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Physikalisch-Chemisches

Praktikum II

(Fortgeschrittenen-Praktikum)

Institut für Physikalische Chemieund Elektrochemie

Leibniz-Universität Hannover

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Inhaltsverzeichnis

1 Hinweise allgemeiner Art 51.1 Praktikumsordnung für das Fortgeschrittenenpraktikum in Phy-

sikalischer Chemie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51.2 Hinweise zum Antestat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71.3 Hinweise zum Protokoll . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81.4 Hinweise zu Reduzierventilen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101.5 Hinweise zur Fehlerrechnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12

2 Gitterenergie des festen Argon 172.1 Stichworte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172.2 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172.3 Ziel des Versuches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172.4 Theoretische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182.5 Aufgabenstellung und Versuchsdurchführung . . . . . . . . . . . 242.6 Anhang 1: Dampfdruck-Temperaturtabelle für N2 nach Henning

und Otto . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262.7 Anhang 2: Hinweise zur Berechnung der Zustandsdichte . . . . . 28

3 Bestimmung von Ober�ächen nach dem Gasadsorptionsverfah-ren (BET-Methode) 303.1 Stichworte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303.2 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303.3 Theoretische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303.4 Aufgabenstellung und Versuchsdurchführung . . . . . . . . . . . 36

4 UV/Vis-Spektroskopie 414.1 Stichworte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 414.2 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 414.3 Ziel des Versuches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 414.4 Theoretische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 424.5 Aufgabenstellung und Versuchsdurchführung . . . . . . . . . . . 644.6 Im Text zitierte Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72

5 Elektrodenkinetik � Polarographie 735.1 Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 735.2 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 735.3 Theoretischer Teil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 735.4 Versuchsdurchführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84

6 Messung der magnetischen Suszeptibilität von Lösungen nachQuincke 926.1 Stichworte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 926.2 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 926.3 Theoretische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 926.4 Prinzip der Messung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1056.5 Aufgabenstellung und Versuchsdurchführung . . . . . . . . . . . 108

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7 Silberdi�usion in Silbersul�d 1107.1 Stichworte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1107.2 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1107.3 Theoretische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1107.4 Aufgabenstellung und Versuchsdurchführung . . . . . . . . . . . 120

8 Kinetik schneller Reaktionen mit der �Stopped-Flow� Methode1238.1 Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1238.2 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1238.3 Theoretische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1238.4 Versuchsdurchführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134

9 1H NMR�Bestimmung der Spin-Gitter-Relaxationszeit vonGlyzerin bei 15 MHz 1409.1 Stichworte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1409.2 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1409.3 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1419.4 Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1419.5 Versuchsdurchführung und Versuchsaufbau . . . . . . . . . . . . 149

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1 Hinweise allgemeiner Art

1.1 Praktikumsordnung für das Fortgeschrittenenprakti-

kum in Physikalischer Chemie

Verstöÿe gegen die im Folgenden aufgeführte Praktikumsordnung können zurVersuchswiederholung oder zum Praktikumsauschluss führen!

Zulassung zum Praktikum

Zum Praktikum werden Studierende der folgenden Fachrichtungen zugelassen:

� Chemie, Bachelor (Studienbeginn WS 06/07 oder später), nach Abschlussdes Moduls CBVP-4.

� Chemie, Diplom, nach erfolgreicher Teilnahme an den Diplomvorprüfun-gen.

� Chemie, Bachelor/Master (alt), nach erfolgreicher Teilnahme an den Di-plomvorprüfungen (erfolgreicher Abschluss des Basisstudiums Teil A).

� Studenten anderer Studiengänge auf Antrag.

Vergabe der Praktikumsplätze

Am Praktikum teilnehmen können nur Studierende, die die entsprechenden,oben aufgeführten Zulassungsbedingungen erfüllen und sich fristgerecht zumPraktikumskurs angemeldet haben. Anmeldefristen hängen am schwarzen Brettdes PCI aus oder können bei den Sekretärinnen und dem Praktikumsleiter er-fragt werden.

Die Zahl der Praktikumsplätze ist beschränkt. Überschreitet die Anzahl derAnmeldungen die Kapazität eines Kurses, werden die Plätze verlost.

Praktikumsverlauf

Im Rahmen des Praktikums müssen die Studenten in Gruppen 8 Versuche er-folgreich durchführen und protokollieren und einen Vortrag im Rahmen desPraktikumsseminars zu einem gegebenen Thema halten. Bei alter Prüfungsord-nung (vor 2010) muss auÿerdem ein Abschlusskolloquium über den gesamtenPraktikumssto� bei einem der für das Praktikum verantwortlichen Professorenabgelegt werden. Gemäÿ den neueren Prüfungsordnungen wird diese Abschluss-prüfung durch die mündliche Modulprüfung ersetzt. Die Gruppen umfassen inder Regel drei, in Einzelfällen auch weniger Studierende.

Es besteht Anwesenheitsp�icht. Generell hat jeder Student an den Antes-taten, der Versuchsdurchführung, an jedem Seminartermin und dem Abschluss-kolloquium persönlich teilzunehmen. Unentschuldigte Abwesenheit wird als Ab-bruch des Praktikums gewertet. Ausweichtermine sind eine KANN -, aber keineMUSS - Regelung. D. h. es besteht seitens der Assistenten und der Prakti-kumsleitung keinerlei Verp�ichtung, einen Ausweichtermin zu stellen. Wird ein

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Antestat oder das Abschlusskolloquium durch Krankheit versäumt, so ist dieseszu einem späteren Zeitpunkt nachzuholen.

Antestat Spätestens fünf Werktage vor der Durchführung des jeweiligen Ver-suches wird beim betreuenden Assistenten ein ca. einstündiges Antestat ab-gelegt. Erst nach dessen Bestehen darf der experimentelle Teil durchgeführtwerden.

Be�ndet der Assistent die Leistung eines einzelnen oder meherer aus derGruppe für nicht ausreichend, wird das Testat zu einem neuen Termin vondem/den Betro�enen wiederholt und der Versuch ggf. verschoben. Bei erneutemNichtbestehen wird die Theorie zum Versuch in einem dritten Antestat vomPraktikumsleiter geprüft. Ist auch hier die Leistung nicht ausreichend, führtdies zum Ausscheiden des/der betre�enden Teilnehmer aus dem aktuellenPraktikumskurs.

Versuchsdurchführung Die Versuche dauern in der Regel zwischen einemhalben und einem ganzen Praktikumstag. Die Termine für die Durchführung desexperimentellen Teils werden direkt mit der technischen Betreuerin, Frau Ma-rita Schlüter, ausgemacht. Die Durchführung der Experimente �ndet ebenfallsunter Anleitung von Frau Schlüter statt, mit Ausnahme des NMR-Versuches,bei dem die Einweisung direkt durch den betreuenden Assistenten erfolgt. Un-korrektes Verhalten, Verstöÿe gegen die Laborordnungen sowie unwissenschaft-liche Bearbeitung der experimentellen Aufgaben können zum Ausschluss vomPraktikumskurs führen. Bei fehlerhafter Durchführung eines Versuches, die zunicht auswertbaren Ergebnissen führt, kann eine Wiederholung des Versuchsveranlasst werden.

Protokolle Zu jedem Versuch muss pro Gruppe ein Protokoll in handschrift-licher oder gedruckter Form beim betreuenden Assistenten bis spätestens amsechsten Werktag (auÿer Samstag) nach Durchführung des Versuches zur Kor-rektur vorgelegt werden. Die Studenten haben die Möglichkeit die Protokollenach der ersten Abgabe noch zwei weitere Male zu korrigieren. Die Korrekturensind jeweils am sdechsten Werktag nach Rückgabe der vorherigen Version durchden Assistenten bei diesem abzugeben. Die Note ergibt sich aus dem Gesamtein-druck aller abgegebenen Protokollen. Be�ndet der Assistent das Protokoll auchbei der dritten Abgabe noch für nicht ausreichend, führt dies zum Ausschlussaus dem Praktikum.

Praktikumsseminar Im praktikumsbegleitenden Seminar halten die einzel-nen Studentengruppen Vorträge über Themen der Physikalischen Chemie. ZurVortragsvorbereitung kann die Unterstützung des jeweiligen Assistenten in An-spruch genommen werden. Die Vortragszeit beträgt ca. 15 Minuten pro Person.

Modulprüfung, Abschlusskolloquium Das Praktikum gehört zum ModulPC-III. Dieses Modul wird gemäÿ der jetzigen Prüfungsordnung durch eine

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mündliche Prüfung abgeschlossen, wobei Inhalt der Prüfung der Sto� sowohl desPraktikums als auch der Vorlesung �Physikalische Chemie III� sind. Es handeltsich um Einzelprüfungen mit Beisitzer von etwa 30 Minuten Dauer. Studenten,die nach alter Prüfungsordnung studieren (vor 2010), legen ein Abschlusskollo-quium ausschlieÿlich über den Sto� des Praktikums bei Herrn Prof. Caro oderHerrn Prof. Becker ab. Diese Prüfungen �nden in diesem Fall gruppenweisestatt. Die Prüfer werden im Rahmen des Seminars zum Praktikum ausgelost.

1.2 Hinweise zum Antestat

Bereiten Sie sich bitte gründlich auf das Antestat vor. Die theoretischen Grund-lagen des Versuchs müssen bereits vollständig verstanden sein. Wenn es Unklar-heiten bezüglich der Theorie zum Versuch gibt, sollten Sie diese bereits vor demAntestat mit dem Assistenten besprechen. Fragen zu Details der Versuchsdurch-führung und der Auswertung können während des Antestates geklärt werden.

Die zu einem vollständigen Verständnis (und zum Bestehen des Antestates)nötigen Grundlagen sind jeweils am Anfang einer Versuchsanleitung in Form vonStichworten genannt und gehen oft über das hinaus, was (schon aus Platzgrün-den) in der Versuchsanleitung zu �nden ist. Soweit Sie diese Grundlagen nichtbeherrschen, müssen Sie sie selbst erarbeiten. Hierzu �nden Sie im Anschlussan die Stichworte Literaturvorschläge, die in �Grundlagen� und �WeiterführendeLiteratur� unterteilt sind. Die erstgenannten Bücher sollten in jedem Fall kon-sultiert werden, während die Literatur im zweiten Teil weiterführendes Materialfür besonders Interessierte enthält.

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1.3 Hinweise zum Protokoll

Deckblatt:

Versuchsbezeichnung

Datum:Gruppen-Nr.:Teilnehmer:ProtokollantIn:AssistentIn:Datum des Vortestates:Datum des Versuches:

Folgende Seiten:

1. Theorie zum VersuchEinleitung: worum geht es in dem Versuch, was wird gemessen, welcheGröÿen werden bestimmt?Theoretischer Hintergrund zum Verständnis und zur Auswertung des Ver-suches in knapper Form. Es muss erkennbar sein, dass die zugrunde liegen-de Literatur verinnerlicht wurde und mit eigenen Worten wiedergegebenwerden kann.

2. Versuchsaufbau und -durchführungKurze Beschreibung der durchgeführten Arbeiten und Erklärung; Skizze!Die Durchführung muss für einen Auÿenstehenden verständlich und nach-vollziehbar formuliert sein.(Keine Abschrift der Versuchsanleitung!)

3. Lösung theoretischer AufgabenIn etlichen Versuchsbeschreibungen �nden sich theoretische Fragen undAufgaben, deren Bearbeitung Teil des Protokolls ist.

4. Auswertung und FehlerbetrachtungDarstellung der experimentellen Ergebnisse in tabellarischer und graphi-scher Form. Auswertung nach Skript anhand der Angaben des Messproto-kolls. Der Gang der Auswertung soll schlüssig beschrieben werden. Durch-führung einer Fehlerrechnung, wenn möglich. Übersichtliche Darstellungder gemessenen und errechneten Gröÿen in SI-Einheiten mit Fehler.

5. Diskussion der Messergebnisse und Vergleich mit Literaturwerten.Vergleich der Messergebnisse mit Literaturangaben. Erklärung der Abwei-chungen unter Berücksichtigung der wesentlichen Fehlerquellen.

6. MessprotokollDas vom Praktikumsassistenten oder technischen Assistenten abgezeich-nete Messprotokoll (Messwerte in tabellarischer Form, DIN-A-4) wird alsAnhang in das Protokoll eingeheftet.

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7. LiteraturangabenEs soll wie folgt zitiert werden:

� Bücher:Autor(en), Titel, Au�age, Verlag, Ort (Jahr); evtl. Seite(n).Beispiel: P.W. Atkins, Physikalische Chemie, 3. Au�age, Wiley VCH,Weinheim (1998), Seite 114.

� Zeitschriftenartikel:Autor(en), Abgek. Zeitschriftentitel, Jahrgang, Seite (Jahr).Beispiel: I. J. McNaught, J. Chem. Educ. 57, 101 (1980).

� Internetseiten:Beschreibung der Internetseite; URL [Datum].Beispiel: Homepage der Universität Hannover, http://www.uni-hannover.de [Stand 01.01.2014].

8. UnterschriftMit Ihrer Unterschrift ist das Protokoll ein Dokument! Sie haben dasProtokoll selbständig zu verfassen. Sie dürfen selbstverständlich nur eigeneMesswerte verwenden.

Allgemeine Hinweise zum Protokoll:

� Formeln, Abbildungen und Tabellen werden durchnummeriert.

� Abbildungen haben Unterschriften, Tabellen haben Überschriften.

� Literaturangaben werden in der Reihenfolge, wie sie im Text erscheinendurchnummeriert und im Literaturverzeichnis aufgeführt. Literaturver-weise im Text und/oder in Abbildungsunterschriften etc. enthalten nurdie entsprechende Nummer.

� Alle Symbole, die in Formeln verwendet werden, müssen entweder im Textoder in einer Legende zur Formel erklärt werden.

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1.4 Hinweise zu Reduzierventilen

Einstellen kleiner Drücke (bis Luftdruck):

1. Hauptventil ö�nen.

2. Auslassventil ö�nen.

3. Apparatur anschlieÿen (falls noch nicht geschehen).

4. Durch vorsichtiges Hereindrehen der Einstellschraube den gewünschtenDruck einstellen (am genauesten verfügbaren Manometer ablesen).

Einstellen höherer Drücke, wenn es nicht besonders auf die Genauig-keit ankommt:

1. Hauptventil ö�nen.

2. Durch Hereindrehen der Einstellschraube den gewünschten Druck einstel-len (am Manometer des Reduzierventils ablesen).

3. Apparatur anschlieÿen (falls noch nicht geschehen).

4. Auslassventil ö�nen.

Entlasten eines Reduzierventils:

Alle Reduzierventile müssen am Ende des Versuchstages �entlastet� werden, d.h.das Gas muss herausgelassen werden, da sonst die Dichtungen im Ventil schnellverschleiÿen:

1. Zunächst das Auslassventil schlieÿen und den Gasweg nach auÿen ö�nen.

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2. Hauptventil schlieÿen.

3. Auslassventil wieder ö�nen.

4. Sollte das Manometer nun immer noch einen Druck anzeigen, so muÿdie Einstellschraube etwas weiter hereingedreht werden, bis das Gas ent-weicht.

5. Auslassventil schlieÿen.

6. Einstellschraube wieder herausdrehen (locker vor den Anschlag).

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1.5 Hinweise zur Fehlerrechnung

(Nach: Zachmann, Kapitel 18)

Literatur

� H. G. Zachmann, Mathematik für Chemiker, 5. Au�age, VCH-Verlag,Weinheim 1994.

� L. Papula, Mathematik für Ingenieure und Naturwissenschaftler, Band 3,4. Au�age, Vieweg-Verlag 2001.

Zufällige und systematische Fehler

Jede Messung ist notwendigerweise mit Fehlern behaftet, welche z.B. durch un-genaues Ablesen, Unvollkommenheit der Messgeräte, Schwankungen der Umge-bungsbedingungen etc. verursacht werden. Die Gröÿe dieser Fehler in Relationzur Gröÿe des Messwertes ist von entscheidender Bedeutung für die Aussage-kraft einer Messung. Je nach Herkunft und Auswirkung unterscheidet man zweiallgemeine Typen von Fehlern:

� Zufällige Fehler. Diese sind von Messung zu Messung unterschiedlichgroÿ und führen zu einer zufälligen Streuung der Messergebnisse. SolcheFehler können z.B. durch Ungenauigkeiten in der Mechanik eines Messin-strumentes (Reibung) verursacht werden.

� Systematische Fehler. Diese sind dadurch charakterisiert, dass sie beimehrmaligem Messen in erster Näherung gleich bleiben. Ein Beispiel sindhier Fehler beim Ablesen einer Skala unter einem von 90° abweichendenBlickwinkel (Parallaxenfehler).

Während zufällige Fehler im Prinzip durch Wiederholungen des Experimentesbeliebig verkleinert werden können, ist zur Erkennung systematischer Fehler inder Regel eine gründliche und kritische Analyse des gesamten Messvorgangesnötig.

Im Folgenden sollen nur zufällige Fehler betrachtet werden. Da es sich bei ih-nen im mathematischen Sinne um Ergebnisse von Zufallsereignissen handelt, ge-horchen sie den Gesetzmäÿigkeiten der Wahrscheinlichkeitsrechnung. Man kanndaher ihren Ein�uss auf das Messergebniss untersuchen, indem man die einzel-nen Messresultate nach statistischen Methoden auswertet.

Mittelwert und mittlerer Fehler der Einzelmessung

Man betrachtet den Fall, dass irgendeine physikalisch-chemische Gröÿe insge-samt n mal gemessen wurde. Den wahren Wert, den diese Gröÿe besitzt, be-zeichnet man mit xw, die n Messwerte mit x1, x2, ... , xn. Bei der einzelnenMessung möge jeweils eine groÿe Zahl von zufälligen Ein�üssen wirksam sein,die zur Folge haben, dass die xi von xw abweichen. Eine gewisse Anzahl vonFaktoren wirkt auf eine Vergröÿerung des Messwertes hin, eine Reihe von ande-ren Faktoren auf eine Verkleinerung. Es erhebt sich nun die Frage, wie man aus

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den einzelnen Messungen xi denjenigen Wert bestimmt, der mit gröÿter Wahr-scheinlichkeit dem wahren Wert xw entspricht. Diesen Wert bezeichnet man mitx. Die Bedingung zur Bestimmung des gesuchten wahrscheinlichsten Wertes xvon xw ist durch das Minimum der Summe der quadratischen Abweichungenvon xw gegeben, d. h.

n∑i=1

(xw − xi)2 = Minimum für xw = x . (1.1)

Das Minimum liegt nun an der Stelle, an der die Ableitung der Summe inGleichung (1.1) nach xw gleich Null wird. Somit erhält man zur Bestimmungvon x die Gleichung

d

dxw

n∑i=1

(xw − xi)2 = 2n∑i=1

(xw − xi) = 0 für xw = x (1.2)

aus der sich durch Umformen

x =1

n

n∑i=1

xi (1.3)

ergibt. Man sieht also, dass derjenige Wert x, der mit gröÿter Wahrscheinlichkeitdem wahren Wert xw entspricht, durch das arithmetische Mittel der einzelnenMesswerte gegeben ist.

Die Abweichungen der einzelnen Messwerte xi vomMittelwert nennt man dieFehler der einzelnen Messungen und bezeichnet sie mit δi = xi−x. Ein geeignetesMaÿ für die Gröÿe dieser Fehler stellt die Streuung dar, die man erhält, indemman die Summe der Abweichungsquadrate durch n teilt und anschlieÿend ausdem Resultat die Wurzel zieht. Man nennt diese Gröÿe den mittleren Fehler m′

der Einzelmessungen bezüglich des Mittelwertes

m′ =

√√√√ 1

n

n∑i=1

δ2i =

√√√√ 1

n

n∑i=1

(xi − x)2 . (1.4)

Den mittleren Fehler m der Einzelmessungen bezüglich des wahren Wertes xwerhält man zu

m =

√√√√ 1

n− 1

n∑i=1

δ2i =

√√√√ 1

n− 1

n∑i=1

(xi − x)2 =

√√√√ 1

n− 1

(n∑i=1

x2i − nx2

).

(1.5)

Fortp�anzung des mittleren Fehlers und des maximalen Fehlers einerEinzelmessung

Gewöhnlich führt man eine Vielzahl von Messungen der Gröÿen x und y durchund fragt danach, wie sich die mittleren Fehler in x und y auf den mittleren

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Fehler in z = f(x, y) auswirken. Es sollen nun r Messungen der Gröÿe x und sMessungen der Gröÿe y durchgeführt werden. Die erhaltenen Werte werden mitx1, x2, ... xr bzw. y1, y2, ... ys, die Mittelwerte mit x bzw. y und die mittlerenFehler mit mx bzw. my bezeichnet. Den Mittelwert z von z kann man dann mitHilfe von Gleichung (1.3) berechnen:

z =1

r · s

r∑i=1

s∑k=1

zik (1.6)

Für relativ kleine Fehler geht diese Formel in

z = f(x, y) (1.7)

über, d. h. man kann den Mittelwert von z = f(x, y) berechnen, indem manin f(x, y) die Mittelwerte von x und y einsetzt. Den mittleren Fehler mz von zerhält man in Analogie zu Gleichung (1.5) gemäÿ:

mz =

√√√√ 1

r · s− 1

r∑i=1

s∑k=1

(zik − z)2 (1.8)

Auch hier lässt sich für relativ kleine Fehler der mittlere Fehler mz nähe-rungsweise aus den mittleren Fehlern von x und y berechnen

mz =√

[fx(x, y)]2m2x + [fy(x, y)]2m2

y (1.9)

wobei fx(x, y) die partielle Ableitung der Funktion f(x, y) nach x an der Stellex = x und y = y) ist und fy(x, y) die entsprechende partielle Ableitung nach yist. Dies ist das sogenannte Gauÿsche Fehlerfortp�anzungsgesetz. Die Gleichunglässt sich auf eine beliebige Anzahl von Messgröÿen verallgemeinern. Im Prak-tikum wird in den meisten Fällen aus Zeitgründen eine physikalisch-chemischeGröÿe nur einmal gemessen. Das bedeutet, dass man versuchen muss, den ma-ximalen Fehler ∆x der Messgröÿe x abzuschätzen bzw. ihn aus Informationenüber das Messinstrument herauszulesen. Der maximale Fehler ∆x wird dabeiso gewählt, dass das Messergebnis mit Sicherheit in dessen Grenzen liegt. Be-trachtet man nun den Fall, dass zwei verschiedene Gröÿen x und y gemessenwerden und die neue Gröÿe z = f(x, y) eine Funktion von x und y ist, dannstellt sich die Frage, wie groÿ der maximale Fehler in z ist, wenn die Fehler inx und y bei einer einmaligen Messung ∆x und ∆y betragen? Dazu kann maneine zum Fehlerfortp�anzungsgesetz (1.9) ähnliche Formel verwenden

∆z = |fx(x, y)|∆x+ |fy(x, y)|∆y (1.10)

wobei an die einzelnen Faktoren Betragsstriche gesetzt wurden, um zu vermei-den, dass sich die Fehler in x und y teilweise kompensieren. Gewöhnlich versuchtman diese Gleichung so umzuformen, dass rechts und links die sogenannten re-lativen Fehler ∆x/x, ∆y/y bzw. ∆z/z stehen.

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Mittlerer Fehler des Mittelwertes

Als Maÿ für die mögliche Abweichung des berechneten Mittelwertes x vom wah-ren Wert xw führt man den mittleren Fehler von x ein, der mit m bezeichnetwird. Der mittlere Fehler des Mittelwertes m ist keineswegs mit dem mittlerenFehler m der Einzelmessungen identisch, da mit wachsendem n die Wahrschein-lichkeit dafür, dass sich die Fehler in den xi kompensieren, immer gröÿer undsomit der Fehler von x immer kleiner wird. Um m zu berechnen, geht man vonGleichung (1.3) aus. Dieser Formel gemäÿ ist x eine Funktion f(x1, x2, ..., xn)der n Veränderlichen x1, x2, ..., xn. Jede dieser Gröÿen ist mit einem mittlerenFehler m behaftet. Der mittlere Fehler in x lässt sich somit mit Hilfe des Feh-lerfortp�anzungsgesetzes (1.9) aus den Fehlern der xi berechnen. Man erhält soden mittleren Fehler des Mittelwertes zu

m =m√n

(1.11)

indem man den mittleren Fehler m der n Einzelmessungen durch n1/2 dividiert.Das Ergebnis der Messreihe wird dann in der Form x±m dargestellt.

Ausgleichsrechnung (lineare Regression)

Oftmals interessiert im Praktikum der Fall, dass zwei Messgröÿen x und y linearvoneinander abhängen, d. h. y = a+ bx. Die einzelnen gemessenen Wertepaarewerden mit (x1, y1), (x2, y2), ... , (xn, yn) bezeichnet. Wenn man die erhaltenenWertepaare in ein Koordinatensystem einträgt, erhält man z. B. die in Abbil-dung 1.1 angegebenen Punkte. Diese Punkte liegen wegen der zufälligen Fehler,die bei den Messungen auftreten können, nicht auf einer Geraden. Auf welcheWeise kann man nun diejenige Gerade �nden, die mit gröÿter Wahrscheinlichkeitmit der tatsächlich vorliegenden Geraden übereinstimmt? Es lässt sich zeigen,dass man diese Gerade so wählen muss, d. h. die Konstanten in der Weise be-stimmen muss, dass die Summe der quadratischen Abweichungen der Punktevon der Gerade ein Minimum wird. Die Abweichungen des Punktes (xi, yi) vonder Geraden in y-Richtung ist durch yi − a− bxi gegeben, d. h. die Summe derquadratischen Abweichungen

n∑i=1

(yi − a− bxi)2 (1.12)

muss minimal sein. Dies ist gleichbedeutend damit, dass die beiden partiellenAbleitungen der Summe in (1.12) nach a und b verschwinden müssen, d. h.

∂a

n∑i=1

(yi − a− bxi)2 = 0 und∂

∂b

n∑i=1

(yi − a− bxi)2 = 0 (1.13)

Ausführen der partiellen Di�erentiation und Umformen ergibt die gesuchtenBestimmungsgleichungen für a und b:

a =

∑i yi∑

i x2i −

∑i xi∑

i xiyi

n∑

i x2i − (

∑i xi)

2 und b =n∑

i xiyi −∑

i xi∑

i yi

n∑

i x2i − (

∑i xi)

2 (1.14)

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Abbildung 1.1: Ausgleichsgerade.

