezirkshauptstadt Gera
zum Anlass genommen, um dem sowjetischen Fliegermajor mit der Benennung eines
Straßennamens nach seiner Person zu ehren.
Ursprünglich trug der Straßenzug ab der Laasener Straße bis zur Straße des Bergmanns
die Bezeichnung „Agnesstraße“ in Gedenken an die Ehefrau des Fürsten Heinrich XIV.
Reuß jüngerer Linie (1832-1913).
Im Jahr 1946 wurde die Straße zur Erinnerung an die gleichnamige Frauenrechtlerin in
„Mathilde-Wurm-Straße“ umbenannt. Mathilde Wurm (1874-1935) setzte sich stark für
die Gleichberechtigung des weiblichen Geschlechts ein, indem sie unter anderem für das
Recht der Frauen auf Erwerbstätigkeit kämpfte. In diesem Zusammenhang war sie als
Bürgerdeputierte und Stadtverordnete in Berlin und 1920 als Mitglied des Deutschen
Reichstags tätig. Ihr Ehemann Emanuel Wurm (1857-1920) war von 1890 bis 1906 so-
wie von 1912 bis 1918 als Reichstagsabgeordneter für den Wahlkreis Reuß jüngerer Li-
nie aktiv.
Im Rahmen einer außerordentlichen Stadtratssitzung am 15. April 1961 verkündete der
damalige Geraer Oberbürgermeister Willi Weber, dass aus dem Bieblacher Neubauge-
biet Anträge von 13 Hausgemeinschaften der „Mathilde-Wurm-Straße“ sowie der
„Trebnitzer Straße“ mit insgesamt 135 Unterschriften von dort wohnhaften Bürgerinnen
und Bürgern eingegangen seien, die sich für eine Umbenennung der Straße nach Juri
Gagarin einsetzten. Gegen das auf diese Art und Weise höchstwahrscheinlich inszenierte
„Volksbegehren“ wurde auch der Einwand, dass es sich mit der bisherigen Namenspat-
ronin Mathilde Wurm um eine Antifaschistin handelte, gegenstandslos. Auch die Ver-
treter der SED-Kreisleitung hatten diesem Vorhaben ihr Einverständnis erteilt, sodass
der neue Straßenname seit dem 16. April 1961, also schon vier Tage nach dem Raum-
flug, „Juri-Alexejewitsch-Gagarin-Straße“ lautete.
Juri Gagarin im Rahmen seiner Rundfahrt durch die Stadt Gera vor dem Gebäude der heutigen
Gagarinstraße 99/101 (Quelle: Volkswacht vom 19./20. Oktober 1963)
Zweieinhalb Jahre später sollte der Volksheld der Sowjetunion im Rahmen einer Rund-
reise durch die DDR im Vorfeld der damaligen Volkskammerwahlen auch den Weg nach
Gera finden. Im lokalen Teil der „Volkswacht“ wurde bereits Tage vor dem Besuch des
Kosmonauten auf dieses große Ereignis hingewiesen, um die Bevölkerung zum Schmü-
cken der Häuser, Straßen, Plätze und Betriebe zu animieren.
Gagarins Fahrtroute durch Gera im Rahmen seines Besuchs am 18. Oktober 1963 war
für den Zeitraum von 8.00 bis 8.45 Uhr wie folgt geplant: Leninplatz (heute: Bahnhofs-
platz), die Bahnhofstraße, die Ernst-Toller-Straße, die Dimitroffallee (heute: Küchen-
gartenallee), die Gutenbergstraße und die Fasaneriestraße. Zurück sollte der Weg von
9.15 bis 9.45 Uhr entlang der Fasaneriestraße, Gutenbergstraße, Dimitroffallee (heute:
Küchengartenallee), Ernst-Toller-Straße, Puschkinplatz, Clara-Zetkin-Straße, Juri-Ale-
xejewitsch-Gagarin-Straße, Straße des Bergmanns, Berliner Straße, Werner-Siemens-
Straße und von dort zur Autobahnauffahrt nach Jena führen.
Da der lang ersehnte Gast jedoch erst 8.30 Uhr mit seinem Sonderzug am Geraer Haupt-
bahnhof eintraf, verzögerte sich der avisierte Zeitpunkt, auch der auf dem Platz der Thäl-
mann-Pioniere (heute: Biermannplatz) veranstalteten Freundschaftskundgebung, ge-
ringfügig.
Juri Gagarin während der Freundschaftskundgebung vor 70.000 Bürgerinnen und Bürgern in Gera
1963 (Quelle: Stadtmuseum Gera, Fotograf: Edgar Keil)
Nach dieser Kundgebung mit über 70.000 Besucherinnen und Besuchern führte den be-
rühmten Kosmonauten ein offener Wagen durch die Stadt in Richtung Autobahn. Doch
bevor er Gera gegen 10.15 Uhr bereits wieder verließ, ließ er es sich nicht nehmen, seine
Patenbrigade im VEB Carl Zeiss in Gera zu besuchen und sich im dortigen Brigadeta-
gebuch zu verewigen.
Am Abend dieses 18. Oktobers wurde im Geraer „Klub der Jugend und Sportler“ the-
matisch passend ein „Kosmonautenball“ veranstaltet.
Zum 1. März 1991 erfolgte schließlich aus Vereinfachungsgründen die Umbenennung
der Straße mit der heutigen Bezeichnung „Gagarinstraße“.
Literatur und Quellen: Stadtarchiv Gera, III C Nr. 2160; Volkswacht Nr. 242 vom 15.
Oktober 1963, Nr. 243 vom 16. Oktober 1963, Nr. 246 vom 19./20. Oktober 1963; Ar-
chivbibliothek Nr. 9413.
Text: Christel Gäbler, Leiterin des Stadtarchivs Gera
Impressum
Stadtarchiv Gera
Adresse: Gagarinstraße 99/101 | 07545 Gera
Tel. 0365/838-2140 bis 2143 | E-Mail: [email protected]
Öffnungszeiten: Montag, Dienstag und Donnerstag: 9.00 - 17.00 Uhr | Freitag: 9.00 –
15.00 Uhr
Das Stadtarchiv Gera auf der Homepage der Stadt Gera
Recherchieren in den Beständen des Stadtarchivs Gera
Leiterin des Stadtarchivs Gera: Christel Gäbler, M. A. mult.
Texte: Christel Gäbler (Leiterin des Stadtarchivs Gera), Juliane Töpfer (Sachbearbei-
terin im Stadtarchiv Gera), Dr. Lilia Uslowa (Gleichstellungsbeauftragte der Stadtver-
waltung Gera); Judy Slivi (Soziologin).
Fotos und Bilder: Wenn nicht anders angegeben, stammen diese aus dem Stadtarchiv
Gera.
Redaktionell verantwortlich: Christel Gäbler, M. A. mult.
Redaktionsschluss: 19. Mai 2021
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