Mit Hilfe von a und b lässt sich nun die Fehlerquadratsumme (1.12) berechnenund somit die Streuung my, d. h. der mittlere Fehler der einzelnen y-Werte,angeben:

my =

√√√√ 1

n− 2

n∑i=1

(yi − a− bxi)2 (1.15)

Die mittleren Fehler, mit denen a und b behaftet sind, ergeben sich zu

ma = my

√ ∑i x

2i

n∑

i x2i − (

∑i xi)

2 und mb = my

√n

n∑

i x2i − (

∑i xi)

2 (1.16)

so dass der y-Achsenabschnitt bzw. die Steigung der Ausgleichsgeraden durcha ± ma bzw. b ± mb gegeben sind. Als Qualitätsmaÿ für die Ausgleichsgeradewird oftmals der sogenannte Korrelationskoe�zient r2

r2 =[n∑

i xiyi −∑

i xi∑

i yi]2[

n∑

i x2i − (

∑i xi)

2] [n∑i y2i − (

∑i yi)

2] (1.17)

verwendet. Je näher r2 bei Eins liegt, umso besser beschreibt die Ausgleichsge-rade die Messpunkte.

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2 Gitterenergie des festen Argon

2.1 Stichworte

� Intermolekulare Wechselwirkungen, Lennard-Jones Potential

� Gitterenergie

� Statistische Berechnung thermodynamischer Gröÿen, Zustandssumme, In-nere Energie

� Grundlagen des harmonischen Oszillators, Gitterschwingungen (Phono-nen)

� Schwingungswärme und Wärmekapazität von Festkörpern: Modelle vonEinstein und Debye

� Sublimationsenthalpie, Clausius-Clapeyron Gleichung, thermodynami-scher Kreisprozess

2.2 Literatur

Grundlagen

� Wedler, Kap. 4.2.

� Atkins, Kap. 18.

Weiterführend

� C. H. Kittel, Einführung in die Festkörperphysik, Oldenbourg, 2005.

� R. Becker, Theorie der Wärme, Springer Verlag, 1966.

� A. J. Stone, The theory of intermolecular forces, Oxford University Press,1997.

� J. Israelachvili, Intermolecular and Surface Forces, Academic Press, 1992.

2.3 Ziel des Versuches

� Berechnung der Gitterenergie des festen Argon mit Hilfe des Lennard-Jones Potentials.

� Bestimmung der Gitterenergie des festen Argon bei einer Temperatur vonca. 70 K. Hierzu wird die innere Energie des Festkörpers durch Messungder Sublimationsenthalpie bestimmt. Mit Kenntnis der über das Debye-Modell zu berechnenden Schwingungsenergie kann die Gitterenergie er-mittelt werden.

� Vergleich der experimentellen und theoretischen Werte und Diskussionmöglicher Abweichungen.

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Page 18: Physikalisch-Chemisches Praktikum II

2.4 Theoretische Grundlagen

Berechnung der Gitterenergie über das Lennard-Jones Potential

In einem kristallinen Festkörper liegen die Teilchen in regelmäÿiger Anordnungin enger Nachbarschaft vor. Sie werden, je nach Teilchenart, durch unterschiedli-che Kräfte wie Coulombkräfte, van der Waals Kräfte, kovalente Bindungen odermetallische Bindungen im Kristallverband gehalten. Sobald die Teilchen einan-der sehr nahe kommen gewinnen repulsive Kräfte von vergleichsweise geringerReichweite die Oberhand, so dass die Annäherung nur bis auf einen Gleich-gewichtsabstand r0 erfolgt. Im Festkörper be�ndet sich jedes Teilchen im Mi-nimum eines Potentials, das durch die Gesamtheit aller anderen Teilchen desKristalls aufgebaut wird. Als Gitterenergie wird die Energie bezeichnet, die freiwird, wenn beim absoluten Nullpunkt ein Mol Teilchen aus unendlich gedachtemAbstand (praktisch so groÿem Abstand, dass keine Kräfte mehr zwischen denTeilen zu beobachten sind) zu einem Kristall zusammengefügt werden. Da die-ser Prozess exotherm ist, besitzt die Gitterenergie ein negatives Vorzeichen. DieGitterenergie kann auch als die Summe der potentiellen Energie aller Teilchen(1 Mol) eines Kristalls aufgefasst werden. Nach Lennard-Jones führt man für diepotentielle Energie zwischen zwei Atomen, die sich im Abstand r be�nden undkein permanentes elektrisches Dipolmoment oder ein höheres Multipolmomentbesitzen, die folgende Funktion ein:

Epot(r) = 4 · ε

[(δ

r

)12

−(δ

r

)6]

(2.1)

Der zu r−6 proportionale Term beschreibt die attraktiven Wechselwirkungenzwischen �uktuierenden Dipolen (London-Kräfte bzw. Dispersionswechselwir-kung). Der r−12 Term ist ein Maÿ für die Abstoÿung der Atome, die vor allembei kleinem Abstand wirksam wird. Der Exponent des repulsiven Terms wurdeso gewählt, dass die Formel rechnerisch bequem zu handhaben ist. Bei anderen,ähnlichen Potentialen liegt er im allgemeinen zwischen −9 und −12. δ und εsind sto�spezi�sche Konstanten, wobei ε die Tiefe des Potentials angibt. DerParameter δ ergibt sich gemäÿ δ = rGl2

−1/6 aus dem Gleichgewichtsabstanddes Dimeren. In der Spektroskopie werden Energien oft als Wellenzahl (rezi-proke Wellenlänge; Einheit: cm−1) angegeben. Mit E = hν = hc/λ ergibt sich,dass eine Wellenzahl von 1 cm−1 einer Energie von 1.9864 10−23 J entspricht.Die Gitterenergie des Kristalls erhält man durch Aufsummieren über alle Paar-wechselwirkungsenergien Eij(rij) unter Berücksichtigung der Kristallstruktur.Für ein kubisch-�ächenzentriertes Gitter, wie im Fall von Argon, führt dies zufolgendem Ergebnis:

UGitter = 2 ·NA · ε

[12.132

r0

)12

− 14.454

r0

)6]

(2.2)

Hier ist r0 der Abstand zwischen einem Atom und seinen nächsten Nachbarn.Die Koe�zienten vor den r−6 und r−12 Termen berücksichtigen, dass jedes Teil-

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chen in einer kubisch dichtesten Kugelpackung nicht nur mit seinen 12 nächs-ten Nachbarn in Wechselwirkung tritt � dann wären die Vorfaktoren genau12 � sondern dass auch die Teilchen in allen weiter entfernt liegenden Koor-dinationssphären einen Beitrag liefern. Hierbei macht man die vereinfachendeAnnahme, dass die Potentiale der in weiterem Abstand be�ndlichen Teilen nichtdurch Atome, die sich zwischen zwei betrachteten Teilchen be�nden, beein�usstwerden. Zwar nimmt die Teilchenzahl in den Sphären mit zunehmendem Ab-stand zu, die Stärke des Potentials nimmt jedoch so schnell ab, dass die Reihekonvergiert. Die Koe�zienten ε und δ können aus spektroskopischen Daten vonArgon-Dimeren erhalten werden. P. R. Herman et al. haben die in Abb. 2.1 dar-gestellte Potentialkurve an gemessene spektrale Übergänge von Argon-Dimerenangepasst. Entnehmen Sie aus dieser Abbildung ε und δ. Der Teilchenabstandr0 ergibt sich aus der Gitterkonstante von festem Argon bei 70 K a = 5.422 Å(G. L. Pollack, Rev. Mod. Phys. 36, 748 (1964))Berechnen Sie mit Hilfe von Gl.(2.2) die Gitterenergie. Dieser Wert soll mit dem noch zu messenden verglichenwerden.

Abbildung 2.1: Potentialkurve des Argon-Dimers im Grundzustand. Aus: P.R. Herman, P. E. LaRocque, B. J. Stoiche�, J. Chem. Phys. 89, 4535-4549.

Bestimmung der Gitterenergie von Argon durch einen Kreisprozess

Die Gitterenergie ist der Messung nicht direkt zugänglich. Deshalb betrachteman den in Abb. 2.2 skizzierten Kreisprozess. Weil die Summe der Energiebei-träge eines geschlossenen Kreisprozesses gleich Null sein muss, ergibt sich fürdie Gitterenergie:

UGitter =5

2·R · T −∆SubH − U0 − UVib (2.3)

Diese Gleichung ist für die Auswertung maÿgeblich. Die Sublimationsenthalpie∆SubH wird durch Messung des Dampfdruckes von festem Argon in Abhängig-keit von der Temperatur nach Clausius-Clapeyron bestimmt. Die Berechnungder Nullpunkts- und der Schwingungsenergie kann z.B. über das Debye-Modellder Gitterschwingungen erfolgen (Gleichung (2.16)).

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Abbildung 2.2: Kreisprozess zur Bestimmung der Gitterenergie von Argon.

Berechnung der Nullpunkts- und Schwingungsenergie

Schwingungs- und Nullpunktsenergie eines Festkörpers können mit Hilfe desEinstein- oder des Debye-Modells berechnet werden. Da das Einstein-Modelleinfacher und sehr anschaulich ist, wird es hier zunächst vorgestellt. Die Aus-wertung des Versuches soll mit dem exakteren Debye-Modell erfolgen.

Einstein-Modell Nach diesem Modell be�ndet sich jedes Festkörperteilchenin einem harmonischen Potential, das durch die Gesamtheit aller anderen Teil-chen des Kristalls aufgebaut wird. Da Schwingungen in alle drei Raumrichtun-gen zugelassen sind, ist ein kristalliner Festkörper mit N Teilchen als Systemaus 3N gleichartigen, voneinander isolierten harmonischen Oszillatoren, die alledieselbe Grundfrequenz ν besitzen, zu behandeln. Die Berechnung der Schwin-gungsenergie (inkl. Nullpunktsenergie) erfolgt mit den Methoden der statisti-schen Thermodynamik über die Systemzustandssumme Zvib.

Unter der Voraussetzung dass zwischen den unterschiedlichen Anregungs-arten (Translations-, Rotations-, Schwingungs- und Elektronenanregung) keineWechselwirkungen auftreten, setzt sich die Energie eines Systems (Teilchens)additiv aus den Teilbeiträgen zusammen:

ε = εtrans + εrot + εvib + εel (2.4)

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Die Teilchenzustandssumme z ergibt sich dann nach:

z = ztrans · zrot · zvib · zel (2.5)

Da Rotation und Translation der Teilchen in Festkörpern nicht vorkommen unddie Elektronenanregung bei den hier betrachteten Temperaturen vernachlässigtwerden kann, genügt es, die Schwingungszustandssumme von Oszillatoren zubetrachten.

zvib =∞∑n=0

e−hνβ(n+1/2) =e−hνβ/2

1− e−hνβmit β =

1

kBT(2.6)

Dabei ist ν die Schwingungsfrequenz und n die Quantenzahl. kB steht wie üblichfür die Boltzmann-Zahl. Der Kristall bestehe aus NA (1 Mol) unterscheidbarenTeilchen mit je drei Schwingungsfreiheitsgraden (alle drei Raumrichtungen).Seine Zustandssumme Zvib errechnet sich nach

Zvib = (zvib)3NA (2.7)

aus der Teilchenzustandssumme z. Daraus kann nun die molare Schwingungs-energie eines Kristalls berechnet werden, wobei die Nullpunktsenergie ebenfallserfasst ist. Mit

U0 + Uvib = kBT2∂ lnZvib

∂T(2.8)

folgt:

U0 + Uvib =3

2NAhν +

3NAhν

ehνβ − 1(2.9)

für die Schwingungsenergie eines kristallinen Festkörpers. Durch Einführen einercharakteristischen Temperatur (Einstein-Temperatur) ΘE := hν/kB kann manGl. (2.9) auch schreiben als:

U0 + Uvib =3

2RΘE +

3RΘE

eΘE/T − 1(2.10)

Debye-Modell Die Theorie von Debye unterscheidet sich vom Einstein-Modell darin, dass die einzelnen Teilchen zunächst nicht im Zentrum des In-teresses stehen. Man stellt sich den Festkörper vielmehr als ein Medium vor,in dem sich Gitterschwingungen ausbreiten können. Ähnlich wie bei elektroma-gnetischen Wellen die Photonen die Quantenteilchen des Lichtes sind, stellenPhononen die Quantenteilchen von Gitterschwingungen dar. Die Betrachtungvon Phononen ist hilfreich, denn sie erlaubt es, Konzepte der statistischen Ther-modynamik, wie z. B. die Zustandssumme, zu verwenden, die für Teilchenen-sembles gelten. Im Gegensatz zum Einstein-Modell ist im Debye-Modell nichtnur eine einzige Frequenz zu betrachten, sondern ein breiteres Spektrum. DieÜberlegungen, die zur Beschreibung des Spektrums, also der Abhängigkeit derIntensität von der Frequenz, führen, werden hier kurz erläutert. Dazu betrach-te man den Kristall vereinfacht als einen Würfel der Kantenlänge L mit dem

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Volumen V = L3. Alle Schwingungsmoden, die solch ein System haben kann,lassen sich auf stehende Wellen, die sogenannten Normalmoden, zurückführen.Für stehende Wellen mit einer Ausbreitungsgeschwindigkeit c in einem VolumenV gilt allgemein:

ρ(ν) = 4π · V · ν2

c3(2.11)

ρ(ν) ist die Zustandsdichte und beschreibt, wie viele Moden in einem Frequen-zintervall [ν, ν + dν] liegen. (Siehe Anhang 2. Bitte auch ein geeignetes Buch zuRate ziehen! Stichwort: Zustandsdichte). Für die Wellenlänge von Schwingungs-moden in einem kristallinen Festkörper gibt es eine untere Grenze die erreichtist, wenn direkt benachbarte Teilchen genau gegeneinander schwingen. Somitbesitzt das Phononenspektrum eine maximale Frequenz νmax. Weiterhin ist zuberücksichtigen, dass bei jeder Frequenz eine longitudinale und zwei transver-sale Wellenzüge mit den Ausbreitungsgeschwindigkeiten vlon und vtrans existie-ren. Vereinfachend wird angenommen, dass alle drei Moden dieselbe mittlereAusbreitungsgeschwindigkeit v besitzen. Somit ist Gl. 2.11 ein wenig zu mo-di�zieren. Für die Zustandsdichte der drei Moden der Gitterschwingungen giltdann:

ρ(ν) = 4π · V ν2 ·(

1

v3lon

+2

v3trans

)= 4π · V · ν2 · 3

v3(2.12)

Nun ist noch zu beachten, dass die Gesamtzahl der Gitterschwingungen in einemSystem aus N Oszillatoren gleich 3N sein muss.

3N =

νmax∫0

ρ(ν)dν =

νmax∫0

12π · V · ν2

v3 dν = 4π · V · ν3max

v3 (2.13)

Durch Au�ösen von Gl. 2.13 nach v3 und Einsetzen in Gl. 2.12 erhält manfür die Zustandsdichte der Schwingungsmoden in einem Kristall aus einem Mol(NA) Teilchen:

ρ(ν)dν = 9NA

ν2

ν3max

dν (2.14)

Um die Schwingungsenergie zu erhalten muss nun über das Produkt aus derEnergie einer Mode und der Modenzahl im Intervall [ν, ν + dν] integriert wer-den. Die mittlere Energie eines Phonons u(ν) bei der Frequenz ν ergibt sichanalog zur mittleren Teilchenenergie aus der Zustandssumme eines harmoni-schen Oszillators (siehe Gl. 2.9).

U0 + Uvib =

νmax∫0

u(ν)ρ(ν)dν =

νmax∫0

9NAν2

ν3max

(hν

2+

ehνβ − 1

)dν (2.15)

Lösen des Integrals (mit ΘD := hνmax/kB und x := hνβ = hνkBT

) liefert für diemolare Schwingungsenergie:

U0 + Uvib =9

8R ·ΘD + 9RT

(T

ΘD

)3ΘD/T∫0

x3

ex − 1dx (2.16)

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Page 23: Physikalisch-Chemisches Praktikum II

Es sei nochmals herausgestellt, dass das Einstein-Modell nur eine einzigeSchwingungsfrequenz berücksichtigt, die einem harmonischen Oszillator ent-spricht. Dieser Oszillator besteht aus einem Teilchen, das sich in dem durch alleandern Gitterteilchen aufgebauten Potentialfeld be�ndet. Im Debye-Modell hin-gegen wird ein kontinuierliches Schwingungsspektrum betrachtet. Beide Modelleliefern den korrekten Grenzwert der Wärmekapazität bei hohen Temperaturen(Dulong - Petitsche Regel: Cmolar

v (T →∞) = 3R). Auch bei der Annäherung an0 K sagen beide Modelle das Verschwinden der Wärmekapazität voraus. (HabenSie eine Erklärung dafür?) Nur das Debye-Modell gibt den gemessenen Cv(T )-Verlauf, welcher bei tiefen Temperaturen proportional zu T 3 ansteigt, richtigwieder.

Der linke Term in Gleichung 2.16 gibt die Nullpunktsenergie an. Der rechte,temperaturabhängige Term wird zusammengefasst zu

Uvib = 3RTD(ΘD/T ) (2.17)

wobei man D(ΘD/T ) als Debye-Funktion bezeichnet. Für Argon �ndet manΘD = 80K. Die Debye-Funktion läÿt sich für ΘD/T < 2 in eine Reihe entwickelnund nach dem vierten Glied abbrechen. Für T = 70K ergibt sich:

D(ΘD/T ) = 1− 3

8

(ΘD

T

)+

1

20

(ΘD

T

)2

− 1

1680

(ΘD

T

)4

= 0.6357 (2.18)

Messung der Sublimationsenthalpie

Im Versuch wird das Gleichgewicht zwischen festem (s) Argon und gasförmigem(g) Argon betrachtet. Die Bedingung für das währende Gleichgewicht ist, dassdie chemischen Potentiale µ der beiden Phasen auch bei Veränderungen derBedingungen (Druck, Temperatur) gleich bleiben müssen:

dµgAr = dµsAr (2.19)

Daraus ergibt sich die Clausius-Clapeyronsche Gleichung

d ln p

d(1/T )= −∆SubH

R(2.20)

wobei die vereinfachenden Annahmen gemacht wurden, dass das Festkörpervo-lumen gegenüber dem des Gases vernachlässigbar ist, dass die Gasphase demidealen Gasgesetz gehorcht und dass die Sublimationsenthalpie im betrachtetenTemperaturintervall nicht von der Temperatur abhängig ist. Die Sublimations-enthalpie kann nach Gl. (2.20) bestimmt werden, wenn man den Dampfdruckvon festem Argon in Abhängigkeit von der Temperatur bestimmt. Im Experi-ment wird die Temperatur ermittelt, indem man den Dampfdruck von Sticksto�misst. Für den Dampfdruck von N2 gilt nach Henning und Otto:

log(p/Torr) = 7.781845− 341.619

T/K− 0.0062649 · T/K (2.21)

wobei der Druck in Torr und die Temperatur in Kelvin einzusetzen sind. Fürdie Auswertung ist die im Anhang angegebene Tabelle, in der der Dampfdruckvon Sticksto� als Funktion der Temperatur angegeben ist, zu verwenden.

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2.5 Aufgabenstellung und Versuchsdurchführung

Theoretische Aufgabe

Zeigen Sie, dass im Lennard-Jones Potential, Gleichung (2.1), δ den Gleichge-wichtsabstand der beiden Atome und ε die Tiefe des Potentialtopfes beschreibt.

Experimentelle Aufgabe

Durch Dampfdruckmessungen von festem Argon im Bereich von ca. 63-77 K be-stimme man die Sublimationsenthalpie bei 70 K. Die Temperatur werde dabeiaus dem Dampfdruck des Sticksto�s ermittelt. Der erhaltene Wert der Subli-mationsenthalpie soll mit dem Literaturwert verglichen werden. Für die beidenWerte werde die Gitterenergie nach Gl. (2.3) berechnet und mit der Gitterener-gie, die man aus dem Potentialansatz nach Lennard-Jones mit Gl. (2.2) erhält,verglichen (Fehlerangaben und Fehlerbetrachtung!).

Versuchsdurchführung

Die Apparatur (Abb. 2.3) besitzt zwei Meÿzellen mit separaten Druckmeÿköp-fen, die mit der zu messenden Substanz Argon bzw. mit Sticksto� als Refe-renz zur Temperaturbestimmung befüllt werden. Zu Versuchsbeginn werdenzunächst die gesamte Apparatur und die Schläuche bis zu den Flaschenven-tilen mit der Ölpumpe evakuiert. Anschlieÿend werden nacheinander die beidenMeÿzellen mit dem entsprechenden Gas bis zu einem Druck von etwa 1 barvorsichtig befüllt, so dass möglichst kein Gas durch das Überdruckventil ent-weicht. Dieses Gas wird wieder evakuiert (Spülvorgang) und erneut 1 bar Gaseingefüllt. Der Vordruck am Auslassmanometer des Druckminderers sollte dabei0 bar anzeigen (hier wird nämlich nur die Di�erenz zum Luftdruck gemessen).Zur Druckkontrolle beim Befüllen dienen die Anzeigegeräte der piezoelektri-schen Drucksensoren.

Das Dewargefäÿ wird nun bis etwa 10 cm unterhalb des Randes mit �üs-sigem Sticksto� gefüllt (der Ansaugstutzen im Deckel darf nicht eintauchen!),dann werden der Gummidichtring auf den Gefäÿrand und der Deckel vorsichtigauf den Dichtring gelegt. (Etwas warten, bis das Sticksto�bad aufgehört hatzu brodeln.) Nun wird der Hahn zum Dewargefäÿ geö�net und dieses evaku-iert, während der Deckel mit den Händen gleichmäÿig angedrückt wird, bis erdicht ist. Das Gefäÿ wird solange evakuiert, bis die Temperatur auf etwa 66 Kgesunken ist (ca. 1 Stunde). Dann wird die Pumpe belüftet und ausgeschaltet.

Die Dampfdrucke des Argons und des Sticksto�s werden bestimmt. Anschlie-ÿend wird der Deckel des Dewars etwas geö�net, damit sich der �üssige Sticksto�schneller erwärmt. Etwa fünf Minuten vor jedem erneuten Ablesen der Dampf-drucke wird der Deckel wieder geschlossen, damit man annähernde Tempera-turkonstanz erhält. Es sollen mindestens 12 Messwerte aufgenommen werden.

Zum Schluss nicht vergessen, den Haupthahn der Gasversorgung zu schlieÿenund die Druckminderer zu entlasten!

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Abbildung 2.3: Skizze des Versuchsaufbaus

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2.6 Anhang 1: Dampfdruck-Temperaturtabelle für N2

nach Henning und Otto

An den Tabellenkanten wird der Druck in Torr angegeben, in der Tabelle dieTemperatur in K.

+ 0 1 2 3 4 5 6 7 8 980 62.24 62.30 62.37 62.43 62.50 62.56 62.62 62.69 62.75 62.8190 62.87 62.93 62.99 63.05 63.11 63.16 63.22 63.28 63.34 63.39100 63.45 63.50 63.56 63.61 63.66 63.72 63.77 63.82 63.87 63.93110 63.98 64.03 64.08 64.13 64.18 64.23 64.28 64.33 64.38 64.42120 64.47 64.52 64.57 64.61 64.66 64.71 64.75 64.80 64.84 64.89130 64.93 64.98 65.02 65.07 65.11 65.15 65.20 65.24 65.28 65.32140 65.37 65.41 65.45 65.49 65.53 65.57 65.61 65.66 65.70 65.74150 65.78 65.82 65.86 65.89 65.93 65.97 66.01 66.05 66.09 66.13160 66.16 66.20 66.24 66.28 66.31 66.35 66.39 66.42 66.46 66.50170 66.53 66.57 66.60 66.64 66.68 66.71 66.75 66.78 66.82 66.85180 66.89 66.92 66.95 66.99 67.02 67.06 67.09 67.12 67.16 67.19190 67.22 67.25 67.29 67.32 67.35 67.39 67.42 67.45 67.48 67.51200 67.54 67.58 67.61 67.64 67.67 67.70 67.73 67.76 67.79 67.82210 67.86 67.89 67.92 67.95 67.98 68.01 68.04 68.07 68.10 68.12220 68.15 68.18 68.21 68.24 68.27 68.30 68.33 68.36 68.39 68.41230 68.44 68.47 68.50 68.53 68.55 68.58 68.61 68.64 68.67 68.69240 68.72 68.75 68.78 68.80 68.83 68.86 68.88 68.91 68.94 68.96250 68.99 69.02 69.04 69.07 69.10 69.12 69.15 69.17 69.20 69.23260 69.25 69.28 69.30 69.33 69.35 69.38 69.40 69.43 69.45 69.48270 69.50 69.53 69.55 69.58 69.60 69.63 68.65 69.68 69.70 69.73280 69.75 69.78 69.80 69.82 69.85 69.87 69.90 69.92 69.94 69.97290 69.99 70.01 70.04 70.06 70.08 70.11 70.13 70.15 70.18 70.20300 70.22 70.25 70.27 70.29 70.31 70.34 70.36 70.38 70.40 70.43310 70.45 70.47 70.49 70.52 70.54 70.56 70.58 70.61 70.63 70.65320 70.67 70.69 70.71 70.74 70.76 70.78 70.80 70.82 70.84 70.87330 70.89 70.91 70.93 70.95 70.97 70.99 71.01 71.03 71.06 71.08340 71.10 71.12 71.14 71.16 71.18 71.20 71.22 71.24 71.26 71.28350 71.30 71.32 71.34 71.36 71.38 71.40 71.42 71.44 71.46 71.48360 71.50 71.52 71.54 71.56 71.58 71.60 71.62 71.64 71.66 71.68370 71.70 71.72 71.74 71.76 71.78 71.80 71.82 71.84 71.86 71.88380 71.89 71.91 71.93 71.95 71.97 71.99 72.01 72.03 72.05 72.07390 72.08 72.10 72.12 72.14 72.16 72.18 72.20 72.21 72.23 72.25400 72.27 72.29 72.31 72.32 72.34 72.36 72.38 72.40 72.42 72.43410 72.45 72.47 72.49 72.51 72.52 72.54 72.56 72.58 72.59 72.61420 72.63 72.65 72.66 72.68 72.70 72.72 72.74 72.75 72.77 72.79430 72.80 72.82 72.84 72.86 72.87 72.89 72.91 72.93 72.94 72.96440 72.98 72.99 73.01 73.03 73.04 73.06 73.08 73.10 73.11 73.13

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+ 0 1 2 3 4 5 6 7 8 9450 73.15 73.16 73.18 73.20 73.21 73.23 73.25 73.26 73.28 73.30460 73.31 73.33 73.34 73.36 73.38 73.39 73.41 73.43 73.44 73.46470 73.48 73.49 73.51 73.52 73.54 73.56 73.57 73.59 73.60 73.62480 73.64 73.65 73.67 73.68 73.70 73.72 73.73 73.75 73.76 73.78490 73.79 73.81 73.83 73.84 73.86 73.87 73.89 73.90 73.92 73.93500 73.95 73.97 73.98 74.00 74.01 74.03 74.04 74.06 74.07 74.09510 74.10 74.12 74.13 74.15 74.16 74.18 74.19 74.21 74.22 74.24520 74.25 74.27 74.28 74.30 74.31 74.33 74.34 74.36 74.37 74.39530 74.40 74.42 74.43 74.45 74.46 74.48 74.49 74.51 74.52 74.54540 74.55 74.56 74.58 74.59 74.61 74.62 74.64 74.65 74.67 74.68550 74.69 74.71 74.72 74.74 74.75 74.77 74.78 74.79 74.81 74.82560 74.84 74.85 74.87 74.88 74.89 74.91 74.92 74.94 74.95 74.96570 74.98 74.99 75.01 75.02 75.03 75.05 75.06 75.08 75.09 75.10580 75.12 75.13 75.14 75.16 75.17 75.19 75.20 75.21 75.23 75.24590 75.25 75.27 75.28 75.29 75.31 75.32 75.34 75.35 75.36 75.38600 75.39 75.40 75.42 75.43 75.44 75.46 75.47 75.48 75.50 75.51610 75.52 75.54 75.55 75.56 75.58 75.59 75.60 75.62 75.63 75.64620 75.66 75.67 75.68 75.69 75.71 75.72 75.73 75.75 75.76 75.77630 75.79 75.80 75.81 75.82 75.84 75.85 75.86 75.88 75.89 75.90640 75.91 75.93 75.94 75.95 75.97 75.98 75.99 76.00 76.02 76.03650 76.04 76.05 76.07 76.08 76.09 76.10 76.12 76.13 76.14 76.15660 76.17 76.18 76.19 76.20 76.22 76.23 76.24 76.25 76.27 76.28670 76.29 76.30 76.32 76.33 76.34 76.35 76.37 76.38 76.39 76.40680 76.41 76.43 76.44 76.45 76.46 76.48 76.49 76.50 76.51 76.52690 76.54 76.55 76.56 76.57 76.58 76.60 76.61 76.62 76.63 76.64700 76.66 76.67 76.68 76.69 76.70 76.72 76.73 76.74 76.75 76.76710 76.78 76.79 76.80 76.81 76.82 76.83 76.85 76.86 76.87 76.88720 76.89 76.90 76.92 76.93 76.94 76.95 76.96 76.97 76.99 77.00730 77.01 77.02 77.03 77.04 77.06 77.07 77.08 77.09 77.10 77.11740 77.12 77.14 77.15 77.16 77.17 77.18 77.19 77.20 77.22 77.23750 77.24 77.25 77.26 77.27 77.28 77.30 77.31 77.32 77.33 77.34760 77.35 77.36 77.37 77.39 77.40 77.41 77.42 77.43 77.44 77.45

Umrechnungsfaktor : 1 Torr = 1,3332 mbar

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2.7 Anhang 2: Hinweise zur Berechnung der Zustands-

dichte

Abbildung 2.4: Im Impulsraum zeigen Wellenvektoren mit Beträgen ≤ |~k|auf Punkte innerhalb einer Kugel mit dem Radius k. Da nur stehende Wellenvorkommen, treten nur Wellenvektoren auf, die auf die Eckpunkte der Zellen(Würfel der Kantenlänge π/L; es sind nur einige der Zellen exemplarisch dar-gestellt) zeigen. Da es für stehende Wellen keinen Sinn macht, das Vorzeichendes Wellenvektors zu betrachten, genügt es, sich auf den ersten Oktanten zubeschränken.

Man betrachte den Kristall als Volumen (der Einfachheit halber als Würfelder Kantenlänge L) in dem sich Gitterschwingungen ausbreiten. Wellen könnenmit einem Vektor, der in Richtung der Wellenausbreitung zeigt und dessen Län-ge dem Reziproken der Wellenlänge proportional ist, beschrieben werden. DerBetrag dieses Wellenvektors ist gegeben durch k := 2π/λ = 2πν/c. Da sich allevorkommenden Moden durch die Superposition stehender Wellen beschreibenlassen, gilt: niλi = 2L (mit ni ∈ N und i = x, y, z für die drei Raumrichtungen).Der Betrag des Wellenvektors ergibt sich nach k = (π/L)·(n2

x+n2y+n2

z)1/2. Diese

Gleichung entspricht der Gleichung für eine Kugel mit Radius k im Impulsraum("k-Raum"). Ihr Volumen ist gegeben durch V = (4/3)πk3 = (4/3)·π ·(2πν/c)3.Da nur stehendeWellen zu betrachten sind, genügt es, sich auf den ersten Oktan-ten der Kugel zu beschränken und Wellenzüge mit kx, ky, kz > 0 zu berücksichti-gen. Alle Wellenvektoren deren Betrag kleiner als k ist, zeigen auf Punkte inner-

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Page 29: Physikalisch-Chemisches Praktikum II

halb dieses Kugeloktanten. Da nur stehende Wellen im Kristallvolumen V = L3

zu betrachten sind, können die Wellenvektoren nicht auf jeden beliebigen Punktim Impulsraum zeigen. Vielmehr gibt es nur Schwingungsmoden, deren Wel-lenvektoren auf die Eckpunkte von Würfeln der Kantenlänge (π/L) innerhalbdieser Kugel zeigen. Der Quotient aus dem Kugelvolumen und dem Volumeneiner einzelnen Zelle entspricht der Zahl der "Quantenzahltripel"(nx, ny, nz),die Wellenvektoren mit Beträgen von 0 bis k ergeben. Somit erhält man für dieZahl der Schwingungsmoden (wobei nur eine Polarisation berücksichtigt ist) mitWellenvektorbeträgen kleiner als k:

N(ν) =4

3· π · V · ν

3

c3(2.22)

Betrachtet man die Moden in einem Frequenzintervall [ν, ν + dν] so erhält mandurch Ableiten die Zustandsdichte:

ρ(ν) = 4 · π · V ν2

c3(2.23)

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Page 30: Physikalisch-Chemisches Praktikum II

3 Bestimmung von Ober�ächen nach dem

Gasadsorptionsverfahren (BET-Methode)

3.1 Stichworte

� Wesen der Adsorption: Adsorptionskräfte, Physi- und Chemisorption, Po-tentialverlauf an der Ober�äche

� Thermodynamik der Adsorption: Enthalpie, Entropie, Gibbs-HelmholtzGleichung.

� Kinetik der Adsorption: Adsorptions- und Desorptionsgeschwindigkeit

� Adsorptionsisothermen: Langmuir-, Freundlich-, Temkin-Modell: zugrun-deliegende Annahmen, Verlauf der Isothermen

� BET-Modell: zugrundeliegende Annahmen, Herleitung, Verlauf der Iso-thermen, Anwendung zur Bestimmung der Ober�äche

� Versuchsdurchführung: Funktionsweise von Penning- und Baratron-Manometern, Gang der Auswertung, Versuchsaufbau

3.2 Literatur

Grundlagen

� Wedler, 4. oder 5. Au�age, Kapitel 2.7.

� Atkins, 4. Au�age, Kapitel 25.1 bis 25.2.

Weiterführend

� A. W. Adamson, A. P. Gast, Physical Chemistry of Surfaces, 6. Au�age,Wiley-Interscience 1997.

� H.-J. Butt, K. Graf, M. Kappl, Physics and Chemistry of Interfaces, 2.Au�age, Wiley-VCH 2006.

� H.-D. Dör�er, Grenz�ächen und kolloid-disperse Systeme. Physik undChemie, Springer Verlag, Berlin 2002.

� G. Wedler, Adsorption, Verlag Chemie 1970.

3.3 Theoretische Grundlagen

Allgemeines

An einer Grenz�äche Gas/Flüssigkeit, Gas/Festkörper oder Flüssig-keit/Festkörper wird oft eine gewisse Menge Gas bzw. gelöste Substanzangereichert. Dieser E�ekt wird allgemein als Adsorption bezeichnet. Die zuadsorbierende Substanz wird als Adsorptiv, die adsorbierende Ober�äche alsAdsorbens und die Moleküle in der angereicherten Grenzschicht werden alsAdsorbat bezeichnet.

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Je nach der Bindung der Adsorbatmoleküle an die Ober�äche unterscheidetman zwischen physikalischer und chemischer Adsorption (Physisorption undChemisorption). Physisorbierte Teilchen werden durch van-der-Waals Kräfte,wie z.B. die Dispersionswechselwirkung, gebunden. Die Reaktion hat mehr denCharakter einer Kondensation: Der Betrag der Adsorptionswärme liegt unteretwa 40 kJ/mol, die Natur des Adsorptivs verändert sich durch die Adsorptionkaum, und es können mehrere Schichten übereinander adsorbiert werden.

Chemisorption hat eher den Charakter einer chemischen Reaktion: Die Be-träge der Adsorptionswärmen liegen bei über etwa 80 kJ/mol, und es kannzu erheblichen Bindungsumordnungen im Adsorbat kommen. Dies ermöglichtu.U. heterogen katalysierte Reaktionen. Die Adsorption erfolgt hier nur in ei-ner Schicht, in der spezi�sche chemische Bindungen (meist kovalente) zwischenAdsorbat und Adsorbens ausgebildet werden. Nachfolgend können noch weitereTeilchen in höheren Schichten physisorbiert werden.

Adsorption ist allgemein � von wenigen Ausnahmen abgesehen � ein exother-mer Prozess: Die Adsorptionsentropie ∆AS ist meist negativ, weil die Ordnungdes Adsorptivs bei der Anlagerung an die Ober�äche zunimmt. Damit die Ad-sorption freiwillig abläuft, muss die freie Adsorptionsenthalpie ∆AG negativsein. Wegen ∆AG = ∆AH − T∆AS ist das nur möglich, wenn die Adsorptions-enthalpie ∆AH negativer ist als T∆AS. Die Reaktion ist folglich exotherm.

Die Menge der adsorbierten Substanz wird meist über den BedeckungsgradΘ angegeben:

Θ = Zahl der adsorbierten Teilchen / Zahl der Adsorptionsplätze

Die Adsorptionsenthalpie ist oft von Θ abhängig, z.B. weil energetisch ver-schiedene Adsorptionsplätze auf einer Ober�äche existieren oder weil die Wech-selwirkungen zwischen den Adsorbatmolekülen mit zunehmendem Θ anwachsen.Aus diesem Grunde bezieht man ∆AH meist auf den zugehörigen Bedeckungs-grad und spricht von einer isosteren Adsorptionswärme.

Adsorptionsuntersuchungen bestehen häu�g in der Messung des Bedeckungs-grades als Funktion des Gasdruckes bzw. der Konzentration des Adsorptivs.Wird die Messung bei konstanter Temperatur durchgeführt, so wird die gemes-sene Θ(p)- bzw. Θ(c)- Kurve als Adsorptionsisotherme bezeichnet. Der Verlaufdieser Isothermen wird u.a. bestimmt durch

� die Art der Adsorption (Physisorption, Chemisorption oder beides neben-einander)

� die Temperatur

� die Struktur der Ober�äche

� Wechselwirkungen zwischen den Adsorbatmolekülen (⇒ ∆H = f(Θ))

� besonderen E�ekten an der Ober�äche, z.B. Dissoziation der Adsorbat-moleküle.

Zur Beschreibung von Adsorptionsisothermen wurden verschiedene theoretischeModelle entwickelt, von denen zwei im Folgenden vorgestellt werden sollen.

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Page 32: Physikalisch-Chemisches Praktikum II

Adsorptionsisotherme nach Langmuir

Dem Adsorptionsmodell nach Langmuir liegen folgende Annahmen zugrunde:

� Die Adsorption erfolgt nur in einer Schicht.

� Alle Adsorptionsplätze sind energetisch gleich.

� Es gibt keine Wechselwirkungen zwischen den Adsorbat-Molekülen.

Die folgende Diskussion wird auf Gas/Festkörper-Systeme beschränkt, gilt aberanalog auch für Flüssigkeit/Festkörper-Systeme.

Zwischen Gasphase und Adsorbat besteht ein dynamisches Gleichgewicht:

A(g) + freier Ads.-Platz −−⇀↽−− A(ads)

Die Adsorptions- und die Desorptionsgeschwindigkeit, vA und vD, sind danngegeben durch

vA = kA(1−Θ)p

vD = kDΘ .(3.1)

Im dynamischen Gleichgewicht sind Adsorptions- und Desorptionsgeschwindig-keit gleich groÿ und können somit gleichgesetzt werden. Au�ösen nach Θ liefertdie Adsorptionsisotherme nach Langmuir

Θ =K · p

1 +K · p, (3.2)

wobei die Konstante K = kA/kD eingeführt wurde, welche man als Gleich-gewichtskonstante des Adsorptionsprozesses au�assen kann. Die Temperatur-abhängigkeit von K kann über die Temperaturabhängigkeit der Geschwindig-keitskonstanten mit Hilfe der Arrheniusgleichung ermittelt werden. Es lässt sicherkennen, dass die Isotherme bei niedrigen Drucken linear ansteigt (K ·p� 1⇒Θ ∼= K · p) und bei hohen Drucken (K · p� 1) asymptotisch gegen einen Sät-tigungswert von Θ = 1 geht.

Adsorptionsisotherme nach Brunauer, Emmet und Teller

Das Langmuirsche Adsorptionsmodell wurde von Brunauer, Emmet und Tel-ler zur Beschreibung von Multischichtadsorption erweitert (BET-Modell). IhrAnsatz basiert auf folgenden Annahmen:

� Die Adsorption kann in beliebig vielen Schichten erfolgen.

� Alle Adsorptionsplätze innerhalb einer Schicht sind energetisch gleichwer-tig.

� Es gibt keine Wechselwirkungen zwischen Adsorbatteilchen innerhalb ei-ner Schicht.

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Page 33: Physikalisch-Chemisches Praktikum II

� Die Adsorptionswärme ist ab der zweiten Schicht konstant und kann un-ter gewissen Voraussetzungen der Kondensationswärme des reinen Gasesgleichgesetzt werden.

Bezeichnet man die Gesamtzahl aller zur Verfügung stehenden Adsorptionsplät-ze an der Ober�äche mit Nm, die Zahl der freien, unbedeckten Plätze mit N0

und die Zahl der freien Adsorptionsplätze auf der i-ten Schicht mit Ni, dann ist

Nm = N0 +N1 +N2 + . . . =∞∑i=0

Ni (3.3)

Für das Adsorptions- und Desorptionsverhalten der ersten Schicht gilt imGleichgewicht analog zum Ansatz nach Langmuir

kA,1 pN0 = kD,1N1 (3.4)

und allgemein für die i-te Schicht

kA,i pNi−1 = kD,iNi . (3.5)

kA,i bzw. kD,i sind die Geschwindigkeitskonstanten für die Adsorption in deri-ten Schicht bzw. die Desorption aus der i-ten Schicht. Die Zahl der Moleküle,die pro Zeiteinheit auf der (i − 1)-ten Schicht adsorbieren, soll also gleich seinder Zahl, die in derselben Zeit aus der i-ten Schicht desorbieren.

Aus den Geschwindigkeitskonstanten der Adsorption und der Desorptionläÿt sich wiederum eine Gleichgewichtskonstante Ki = kA,i/kD,i für das Gleich-gewicht zwischen der Gasphase und der adsorbierten Schicht i bestimmen. Fürdie erste Schicht wird K1 durch die eigentliche Adsorptionsenthalpie ∆AH be-stimmt (und durch den präexponentiellen Faktor K0):

K1 = K0e−∆AH

RT =: K (3.6)

Nach den Annahmen des BET-Modells sind dieKi für alle höheren Schichtengleich, weil die Enthalpie gleich bleibt und sich die präexponentiellen Faktorenebenfalls nicht ändern. So kann die Indizierung entfallen. Auÿerdem wird dieAdsorptionsenthalpie mit der Kondensationsenthalpie des reinen Gases identi-�ziert, welche wiederum dem Negativen der Verdampfungsenthalpie ∆VH ent-spricht. Somit ergibt sich:

Ki = K0′e∆V H

RT =: K ′ (i > 1) (3.7)

Man hat es dann nur noch mit zwei Gleichgewichtskonstanten zu tun: K sei dieKonstante für die erste Schicht (i = 1) und K ′ die für alle höheren Schichten(i > 1). Für i > 1 ist dann das Verhältnis Ni/Ni−1, das im Folgenden mit xbezeichnet werden soll, konstant (vgl. Gl. (3.5))

x :=Ni

Ni−1

= K ′p (3.8)

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Page 34: Physikalisch-Chemisches Praktikum II

Stellt man sich nun eine reine Phase des kondensierten Gases im Gleichgewichtmit ihrem Dampf vor, so müssen in diesem Fall pro Zeiteinheit o�enbar genausoviele Moleküle in einer Schicht kondensieren wie aus dieser Schicht verdampfen.Die Gleichgewichtsbedingung lautet daher

kA′ p0Ni = kD′Ni . (3.9)

p0 ist hier der Gleichgewichtsdampfdruck des reinen kondensierten Gases. DieseSituation liegt nach dem BET-Modell schon ab der zweiten Adsorbatschichtvor. Man erkennt, dass K ′ = 1/p0 ist (Gl. (3.8) und (3.9)) und für x folgt

x =p

p0(3.10)

Das Verhältnis N1/N0 ist von x verschieden, jedoch kann man die Abweichungenin einer Konstanten c zusammenfassen:

N1

N0

= Kp =: c x (3.11)

Ein Vergleich zwischen Gl. (3.8) und (3.11) zeigt, dass c o�enbar das Verhältnisder beiden Gleichgewichtskonstanten darstellt:

c =K

K ′(3.12)

Mit diesen Bezeichnungen lassen sich die Ober�ächenanteile in Abhängigkeitvon N0 angeben:

N1 = N0c xN2 = N1x = N0c x

2

N3 = N2x = N0c x3

...

Nm =∞∑i=0

Ni = N0(1 + c x+ c x2 + c x3 + . . .)

= N0 +N0c x(1 + x+ x2 + . . .)

(3.13)

Weil x zwischen 0 und 1 liegt, konvergiert die geometrische Reihe in der Klam-mer, und es ergibt sich

Nm = N0

(1 +

c x

1− x

)(3.14)

Die Gesamtzahl der auf der Ober�äche adsorbierten Moleküle wird jetzt mitN bezeichnet. Sie berechnet sich indem man die Anzahl der AdsorptionsplätzeNi, über denen das Adsorbat eine Dicke von i Schichten hat, mit der Anzahl ider Lagen dieser Schicht multipliziert (s. Abb. 3.1) und anschlieÿend über allemöglichen i summiert. Es ergibt sich:

N =∞∑i=1

iNi = N0c x(1 + 2x+ 3x2 + . . .) (3.15)

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Page 35: Physikalisch-Chemisches Praktikum II

Abbildung 3.1: Zur Berechnung der Gesamtzahl adsorbierter Moleküle

Auch die Reihe in dieser Klammer konvergiert, die Summe ist 1/(1−x)2. Damitfolgt

N =N0c x

(1− x)2(3.16)

Das Verhältnis N/Nm ist gleich dem Bedeckungsgrad Θ (=Zahl der adsorbiertenMoleküle / Zahl der vorhandenen Adsorptionsplätze), so dass man nun aus Gl.(3.14) und (3.16) erhält

N

Nm

= Θ =c x

(1− x)[1 + (c− 1)x](3.17)

Ersetzt man den Faktor x durch p/p0 (s.o.), so resultiert schlieÿlich die Glei-chung, die den Verlauf der BET-Isotherme angibt:

Θ =c p

(p0 − p)[1 + (c− 1) p

p0

] (3.18)

In etwas umgewandelter Form erhält man daraus die BET-Gleichung:

p

(p0 − p)N=

1

cNm

+c− 1

cNm

· pp0

(3.19)

Diese Gleichung ist eine Geradengleichung. Trägt man p/(p0 − p)N gegen p/p0

auf, so lassen sich aus der Steigung (c−1)/cNm und dem Achsenabschnitt 1/cNm

die beiden Parameter c und Nm berechnen.Kennt man den Flächenbedarf eines adsorbierten Teilchens σ, so kann man

aus Nm, das ja die Zahl adsorbierter Teilchen in einer Monolage angibt, diewirksame Ober�äche des Adsorbens S bestimmen:

S = Nmσ = nmNLσ (3.20)

NL ist die Loschmidt-Zahl und nm die Zahl der Mole adsorbierter Teilchen ineiner Monoschicht.

Für den Parameter c gilt angenähert

c ≈ e−∆AH+∆V H

RT (3.21)

Wenn also die Verdampfungsenthalpie ∆VH des Gases bekannt ist, kann mitGl. (3.21) aus c die Adsorptionsenthalpie ∆AH berechnet werden.

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Page 36: Physikalisch-Chemisches Praktikum II

3.4 Aufgabenstellung und Versuchsdurchführung

Theoretische Aufgabe

� Leiten Sie Gl. (3.6) und (3.7) her (Hinweis: Arrhenius-Gleichung). ZeigenSie, mit welcher Näherung daraus Gl. (3.21) folgt.

Messaufgabe

Es soll die Adsorptionsisotherme von Sticksto� adsorbiert an Aktivkohle bei ei-ner Temperatur von etwa 77 K aufgenommen werden. Nach dem BET-Verfahrensoll dann aus dieser Isothermen die absolute Ober�äche der Probe und aus diesergemäÿ

Sspez =Sabsm

(3.22)

die spezi�sche Ober�äche bestimmt werden. Weiterhin ist die Adsorptionsent-halpie des Sticksto�s zu ermitteln.

Messprinzip

Gemäÿ der BET-Gleichung muss für verschiedene Adsorptions-Gleichgewichtsdrücke die Belegung der Ober�äche mit N2 gemessen werden.Das geschieht folgendermaÿen:

� In ein geschlossenes Volumen Ve wird das Messgas eingelassen und dessenDruck bestimmt. Anschlieÿend wird das Volumen Ve durch Ö�nen einesHahns um das Volumen Vtot, in dem sich die eingekühlte Probe be�ndet,vergröÿert. Nach Einstellung des Gleichgewichts wird der Druck erneutgemessen und damit der p-Wert der Isotherme bestimmt.

� Sind die beteiligten Volumina und die Temperatur bekannt, so kann ausder Druckdi�erenz auf die adsorbierte Gasmenge geschlossen werden. Da-bei wird ideales Verhalten des Gases angenommen:

∆n = ∆pV

RT(3.23)

Dieses Vorgehen wird schrittweise wiederholt, wobei die adsorbierte Gas-menge der Summe der in den einzelnen Schritten ermittelten ∆n ent-spricht. Somit können die zu den p-Werten gehörenden n-Werte ermitteltwerden.

� Der für die BET-Auftragung noch fehlende Wert von p0 wird für dieIsothermentemperatur aus entsprechenden Tabellenwerken (siehe VersuchArgon-Gitterenergie, Gleichung nach Henning und Otto) berechnet. DieMesstemperatur TB ist die des Kältebades, mit dem die Probe eingekühltwird, diese Temperatur wird mit einem O2-Dampfdruckthermometer mög-lichst genau gemessen. Die Referenztemperatur T0 entspricht der Raum-temperatur.

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� Die Volumina Ve und Vtot werden noch vor Beginn der Adsorptionsmes-sung bestimmt. Dazu wird ein bestimmter Druck p1 eines Inertgases (Ar)in Ve eingelassen, anschlieÿend das Volumen durch Ö�nen des Zugangs zueinem Kolben de�niert um ∆V vergröÿert, und der neue Druck p2 gemes-sen. Über das ideale Gasgesetz lässt sich Ve folgendermaÿen ermitteln:

p1Ve = p2(Ve + ∆V ) (3.24)

Ve =∆V p2

p1 − p2

(3.25)

V wird in vier Stufen durch Ö�nen vier verschiedener Kolben erhöht, wo-durch der Messfehler durch Mitteln verringert wird. Die gleiche Messungwird mit dem erweiterten Volumen Ve + Vtot wiederholt, Vtot ist dann ausder Di�erenz zugänglich.

Aufbau der Apparatur

Abbildung 3.2: Skizze des Versuchsaufbaues.

Abbildung 3.2 zeigt die verwendete Messapparatur. Sie gliedert sich in dreiBereiche:

� Vakuumteil: Öldi�usionspumpe, Penning-Manometer, Vorvakuumpumpe.

� Messteil: Volumina Ve und Vtot, Baratron-Manometer, volumengeeichteKölbchen, Probe.

� Gaseinlass: Vorratskolben, Gasschleuse.

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Page 38: Physikalisch-Chemisches Praktikum II

Durchführung der Messung

Wichtig:

� Bei allen Manipulationen an der Apparatur ist eine Schutzbrille zu tragen.

� Die Di�usionspumpe darf nie belüftet werden.

� Beim An- und Abschalten der Di�usionspumpe auf das Kühlwasser ach-ten.

a) Volumeneichung

Die Vorvakuumpumpe wird eingeschaltet und über H3 und H1A mit der Dif-fusionspumpe verbunden. H4 wird geö�net und damit die restliche Apparaturangeschlossen.Das Baratron-Manometer wird eingeschaltet.Das Kühlwasser der Di�usionspumpe und die Heizung der Pumpe werden ein-geschaltet.

H2, H4, H5, H6 und die Hähne der Kölbchen 1 bis 4 werden geö�net.Ca. 10 Min. nach dem Einschalten der Di�usionspumpe kann das Penning-Manometer angeschaltet werden. Wenn das Vakuum besser als 10−2 mbar ist,kann mit der Messung begonnen werden.

Es wird zunächst Ve bestimmt: H2 wird geschlossen.H4, H5, H6, und die Hähne der Kölbchen werden geschlossen.Der Hahn zum Ar-Vorratsgefäÿ wird kurz geö�net und wieder geschlossen.H5 wird geö�net und wieder geschlossen, um Gas in die Schleuse einzulassen.Dann werden mit H6 vorsichtig ca. 150 mbar Ar in den Messteil eingeleitet undder Druck am Baratron-Manometer gemessen.Nun werden nacheinander die Hähne der Kölbchen geö�net und jeweils der re-sultierende Druck gemessen.

Dann pumpt man das Gas wieder ab und zwar zuerst mit der Vorvakuumpum-pe, die über H1B an die Gasschleuse angeschlossen wird, während H1A und H4geschlossen sind. H2, H6 und alle Kölbchen sind dabei zu ö�nen. Dann wirdmit der Di�usionspumpe evakuiert: H1B schlieÿen und danach H1A sowie H4ö�nen.Wenn der Druck besser als 10−2 mbar ist, kann die ganze Messung bei o�enemProbenhahn H2 zur Bestimmung von Ve + Vtot wiederholt werden.

Danach evakuiert man wieder wie oben beschrieben zuerst mit der Vorvakuum-pumpe und dann mit der Di�usionspumpe (diesmal wird auch H5 geö�net).

b) Adsorption

Die Probe wird 1 Stunde lang unter Hochvakuum (ca. 10−5 mbar) mit einemHeizofen ausgeheizt (Heizstufe 10). Danach lässt man die Probe abkühlen.

H4 und H1A werden geschlossen, die Di�usionspumpen-Heizung und dasPenning-Manometer ausgeschaltet, die Vorvakuumpumpe belüftet und abge-schaltet. 1/4 Stunde danach kann das Kühlwasser der Di�usionspumpe abge-stellt werden.

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H6, H2 und alle Kölbchen werden geschlossen. Dann wird der Hahn zum N2-Vorratsgefäÿ geö�net und wieder geschlossen. Durch Ö�nen von H5 wird N2

in die Schleuse geleitet und anschlieÿend leitet man über H6 vorsichtig ca.125 mbar N2 in den Messteil ein.

Die Probe wird mit �üssigem Sticksto� eingekühlt (den Sticksto�-Spiegel im-mer konstant halten). Das eingekühlte Volumen V ′′ und das nicht eingekühlteVolumen V ′ müssen abgeschätzt werden (s.u.). Da die Reinheit des verwende-ten �. Sticksto�s schwankt, muss dessen genaue Temperatur zuvor mit Hilfedes O2-Dampfdruckthermometers bestimmt werden. (Wichtig zur Ermittlungdes Dampfdrucks p0 des Messgases N2!)

Nachdem man den Ausgangsdruck am Baratron-Manometer gemessen hat, wirdH2 geö�net und man wartet, bis sich der Gleichgewichtsdruck eingestellt hat.(Dies dauert mindestens 15 Minuten.)

Wenn man den Gleichgewichtsdruck bestimmt hat, wird H2 wieder geschlossen.Über H6 werden für die ersten drei Messpunkte jeweils ca. 25 mbar N2 eingelei-tet. Ab dem vierten Messpunkt werden jeweils ca. 50 mbar N2 eingeleitet. Dieswiederholt man solange, bis der Gleichgewichtsdruck gröÿer als 200 mbar ist.(etwa 9 Messpunkte) Eventuell muss zwischendurch über H5 erneut N2 in dieSchleuse eingeleitet werden.

Nach beendeter Messung wird das Gas mit der Vorvakuumpumpe evakuiert(H1B an die Gasschleuse anschlieÿen, H5, H6, H2 ö�nen und erst dann das N2-Kältebad unter der Probe entfernen).

Wenn das Gas restlos evakuiert ist (die Probe darf nicht mehr kalt sein), schlieÿtman H1B, belüftet die Vorvakuumpumpe über H3 und schaltet sie aus.

Abschätzen des eingekühlten (V ”) und nicht eingekühlten Volumens (V ′):

V ′′ kann berechnet werden (Durchmesser der Kapillare = 2 mm, Innen-durchmesser des Probenraumes = 7,4 mm). V ′ ermittelt man aus Vtot − V ′′.

Auswertung der Isothermenmessung

Folgende Abkürzungen werden vereinbart:

Ve Gaseinlassvolumen

Vtot Probenraum

V ′ Teil des Probenraumvolumens bei T0 (nicht eingekühltes Volumen)

V ′′ Teil des Probenraumvolumens bei TB (eingekühltes Volumen)

T0 Raumtemperatur

TB Temperatur des Kältebades

pei Einlassdruck beim i-ten Schritt

pgi Gleichgewichtsdruck beim i-ten Schritt

ni beim i-ten Schritt adsorbierte Sto�menge

39

Page 40: Physikalisch-Chemisches Praktikum II

Das bei Ö�nen des Probenhahnes eintretende Absinken des Einfülldruckeshat drei Ursachen:

� Expansion des Gases auf das gröÿere Volumen Ve + Vtot

� Abkühlung des Gasanteils, der sich in V ′′ be�ndet.

� Adsorption der Sto�menge ∆ni auf der Probe.

Eine Sto�mengenbilanz unter Ausnutzung des idealen Gasgesetzes ergibt dannfür den 1. Schritt

pe1VeRT0

=pg1VeRT0

+pg1V

RT0

+pg1V

′′

RTB+ ∆n1 (3.26)

und für den i-ten SchrittpeiVeRT0

+pgi−1V

RT0

+pgi−1V

′′

RTB=pgiVeRT0

+pg1V

RT0

+pgiV

′′

RTB+ ∆ni . (3.27)

Die ∆ni-Werte sind dann gegeben durch

∆ni =1

RT0

[(pei − p

gi )Ve −

(pgi − p

gi−1

)(V ′ +

T0

TBV ′′)]

. (3.28)

Im 1. Schritt ist pgi−1 = 0.

Die im Gleichgewicht beim Druck pgi adsorbierte Menge N2 ergibt sichschlieÿlich zu

ni =i∑

k=1

∆nk . (3.29)

Die Adsorptionsisotherme ist nun durch die Werte ni als Funktion von pgigegeben.Die Wertepaare werden in einer Tabelle zusammengestellt und die Isothermegraphisch dargestellt. Dann wird die Isotherme nach der BET-Gleichungausgewertet (lineare Regression und graphische Darstellung der Geraden). Eswerden die Monoschichtkapazität nm der Probe, deren absolute und spezi�scheOber�äche und die Adsorptionsenthalpie berechnet. Die Güte dieser Ergeb-nisse wird abschlieÿend in einer Fehlerdiskussion bewertet und anhand einesVergleichs mit Literaturdaten diskutiert.

Zur Auswertung benötigte Daten:

Probe: 0.0385 g Aktivkohle

Volumina der Kölbchen:Nr. 0: 23.155 mLNr. 1: 52.703 mLNr. 2: 52.638 mLNr. 3: 54.175 mL

Verdampfungsenthalpie von N2: ∆KH(N2) = 5.58 kJ mol−1

Flächenbedarf eines adsorbierten N2-Moleküls: σ(N2) = 16.2 · 10−16cm2

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Page 41: Physikalisch-Chemisches Praktikum II

4 UV/Vis-Spektroskopie

4.1 Stichworte

� Grundlagen der Quantenmechanik: Schrödinger-Gleichung, Wellenfunkti-on, Operatoren

� Molekularer Hamilton-Operator, Separationsansatz, Born-Oppenheimer-Näherung

� Harmonischer Oszillator, Energieniveaus, Wellenfunktionen

� Anharmonischer Oszillator, Morse-Potential, Energieniveaus

� Schwingungsstruktur elektronische Übergänge

� Rotationsfeinstruktur vibronischer Übergänge, Fortrat-Diagramm

� Franck-Condon-Prinzip, Franck-Condon-Faktor

� Grundbegri�e der Absorptionsspektroskopie, Aufbau eines UV-Spektrometers

� Auswertung der experimentellen Daten: Deslandre-Tabelle, Birge-Sponer-Methode

4.2 Literatur

Grundlagen

� Atkins, Kapitel 8, 9.2, 9.3, 13.3 und 14.1

� Wedler, Kapitel 3.1.2, 3.4.3, 3.4.4, 3.4.7.

� J. M. Brown, Molecular Spectroscopy, Oxford University Press 1998.

� C. N. Banwell, E. M. McCash, Molekülspektroskopie, Oldenbourg Verlag,München 1999.

Weiterführend

� H. Haken, H. C. Wolf, Molekülphysik und Quantenchemie, Springer-Verlag, Berlin 2003.

� J. M. Hollas, Modern Spectroscopy, Wiley & Sons 2003.

� P. F. Bernath, Spectra of Atoms and Molecules, Oxford University Press2005.

4.3 Ziel des Versuches

Im vorliegenden Versuch soll das UV/Vis-Spektrum von gasförmigem Iod un-tersucht werden. Die aus dem Spektrum gewonnenen Daten werden genutzt,um unter anderem die Dissoziationsenergie, die Kraftkonstante und die Schwin-gungsfrequenz des Moleküls im Grundzustand wie auch im elektronisch ange-regten Zustand zu bestimmen. Weitere Gröÿen, die gewonnen werden, sind dieelektronische Anregungsenergie und die Änderung des Gleichgewichtsabstandes

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Page 42: Physikalisch-Chemisches Praktikum II

beim Übergang. Mittels dieser Parameter können die Potentialkurven der bei-den beteiligten Zustände im Rahmen des Modells von Morse (Morse-Potential)berechnet werden.

4.4 Theoretische Grundlagen

Lichtabsorption

Die Spektroskopie untersucht die Wechselwirkung zwischen elektromagnetischerStrahlung und Materie, d.h. den Energieaustausch zwischen beiden. Das ein-fachste mögliche spektroskopische Experiment besteht in der Messung der In-tensitätsänderung1 eines Lichtstrahls, wenn dieser durch die zu untersuchendeProbe geschickt wird. Trägt man ein Maÿ für diese Intensitätsänderung gegendie Frequenz, die Wellenlänge oder die Wellenzahl der Strahlung auf, so erhältman das Absorptionsspektrum der Probe. In der UV/Vis-Spektroskopie wirdals Maÿ für die Änderung der Strahlungsintensität in der Regel die Absorbanzverwendet, welche wie folgt de�niert ist:

A = logI0

I(4.1)

I0 und I sind die Intensitäten vor und nach Durchtritt durch die Probe. DaI0 stets gröÿer ist als I, ist A eine positive Gröÿe. In anderen Regionen deselektromagnetischen Spektrums werden aus Gründen der Praktikabilität andereGröÿen zur Beschreibung der Stärke der Lichtabsorption verwendet, z.B. dieTransmission T = I

I0im IR-Bereich.

Traditionell wird in UV/Vis-Spektren die Absorbanz als Funktion der Wel-lenlänge der Strahlung aufgetragen. In neuerer Zeit wird jedoch in zunehmen-dem Maÿe eine Auftragung gegen die Wellenzahl der Strahlung bevorzugt. Dieseist de�niert gemäÿ

ν =1

λ=

ν

c0

, (4.2)

wobei λ für die Wellenlänge, ν für die Frequenz der Strahlung (in Hz) und c0 fürdie Lichtgeschwindigkeit im Vakuum2 stehen. Die verwendete Einheit ist cm−1.Der Vorteil der Verwendung der Wellenzahl besteht darin, dass diese direktproportional zur Photonenenergie ist (s.u.), im Gegensatz zur Wellenlänge.

Historisch gesehen standen spektroskopische Experimente am Beginn derEntwicklung der Quantenmechanik und sind untrennbar mit dieser verbunden.So lässt sich allein die Beobachtung, dass in Absorptions- und EmissionsspektrenSignale nur bei bestimmten Frequenzen auftreten, nur bei Annahme quantisier-ter Energieniveaus in Atomen und Molekülen erklären, wie sie von der Quan-tenmechanik, nicht jedoch von der klassischen Mechanik vorhergesagt werden.

1Unter der Intensität eines Lichtstrahls versteht man die Energie�ussdichte (Energie proZeiteinheit und pro Flächeneinheit) des zugehörigen elektromagnetischen Feldes.

2Bei sehr genauen Arbeiten muss bei der Umrechnung von Wellenlängen auf Wellenzahlenberücksichtigt werden, dass die Messung üblicherweise unter atmosphärischen Bedingungenstatt�ndet und nicht im Vakuum. Die minimale Änderung der Lichtgeschwindigkeit gegenüberdem Vakuum kann im vorliegenden Fall aber vollständig vernachlässigt werden.

42

Page 43: Physikalisch-Chemisches Praktikum II

Abbildung 4.1: Die Teilbereiche des elektromagnetischen Spektrums.

Bringt man ein Atom oder Molekül in ein Strahlungsfeld, so kann es zu einerAbsorption von Strahlung unter Übergang des Atoms oder Moleküls von einemZustand der Energie Ei in einen mit höherer Energie Ej kommen, wenn diesogenannte Planck-Einstein-Frequenzbedingung erfüllt ist

∆E = hν bzw. ∆E = hcν , (4.3)

wobei h = 6.62608 · 10−34Js das Plancksche Wirkungsquantum ist. Die gleicheBeziehung gilt auch für den umgekehrten Prozess der Emission von Strahlungbeim Übergang des Moleküls in ein niedrigeres Energieniveau. Im Idealfall soll-te man gemäÿ Gleichung (4.3) im Absorptionsspektrum Signale von der Formvertikaler Linien sehen. Tatsächlich sind die spektroskopischen Signale stets auf-grund einer Reihe physikalischer Phänomene verbreitert. Dennoch hat sich dieBezeichnung �Linie� für Signale in Absorptions- und Emissionsspektren durch-gesetzt.

Bei Anregung durch elektromagnetische Strahlung können in Atomen bzw.Molekülen je nach der Frequenz der Strahlung unterschiedliche Prozesse ausge-löst werden. Damit ergeben sich für unterschiedliche Frequenzbereiche verschie-dene Spektroskopiearten (siehe Abbildung 4.1). So �ndet im Mikrowellenbereicheine Anregung von Rotationsübergängen in Molekülen statt, im IR-Bereich dieAnregung von Molekülschwingungen. Im UV/Vis-Bereich, der für den vorlie-genden Versuch von Interesse ist, kommt es im Molekül (oder Atom) zu ei-ner Anregung der Elektronen äuÿerer Schalen. Gleichzeitig �nden aber auchSchwingungs- und Rotationsübergänge statt.

Quantisierung molekularer Energieniveaus

Die Schrödinger-Gleichung Im Gegensatz zu makroskopischen Systemen,welche den Gesetzen der klassischen Newtonschen Mechanik unterliegen, werden

43

Page 44: Physikalisch-Chemisches Praktikum II

quantenmechanische Systeme wie Atome und Moleküle nicht durch die Angabeihrer Orte und Impulse, sondern durch ihre Wellenfunktion ψ(r, t) charakteri-siert, welche im Allgemeinen eine Funktion der Ortskoordinaten aller Elementar-teilchen wie auch der Zeit ist3. Die Wellenfunktion enthält alle physikalischenInformationen, die für das betrachtete System erhalten werden können. DasQuadrat des Betrages der Wellenfunktion, |ψ(r, t)|2 = ψ∗(r, t) · ψ(r, t), gibt dieWahrscheinlichkeitsdichte wieder, mit der das System zum Zeitpunkt t an demdurch r gegebenen Ort angetro�en wird. Observable, d.h. physikalische Messgrö-ÿen wie Ort, Impuls und Energie, werden durch Operatoren dargestellt, welcheauf die Wellenfunktionen einwirken. So ist in der sogenannten Ortsdarstellungz.B. der zur Koordinate x gehörende Operator einfach durch Multiplikation mitdieser Koordinate gegeben

x → x = x· , (4.4)

während der Operator des Impulses die Ableitung nach der entsprechendenOrtskoordinate enthält

px → px =~i

∂x, (4.5)

mit ~ = h/2π. Für die y- und die z-Koordinate ergeben sich analoge Ausdrücke.Kennt man die Wellenfunktion ψ des Systems und den Operator O der zu mes-senden Gröÿe, so ergibt sich der zu erwartende Messwert aus dem sogenanntenErwartungswert, welcher wie folgt de�niert ist

< O >=

∫ψ∗Oψd r , (4.6)

wobei die Integration über den gesamten Raum der Ortskoordinaten x, y und zaller Teilchen des betrachteten Systems auszuführen ist.

Von zentraler Bedeutung für die Quantenmechanik ist der sogenannteHamilton-Operator H, der für die Gesamtenergie eines Systems steht. Er lässtsich in einfacher Weise aus dem klassischen Ausdruck für die Gesamtenergie her-leiten, welcher sich aus der kinetischen Energie (T ) und der potentiellen Energie(V ) zusammensetzt

Eges = T + V mit T =∑i

1

2mi

p2x,i + p2

y,i + p2z,i , (4.7)

wobei hier davon ausgegangen wurde, dass es sich um ein System von i Teilchenmit den Massen mi und den Impulskoordinaten px,i, py,i und pz,i handelt. Umvon hier zum quantenmechanischen Operator zu gelangen, müssen die Orts- undImpulsvariablen gemäÿ den Gleichungen 4.1 und 4.2 ersetzt werden. Für die

3Hier und im Folgenden wird der Spin der Elementarteilchen nicht berücksichtigt, da erfür die weiteren Betrachtungen nicht von Interesse ist. Wenn nötig kann er in die Betrachtungmit einbezogen werden, indem man die Gesamtwellenfunktion als Produkt aus dem ortsab-hängigen Anteil ψ(r, t) und einer von den Spinkoordinaten σ abhängigen Funktion ansetzt:Ψ(r, σ, t) = ψ(r, t) · χ(σ)

44

Page 45: Physikalisch-Chemisches Praktikum II

kinetische Energie eines Systems aus i Teilchen ergibt sich dann der allgemeineAusdruck

T = −∑i

~2

2mi

∇2i (4.8)

wobei der Di�erentialoperator ∇2i (lies �Nabla i Quadrat�) gegeben ist als:

∇2i =

∂2

∂x2i

+∂2

∂y2i

+∂2

∂z2i

(4.9)

Anstelle von∇2 wird in der Literatur auch ∆ (Laplace-Operator) verwendet. DieForm des Operators V der potentiellen Energie ist durch das jeweilige physika-lische Problem (z.B. harmonischer Oszillator, Wassersto�atom etc.) festgelegt.

In spektroskopischen Experimenten werden durch die Strahlung Übergängezwischen stationären Zuständen eines Atoms oder Moleküls induziert. Die Wel-lenfunktionen und die Energien dieser stationären Zustände erhält man durchLösen der Schrödinger-Gleichung in ihrer zeitunabhängigen Form4:

Hψ(r) = Eψ(r) (4.10)

Dies ist eine Eigenwertgleichung, die bei gebundenen Systemen nur bestimmte,diskrete Lösungen für E zulässt, welche den erlaubten Werten für die Energiedes Systems entsprechen. Aus den Di�erenzen dieser Werte lassen sich danndie Übergangsenergien bestimmen, welche für die Spektroskopie von zentralerBedeutung sind.

Die Born-Oppenheimer-Näherung Um den Hamilton-Operator eines Mo-leküls aufzustellen, betrachtet man dieses als Ansammlung geladener Teilchen(Kerne und Elektronen), die sich unter dem Ein�uss der wechselseitigen elek-trostatischen Kräfte bewegen. In seiner allgemeinsten Form lautet der Operatordann:

H = − ~2

2me

∑i

∇2i −

~2

2

∑K

1

mK

∇2K +

e2

4πε0

∑i

∑j<i

1

rij

+e2

4πε0

∑K

∑L<K

ZKZLrKL

− e2

4πε0

∑i

∑K

ZKriK

(4.11)

Dabei beschreiben die beiden Einfachsummen die kinetische Energie der Elek-tronen (Index i) und der Kerne (Index K), die erste Doppelsumme die elek-trostatische Wechselwirkung zwischen den Elektronen, die zweite die zwi-schen den Kernen und die dritte Doppelsumme schlieÿlich die Kern-Elektron-Wechselwirkung. me steht für die Elektronenmasse, mK für die Masse einesKernes, rij für den Abstand zwischen dem i-ten und j-ten Elektron, riK für

4Für stationäre Zustände sind die Wellenfunktionen, abgesehen von einem Phasenfaktor,der für die Berechnung von Erwartungswerten keine Bedeutung besitzt, nicht von der Zeit tabhängig.

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Page 46: Physikalisch-Chemisches Praktikum II

den Abstand zwischen dem i-ten Elektronen und dem K-ten Kern, rKL für denAbstand zwischen den Kernen K und L und ZK bzw. ZL schlieÿlich für dieLadungszahlen des K-ten bzw. L-ten Kernes.

Die Schrödinger-Gleichung mit dem Hamilton-Operator (4.11) lässt sich nurin sehr einfachen Fällen ohne Näherungen lösen. In der Regel ist es nötig,den Hamilton-Operator zu vereinfachen. Hierbei ist die Born-Oppenheimer-Näherung von entscheidender Bedeutung. Diese beruht auf der Tatsache, dassdie Atomkerne eine um etwa vier Gröÿenordnungen höhere Masse als die Elek-tronen aufweisen, während die elektrostatischen Kräfte, die auf beide Arten vonTeilchen einwirken, von gleicher Gröÿe sind. Daraus folgt, dass sich die Elektro-nen wesentlich schneller bewegen als die Kerne und dass man bei der Betrach-tung der Elektronenbewegung das Gerüst der Atomkerne in erster Näherung alsstatisch ansehen kann. Mathematisch gesehen ermöglicht diese Näherung eineAufspaltung des Hamilton-Operators in die Summe eines Termes für die Elek-tronen, der nur noch parametrisch von den Koordinaten der Kerne abhängt undeines zweiten Term für die Kernbewegung, der unabhängig von der momentanenPosition der Elektronen ist. Es lässt sich zeigen, dass unter diesen Umständendie Wellenfunktion in ein Produkt eines elektronischen Anteils und eines Anteilsder Kernbewegung faktorisiert:

ψges = ψel(rel)ψnucl(rnucl) (4.12)

In ähnlicher Weise kann der Hamilton-Operator der Kernbewegung noch weiterzerlegt werden, nämlich in einen Anteil für die Schwingung und einen für dieRotation, und die Wellenfunktion ψnucl lässt sich dementsprechend als Produktzweier Faktoren schreiben:

ψnucl = ψvib(q)ψrot(χ, θ, φ) (4.13)

Dabei steht q für die Ortskoordinaten der Schwingungsbewegung und χ, θ undφ stellen drei Winkel dar, welche die Orientierung des Moleküls im Raum be-schreiben. Als Begründung für diesen Produktansatz kann wiederum der un-terschiedliche Zeitmaÿstab der beiden Bewegungsformen angeführt werden: DieMolekülrotationen sind in der Regel so langsam im Vergleich zu den Schwin-gungen, dass die Drehung während einer Schwingungsperiode vernachlässigtwerden und demnach die Schwingung bei festgehaltener Orientierung des Mole-küls im Raum betrachtet werden kann. Gelingt es, die Schrödinger-Gleichungenfür das elektronische Problem sowie die Schwingungs- und die Rotationsbewe-gung separat zu lösen, so erhält man aus den Gleichungen (4.12) und (4.13) dieGesamtwellenfunktion des Moleküls. Die Gesamtenergie setzt sich dann � wieauch der Hamilton-Operator � additiv aus den drei Anteilen für die verschiede-nen Bewegungsformen zusammen:

Eges = Eel + Evib + Erot (4.14)

Die Energiedi�erenzen zwischen elektronischen Niveaus sind, von seltenenAusnahmen abgesehen, stets wesentlich gröÿer als die zwischen den Schwin-gungsniveaus, welche wiederum deutlich gröÿer als die zwischen den Rotations-niveaus sind. Insgesamt gesehen ergibt sich dann das in Abbildung 4.2 gezeig-te Bild: Zu jedem elektronischen Zustand des Moleküls gehört eine Reihe von

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Page 47: Physikalisch-Chemisches Praktikum II

Abbildung 4.2: Anordnung der Energieniveaus eines zweiatomigen Molekülsim Rahmen der Born-Oppenheimer-Näherung.

Schwingungsniveaus und zu diesen wiederum eine groÿe Zahl von Rotationsni-veaus. Für die Anregung von Übergängen zwischen elektronischen Niveaus istdemnach Strahlung mit höherer Frequenz (UV/Vis) nötig als bei Schwingungen(IR) und bei diesen wiederum eine höhere Frequenz als bei Rotationen (Mikro-wellen), woraus sich die bereits oben diskutierten unterschiedlichen Spektralbe-reiche für unterschiedliche Spektroskopiearten ergeben. Da die Strahlungsener-gie im UV/Vis-Bereich ausreichend ist, um neben elektronischen Übergängenauch Schwingungen und Rotationen anzuregen, treten im UV/Vis-Spektrum ro-vibronische Übergänge auf, d.h. neben dem elektronischen Zustand ändern sichu.U. auch die Schwingungs- und die Rotationszustände. Letzteres ist allerdingsnur für Moleküle in der Gasphase von Interesse, da in kondensierter Phase Ro-tationen unterdrückt werden. Oftmals können aber auch in Gasphasenspektrenaufgrund instrumenteller Limitierungen die Rotationsübergänge nicht aufgelöstwerden.

Streng genommen muss noch eine weitere Bewegung des Moleküls, nämlichdie Translation, d.h. die Verschiebung des Schwerpunktes, berücksichtigt wer-den. In Abwesenheit äuÿerer elektromagnetischer Felder lässt sich die Transla-tionsbewegung stets vollständig von den übrigen Bewegungsformen separierenund man erhält einen weiteren Faktor in Gleichung (4.13) bzw. einen weiterenSummanden in Gleichung (4.14). Für die Spektroskopie ist die Translation nurvon geringer Bedeutung, da sie keine Informationen über die Struktur und Ei-genschaften des Moleküls liefert. Sie ist lediglich insofern von Interesse, als sie zueiner Verbreiterung oder Aufspaltung von Linien führen kann (Doppler-E�ektbei Gasphasenmessungen).

Molekülschwingungen

Das Potential einer Schwingung Eine Molekülschwingung ist eine peri-odische, konzertierte Auslenkung der Atome eines Moleküls aus ihrer Gleich-

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Page 48: Physikalisch-Chemisches Praktikum II

gewichtslage, wobei die Position des Schwerpunktes und die Orientierung desMoleküls im Raum unverändert bleiben. Bei einem zweiatomigen Molekül, wiez.B. I2, ist nur eine Art der Schwingung möglich, bei der sich der interatomareAbstand periodisch ändert. Diese Schwingung wird am besten unter Verwen-dung der Koordinate

q = r − re (4.15)

beschrieben, welche die Di�erenz zwischen dem momentan vorliegendenAtomabstand r und dem Gleichgewichtsabstand re darstellt. Unter Verwendungdieser Koordinate lautet die Schrödinger-Gleichung für die Relativbewegung derbeiden Atome mit den Massen m1 und m2

− ~2

d2ψ(q)

dq2+ V (q)ψ(q) = Eψ(q) (4.16)

wobei die reduzierte Masse5:

µ =m1m2

m1 +m2

(4.17)

eingeführt wurde.Es muss nunmehr noch ein Ansatz für das Potential V (q), gefunden werden.

Die allgemeine Form der Potentialfunktion kann aus folgenden Überlegungenabgeleitet werden:

� Die Kurve muss am Gleichgewichtsabstand (q = 0) ein Minimum aufwei-sen.

� Verkürzt man den Abstand gegenüber dem Gleichgewichtsabstand, so istein starker Anstieg der potentiellen Energie zu erwarten, welcher auf dieabstoÿenden Wechselwirkungen der nichtbindenden Elektronen und derAtomkerne zurückzuführen ist.

� Wird die Bindung gegenüber dem Gleichgewichtsabstand gedehnt, sosteigt die Energie an, bis sie ausreichend ist, um die bindende Wechselwir-kung zwischen den Atomen zu überwinden und es zur Dissoziation in zweiAtome oder Ionen kommt. Die hierfür benötigte Energie, vom Minimumder Potentialkurve aus gemessen, bezeichnet man als die Dissoziations-energie De des Moleküls.

Eine Potentialkurve, die dieser Beschreibung entspricht, ist in Abbildung 4.3skizziert.

Das Potential einer Schwingung kann häu�g hinreichend genau durch quan-tenchemische Rechnungen erhalten werden. Oftmals genügen jedoch einfacheModelle, mit Hilfe derer sich spektroskopische Befunde interpretieren lassen.Das einfachste derartige Modell ist der harmonische Oszillator. Zu ihm gelangt

5µ wird auch als e�ektive Masse bezeichnet.

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Page 49: Physikalisch-Chemisches Praktikum II

Abbildung 4.3: Potentialkurve der Schwingung eines zweiatomigen Molekülsund harmonische Näherung.

man, wenn man das Potential V (q) als Potenzreihe um den Gleichgewichtsab-stand (r = re bzw. q = 0) darstellt:

V (q) = V0 +

(∂V

∂q

)0

q +1

2!

(∂2V

∂q2

)0

q2 +1

3!

(∂3V

∂V 3

)0

q3 + . . . (4.18)

In Gleichung (4.18) verschwindet die erste Ableitung (linearer Term in q), da dieKurve am Gleichgewichtsabstand ein Minimum besitzt. Der konstante Term V0

lässt sich stets eliminieren, indem man die Energie am Gleichgewichtsabstand alsNullpunkt der Energieskala de�niert. Bricht man die Reihenentwicklung nachdem quadratischen Term ab und führt die Kraftkonstante der Bindung ein,k = (∂2V/∂q2)0, so lässt sich das Potential schreiben gemäÿ:

V (q) =1

2kq2 (4.19)

Es besitzt die Form einer Parabel. Die zugehörige Kraft ist proportional zurAuslenkung:

|~F | = −dVdq

= −kq (4.20)

Dies ist in der klassischen Mechanik als Hookesches Gesetz bekannt, gemäÿdem die rückstellende Kraft einer Feder bei geringer Dehnung proportional zurAuslenkung aus der Ruhelage ist.

Wie Abbildung 4.3 zeigt, stellt eine parabolische Potentialkurve nur bei nied-rigen Schwingungsenergien eine gute Näherung dar. Betrachtet man dagegenBereiche höherer Energie, so sind deutliche Abweichungen vom Verhalten desharmonischen Oszillators zu erwarten. Hier wird eine bessere Näherung für diePotentialfunktion nötig, wie sie z.B. in Form des Morse-Potentials gegeben ist.Zunächst soll jedoch hier kurz der harmonische Oszillator besprochen werden.

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Page 50: Physikalisch-Chemisches Praktikum II

Der harmonische Oszillator Unter Verwendung des Potentials aus (4.19)erhält man für die Schrödinger-Gleichung der Schwingung

− ~2

d2ψv(q)

dq2+

1

2kq2ψv(q) = Evψv(q) (4.21)

Das Verfahren zur Lösung dieser Di�erentialgleichung zweiter Ordnung ist z.B.in [1] ausführlich dargestellt. An dieser Stelle sollen nur die Ergebnisse, d.h. dieEigenwerte Ev und Eigenfunktionen ψv(q) kurz diskutiert werden. Für erstereerhält man:

Ev = hνe

(v +

1

2

), (4.22)

wobei νe die Frequenz (in Hz) der harmonischen Schwingung darstellt. Sie istgegeben als:

νe =1

√k

µ(4.23)

v ist die Quantenzahl der Schwingung. Sie kann ganzzahlige Werte gröÿer odergleich Null annehmen (v = 0, 1, 2, . . .). Verwendet man Wellenzahlen in cm−1

anstelle von Energien in Gleichung (4.22), so erhält man6:

G(v) =Evhc

= ωe

(v +

1

2

)mit ωe =

νec

(4.24)

Die Wellenfunktionen des harmonischen Oszillators besitzen die Form

ψv(y) = NvHv(y)e−y2

2 , (4.25)

wobei y eine neue Koordinate ist, die gemäÿ

y = 2π(µνeh

) 12q (4.26)

mit der bereits de�nierten Koordinate q zusammenhängt. Nv ist ein Normie-rungsfaktor, welcher gewährleistet, dass∫

ψv(y)2dy = 1 (4.27)

gilt, und Hv(y) ist das hermitesche Polynom vom Grad v. Eine Au�istung derersten fünf hermiteschen Polynome �ndet sich in Tabelle 1. Aus diesen könnenweitere Polynome durch Rekursionformeln bestimmt werden.

Die Energieniveaus des harmonischen Oszillators sind zusammen mit derPotentialkurve und den Wellenfunktionen im linken Teil der Abbildung 4.4 dar-gestellt. Der rechte Teil der Abbildung zeigt die Wahrscheinlichkeitsdichte fürjeden der Zustände, welche durch Quadrieren der Wellenfunktion erhalten wird.Aus den Zeichnungen, Tabelle 1 und den Gleichungen (4.22) und (4.25) lassensich folgende Punkte ablesen:

6In der Spektroskopie wird für die Wellenzahl der harmonischen Schwingung traditionelldas Symbol ωe anstelle der eigentlich zu erwartenden Bezeichnung νe verwendet.

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Page 51: Physikalisch-Chemisches Praktikum II

Tabelle 1: Die ersten fünf Hermite-Polynome.

v Hv(y)0 11 2y2 4y2-23 8y3-12y4 16y4-48y2+12

� Die Energieniveaus sind äquidistant mit einem Abstand von:

Ev+1 − Ev = hcωe (4.28)

� Auch im niedrigsten Schwingungszustand wird die Energie des harmoni-schen Oszillators nicht Null, vielmehr verbleibt die sogenannte Nullpunkt-senergie:

E0 =1

2hcωe (4.29)

Die Notwendigkeit der Existenz dieser Nullpunktsenergie lässt sich wiefolgt verstehen: Wäre eine solche Energie nicht vorhanden, so würde sichdas System im niedrigsten Energieniveau also am Minimum der Poten-tialkurve be�nden und keinerlei kinetische Energie aufweisen. Demnachmüsste auch der Impuls des Systems (p = 2µ

√Ekin) Null sein. Dann aber

sind der Ort und der Impuls gleichzeitig vollständig bestimmt, was gemäÿder Heisenbergschen Unschärferelation unmöglich ist.

� Die Form der Wellenfunktion zur Quantenzahl v = 0 wird ausschlieÿ-lich durch den letzten Faktor in Gleichung (4.25) bestimmt, welcher einerGauÿschen Glockenkurve entspricht. Für höheres v ergibt sich die Formder Wellenfunktionen aus der Kombination dieser Gauÿ-Funktion, wel-che zu beiden Seiten von re abfällt, mit einem oszillierenden Anteil, wel-cher durch das Hermite-Polynom hervorgerufen wird. Die Zahl der Knoten(Nulldurchgänge) der Wellenfunktion entspricht stets der Quantenzahl v.

� An den Schnittpunkten der Potentialkurve mit den horizontalen Linien,die die Energieniveaus symbolisieren, ist die potentielle Energie gleich derGesamtenergie. Bei einem klassischen harmonischen Oszillator würde dasSystem an dieser Stelle seine Bewegung umkehren; ein Eindringen in denBereich jenseits der Potentialkurve wäre nicht möglich. Dies gilt jedochnicht für den quantenmechanischen Oszillator. Man kann vielmehr erken-nen, dass eine gewisse Aufenthaltswahrscheinlichkeit im klassisch verbo-tenen Bereich besteht. Dies erö�net dem System die Möglichkeit, einePotentialbarriere zu �durchtunneln�.

� Beim klassischen harmonischen Oszillator �ndet man die gröÿte Auf-enthaltswahrscheinlichkeit des Systems in der Nähe der Umkehrpunkte,

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Page 52: Physikalisch-Chemisches Praktikum II

Abbildung 4.4: Energieniveaus, Wellenfunktionen (links) und Wahrschein-lichkeitsdichten (rechts) des harmonischen Oszillators.

da dort die Geschwindigkeit Null wird. In der quantenmechanischen Be-schreibung dagegen �ndet man für das niedrigste Energieniveau (v = 0)die gröÿte Aufenthaltswahrscheinlichkeit am Gleichgewichtsabstand. Fürv > 0 erhält man jeweils zwei gleich hohe Maxima, die sich mit wachsen-dem v den klassischen Umkehrpunkten annähern. Bei sehr hohen Quan-tenzahlen ergibt sich demnach ein Verhalten das dem des klassischen Os-zillators entspricht (Korrespondenzprinzip).

Der Morse-Oszillator Wie bereits erwähnt, stellt das harmonische Potentialnur im Bereich niedriger Energie, d.h. für Niveaus mit niedrigen Quantenzahlen,eine zufriedenstellende Näherung für das schwingende System dar; es versagt je-doch bei hohen Quantenzahlen. Dies ist für die Elektronenschwingungsspektro-skopie von Bedeutung, da hier oftmals Schwingungen mit hohen Quantenzahlenangeregt werden. Eine wesentlich bessere Näherung für die Potentialkurve eineszweiatomigen Moleküls liefert die sogenannte Morse-Funktion, welche folgendeForm besitzt:

V (q) = De

(1− e−βq

)2(4.30)

De, die Dissoziationsenergie, wurde bereits weiter oben de�niert. β ist ein Pa-rameter, der die Krümmung der Kurve bestimmt. Um die Beziehung diesesPotentials zu dem des harmonischen Oszillators zu erkennen, kann man eineTaylor-Entwicklung um q = 0 durchführen, die man hinter dem quadratischenGlied abbricht. Man erhält dabei:

V (q) ≈ Deβ2q2 (4.31)

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Page 53: Physikalisch-Chemisches Praktikum II

Abbildung 4.5: Energieniveaus des Morse-Oszillators.

Durch Vergleich mit dem Potential des harmonischen Oszillators, ergibt sich fürdie Kraftkonstante:

k = 2Deβ2 (4.32)

Die Schrödinger-Gleichung der Schwingung mit der Potentialfunktion (4.30)kann analytisch gelöst werden, womit man die Energieeigenwerte und die Wel-lenfunktionen des Morse-Oszillators erhält. Für die erstgenannten ergibt sich incm−1:

G(v) =Evib

hc= (v +

1

2)ωe − (v +

1

2)2ωexe (4.33)

Die harmonische Schwingungsfrequenz ωe wurde bereits in Gleichung (4.24) de-�niert. Kombiniert man dies mit Gleichung (4.32), so erhält man eine Beziehungzwischen ωe, De und β

β = πcωe

(2µ

De

) 12

, (4.34)

aus welcher sich β berechnen lässt. Der Parameter ωexe, welcher meist um et-wa zwei Gröÿenordnungen kleiner ist als ωe, wird Anharmonizitätskonstantegenannt.

Abbildung 4.5 zeigt die Anordnung der Energieniveaus des Morse-Oszillators. Ein wesentlicher Unterschied im Vergleich zum harmonischen Os-zillator besteht darin, dass die Abstände mit zunehmendem v gemäÿ

∆G(v) = G(v + 1)−G(v) = ωe − 2(v + 1)ωexe (4.35)

linear abnehmen und schlieÿlich bei Erreichen der Dissoziationsenergie ganzverschwinden. Es gibt ein höchstes Energieniveau mit der Quantenzahl vmax,

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Page 54: Physikalisch-Chemisches Praktikum II

dessen Energie kleiner sein muss als die Dissoziationsenergie, da es sich andern-falls nicht um einen gebundenen Zustand handeln würde. Führt man weitereEnergie zu, so kommt es zur Dissoziation des Moleküls.

Die Nullpunktsenergie des Morse-Oszillators beträgt

E0

hc=ωe2− ωexe

4(4.36)

und unterscheidet sich von der des harmonischen Oszillators in der Regel nurgeringfügig. Subtrahiert man diese Nullpunktsenergie von De, so erhält mandie Energie D0 für eine Dissoziation des Moleküls ausgehend vom Schwingungs-grundzustand (siehe Abbildung 4.5):

D0

hc=De

hc− ωe

2+ωexe

4(4.37)

Abbildung 4.6: Wahrscheinlichkeitsdichte der Zustände des Morse-Oszillatorsim Vergleich zum harmonischen Oszillator.

Die Wellenfunktionen des Morse-Oszillators besitzen eine recht komplizier-te Form und sollen hier nur gra�sch dargestellt werden. Siehe dazu Abbildung4.6, welche die Quadrate der Funktionen, d.h. die Wahrscheinlichkeitsdichtenim Vergleich zum harmonischen Oszillator wiedergibt. Die Unterschiede lassensich qualitativ charakterisieren als eine Verschiebung der Funktionen zu etwasgröÿeren Abständen q bei gleichzeitiger Streckung und eine Zunahme der Auf-enthaltswahrscheinlichkeit im äuÿeren Bereich (bei groÿem q) bei gleichzeitigerAbnahme im inneren Bereich.

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Page 55: Physikalisch-Chemisches Praktikum II

Die Schwingungsstruktur elektronischer Übergänge

Wie weiter oben angesprochen, kann eine elektronische Anregung auch vonSchwingungs- und Rotationsanregungen begleitet sein. An dieser Stelle soll dasErscheinungsbild des Elektronenspektrums unter Berücksichtigung von Schwin-gungsübergängen erläutert werden, während Rotationsübergänge zunächst un-berücksichtigt bleiben. Man spricht dann von einem vibronischen Spektrum. Dabei den meisten Molekülen die Energiedi�erenz zwischen dem elektronischenGrundzustand und den angeregten Zuständen sehr groÿ ist (einige tausend Wel-lenzahlen), ist gemäÿ der Boltzmann-Verteilung nur ersterer bei Raumtempe-ratur in nennenswertem Maÿe besetzt, und es müssen nur Übergänge, die vondiesem Zustand ausgehen, berücksichtigt werden. Betrachtet man einen dieserÜbergänge, so lässt sich sowohl für den Grundzustand als auch für den ange-regten Zustand eine Potentialkurve mit einer Form entsprechend Abbildung 4.5zeichnen, welche näherungsweise durch eine Morse-Funktion beschrieben wird.Jeder der beiden beteiligten Zustände besitzt eigene Werte der Dissoziations-energie De, des Gleichgewichtsabstandes re und der Konstante β. Konventi-onsgemäÿ werden alle Gröÿen, die sich auf den angeregten Zustand beziehenmit einem einfachen Strich gekennzeichnet, die zum Grundzustand gehörigenmit einem Doppelstrich. Weiterhin werden bei der Bezeichnung eines Übergan-ges stets zuerst die Quantenzahlen des angeregten Zustandes und dann die desGrundzustandes angegeben. So steht die Bezeichnung (4,0) zum Beispiel füreinen Übergang mit v′ = 4 und v′′ = 0.

Die Schwingungsniveaus der beiden elektronischen Zustände können sche-matisch wie in Abbildung 4.7 gezeigt dargestellt werden. Dabei wurde der Ab-stand zwischen den Niveaus des angeregten Zustandes kleiner gewählt als beimGrundzustand, was der häu�g angetro�enen Situation entspricht, dass die Bin-dung bei elektronischer Anregung gelockert wird und demnach die Kraftkon-stante für den oberen Zustand kleiner ist als für den unteren. Geht man vomSchwingungsgrundzustand aus, so ergibt sich eine Reihe von Übergängen, derenAbstände im Spektrum mit zunehmenden Energien immer kleiner werden. Manspricht hier von einer Schwingungsprogression. Diese Progression setzt sich solange fort, bis das höchste Schwingungsniveau des Oszillators erreicht ist. EineAnregung mit Strahlung höherer Energie führt zur Dissoziation des Moleküls.Da die quantenmechanisch erlaubten Energien oberhalb der Dissoziationsgrenzeein Kontinuum bilden, treten dort keine Linien auf, sondern nur ein unstruk-turierter Absorptionsbereich. Oftmals können neben der beschriebenen Schwin-gungsprogression mit v′′ = 0 auch Progressionen beobachtet werden, die vonhöheren Niveaus (v′′ = 1, 2, . . .) des elektronischen Grundzustandes ausgehen.Deren Intensität hängt von der Besetzungszahl des Ausgangsniveaus ab, welchegemäÿ der Boltzmann-Verteilung mit wachsender Energie rasch abnimmt. BeiErhöhung der Temperatur vergröÿert sich die Intensität dieser Progressionen,weshalb man hier auch von �heiÿen Banden� spricht.

Vernachlässigt man die Rotation, so ergibt sich aus Gleichung (4.14) für dieEnergieniveaus eines Moleküls

Eges = Eel + Evib , (4.38)

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Page 56: Physikalisch-Chemisches Praktikum II

Abbildung 4.7: Die Schwingungsstruktur einer elektronischen Bande.

oder unter Verwendung von Wellenzahlen, wenn man ε = Etotalhc

und Te = Eelhc

setzt:

ε = Te +G(v) = Te + ωe

(v +

1

2

)− ωexe

(v +

1

2

)2

. (4.39)

Dabei wurde im letzten Schritt der Ausdruck für die Energien des Morse-Oszillators, Gleichung (4.33), eingesetzt. Bildet man die Di�erenz der Termeε zweier vibronischer Zustände, so erhält man für die Wellenzahl des zugehöri-gen Überganges:

ν = ε′ − ε′′

= T ′e − T ′′e +{

(v′ + 1/2)ω′e − (v′ + 1/2)2ω′ex′e

}−{

(v′′ + 1/2)ω′′e − (v′′ + 1/2)2ω′′ex′′e

}(4.40)

Die Energie des elektronischen Grundzustandes wird üblicherweise als Null-punkt der Energieskala verwendet, d.h. für Übergänge, die von diesem Zustandausgehen gilt T ′′e = 0. Wird eine genügend groÿe Anzahl von Schwingungsüber-gängen beobachtet, so können aus den Werten von ν sowohl die elektronischeAnregungsenergie T ′e, wie auch die Parameter ωe und ωexe für beide beteilig-te Zustände ermittelt werden. Für die Bestimmung der beiden letztgenanntenGröÿen kann dabei ein Verfahren verwendet werden, das auf Birge und Spo-ner zurückgeht. Dazu betrachtet man entweder die Di�erenz der Wellenzahlenzweier aufeinander folgender Linien einer Schwingungsprogression, oder die Dif-

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Page 57: Physikalisch-Chemisches Praktikum II

ferenz der Wellenzahlen zweier Banden mit gleichem v′. In beiden Fällen gilt7:

∆G(v) = G(v + 1)−G(v) = ωe − ωexe(2v + 2) (4.41)

G lässt sich auch als Funktion von v + 1/2 schreiben:

∆G

(v +

1

2

)= (ωe − ωexe)− 2ωexe

(v +

1

2

)(4.42)

Trägt man demnach ∆G in Abhängigkeit von v + 12auf, so sollte sich eine Ge-

rade ergeben, aus deren Steigung und y-Achsenabschnitt ωe und ωexe ermitteltwerden können.

Aus der Birge-Sponer-Auftragung lässt sich auÿerdem eine Beziehung zwi-schen den Parametern ωe und ωexe und der Dissoziationsenergie D0 ableiten.Man betrachte dazu Abbildung 4.8. Es ist zu erkennen, dass die Fläche jedesder eingezeichneten Rechtecke gleich der Di�erenz G(v)−G(v + 1) für die ent-sprechende Quantenzahl ist. Summiert man die Fläche der Rechtecke bis hin zuv = vmax−1, so erhält man die Energiedi�erenz (in cm−1) zwischen dem Schwin-gungsgrundzustand und dem Niveau mit der Quantenzahl vmax. Das kleine, inder Abbildung grau unterlegte Dreieck zwischen vmax und dem Schnittpunktder Geraden mit der Achse entspricht genau demjenigen Energiebetrag, derausgehend vom obersten Schwingungsniveau aufgewendet werden muss, um dieDissoziation zu erreichen (∆GD in der Zeichnung), da die Dissoziationsgrenzedadurch de�niert ist, dass ∆G dort verschwindet. Somit stellt die Fläche desDreiecks unter der Geraden genau die Energie dar, die insgesamt zur Dissozia-tion des Moleküls ausgehend von Grundzustand der Schwingung aufgebrachtwerden muss:

F =D0

hc(4.43)

Andererseits besitzt der y-Achsenabschnitt der Geraden die Gröÿe ∆G(0) =ωe − ωexe und für die Nullstelle erhält man:(

v +1

2

)∆G=0

=ωe − ωexe

2ωexe(4.44)

Damit ergibt sich für die Fläche des Dreiecks unter der Geraden

F =1

2(ωe − ωexe)

ωe − ωexe2ωexe

=(ωe − ωexe)2

4ωexe, (4.45)

und man erhält die folgende Beziehung, die zur Bestimmung von D0 genutztwerden kann:

D0

hc=

(ωe − ωexe)2

4ωexe(4.46)

7Für v, ωe und ωexe sind entweder die einfach- oder die doppelt-gestrichenen Gröÿeneinzusetzen. Eine zuverlässige Bestimmung von ω′′

e und ω′′ex

′′e nach diesem Verfahren ist aber

nur möglich, wenn eine hinreichend groÿe Anzahl heiÿer Banden beobachtet werden kann.

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Page 58: Physikalisch-Chemisches Praktikum II

Abbildung 4.8: Oben: Bestimmung von D0 durch Addition der Energiedi�e-renzen der Schwingungsniveaus. Unten: Birge-Sponer-Auftragung.

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Page 59: Physikalisch-Chemisches Praktikum II

Das Franck-Condon-Prinzip

Obwohl sich aus der Quantenmechanik für einen vibronischen Übergang kei-ne Beschränkung bezüglich der Änderung der Schwingungsquantenzahl ergibt,�ndet man innerhalb von Schwingungsprogressionen deutliche Unterschiede derÜbergangsintensitäten. In einigen Fällen weist der (0,0)-Übergang die höchs-te Intensität auf, während die folgenden Linien zunehmend schwächer werden,während in anderen Fällen zunächst ein Anstieg der Intensität bis zu einem Ma-ximum und dann wieder ein Rückgang beobachtet wird. Diese Intensitätsvertei-lungen innerhalb der Progression können mit Hilfe des Franck-Condon-Prinzipserklärt werden, welches besagt, dass ein elektronischer Übergang so schnell von-statten geht, dass währenddessen der Kernabstand des schwingenden Molekülsnahezu unverändert bleibt.

Abbildung 4.9: Zur Erläuterung des Franck-Condon-Prinzips. Links: GleicherKernabstand in Grundzustand und angeregtem Zustand. Mitte: Vergröÿerungdes Kernabstandes bei Anregung. Rechts: Verkleinerung des Kernabstandes beiAnregung.

Man betrachte hierzu Abbildung 4.9: Die beiden übereinander liegendenMorse-Kurven stellen die Potentialfunktionen des elektronischen Grundzustan-des und eines angeregten Zustandes dar. Zur Vereinfachung werden hier nurÜbergänge betrachtet, die vom niedrigsten Schwingungsniveau (v′′ = 0) aus-gehen. Gemäÿ dem Franck-Condon-Prinzip lassen sich die Anregungsvorgänge

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Page 60: Physikalisch-Chemisches Praktikum II

durch senkrechte Linien symbolisieren, entlang derer der Kernabstand gleichbleibt. Aufgrund dieser bildlichen Vorstellung spricht man hier auch von vertika-len Übergängen. Die Wellenfunktion des Grundzustandes besitzt ihr Maximumam Gleichgewichtsabstand r0, woraus folgt, dass der Oszillator dort die höchs-te Aufenthaltswahrscheinlichkeit aufweist und dass demnach die Anregung mitder gröÿten Wahrscheinlichkeit aus dieser Geometrie heraus erfolgt. Es lässtsich nunmehr annehmen, dass die gröÿte Intensität des Überganges dann er-reicht wird, wenn auch der angeregte Zustand an dieser Stelle ein Maximum derAufenthaltswahrscheinlichkeit und somit auch ein Maximum der Schwingungs-wellenfunktion besitzt. Eine präzisere Formulierung ergibt sich, wenn man dasÜbergangsmoment eines vibronischen Überganges betrachtet [2]. Es lässt sichdann ableiten, dass die Intensität eines vibronischen Überganges proportionalzum Quadrat des sogenannten Frank-Condon-Faktors ist, welcher wie folgt de-�niert wird:

Sv′,v′′ =

∫ψv′(q)ψv′′(q)dq (4.47)

ψv′(q) und ψv′′(q) sind dabei die Schwingungswellenfunktionen des elektroni-schen Grundzustandes und des angeregten Zustandes. Sv′,v′′ entspricht demÜberlappintegral dieser beiden Funktionen.

In Abbildung 4.9 sind drei unterschiedliche Situationen wiedergegeben, diebei vibronischer Anregung auftreten können. In dem Diagramm auf der linkenSeite besitzen der Grundzustand und der angeregte Zustand gleiche Bindungs-längen. Der Franck-Condon-Faktor ist in diesem Fall für das niedrigste Schwin-gungsniveau (v′ = 0) des angeregten Zustandes am gröÿten und somit ist fürden (0,0)-Übergang die gröÿte Intensität zu erwarten, während sie für die höhe-ren Schwingungsniveaus gemäÿ der abnehmenden Überlappung geringer wird.Im mittleren Diagramm ist die Bindungslänge im angeregten Zustand gröÿerals im Grundzustand. Hier erhält man für den (4,0)-Übergang die gröÿte Über-lappung der Wellenfunktionen und somit die höchste Intensität, während dieSpektralbanden auf der Seite höherer wie auch niedrigerer Energie zunehmendschwächer werden. Ein ganz ähnliches Bild ergibt sich, wenn der Bindungsab-stand im angeregten Zustand kleiner als im Grundzustand ist, wie es im rechtenTeil von Abbildung 4.9 dargestellt ist.

Die Rotationsfeinstruktur vibronischer Übergänge

Die Rotationsbewegung eines zweiatomigen Moleküls in der Gasphase kann manin erster Näherung mit dem Modell des starren Rotators beschreiben. In diesemModell besteht das Molekül aus zwei Massen m1 und m2, die über einen star-ren, masselosen Stab der Länge r, welche dem Gleichgewichtsabstand entspricht,miteinander verbunden sind. Die klassische kinetische Energie der Rotation ei-nes solchen Systems ist gegeben als

Erot =1

2Iω2 , (4.48)

wobei ω = 2πν die Winkelgeschwindigkeit und I das Trägheitsmoment des Mo-leküls ist, für welches sich unter Verwendung der in Gleichung (4.17) de�nierten

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Page 61: Physikalisch-Chemisches Praktikum II

reduzierten Masse schreiben lässt:

I = µr2 (4.49)

Setzt man in Gleichung (4.48) den Drehimpuls des Moleküls

| ~J | = Iω (4.50)

ein, so erhält man für die Rotationsenergie

Erot =1

2I| ~J |2 . (4.51)

Um die möglichen Energieniveaus im Rahmen der Quantenmechanik zu bestim-men, können die bekannten Eigenwerte für das Betragsquadrat des Drehimpul-ses, | ~J |2, verwendet werden, welche gegeben sind als [2]:

| ~J |2 = ~2J(J + 1) mit J = 0, 1, 2, . . . . (4.52)

Für die Energie ergibt sich dann:

Erot =~2

2IJ(J + 1) = hBJ(J + 1) mit B =

~4πI

(4.53)

Rechnet man dies auf Wellenzahlen um, erhält man:

Erot

hc= BJ(J + 1) mit B =

~4πcI

(4.54)

Dieser Term muss gemäÿ Gleichung (4.14) zur Summe aus Schwingungsenergieund elektronischer Energie addiert werden, um die Gesamtenergie des Zustandeszu erhalten:

ε = Te +G(v) + BJ(J + 1) (4.55)

Rovibronische Übergänge unterliegen einer Auswahlregel, die festlegt, welcheÄnderungen die Quantenzahl J bei Anregung möglich sind. Dabei gibt es zweiunterschiedliche Versionen dieser Auswahlregeln, die für unterschiedliche Artenelektronischer Übergänge gelten. Im Experiment wird ein 3Πu ← 1Σg-Überganguntersucht, für welchen folgende Version der Regel gilt8:

∆J = 0,±1 J = 0 = J = 0 (4.56)

Die Rotationsquantenzahl darf also entweder gleich bleiben oder um eine Einheitzu- oder abnehmen. Die einzige Ausnahme hiervon sind Übergänge zwischenzwei Niveaus mit J = 0, welche verboten sind.

Bei Anwendung der obigen Auswahlregel ergeben sich drei Zweige in derRotationsfeinstruktur vibronischer Spektren (s. Abb. 4.10). Übergänge mit∆J = −1 bilden den P-Zweig, diejenigen mit ∆J = 0 den Q-Zweig und solchemit ∆J = +1 den R-Zweig des Spektrums. Bezeichnet man die Wellenzahl des

8Im Unterschied dazu gilt für 1Σ← 1Σ-Übergänge: ∆J = ±1.

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Page 62: Physikalisch-Chemisches Praktikum II

Abbildung 4.10: P-, Q- und R-Zweig eines rovibronischen Spektrums.

Elektronenschwingungsüberganges (ohne Rotation) mit νvib, so ergibt sich fürdie Übergangsfrequenzen dieser drei Zweige:

P-Zweig: ν = νvib − (B′ + B′′)(J ′ + 1) + (B′ − B′′)(J ′ + 1)2

mit J ′ = 0, 1, 2, . . .(4.57)

R-Zweig: ν = νvib + (B′ + B′′)(J ′′ + 1) + (B′ − B′′)(J ′′ + 1)2

mit J ′′ = 0, 1, 2, . . .(4.58)

Q-Zweig: ν = νvib + (B′ − B′′)J ′′ + (B′ − B′′)(J ′′)2

mit J ′′ = 1, 2, 3, . . .(4.59)

Das Erscheinungsbild der Rotationsstruktur wird von der Gröÿe des AusdrucksB′ − B′′ geprägt. Wenn dieser Ausdruck Null ist, d.h. wenn die Rotationskon-stanten des oberen und des unteren Zustandes gleich sind, bestehen die P- undR-Zweige aus äquidistanten Linien mit dem Abstand 2B′ = 2B′′ voneinander,die im P-Zweig abnehmende Wellenzahl und im R-Zweig zunehmende Wellen-zahl aufweisen. Der Q-Zweig besteht nur aus einer einzigen, intensiven Liniegenau am Bandenursprung. In der Regel unterscheiden sich aber die beidenRotationskonstanten. In diesem Fall sind die quadratischen Terme in Gleichung(4.57) und (4.58) nicht Null. Ist B′ kleiner als B′′, so �ndet man für den P-Zweigmit wachsendem J ′ immer gröÿere Abstände zwischen den Rotationslinien. ImR-Zweig dagegen nimmt bei insgesamt zunehmender Wellenzahl der Abstandder Abstand zwischen den Linien immer weiter ab, bis er Null wird. Bei wei-terer Zunahme von J ′′ nehmen die Wellenzahlen der Übergänge dann wiederab. Man spricht hier von der Bildung eines Bandenkopfes. Diese Situation ist inAbbildung 4.11 dargestellt. Man erkennt, dass bei Auftragung der Wellenzahlen

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Page 63: Physikalisch-Chemisches Praktikum II

Abbildung 4.11: Lage der Rotationslinien und Fortrat-Parabeln bei B′′ =1.1 · B′. Es tritt Bandenkopfbildung im R-Zweig des Spektrums auf.

der Rotationsübergänge gegen die Quantenzahlen Punkte erhalten werden, dieauf zwei Parabeln liegen � eine für den P- und R-Zweig und eine für den Q-Zweig. Diese Parabeln bezeichnet man als Fortrat-Parabeln. Für den Fall, dassB′ gröÿer ist als B′′ erhält man ein ganz analoges Bild, allerdings tritt diesmalder Bandenkopf im P-Zweig des Spektrums auf. Daher kann anhand der Lagedes Bandenkopfes darauf geschlossen werden, welche der beiden Rotationskon-stanten den gröÿeren Wert besitzt. Da B′ und B′′ sich umgekehrt proportionalzum Bindungsabstand im Molekül verhalten, lässt sich dann auch ermitteln, obdieser Abstand bei elektronischer Anregung zu- oder abnimmt.

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Page 64: Physikalisch-Chemisches Praktikum II

4.5 Aufgabenstellung und Versuchsdurchführung

Durchführung der Messungen

Achtung: Absorptionsküvetten besitzen zwei lichtdurchlässige und zwei matteSeiten. Vermeiden Sie Verschmutzungen der lichtdurchlässigen Seitenwände undfassen Sie die Küvetten stets nur auf den matten Seiten an.

� Füllen Sie in eine der beiden Küvetten zwei Körner Iod und verschlieÿenSie sie. Die zweite Küvette wird als Referenz verwendet und enthält nurLuft. Verschlieÿen Sie auch diese Küvette.

� Schalten Sie den mit den Küvettenhalterungen verbundenen Wasserther-mostaten ein. Das Kontaktthermometer ist bereits auf eine Temperaturvon 80 ◦C eingestellt. Stecken Sie die beiden Küvetten in die Küvetten-halterung (Probe vorne, Referenz hinten). Es dauert etwa 30 Minuten, bisder Thermostat die benötigte Temperatur eingeregelt hat.

� Sofern nicht schon geschehen, schalten Sie das Spektrometer (Schalterunten links am Gehäuse) und den Computer ein, ö�nen Sie dann dasVerzeichnis �Cary WinUV� und rufen Sie dort das Programm �Scan� auf.Eine kurze Beschreibung dieses Programmes liegt am Arbeitsplatz aus.

� Führen Sie die folgenden Messungen mit den angegebenen Einstellungendurch:

� Übersichtspektrum:Spaltbreite: 2 nmIntegrationszeit 0.1 sDatenintervall: 10 cm−1

Messbereich: 12000 cm−1 bis 25000 cm−1

� Hochaufgelöstes Spektrum:Spaltbreite: 0.2 nmIntegrationszeit: 1 sDatenintervall 1.55 cm−1

Messbereich 15000 cm−1 bis 20400 cm−1.Dieses Spektrum wird später für die quantitative Auswertung heran-gezogen.

� Rotationsstruktur der vibronischen Bande bei 16785 cm−1:Spaltbreite: 0.02 nmIntegrationszeit: 7.5 sDatenintervall 0.155 cm−1

Messbereich: 16690 cm−1 bis 16800 cm−1.

� Schalten Sie nach dem Ende der Messungen das Spektrometer und denThermostaten aus, ö�nen Sie die Küvetten unter dem Abzug (Iod!) undstellen Sie sie in den Küvettenständer zurück. Es ist in der Regel keineReinigung der Küvetten erforderlich: Das Iod sublimiert im Verlauf einigerStunden und wird im Abzug abgesaugt.

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Page 65: Physikalisch-Chemisches Praktikum II

Auswertung der Messungen

Vorbemerkungen:

� Die Auswertung sollte direkt im Anschluss an das Experiment auf demComputer am Messplatz durchgeführt werden. Dafür steht das Tabellen-kalkulationsprogramm �Open O�ce Calc� zur Verfügung (funktioniert ge-nauso wie �Microsoft Excel�).

� Die im Messbereich beobachteten Banden gehören alle zu einem elektroni-schen Übergang, nämlich dem aus dem Grundzustand in den zweiten ange-regten Zustand. Gemäÿ spektroskopischer Konvention wird der Grundzu-stand eines beliebigen Moleküls mit X bezeichnet und die angeregten Zu-stände erhalten gemäÿ ihrer energetischen Reihenfolge die Buchstaben A,B, etc. Im vorliegenden Fall wird also der B ← X-Übergang untersucht.Die Natur der beteiligten Elektronenzustände ist für dieses Experimentjedoch nur von untergeordneter Bedeutung. Die wesentlichen Informatio-nen ergeben sich aus der Analyse der Schwingungsübergänge, welche esermöglicht, Dissoziationsenergien, Kraftkonstanten und eine Reihe ande-rer Parameter für beide elektronische Zustände zu bestimmen.

� Mit Ausnahme der Kraftkonstanten k, für welche die Einheit N/m verwen-det werden soll, der β-Parameter mit der Einheit Å−1 und der Di�erenzder Gleichgewichtsabstände, r′e− r′′e , mit der Einheit Å, sollen alle gemes-senen und berechneten Daten in cm−1 angegeben werden.

� Zur Bestimmung der Wellenzahlen der vibronischen Übergänge werdendie Maxima der beobachteten Signale verwendet. Diese stimmen mit hin-reichender Genauigkeit mit den Wellenzahlen des jeweiligen Bandenur-sprungs (siehe Abbildung 4.11) überein.

� Eine Fehlerrechnung ist bei diesem Versuch nur in eingeschränktem Maÿemöglich. Für die Werte von ω′e und ω

′ex′e werden Standardabweichungen

aus der linearen Regression erhalten (s.u.), die für die weitere Fehlerrech-nung der direkt daraus abgeleiteten Gröÿen D′e, D

′0, k

′ und β′ verwendetwerden können. Alle übrigen Gröÿen werden ohne Fehlergrenzen angege-ben.

� Wie in der am Arbeitsplatz ausliegenden Beschreibung der Software dar-gestellt, können die Spektren direkt aus dem Messprogramm exportiertwerden. Das Protokoll muss Abbildungen aller drei Spektren enthalten.Dabei sollten Sie darauf achten, dass jeweils der gesamte Messbereichsichtbar ist.

Ermittlung der Wellenzahlen Es ist zunächst erforderlich, die Wellenzah-len aller vibronischen Banden im Bereich von 16000 bis 20000 cm−1 zu ermitteln.Dies kann direkt mittels des Messprogrammes erfolgen, wobei zur Vereinfachungdie Funktion �Peak Labels� verwendet werden sollte. Sie sollten hier den nied-rigsten möglichen Schwellenwert (�Peak threshold�) von 0.001 einstellen. Die

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Page 66: Physikalisch-Chemisches Praktikum II

Funktion markiert alle Maxima, die diesen Schwellenwert überschreiten, wobeies aber vorkommen kann, dass schwach ausgeprägte Signale z.B. in der Schultereines stärkeren Signals übersehen werden. Auÿerdem werden manchmal schwa-che Signale beschriftet, die nicht zu einer Schwingung gehören. Sie sollten daherin jedem Fall überprüfen, ob evtl. Peaks übersehen wurden und ob Peaks mar-kiert wurden, die keiner der Schwingungsprogressionen angehören.

Zuordnung der Signale zu Schwingungsprogressionen Um eine Auswer-tung zu ermöglichen, müssen für alle beobachteten Banden die beiden Quanten-zahlen v′′ und v′ bestimmt werden. Die Zuordnung zu der zum elektronischenGrundzustand gehörigen Quantenzahl v′′ basiert auf folgenden Überlegungen:Wie in Abbildung 4.12 gezeigt, lassen sich im Bereich von 16000 bis 20000 cm−1

drei Bandensysteme erkennen, in denen mit steigender Wellenzahl die Intensitätzunächst wächst und dann nach Erreichen eines Maximums wieder abnimmt.Ein solches Verhalten ist genau das, welches gemäÿ dem Franck-Condon-Prinzipfür eine Schwingungsprogression, ausgehend von einem gemeinsamen unterenSchwingungszustand, zu erwarten ist. Anhand der Lage im Spektrum kanndie kurzwelligste Progression den Übergängen mit v′′ = 0 zugeordnet werden,die die höchsten Übergangsenergien besitzen, die mittlere den Übergängen mitv′′ = 1 und die dritte denen mit v′′ = 2. Diese Zuordnung wird auch durch die In-tensitäten der drei Progressionen bestätigt: Gemäÿ der Boltzmann-Verteilungerwartet man für die Schwingungsniveaus eine abnehmende Besetzungswahr-

Abbildung 4.12: Aufteilung des UV/Vis-Spektrums von Iod in drei Schwin-gungsprogressionen.

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scheinlichkeit mit zunehmender Quantenzahl v′′ und somit sollten in gleicherRichtung auch die Intensitäten der Übergänge abnehmen. Dies entspricht derBeobachtung.

Zuordnung der Quantenzahl v′ Legen Sie nunmehr eine sogenannteDeslandre-Tabelle an, wie sie schematisch in Tabelle 2 dargestellt ist. In dieerste Spalte werden später die Werte der Quantenzahl v′ eingetragen. In diezweite Spalte tragen Sie jetzt die Übergangsfrequenzen für das Bandensystemmit v′′ = 0 ein. Analog verfahren Sie mit der vierten Spalte für v′′ = 1 und mitder sechsten Spalte für v′′ = 2. Der nächste Schritt besteht darin, die Schwin-gungsquantenzahlen des angeregten Zustandes, v′, zu bestimmen. Hierzu machtman sich die Tatsache zunutze, dass bei einer korrekten Zuordnung die Di�e-renzen zwischen den Energien zweier Übergänge mit dem gleichen Endzustand,gleich sein müssen, unabhängig von der Quantenzahl des Endzustandes (siehedazu Abbildung 4.13). Bildet man also in der Tabelle die Di�erenzen zwischenden Werten in zwei Spalten, welche zu unterschiedlichem v′′ gehören, so mussstets der gleiche Wert resultieren. In der Praxis ist dies aufgrund von Ungenau-igkeiten bei der Ablesung nie vollständig erfüllt, aber dennoch lässt sich in derRegel leicht die richtige Zuordnung �nden. Verschieben Sie zu diesem Zweckdie Daten in der vierten Spalte der Tabelle schrittweise gegenüber der zweitenSpalte nach oben und nach unten und berechnen Sie bei jedem Schritt in Spaltedrei die Di�erenzen zwischen den Daten in einer Zeile. Während die Di�erenzenbei falscher Zuordnung systematische Abweichungen aufweisen, tritt bei korrek-ter Zuordnung nur eine leichte Streuung der Werte um einen Mittelwert auf9.Nachdem Sie auf diese Art für den ersten angeregten Schwingungszustand eineZuordnung gefunden haben, verfahren Sie mit den Daten in den Spalten sechsund vier ebenso und speichern Sie die Di�erenzen in Spalte fünf.

In der Tabelle stehen nunmehr die Wellenzahlen der drei Übergänge mitgleicher Quantenzahl v′ in einer Zeile. Ohne weitergehende Informationen ist esaber nicht möglich, eine absolute Zuordnung zu bestimmten v′-Werten vorneh-men. Um dies zu erreichen, müssen Literaturdaten hinzugezogen werden. AusUntersuchungen von Isotopene�ekten [4] ergibt sich, dass der Bande bei etwa18470 cm−1 der Wert v′ = 27 zuzuordnen ist. Mit dieser zusätzlichen Informa-tion können die v′-Quantenzahlen ermittelt und in die erste Spalte der Tabelle

9Eine starke Abweichung eines einzelnen Messwertes deutet darauf hin, dass ein Fehler beider Ablesung der Wellenzahl gemacht wurde.

Tabelle 2: Beispiel für eine Deslandre-Tabelle. Die Daten wurden einer früherenUntersuchung entnommen [3].

v′ v′′ = 0 ∆ν v′′ = 1 ∆ν v′′ = 2 ∆G(v′) ∆G(v′) ∆G(v′)...

......

......

......

......

17 17612 213 17399 212 17187 97 97 9718 17706 213 17493 212 17281 94 94 9419 17799 213 17586 212 17374 93 93 93...

......

......

......

......

67

Page 68: Physikalisch-Chemisches Praktikum II

Abbildung 4.13: Zur Erklärung der Deslandre-Tabelle.

eingetragen werden.Um die Deslandre Tabelle zu vervollständigen, fügen Sie anschlieÿend noch

drei Spalten hinzu, in denen für jedes v′′ die Di�erenzen ∆G(v′) = G(v′ + 1)−G(v′) berechnet werden. Diese Werte sind für die Auswertung nach Birge undSponer nötig. Die Deslandre-Tabelle ist Teil des Protokolls.

Bestimmung der Parameter für den angeregten Zustand Für die Be-stimmung von ωe und ωexe des elektronisch angeregten Zustandes müssen nachGleichung (4.42) die Werte von ∆G(v′) gegen v′+1/2 aufgetragen und anschlie-ÿend einer linearen Regression unterworfen werden. Dies kann im Prinzip füralle drei beobachteten Schwingungsprogressionen getrennt durchgeführt werden.Man kann aber auch direkt die ∆G(v′)-Werte aller drei Progressionen in einemDiagramm auftragen und dann eine Regression für alle Datenpunkte gleichzeitigdurchführen. Stellen Sie dazu eine neue Tabelle auf, die alle Werte von ∆G(v′)mit den zugehörigen Werten von v′ + 1/2 hintereinander enthält. Tragen Siedann diese Daten in einem Diagramm auf und führen Sie eine lineare Regressi-on durch. Ermitteln Sie gemäÿ Gleichung 4.42 aus der Steigung und dem Ach-senabschnitt die Parameter ω′e und ω

′ex′e und berechnen Sie anschlieÿend unter

Verwendung von (4.46), (4.37), (4.34) und (4.32) die Dissoziationsenergien D′0und D′e (siehe Abbildung 4.14), den Morse-Parameter β′ und die Kraftkonstanteder Bindung k′ .

Bestimmung der Parameter für den Grundzustand Für den elektro-nischen Grundzustand ist eine Auswertung gemäÿ der Birge-Sponer-Methodenicht möglich, da zu wenige Schwingungsniveaus beobachtet werden. Um den-noch eine Abschätzung von ω′′e und ω

′′ex′′e zu erhalten wird folgendes vereinfachte

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Page 69: Physikalisch-Chemisches Praktikum II

Abbildung 4.14: Potentialkurven des Iodmoleküls.

Verfahren gewählt: Berechnet man gemäÿ Gleichung (4.41) bei festem v′ die Dif-ferenz der Wellenzahlen ∆ν(v′′) = G(v′′ + 1)−G(v′′) für v′′ = 0 und v′′ = 1, soergibt sich:

∆ν(0) = ω′′e − 2ω′′ex′′e und ∆ν(1) = ω′′e − 4ω′′ex

′′e (4.60)

Hieraus lassen sich ω′′e und ω′′ex′′e berechnen gemäÿ:

ω′′e = 2∆ν(0)−∆ν(1) und ω′′ex′′e =

1

2[∆ν(0)−∆ν(1)] (4.61)

Die benötigten Werte von ∆ν(0) und ∆ν(1) wurden in den Spalten drei undfünf der Deslandre-Tabelle berechnet. Bilden Sie die Mittelwerte dieser Datenund verwenden Sie diese dann in Gleichung (4.61).

Während ω′′e auf diese Art in guter Näherung bestimmt werden kann, ist derWert für ω′′ex

′′e aufgrund der zu geringen Zahl experimenteller Daten in der Regel

sehr ungenau. Aus diesem Grund kann die Dissoziationsenergie des Grundzu-standes nicht auf die gleiche Art bestimmt werden, wie im Fall des elektronischangeregten Zustandes, sondern es muss ein Umweg gegangen werden (s.u.).

Bestimmung von Te und D′′e Im nächsten Schritt soll zunächst die GröÿeT0 bestimmt werden, welche als Di�erenz der Energien der Schwingungsgrund-niveaus der beiden elektronischen Zustände de�niert ist. Siehe dazu Abbildung

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Page 70: Physikalisch-Chemisches Praktikum II

4.14. Dies ist bei Kenntnis von ω′e und ω′ex′e auf einfache Weise möglich, indem

man die Schwingungsenergie, welche sich gemäÿ Gleichung (4.33) berechnenlässt, von der beobachteten Anregungsenergie eines beliebigen Überganges mitv′′ = 0 subtrahiert:

T0 = v(v′ = n)−{G′(n)−G′(0)} = v(v′ = n)−ω′en+ω′ex′en(n+ 1) (4.62)

Führen Sie dies für alle Übergänge mit v′′ = 0 durch. Bestimmen Sie darausden Mittelwert von T0. Te, die Di�erenz zwischen den Energieminima der beidenbetrachteten Potentialkurven, ergibt sich dann gemäÿ (siehe Abbildung 4.14):

Te = T0 −1

2ω′e +

1

4ω′ex

′e +

1

2ω′′e −

1

4ω′′ex

′′e (4.63)

Addiert man zu T0 den Wert von D′0, so erhält man die Gesamtenergie, diezur Dissoziation des elektronisch angeregten Zustandes ausgehend vom Null-niveau der Schwingung des elektronischen Grundzustandes benötigt wird. InAbbildung 4.14 wurde diese mit E∗ bezeichnet. Bei der Dissoziation wird einIodatom im Grundzustand 2P 3

2und eines im angeregten Zustand 2P 1

2gebil-

det, während bei der Dissoziation von I2 im Grundzustand zwei Iodatome im2P 3

2-Zustand entstehen. Die Energiedi�erenz zwischen diesen zwei Arten von

Dissoziationsprodukten entspricht genau der Anregungsenergie eines Iodatomsfür den Übergang 2P 1

2← 2P 3

2(E(I∗) in Abbildung 4.14). Der Literaturwert für

diese Anregungsenergie beträgt 7589 cm−1 [3]. Wie die Abbildung zeigt lässtsich nunmehr nach der Art eines Born-Haber-Kreisprozesses die Dissoziations-energie des Grundzustandes von I2 bestimmen, indem man von der Summe vonT0 und D′0 die Anregungsenergie E(I∗) subtrahiert. Anschlieÿend kann unterVerwendung der bereits bekannten Parameter ω′′e und ω′′ex

′′e die Dissoziations-

energie D′′e ermittelt werden. Da der quadratische Term des Morsepotentialshierbei nur einen sehr geringen Beitrag liefert, spielt der groÿe Fehler, mit demdieser behaftet ist, hier nur eine untergeordnete Rolle. Gleiches gilt auch für dieelektronische Anregungsenergie Te. Berechnen Sie abschlieÿend mit Hilfe vonD′′e und ω

′′e die Parameter β

′′ und k′′ für das Morsepotential des elektronischenGrundzustandes.

Berechnung von r′e−r′′e Ein weiterer wichtiger Parameter, der aus den spek-troskopischen Daten zumindest näherungsweise abgeleitet werden kann, ist dieDi�erenz der Gleichgewichtsabstände der beiden untersuchten Elektronenzu-stände, r′e − r′′e . Wie im Abschnitt über das Franck-Condon-Prinzip dargelegtwurde, erwartet man die höchste Intensität innerhalb einer Schwingungsstruk-tur für diejenige Schwingung, deren Energie dem Schnittpunkt zwischen einervertikalen Linie, welche vom Maximum der Grundzustandswellenfunktion aus-geht, mit der Potentialkurve des angeregten Zustandes. Diese Situation ist inAbbildung 4.15 dargestellt. Aus der Abbildung kann man weiterhin ablesen,dass sich die Anregungsenergie des Überganges maximaler Intensität auch ausder elektronischen Anregungsenergie T0, der Nullpunktsenergie der Schwingungim angeregten Zustand und dem Wert der Morse-Funktion am oben beschrie-

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Page 71: Physikalisch-Chemisches Praktikum II

Abbildung 4.15: Zur Bestimmung der Di�erenz der Gleichgewichtsab-stände zweier elektronischer Zustände unter Verwendung des Franck-Condon-Prinzipes.

benen Schnittpunkt berechnen lässt, wenn r′e− r′′e bekannt ist. Es ergibt sich10:

νmax = T0 −ω′e2

+ω′ex

′e

4+D′e

(1− e−β′(r′′e−r′e)

)2

(4.64)

Umgekehrt kann man aber auch die Wellenzahl der Bande höchster Intensitätverwenden, um daraus die Di�erenz der Gleichgewichtsabstände zu bestimmen.Löst man nämlich Gleichung (4.64) nach r′e − r′′e auf, ergibt sich:

r′e − r′′e ≈1

β′ln

√νmax − T0 + ω′e

2− ω′ex

′e

4

D′e

(4.65)

Bestimmen Sie also nunmehr den intensivsten Übergang im Spektrum und be-rechnen Sie aus der Wellenzahl dieses Überganges und den bereits bekannten

10Genau genommen müsste man hier berücksichtigen, dass das Maximum der Schwingungs-wellenfunktion des Grundzustandes nicht bei r′′e auftritt, sondern geringfügig zu gröÿerem Ab-stand verschoben (siehe dazu Abbildung 4.6 ). Die dadurch entstehende Korrektur ist jedochgegenüber den Ablesefehlern vernachlässigbar.

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Page 72: Physikalisch-Chemisches Praktikum II

Parametern D′e und β′ unter Verwendung von Gleichung (4.65) die Di�erenz der

Gleichgewichtsabstände. r′′e besitzt gemäÿ der Literatur einen Wert von 2.666 Å[5]. Berechnen Sie daraus r′e und die Rotationskonstante B′ des angeregten Zu-standes.

Morse-Kurven Mit den Werten für β′ und β′′, D′e und D′′e und r

′e − r′′e sind

die Morse-Potentiale der beiden elektronischen Zustände vollständig bestimmt.Zeichnen Sie diese Kurven entweder mit einem geeigneten Programm11 oderper Hand (Wertetabelle, Millimeterpapier!). Tragen Sie dabei beide Kurven ineinem Diagramm auf und wählen Sie als Nullpunkt der x-Achse den Gleichge-wichtsabstand des elektronischen Grundzustandes, re. Auf der y-Achse soll nurdie jeweilige Schwingungsenergie aufgetragen werden soll, d.h. die Minima derbeiden Kurven liegen beide bei 0 cm−1.

Rotationsfeinstruktur Diskutieren Sie abschlieÿend das hochaufgelösteSpektrum der Bande bei 16784 cm−1. Beachten Sie dabei, dass die Rotati-onsstruktur nicht vollständig aufgelöst werden kann. Dennoch sind einige wich-tige Charakteristika von Rotationslinien in Elektronenspektren, wie z.B. dieBandenkopfbildung zu erkennen. Liegt der Bandenkopf am langwelligen oderam kurzwelligen Ende der Rotationsstruktur? Was lässt sich daraus bezüglichder Veränderung der Bindungslänge beim elektronischen Übergang aussagen?Stimmt die Lage der Potentialkurven in Abbildung 4.14 damit überein?

4.6 Im Text zitierte Literatur

[1] G. Wedler, Lehrbuch der Physikalischen Chemie, 4. Au�age, Wiley-VCH1997.

[2] P. W. Atkins, J. de Paula, Physikalische Chemie, 4. Au�age, Wiley-VCH2006 1996.

[3] I. J. McNaught, J. Chem. Educ. 57, 101 (1980).

[4] R. I. Brown, T. C. James, J. Chem. Phys. 42, 25 (1965).

[5] G. Herzberg, Molecular Spectra and Molecular Structure, van Nostrand, NewYork 1950.

11Z.B. �Crispy Plotter�, welches kostenfrei erhältlich ist unter:http://sourceforge.net/projects/cplotter/

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Page 73: Physikalisch-Chemisches Praktikum II

5 Elektrodenkinetik � Polarographie

5.1 Grundlagen

� Elektrochemisches Potential

� Helmholtzschicht, Nernstschicht

� Überspannung allgemein, Durchtrittsüberspannung, Butler-Vollmer Glei-chung, Tafel-Diagramm

� Di�usion, Ficksche Gesetze, Di�usionsüberspannung, Grenzstromdichte

� Polarographie, polarographische Stufe, Halbstufenpotential, inverse Po-larographie

5.2 Literatur

Grundlagen

� Wedler, Kapitel 2.7.6, 2.8, 6.8 und 6.9.2.

� Atkins, Kapitel 7.3, 7.4 und 25.4 (4. Au�age).

� C. H. Hamann, W. Vielstich, Elektrochemie, 3. Au�age, Verlag Chemie1998. Kapitel 3, Kapitel 4 und 10.2.1.

Weiterführend

� J. O'M. Bockris, A. K. Reddy, Modern Electrochemistry, 3 Bände,Springer-Verlag, 1998 � 2001.

� A. J. Bard, L. R. Faulkner, Elektrochemical Methods, 2. Au�age, JohnWiley & Sons 2001.

� J. Heyvrovsky, J. Kutta, Grundlagen der Polarographie, Akademie VerlagBerlin 1965.

5.3 Theoretischer Teil

Grundlagen

Für eine Metallelektrode, die mit einer umgebenden Metallsalzlösung im rever-siblen Gleichgewicht steht, gilt:

µ∗Mez+(Me) = µ∗Mez+(Lös) µ∗i : elektrochem. Potential (5.1)

Die zugehörige Halbzellenreaktion lautet:

Me � Mez+ + ze− (5.2)

Die elektrochemischen Potentiale innerhalb beider Phasen setzen sich jeweilsaus dem chemischen Potential µi und dem elektrischen Potential φ zusammen

µ∗Mez+ = µMez+ + φzF , (5.3)

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Page 74: Physikalisch-Chemisches Praktikum II

Abbildung 5.1: Helmholtz-Modell der elektrochemischen Doppelschicht.

wobei F für die Faraday-Konstante steht.Die elektrischen Potentiale im Innern der Phasen werden als Galvanipoten-

tiale bezeichnet. Die Galvanispannung einer Halbzelle ist die Di�erenz der sichim Gleichgewicht einstellenden Galvanipotentiale:

∆φ = φ(Me)− φ(Lös) (5.4)

Be�ndet sich das System im reversiblen Gleichgewicht (d.h. bei einem Netto-Strom�uss von Null), so bezeichnet man die resultierende Galvanispannung alsGleichgewichts-Galvanispannung ∆φrev.

Der Potentialabfall bzw. -anstieg zwischen φ(Me) und φ(Lös) erfolgt haupt-sächlich in der Helmholtzschicht in unmittelbarer Nähe der Elektrodenober�ä-che. Im vorliegenden Fall kann die Phasengrenze zwischen Elektrode und Lösungnäherungsweise als Plattenkondensator, bestehend aus der negativ geladenenElektrode und positiv geladenen Metallionen in der Lösung, angenommen wer-den (Abb. 5.1). Die Schicht der solvatisierten Metallionen wird als Helmholtz-schicht bezeichnet, beide geladene Schichten zusammen bilden die elektroche-mische Doppelschicht. In diesem Modell der starren Doppelschicht besitzen dieMetallionen einen de�nierten Abstand zur Elektrode, der durch die Gröÿe derSolvathülle bestimmt wird. Zu detaillierteren Modellen der elektrochemischenDoppelschicht (innere und äuÿere Helmholtzschicht, Gouy-Chapman-Modell derdi�usen Doppelschicht, Stern-Modell) sei auf die weiterführende Literatur ver-wiesen. Die Konzentrationsabhängigkeit der Gleichgewichts-Galvanispannungwird durch die Nernstsche Gleichung beschrieben:

∆φrev = ∆φ−◦ +RT

zFlnaMez+(Lös)aMe (Me)

(5.5)

wobei ∆φ−◦ die Standard-Galvanispannung ist.

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Page 75: Physikalisch-Chemisches Praktikum II

Die Aktivität des Metalls in der Metallelektrode wird zu eins gesetzt, so dasssich die vereinfachte Gleichung

∆φrev = ∆φ−◦ +RT

zFln aMez+(Lös) (5.6)

ergibt. Die Standard-Galvanispannung ∆φ−◦ ist über die Freie Standardreakti-onsenthalpie der zugehörigen Halbzellenreaktion de�niert:

∆φ−◦ = −∆G−◦

zF(5.7)

Das Galvanipotential φ(Me) der Metallelektrode ist über die Potentialdi�erenzzu einer Referenzelektrode mit bekanntem Galvanipotential in derselben Lö-sung messbar. Handelt es sich bei der Referenzelektrode um die Standard-Wassersto�elektrode, für die per De�nition ∆φ−◦ = 0) gilt, so wird diese Po-tentialdi�erenz oft als Elektrodenpotential E bezeichnet, und es ergibt sich diebekannte Form der Nernstschen Gleichung

E = E−◦ +RT

zFln aMez+(Lös) (5.8)

wobei E−◦ das Standard-Elektrodenpotential (für aMez+(Lös) = 1 und Standard-bedingungen) ist.

Be�ndet sich die Metallelektrode im Gleichgewicht, laufen Reduktion undOxidation in gleicher Geschwindigkeit ab, so dass sich kein Nettostrom ergibt.Für das Flieÿen eines Nettostromes über die Phasengrenze Metall � Lösung isteine Überspannung η erforderlich, die als Di�erenz zwischen der beobachtetenGalvanispannung ∆φ und der Gleichgewichts-Galvanispannung ∆φrev (= Di�e-renz zwischen tatsächlichem Potential und Gleichgewichts-Elektrodenpotential)der Elektrode de�niert ist:

η = ∆φ−∆φrev (5.9)

Diese für einen Netto-Strom�uss erforderliche Überspannung hat ihre Ursachein gehemmten Prozessen im Rahmen der Reduktions- oder Oxidationsreaktionwie

� gehemmter Durchtritt von Reaktanden durch die Helmholtzschicht(Durchtrittsüberspannung ηD)

� gehemmter Transport von Reaktanden durch die Nernstschicht zur Elek-trodenober�äche (Di�usionsüberspannung ηl )

� vor- oder nachgelagerte gehemmte chemische Reaktionen

� gehemmte Metallabscheidungsprozesse.

Zusätzlich ist zu beachten, dass auch die Lösung zwischen den beiden Elektrodeneiner vollständigen galvanischen Zelle einen Transportwiderstand darstellt.

Die für einen Strom�uss notwendige Überspannung wird durch das Anlegeneiner äuÿeren Spannung zwischen der zu untersuchenden Arbeitselektrode und

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Page 76: Physikalisch-Chemisches Praktikum II

einer Gegenelektrode in einer Dreielektroden-Anordnung aus Arbeitselektrode,Gegenelektrode und Referenzelektrode erreicht. Es resultiert ein Strom�uss zwi-schen Arbeits- und Gegenelektrode. Die Messung des Potentials der Arbeits-elektrode jedoch erfolgt gegenüber der (nicht von einem Strom durch�ossenen)Referenzelektrode. Dies hat den Grund, dass sich aufgrund des Strom�ussesnicht nur das Potential der Arbeitselektrode, sondern auch das der Gegenelek-trode verändert. Das Potential der Referenzelektrode bleibt jedoch konstant.Da die Standard-Wassersto�elektrode nicht einfach zu handhaben ist, werdenals Referenzelektroden Festkörperelektroden mit sehr stabilem und de�niertemPotential, z.B. Kalomelelektroden oder Silber/Silberchlorid-Elektroden verwen-det. Die Einstellung von bestimmten Potentialen an der Arbeitselektrode erfolgtmit einem so genannten Potentiostaten. Dieser regelt die Spannung zwischenArbeits- und Gegenelektrode und den daraus resultierenden Strom�uss durchdie Arbeitselektrode so, dass diese ein bestimmtes Potential gegenüber der Re-ferenzelektrode und somit eine bestimmte Überspannung erreicht.

Durchtrittsüberspannung und Di�usionsüberspannung treten mehr oder we-niger ausgeprägt in jeder elektrochemischen Zelle auf und spielen auch bei derPolarographie eine Rolle. Sie werden daher im Folgenden ausführlich behandelt.

Durchtrittsüberspannung

Unabhängig davon, wie genau der Ladungsdurchtritt an der Elektrode erfolgt,kann er als gehemmter Prozess betrachtet werden, für den eine Freie Aktivie-rungsenthalpie ∆G‡ angesetzt werden kann, wobei sie in der Regel für den an-odischen und den kathodischen Schritt unterschiedlich sein wird. Zum Beispielmuss zur Abscheidung von Metallen die Hydrathülle der Metallionen aufge-brochen werden, damit diese direkt zur Elektrodenober�äche gelangen können.Durch den Gradienten des elektrischen Feldes im Bereich der Helmholtzschichtergeben sich dort zwei verschiedene Potentialverläufe, einer für das chemischePotential und einer für das elektrische Potential, die beide Ein�uss auf die Ki-netik des Ladungsdurchtritts haben

Wie Abb. 5.2 zu entnehmen ist, setzt sich die Freie Aktivierungsenthal-pie ∆G−◦

‡ eines kathodischen oder anodischen Prozesses jeweils aus der FreienStandard-Aktivierungsenthalpie ∆G−◦ und dem Beitrag des elektrischen Feldeszusammen. Letzterer wird wesentlich durch den räumlichen Abstand des Über-gangszustandes von der Elektrodenober�äche bestimmt, der im Durchtrittsfak-tor α (0 < α < 1) zum Ausdruck kommt:

∆G‡k = ∆Gk−◦ ‡ + (1− α)zF∆φ kathodisch

∆G‡a = ∆Ga−◦ ‡ − αzF∆φ anodisch

(5.10)

Meistens werden für α Werte um 0.5 gefunden, was bedeutet, dass der Über-gangszustand etwa in der Mitte der Helmholzschicht liegt. Für Übergangszu-stände nahe an der Elektrodenober�äche, was Werten von α nahe null ent-spricht, wird ∆G‡a nahezu unabhängig von ∆φ. Für ∆G‡k ist dies für Werte vonα nahe eins der Fall.

Mit den Gleichungen für die Freien Aktivierungsenthalpien kann im Rahmeneines Ansatzes von Arrhenius ein Ausdruck für die resultierende Stromdichte

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Page 77: Physikalisch-Chemisches Praktikum II

Abbildung 5.2: Zusammensetzung der Freien Aktivierungsenthalpie bei Elek-trodenprozessen. Aus G. Wedler, Lehrbuch der Physikalischen Chemie.

als Funktion der Durchtrittsüberspannung ηD, die Butler-Vollmer-Gleichung,hergeleitet werden:

i = i0

[exp

(αzF

RTηD

)− exp

(−(1− α)zF

RTηD

)](5.11)

Die Austauschstromdichte i0 entspricht dem Betrag des anodischen und des ka-thodischen Stromes im Gleichgewicht, wo beide Ströme gleich groÿ sein müssen.Sie ist die entscheidende Gröÿe für die Charakterisierung der Polarisierbarkeitvon Elektroden. i0 variiert zwischen einigen A/cm2 (Ag -Abscheidung an Ag)und 10−12 A/cm2 im Fall der Wassersto�abscheidung an Hg , was gerade fürdie Polarographie von Bedeutung ist, da so die Benutzung von Hg -Elektrodenin wässrigen Lösungen auch bei sehr negativen Potentialen möglich wird, ohnedass es zu einer merklichen Reduktion des Lösungsmittels kommt. Abb. 5.3 zeigtdie mit der Butler-Vollmer-Gleichung berechneten i-ηD-Kurven für verschiedeneAustauschstromdichten.

Die Bestimmung von i0 und α für eine bestimmte elektrochemische Reaktionerfolgt anhand der Tafel-Geraden (Abb. 5.4). Hierbei wird die Butler-Volmer-Gleichung logarithmiert und log |i| gegen η aufgetragen. Mit Ausnahme desBereiches sehr kleiner Überspannungen ergibt sich ein linearer Verlauf. Aus derSteigung im linearen Bereich kann α ermittelt werden, und Extrapolation zurOrdinatenachse ergibt log i0.

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Abbildung 5.3: Nach der Butler-Vollmer Gleichung berechnete i−ηD-Kurvenfür (a)i0 = 10−3A cm−2, (b) i0 = 10−6A cm−2, (c) i0 = 10−9A cm−2. AndereParameter: α = 0.5, n = 1, T = 298K. Aus: A. J. Bard, L. R. Faulkner, Electro-chemical Methods.

Abbildung 5.4: Tafel-Plots für eine elektrochemische Reaktion mit i0 =10−6Acm−2, α = 0.5 , n = 1 , T = 298 K. Aus: A. J. Bard, L. R. Faulk-ner, Electrochemical Methods.

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Page 79: Physikalisch-Chemisches Praktikum II

Di�usionsüberspannung

Wie Abb. 5.3 zeigt, steigt die Stromstärke mit der Überspannung jenseits einesbestimmten Schwellenwertes stark an. Obwohl nun die Durchtrittshemmungkeinen groÿen Widerstand mehr bei der Sto�abscheidung darstellt, sind jedochkeine beliebig groÿen Werte für i erreichbar. In Elektrodennähe verarmt dieElektrolytlösung nach kurzer Zeit an Reaktanden. Es bildet sich eine Schicht miteinem Konzentrationsgradienten, die Nernstsche Di�usionsschicht aus (Abb.5.5).

Abbildung 5.5: Konzentrationsverteilung bei der Abscheidung eines elektro-chemisch aktiven Sto�es der Ausgangskonzentration c0 in ruhendem Elektroly-ten. Aus: Hamann/Vielstich, Elektrochemie, 3. Au�age, VCH 1998.

Der Konzentrationsgradient sorgt nach dem 1. Fickschen Gesetz für die Dif-fusion von weiteren Reaktanden in Richtung Elektrodenober�äche. Die Dickeder Di�usionsschicht ist von der Stromdichte, der Konzentration der Elektro-lytlösung und davon abhängig, ob und wie stark die Lösung gerührt wird. Fälltdie Elektrolytkonzentration bei hohen Überspannungen und entsprechend hohenStromdichten an der Elektrodenober�äche auf Null ab, so wird die elektroche-mische Reaktion allein durch die Di�usion von Reaktanden zur Elektrodenober-�äche aufrecht erhalten. Gleichzeitig erreichen der Konzentrationsgradient undsomit der Di�usionsstrom zur Elektrodenober�äche ihren maximalen Wert, dernicht weiter überschritten werden kann. Die Stromdichte erreicht somit einenGrenzwert trotz weiterer Steigerung der Überspannung, den Di�usionsgrenz-strom iD. Abb. 5.6 zeigt die i�η-Kennlinie bei Überlagerung von Durchtritts-und Di�usionshemmung. Die Grenzstromdichten −il und +il hängen linear vonder Konzentration der Metallionen ab. Die in der Abbildung sichtbare �Stu-fe� zwischen −il und +il kann daher in der Polarographie zur Ermittlung derKonzentration eines Depolarisators (= Metall-Kationen) dienen. Die Art des

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Page 80: Physikalisch-Chemisches Praktikum II

Depolarisators ergibt sich aus dem Potential, bei dem die Stufe auftritt, dennbei diesem handelt es sich ja um das Gleichgewichtspotential der entsprechendenHalbzellenreaktion.

Abbildung 5.6: Stromdichte-Überspannungskurven für die Reaktion Ox +ne � Red mit α = 0.5, n = 1, T = 298K, il,c = −il,a und i0/il = 0.2. Aus:Bard/Faulkner, Electrochemical Methods.

Tastpolarographie

Bei der Tastpolarographie wird mit einer Quecksilberelektrode ein bestimm-ter Potentialbereich abgefahren, um die polarographischen Stufen der in einerLösung enthaltenen Metallkationen zu erfassen und aus den Stufenhöhen Rück-schlüsse auf die Konzentration der Metallkationen zu ziehen. Um trotz Me-tallabscheidung die Elektrodenreinheit der Quecksilberelektrode zu bewahren,wird bei der Polarographie mit einer tropfenden Quecksilber-Elektrode gearbei-tet. Die Quecksilbertropfen, die die Elektrode bilden, vergröÿern sich hierbeiständig aufgrund eines konstanten Hg -Massenstromes. In regelmäÿigen Zeitab-ständen erfolgt das Abschlagen des Quecksilbertropfens, und ein neuer Queck-silbertropfen beginnt zu wachsen. Auf diese Weise wird die Elektrode ständigerneuert.

Zur Auswertung der Polarogramme muss der Zusammenhang zwischen demDi�usionsgrenzstrom il und der Konzentration der Metallkationen c0 bekanntsein. Eine anschauliche Herleitung des Grenzstromphänomens basiert, wie er-wähnt, auf dem 1. Fickschen Gesetz. Dieser Ansatz ist allerdings für die theo-retische Beschreibung der Vorgänge, die bei der Polarographie ablaufen, zu un-genau, da die Nernstsche Di�usionsschicht während der Lebensdauer eines Hg-Tropfens in die Lösung hineinwächst (siehe Abb. 5.5). Für zeitlich instationäre

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Page 81: Physikalisch-Chemisches Praktikum II

Di�usionsvorgänge gilt das 2. Ficksche Gesetz :

∂c

∂t= D

∂2c

∂x2(5.12)

D: Di�usionskoe�zientx: Abstand von der Elektrodec: Konzentration des Depolarisators

Um diese partielle Di�erentialgleichung 2. Ordnung lösen zu können, müssendie Randbedingungen bekannt sein:

t = 0 x ≥ 0 c = c0

t > 0 x→∞ c = c0

x = 0 c = cs

c0: Konzentration in der Lösungcs: Konzentration an der Elektrodenober�äche

Als Lösung ergibt sich:

c(x, t) = (c0 − cs) erf(

x√4DT

)(5.13)

erf(x) bezeichnet die Fehlerfunktion, deren Wert mathematischen Tabellenwer-ken zu entnehmen ist. Für kleine x vereinfacht sich die obige Gleichung zu:

c(x, t) = (c0 − cs)2x√

4πDT(5.14)

Diese Gleichung beschreibt den Verlauf der in Abb. 5.5 dargestellten Kon-zentrationspro�le, mit deren Hilfe sich die Zeitabhängigkeit des Di�usionsgrenz-stromes il herleiten lässt:

il = 4πr2zF

√D

πc0t− 1

2 (5.15)

Nach Berücksichtigung der durch den Hg -Aus�uss bedingten Variation desTropfenradius (r ist zeitabhängig) folgt die Ilkovic-Gleichung :

il = 4π

(3m

4πρHg

) 23

zF

√D

πc0 t

16 (5.16)

m : Hg-MassenstromρHg : Dichte von HgD : Di�usionskoe�zient des Metallkations

Der Abscheidungsstrom während der polarographischen Analyse sinkt mit t−1/2

(vorletzte Gleichung), steigt jedoch mit t2/3 durch die Ober�ächenvergröÿerungdes Hg-Tropfens, was insgesamt zu einem Anstieg mit il ∝ t1/6 führt. Eine

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Page 82: Physikalisch-Chemisches Praktikum II

detaillierte Herleitung der Ilkovic-Gleichung �ndet sich in: Hamann/Vielstich:Elektrochemie (Ausgabe von 1981, Band II, Kapitel 1.3.3 und 2.2.2.2).

Wichtig an der Ilkovic-Gleichung ist vor allem der direkte lineare Zusam-menhang zwischen Di�usionsgrenzstrom il und Lösungskonzentration c0. Daherlässt sich leicht eine Konzentrationsbestimmung der Metallkationen aus der Hö-he der polarographischen Stufen durchführen.

Es ist noch ein weiteres Phänomen zu berücksichtigen, welches sich aus derVerwendung einer Hg-Tropfelektrode ergibt: Neben dem bisher betrachtetenDi�usionsgrenzstrom il, bei dem es sich um einen Faradayschen Strom, also umeinen Strom mit einem Sto�umsatz an der Elektrodenober�äche handelt, trittaufgrund der innerhalb eines Hg -Tropfenlebens wachsenden Elektrodenober�ä-che ein kapazitiver Strom auf. Dieser ergibt sich durch Au�adung der elektro-chemischen Doppelschicht. Über die Wachstumszeit eines Hg -Tropfens ergibtsich für beide Ströme das in Abb. 5.7 dargestellte Bild. Da nur der FaradayscheStrom die Information über die Depolarisatorkonzentration liefert, ist es ambesten, den �ieÿenden Strom am Ende des Tropfenlebens (tE) aufzuzeichnen.In der Tastpolarographie wird die Stromstärke daher jeweils nur in den letzten100 ms eines Tropfenlebens gemessen.

Abbildung 5.7: Zeitliche Änderung des Faradayschen Stromes und des kapa-zitiven Stromes während eines Hg -Tropfenlebens.

Inverse Polarographie (engl.: anodic stripping voltammetry)

Um Lösungen mit Kationenkonzentrationen von 10−10 − 10−11mol/l (d.h. im'sub-ppb'-Bereich) analysieren zu können, wird zunächst der Depolarisator(Mez+) in einem hängenden Hg -Tropfen durch kathodische Abscheidung an-gereichert. Hierzu wird ein Potential an die Hg -Tropfelektrode angelegt, dasnegativer ist als das Gleichgewichtspotential des Redoxpaares Me/ Mez+ (ent-spricht dem bei der Polarographie so genannten Abscheidungspotential EP ).

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Page 83: Physikalisch-Chemisches Praktikum II

Mez+ wird zum Metall Me reduziert, und es bildet sich ein Amalgamtropfen mitbestimmter Depolarisatorkonzentration, die von der Konzentration des Depola-risators in der Lösung abhängt. Die Anreicherung erfolgt zunächst unter Rührender Lösung (Abb. 5.8a), dann ohne Rühren (Abb. 5.8b). Wird nun das Potenti-al der Hg -Elektrode kontinuierlich erhöht (Abb. 5.8c), so wird irgendwann dasGleichgewichtspotential bzw. Abscheidungspotential erreicht, was dazu führt,dass das im Hg -Tropfen enthaltene Metall Me wieder zu Metallionen Mez+, diein die Lösung übergehen, oxidiert wird. Bei diesem Potential wird daher eineanodische Stromspitze (iP ) registriert.

Das schnelle Durchfahren der Potentialrampe in positive Richtung ergibteine i-t-Kurve, die mit dem folgenden Modell erklärt werden kann: Zu Beginnist die Metallkonzentration im Hg -Tropfen örtlich konstant. Bei Annäherungan EP setzt die Metalloxidation an der Ober�äche des Hg -Tropfens ein, de-ren Geschwindigkeit durch die Di�usion der Metallatome im Hg -Tropfen zurElektrodenober�äche kontrolliert ist.

Abbildung 5.8: Prinzip der Inversen Polarographie. Die verwendeten Poten-tiale entsprechen denen einer typischen Cu2+ Analyse. (a) Präelektrolyse beiEd; gerührte Lösung. (b) Ruheperiode, Rührer ausgeschaltet. (c) AnodischerScan, v = 10− 100mV/s Aus: Bard/Faulkner Electrochemical Methods.

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Page 84: Physikalisch-Chemisches Praktikum II

Im Hg -Tropfen bildet sich für die Metallatome ein Konzentrationspro�l aus,ähnlich dem in Abb. 5.5. Auf dieses (sphärische) Di�usionsproblem ist das 2.Ficksche Gesetz anzuwenden. Es ergibt sich folgender Zusammenhang für iP :

ip = f(DMe, ν, r0)cMe (5.17)

DMe: Di�usionskoe�zient von Me in Hgν: Rampengeschwindigkeit (V/s)cMe: Konzentration von Me in Hgr0: Tropfenradius

Werden konstante Anreicherungsbedingungen gewählt, so ist cMe und daherauch ip proportional zur Lösungskonzentration. Mit einer Eichmessung kannbei konstanten Arbeitsbedingungen somit die unbekannte Konzentration vonMez+ in einer Lösung bestimmt werden.

5.4 Versuchsdurchführung

Aufgaben

1. Für Zn2+-Lösungen soll die Ilkovic-Gleichung bestätigt werden (linearerZusammenhang zwischen IF und cZn ). Hierzu sind im Konzentrationsbe-reich von 10−3�10−5 mol/L die Tastpolarogramme (DCT) von mindestens4 verschiedenen Lösungen aufzunehmen. Anschlieÿend ist die Stufenhö-he (umgerechnet in i) gegen die Konzentration aufzutragen. Es wird eineUrsprungsgerade erwartet (kein Strom bei c = 0); beziehen Sie also denNullpunkt mit in die Auswertung ein !

Anschlieÿend soll die Zn2+-Konzentration einer unbekannten Lösung mitHilfe der zuvor erstellten Eichgerade ermittelt werden.

2. Es ist eine qualitative Wasseranalyse mit der inversen Polarographieme-thode durchzuführen. Hierfür kann auch eine Wasserprobe (Leitungswas-ser) von zu Hause mitgebracht werden.

Die Elemente Cd, Cu, Pb und Zn sind quantitativ durch 'Aufstocken' zuanalysieren. Hierbei wird die unbekannte Metallionenkonzentration durchZugabe von 100 µl einer 10−5�10−6 molaren Lösung mit exakt bekannterKonzentration (auf dem Fläschchen angegeben) erhöht. Der Strompeak(iP in Abb. 5.8) erhöht sich entsprechend, da ein linearer Zusammenhangzwischen iP und cMe besteht.

Versuchsaufbau

Das im Praktikum eingesetzte Gerät der Firma Metrohm besteht aus einemPolarographen mit Schreiber und dem Elektrodenstand, dessen Aufbau sche-matisch in Abbildung 5.9 wiedergegeben ist. Das Quecksilber �ieÿt aus ei-nem Vorratsgefäÿ in die Kapillare und bildet an deren Ende Tropfen. DerVortrieb des Quecksilbers und somit die Geschwindigkeit der Tropfenbildungwird durch ein elektrisches Ventil gesteuert. Auÿerdem verfügt das Gerät über

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Page 85: Physikalisch-Chemisches Praktikum II

einen Mechanismus mittels dessen der Quecksilbertropfen mechanisch von derKapillarenö�nung abgeschlagen werden kann. Die Quecksilber-Tropfelektrodeist die Arbeitselektrode. Darüber hinaus wird mindestens eine zweite Elektro-de benötigt, um den Stromkreis zu schlieÿen und auÿerdem das Potential derQuecksilber-Elektrode messen zu können. Im Allgemeinen wird jedoch bei po-larographischen Messungen eine Dreielektroden-Anordnung mit Referenzelek-trode und Gegenelektrode verwendet, wie in der Abbildung dargestellt. Als Re-ferenz werden Standardelektroden mit bekanntem, festem Potential, wie z.B.die Silber/Silberchlorid-Elektrode oder die Kalomel-Elektrode, eingesetzt. Die-se Referenzelektrode, mittels derer das Potential der Arbeitselektrode gemessenwird, bleibt während der Messung stromlos. Der Strom �ieÿt über die Gegen-elektrode ab, für die im Praktikum ein einfacher Graphitstab verwendet wird.Der Problem einer Messung mit nur zwei Elektroden, bei der durch die Referen-zelektrode Strom �ieÿt liegt darin, dass es an dieser Elektrode zu Überspannun-gen kommen kann, welche das Potential der Elektrode verfälschen und somitauch eine Bestimmung des Potentials der Arbeitselektrode unmöglich machen.

Abbildung 5.9: Aufbaus eines modernen Polarographen (schematisch).

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Page 86: Physikalisch-Chemisches Praktikum II

Dieses Problem wird in der hier benutzten Dreieletroden-Anordnung, bei derkein Strom durch die Referenzelektrode �ieÿt, behoben.

Im Praktikum wird eine sogenannte Multi-Mode-Elektrode verwendet, dieauf drei verschiedene Arten eingesetzt werden kann, nämlich als:

� Stationäre Quecksilbertropfenelektrode (Hanging Mercury Drop Electrode,HMDE). Dabei wird ein Tropfen aus der Kapillare getrieben und bleibtwährend des gesamten Spannungsdurchlaufs an dieser hängen. Dieses Ver-fahren wird im Praktikum bei der inverspolarographischen Messung ver-wendet.

� Tropfende Quecksilberelektrode (Dropping Mercury Electrode, DME). Diesist das klassische Verfahren der Polarographie, bei dem Quecksilbertropfenin kontrolliertem Rythmus aus der Glaskapillare fallen. Diese Methodewird im Praktikum bei der Messung mittels Tastpolarographie eingesetzt.

� Statische Quecksilbertropfenelektrode (Static Mercury Drop Electrode,SMDE). Für einen kompletten Spannungsdurchlauf werden hierbei vie-le Tropfen gebildet und immer wieder von der Kapillare abgeschlagen.An jedem einzelnen hängenden Tropfen wird statisch, d.h. bei konstanterTropfenober�äche gemessen. Die Gesamtmessung setzt aus vielen der sogewonnenen Einzelmessungen zusammen.

Abbildung 5.10 zeigt den Messkopf des Polarographen im Detail. Neben dendrei bereits erwähnten Elektroden erkennt man die Spülgasleitung, durch diedie untersuchte Lösung während der Messung mit Sticksto� gespült wird, sowieden Rührer, der bei der inverspolarographischen Messung eingesetzt wird.

Abbildung 5.10: Aufbau des Messkopfes.

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Page 87: Physikalisch-Chemisches Praktikum II

Auswertung

Stufenpolarogramm

Die Grundlinie sowie die Linie des Grenzstroms sind über die Stufe hinaus zuverlängern. Durch den Wendepunkt ist eine Senkrechte zur Papierlaufrichtung(Potentialachse) zu legen, deren Höhe h zur gesuchten Konzentration propor-tional ist (Abb. 5.11).

Inverspolarogramm

Die Peakhöhe über dem �Rauschen� der Grundlinie ist proportional zur Depo-larisatorkonzentration (Abb. 5.12)(h ∝ ip ; ip ∝ cMe ). Zu beachten ist hierbei,

Abbildung 5.11: Stufenpolarogramm

Abbildung 5.12: Inverspolarogramm

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Page 88: Physikalisch-Chemisches Praktikum II

dass die Grundlinie, von der aus die Messung von h erfolgt, nicht unbedingtbei i = 0 liegen muss. Der Verlauf der Grundlinie muss also selbst abgeschätztwerden.

Hinweise zur Fehlerrechnung

Bei der graphischen Auswertung der Polarogramme ist die alleinige Berück-sichtigung eines Ablesefehlers (typischerweise 1 mm aufgrund der Millimeter-Einteilung des Lineals) in der Regel nicht ausreichend. Zusätzlich ist der Fehlerzu berücksichtigen, der sich durch das Rauschen der Messkurven ergibt. Dieserkann individuell sehr unterschiedlich ausfallen und teilweise wesentlich gröÿersein als der reine Ablesefehler aufgrund der Ungenauigkeit des Lineals. Betrof-fen sind vor allem die Extrapolation bei der Auswertung der Tastpolarogrammeund die Grundlinie bei der Auswertung der Inverspolarogramme. Mögliche Ver-fahren zur Ermittlung dieser Fehler sind in Abb. 5.13 angedeutet. Bei der In-verspolarographie sollte der für die Grundlinie ermittelte Fehler zusätzlich auchfür das Maximum des Strompeaks angesetzt werden, da auch hier mit einementsprechenden Rauschen zu rechnen ist (auch wenn es nicht so aussieht).

Abbildung 5.13: Mögliches Verfahren der Berücksichtigung des Fehlers, dersich aus dem Rauschen der Messkurven ergibt, bei einem Tastpolarogramm(links) und einem Inverspolarogramm. Der typischerweise beim Tastpolaro-gramm kurz nach dem Durchfahren einer Stufe auftretende Strompeak (linksunten) soll nicht berücksichtigt werden.

Bei der Auftragung von i vs. c bei der Tastpolarographie sind bei allen Mess-werten die Fehlerbalken einzuzeichnen. Ein linearer Zusammenhang ist nur be-stätigt, wenn die Ausgleichsgerade bei allen Messwerten innerhalb der Fehler-grenzen verläuft! Für die Ermittlung der unbekannten Konzentration könnendann für die Steigung und den Achsenabschnitt der Eichgerade die bei der li-nearen Regression ermittelten Fehler angesetzt werden.

Weiterhin sind die Fehler der Konzentrationen der Lösungen zu berücksich-tigen, die sich aus den auf den Pipetten angegebenen Pipettenfehlern ergeben(für jede abgemessene Lösung separat zu berücksichtigen, z.B. doppelter Fehlerbei Mischung von Zinksalzlösung und Pu�erlösung!).

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Bedienungsanleitung

Abbildung 5.14: Skizze des Versuchsaufbaues

I. Tastpolarographiemethode (DCT)

Die Zahlen der folgenden Beschreibung bezeichnen die Schalter des Polarogra-phen entsprechend der Geräteskizze in Abb. 5.14.

� Einstellung der DCT-Methode:1: Gerät einschalten.3: o� (es liegt jetzt keine Spannung an den Elektroden an)8: DCTT

� Einstellung der Spannungsrampe:4: 100 mV/cm6: UStart

5: −0, 6 V6: UStop

7: −1, 2 V6: UPol. Wichtig, sonst kann kein Polarogramm aufgenommen werden.10: −10 mV/s; es wird nur bei negativer Einstellung die oben vorgegebeneRampe durchfahren.

� Einstellung der Trop�requenz:9: 0,5 s−1

� Emp�ndlichkeit des Schreibers einstellen:11 und 12: 0,05 µA/mm (für 10−3-molare Lösungen im DCT-Modus;bei niedrigeren Konzentrationen sollte später eine höhere Emp�ndlichkeitbzw. ein kleinerer µA/mm-Wert eingestellt werden.)

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� Einstellung der Grundlinie:3: hold2: measure. Der Schreiber fährt jetzt in die Startposition, diese läÿt sichmit 13 verstellen. Es ist der linke Papierrand zu wählen.2: stand by3: o�. Sehr wichtig!

� Vorbereitung der Lösungen:In das Analysengefäÿ werden 19 ml der zu untersuchenden Lösung und 1ml pH-4,7-Pu�erlösung gegeben. Um den Sauersto� zu verdrängen muÿ 5bis 10 Min. N2 durchgeleitet werden (Schalter 15). Dabei sollte der Rührer(19) eingeschaltet sein.

� Aufnahme eines DCT-Polarogramms:Achtung: Schalter 16 muss sich immer in Nullstellung be�nden, auÿerunmittelbar während der Aufnahme eines Polarogramms. Hiervon solltenSie sich insbesondere vor dem Ö�nen der Zelle (zum Austausch des Elek-trolyten etc.) nochmals überzeugen, da sonst eine hohe Gefahr besteht,mit dem tropfenden Quecksilber in Berührung zu kommen ! Während derMessungen muss weiterhin der Rührer (19) ausgeschaltet sein.

15: 016: DME3: sweep2: measure

� Nach Beendigung der Messung:3: o�16: 0 (sehr wichtig)

II. Inverspolarographie-Methode

� Einstellung des Polarographen:3: o�8: DP 504: 100 mV/cm6: UStart , 5: −1, 2 V6: UStop , 7: +0, 13 V6: UPol

10: +10 mV/s; nur bei positiver Einstellung wird die Rampe durchfahren

� Einstellen der Schreiberemp�ndlichkeit und der Grundlinie:11, 12: 10 nA/mm3: hold2: measure; mit 13 den Schreiber an den rechten Papierrand bringen.

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Page 91: Physikalisch-Chemisches Praktikum II

3: o�. Sehr wichtig!

� Vorbereitung der Lösung:19 ml H2O (darf keine Schwebsto�e enthalten), sowie 1 ml pH-4.7-Pu�erin das Analysengefäÿ geben und ca. 15 Min. N2 durchleiten.

� Anreichern von Schwermetallspuren:16: HMDE18: drop Size: 117: mehrere Tropfen (3-4) auslösen19: 33: hold, 60 sec. mit Rühren anreichern, 20 sec. ohne Rühren anreichern

� Aufnahme des Inverspolarogramms:3: sweep, 4: measure - gleichzeitig betätigen

� Nach Beendigung der Messung:3: o�, sehr wichtig17: 4 Hg-Tropen auslösen - sehr wichtig!

III. Am Ende des Versuchstages

� Tropfelektrode, Referenz- und Gegenelektrode, sowie den Rührer mit dest.H2O gut abspülen und in ca. 50 ml dest. H2O stehen lassen!

� N2-Dreiwegehahn ö�nen! Gas�asche schlieÿen!

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Page 92: Physikalisch-Chemisches Praktikum II

6 Messung der magnetischen Suszeptibilität von

Lösungen nach Quincke

6.1 Stichworte

� Grundbegri�e der Magnetostatik: Magnetisches Feld und Flussdichte, ma-gnetisches Dipolmoment, Magnetisierung, Suszeptibilität

� Erzeugung und Messung magnetischer Felder

� Dia- und Paramagnetismus und ihre Interpretation

� Quantenmechanik des Drehimpulses und des magnetischen Momentes,Spin und Bahndrehimpuls, Addition von Drehimpulsen, Terme, HundscheRegeln, Landé-Faktor, Auslöschung des Bahndrehimpulses im Liganden-feld

� Grundlagen des Ferro-, Ferri- und Antiferromagnetismus

6.2 Literatur

Grundlagen� C. Kittel, Einführung in die Festkörperphysik, Oldenbourg Verlag, 2006,S. 327-393.

� Lehrbücher der Physik, z. B. Berkeley Physik Kurs, Band 2, Elektrizitätund Magnetismus; Feynman Vorlesungen über Physik.

� Wedler, Kapitel 3.3.

Weiterführend� H. Lueken, Magnetochemie, Teubner Verlag 1999.

� A. F. Orchard, Magnetochemistry, Oxford University Press 2003.

� A. Weiss, H. Witte, Magnetochemie, Verlag Chemie, Weinheim 1973.

6.3 Theoretische Grundlagen

Grundbegri�e der Magnetostatik

Magnetische Phänomene unterscheiden sich von den elektrischen Erscheinungenim Wesentlichen darin, dass es kein Analogon zur elektrischen Punktladung,d. h. keine freien magnetischen Ladungen, Punktpole bzw. Monopole genannt,gibt. Es treten in der Magnetostatik nur magnetische Dipole oder höhere Multi-pole (Quadrupole, Oktupole etc.) auf. Als Denkmodell ist das Konzept magne-tischer Punktpole jedoch nützlich, um die zur Beschreibung des Magnetismusverwendeten Gröÿen in Analogie zu entsprechenden Gröÿen der Elektrostatikabzuleiten. Die experimentell beobachtbaren Dipole können dann als Kombi-nation zweier Punktpole gleicher magnetischer Ladung mit unterschiedlichemVorzeichen interpretiert werden.

Um zu den experimentell gefundenen Gesetzmäÿigkeiten zu gelangen, mussman annehmen, dass die Kraft zwischen zwei magnetischen Punktpolen im

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Page 93: Physikalisch-Chemisches Praktikum II

Vakuum über ein Kraftgesetz gegeben ist, dessen Form vollkommen der desCoulomb-Gesetzes der Elektrostatik entspricht:

~F12 =µ0

4π· p1p2

r2~e12 (im Vakuum) (6.1)

p1 und p2 sind die magnetischen Polstärken (SI-Einheit: A m), ~e12 ein Ein-heitsvektor in Richtung der Verbindungsachse der beiden Pole, r der Abstandzwischen diesen und µ0 die magnetische Feldkonstante. Vergleicht man dies mitdem Coulombschen Gesetz, so erkennt man, dass das Inverse von µ0 das Ana-logon der elektrischen Feldkonstante ε0 ist. Zwischen beiden Konstanten undder Lichtgeschwindigkeit lässt sich im Rahmen der elektromagnetischen Strah-lungstheorie eine Beziehung herstellen:

ε0µ0 =1

c2(c = 2.9979 · 108ms−1) (6.2)

Mit den bekannten Werten der Lichtgeschwindigkeit c und von ε0 ergibt sich imSI-System:

µ0 = 4π · 10−7V s A−1m−1 (6.3)

In Analogie zum ~E-Feld der Elektrostatik wird nunmehr das durch den Pol p1

erzeugte ~B-Feld eingeführt, welches wie folgt de�niert ist:

~B =~F12

p2

(6.4)

In völlig analoger Art kann man auch das ~B-Feld des zweiten Magnetpols inGleichung (6.1) de�nieren, wenn man durch p1 dividiert. Aus historischen Grün-den wird das B-Feld nicht als das magnetische Feld bezeichnet, sondern als ma-gnetische Induktion oder auch als magnetische Flussdichte. Als Einheit von ~Bwird im SI-System das Tesla verwendet, welches wie folgt de�niert ist:

1Tesla = 1T = 1V · 1s · 1m−2

Eine ältere Einheit (cgs-System) ist das Gauÿ:

1Gs = 1 · cm−1/2 · 1g−1/2 · 1s−1 = 10−4T

Bringt man zwei magnetische Punktpole der Polstärke p mit entgegengesetztenLadungen gleichen Betrages in einen Abstand von d zueinander, so erhält maneinen magnetischen Dipol mit einem Dipolmoment der Gröÿe

~m = p · ~d (6.5)

Die Maÿeinheit für das magnetische Dipolmoment ist Am2.Be�ndet sich ein solcher Dipol in einem homogenen magnetischen Feld ( ~B =

const.) so ist gemäÿ Gleichung (6.1) die auf ihn wirkende Kraft Null. Für dasDrehmoment T gilt (s. Abb. 6.1):

~T =1

2~d× ~F1 −

1

2~d× ~F2 = p · ~d× ~B = ~m× ~B (6.6)

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Page 94: Physikalisch-Chemisches Praktikum II

Abbildung 6.1: Drehmoment auf einen Dipol im homogenen magnetischenFeld. Vektoren sind durch Fettdruck gekennzeichnet.

Das Feld wird demnach versuchen, den Dipol in die parallele Stellung zu drehen,bei der das Drehmoment verschwindet.

Die Energie eines Dipols im ~B-Feld lässt sich leicht berechnen, wenn mandie Arbeit betrachtet, die aufgebracht werden muss, um die beiden Ladungenaus dem feldfreien Raum in das Feld zu bringen. Es ergibt sich:

E = −~m · ~B (6.7)

Die niedrigste Energie wird somit bei paralleler Ausrichtung von Dipolmomentund Feld erreicht.

Bringt man Materie in ein magnetisches Feld, so verändert sich dieses ge-genüber dem Vakuum, wobei je nach Substanz sowohl eine Abschwächung, wieauch eine Verstärkung möglich ist. Es werden also in einer Probe zusätzliche �in-nere� Magnetfelder induziert, welche dem äuÿeren Feld entgegengerichtet odergleichgerichtet sein können. Um magnetische Erscheinungen in Materie zu be-schreiben, ist es sinnvoll, neben dem ~B-Feld, welches das tatsächlich in derProbe wirkende Feld wiedergibt, eine zusätzliche Gröÿe einzuführen, welche dasvon auÿen angelegte Feld beschreibt. Dies ist das ~H-Feld, welches früher aucheinfach als �Magnetfeld� bezeichnet wurde. Es ist de�niert gemäÿ:

~B = µrµ0~H (6.8)

µr ist die sogenannte Permeabilitätszahl. Diese nimmt im Vakuum denWert einsan, woraus folgt, dass das ~H-Feld in diesem Fall mit Ausnahme des Faktors µ0

mit dem ~B-Feld identisch ist. In Materie nimmt µr Werte gröÿer oder kleinerals eins an, je nachdem ob das äuÿere Feld verstärkt oder abgeschwächt wird.Die Änderung des Magnetfeldes in Materie gegenüber dem äuÿeren Feld lässtsich auch durch Einführung der Magnetisierung ~M beschreiben, gemäÿ:

~B = µ0( ~H + ~M) (6.9)

Sieht man vom Faktor µ0 ab, gibt ~M also die Änderung des tatsächlich in derProbe wirkenden Feldes ~B gegenüber dem äuÿeren Feld ~H wieder. Löst man dieGleichung (6.9) nach ~M auf, so ergibt sich unter Verwendung von (6.8):

~M = (µr − 1) ~H = χ ~H (6.10)

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Page 95: Physikalisch-Chemisches Praktikum II

χ = µr − 1 wird als magnetische Suszeptibilität bezeichnet. Die Suszeptibilitätist, wie auch die Permeabilitätszahl µr, eine dimensionslose Gröÿe.

Die Magnetisierung steht in enger Beziehung zum magnetischen Dipolmo-ment einer Probe. Im homogenen Feld gilt (siehe z.B. [2])

~M =~m

V, (6.11)

wobei ~m das in der Probe induzierte Dipolmoment und V das Volumen darstel-len. Die Magnetisierung entspricht also einer Dipoldichte.

Die in (6.10) de�nierte Suszeptibilität ist, wie auch die Magnetisierung, aufdie Volumeneinheit bezogen. In der Praxis arbeitet man jedoch häu�ger mit derspezi�schen oder der molaren Suszeptibilität, die wie folgt de�niert sind:

χg =χ

ρ(6.12)

χmol = χVmol = χM

ρ, (6.13)

mit dem molaren Volumen Vmol, der Dichte ρ und der Molmasse M .

Magnetische Eigenschaften der Materie

Anhand ihres Verhaltens in einem Magnetfeld lassen sich im Wesentlichen dreiSto�gruppen unterscheiden:

� Diamagnetische Substanzen zeigen negative Suszeptibilitäten, die unab-hängig von der Feldstärke und weitgehend unabhängig von der Tempera-tur sind.

� Paramagnetische Sto�e weisen positive Suszeptibilitäten auf, die meistum mehrere Gröÿenordnungen über denen diamagnetischer Substanzenliegen. Je nach untersuchtem System (Atome, Moleküle, Metalle etc.) kön-nen mehrere physikalische E�ekte zum Paramagnetismus beitragen. Vondiesen ist hier nur der Langevin-Paramagnetismus von Interesse, welcherauf den Spin und den Bahndrehimpuls ungepaarter Elektronen des Atomsbzw. Moleküls zurückgeht. Im Gegensatz zum Diamagnetismus ist dieserdurch eine starke Temperaturabhängigkeit charakterisiert, die sich oft inerster Näherung durch das Curie-Gesetz beschreiben lässt:

χpara =C

T(6.14)

Hierbei ist C eine sto�spezi�sche Gröÿe, die sogenannte Curie-Konstante.

� Die Suszeptibilität ferromagnetischer Materialien ist stark von der ange-legten Feldstärke abhängig. Sie nimmt im Allgemeinen mit wachsenderFeldstärke zunächst stark zu und dann wieder ab um schlieÿlich bei Nullzu enden. Für die Magnetisierung beobachtet man daher eine sogenann-te Hysteresekurve. Siehe dazu die weiterführende Literatur. Mit steigen-der Temperatur nimmt die Suszeptibilität zunächst schwach zu und dann

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Page 96: Physikalisch-Chemisches Praktikum II

stark ab. Schlieÿlich �ndet bei einer bestimmten, sto�spezi�schen Tempe-ratur (Curie-Punkt) ein Übergang zu einer paramagnetischen Phase statt.Ferromagnetismus wird nahezu ausschlieÿlich in Festkörpern beobachtet.

Weitere mit dem Ferromagnetismus verwandte Phänomene sind der Antiferro-magnetismus und der Ferrimagnetismus.

Diamagnetismus

Diamagnetismus tritt bei allen Sto�en auf, jedoch kann er durch die in der Re-gel viel stärkeren paramagnetischen oder ferromagnetischen Phänomene über-lagert werden. Eine fundierte quantenmechanische Behandlung dieses Phäno-mens kann an dieser Stelle nicht durchgeführt werden (siehe z.B. [1]). Eine an-schauliche Erklärung ergibt sich, wenn man ein klassisches Modell eines Atomsbetrachtet, bei dem sich die Elektronen auf Kreisbahnen um den Kerne bewe-gen. Legt man ein äuÿeres Magnetfeld an, so muss in jeder dieser Kreisbahnenein Induktionsstrom auftreten. Gemäÿ der Lenzschen Regel muss dieser Stromso gerichtet sein, dass das durch ihn erzeugte Magnetfeld der Änderung desäuÿeren Feldes entgegen gerichtet ist. Wenn man die Substanz also aus demfeldfreien Raum in ein äuÿeres Feld bringt, wird letzteres durch das induzierteFeld abgeschwächt und die Suszeptibiltät ist demnach negativ. Die theoretischeBehandlung des Diamagnetismus nach Langevin im Rahmen der klassischenPhysik liefert für das induzierte magnetische Moment pro Atom:

~mi = −(e2

6me

)µ0~H∑

< r2 > , (6.15)

wobei e und me Ladung und Masse des Elektrons und < r2 > der Mittelwertdes Quadrates des Radius einer Elektronenbahn sind. Die Summe erstreckt überdie Bahnen aller Elektronen des Atoms. Für die molare Suszeptibilität lässt sichdann der folgende Ausdruck herleiten

χdiamol = −Nµ0e

2

6me

∑< r2 > , (6.16)

wobei N für die Teilchenzahldichte steht. Im Rahmen der Quantenmechanik er-gibt sich für den diamagnetischen Beitrag zur Suszeptibilität ein völlig analogerAusdruck, wobei aber die Mittelwerte der Bahnradien durch die entsprechendenquantenmechanischen Erwartungswerte zu ersetzen sind.

Die Gröÿenordung der Suszeptibilität diamagnetischer Sto�e liegt üblicher-weise bei 10−5 bis 10−4. Ähnlich wie man die Molrefraktion einer organischenSubstanz näherungsweise aus den Atomrefraktionen berechnen kann, ist es auchmöglich die Molsuszeptibilität einer diamagnetischen Verbindung aus Inkremen-ten für die einzelnen darin vorkommenden Atome (unter Beachtung des Bin-dungszustandes) zusammenzusetzen. Bei Metallen und einigen Halbleitern mussneben dem oben beschriebenen Anteil des Diamagnetismus, welcher den Beitragder Atomrümpfe wiedergibt, ein weiterer Term berücksichtigt werden, welcherauf die Leitungselektronen zurückgeht (Landau-Diamagnetismus).

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Page 97: Physikalisch-Chemisches Praktikum II

Paramagnetismus

Der (Langevin-)Paramagnetismus geht auf den Drehimpuls und den Spin un-gepaarter Elektronen in den atomaren Bausteinen der Materie zurück. Dahersollen an dieser Stelle zunächst kurz einige grundlegende Ergebnisse der quan-tenmechanischen Behandlung der Atome rekapituliert werden. Für eine ausführ-liche Darstellung sei auf [3] verwiesen.

Elektronenzustände in freien Atomen und Ionen Der Zustand einesElektrons in einem freien Atom oder Ion wird durch vier Quantenzahlen be-schrieben. Die Energie des Elektrons ist im Wesentlichen durch die sogenannteHauptquantenzahl n bestimmt, welche beliebige positive ganze Zahlen anneh-men kann. Es gilt:

E ∝ − 1

n2n = 1, 2, 3, . . . (6.17)

Die zweite Quantenzahl, die berücksichtigt werden muss, ist die Bahndrehim-pulsquantenzahl l. Diese kann alle ganzzahligen Werte zwischen Null und n− 1annehmen. Wie schon der Name sagt, beschreibt diese Quantenzahl die Gröÿedes Bahndrehimpulses ~l. Es gilt:

|~l| = ~√l(l + 1) l = 0, . . . , n− 1 (6.18)

Gibt man eine beliebige Achse im Raum z.B. durch das Anlegen eines ho-mogenen Magnetfeldes vor, so kann der Vektor ~l nur bestimmte Orientierun-gen bezüglich dieser Vorzugsrichtung annehmen. In anderen Worten: Die Längeder Projektion des Vektors auf diese Achse kann nur bestimmte, diskrete Wer-te besitzen (Quantisierung). Üblicherweise wird die Achse, bezüglich derer derDrehimpuls quantisiert ist, als z-Achse eines kartesischen Koordinatensystemsangesehen und die Projektion des Drehimpulsvektors entspricht demnach lz, derz-Komponente des Vektors in diesem Koordinatensystem. Die erlaubten Wertesind durch die Quantenzahl ml gegeben, welche aufgrund ihrer Bedeutung fürmagnetische Phänomene als magnetische Quantenzahl bezeichnet wird12 Man�ndet, dass ml alle ganzzahligen Werte zwischen −l und +l annehmen kann:

lz = ~ml ml = −l,−l + 1, . . . , l − 1, l (6.19)

Die möglichen Einstellungen von ~l bezüglich der z-Achse sind für das Beispieleines d-Elektrons mit l = 2 in Abbildung 6.2 dargestellt. Aufgrund der Un-schärferelation können die x- und y-Komponenten von ~l nicht gleichzeitig mitder z-Komponente bestimmt werden. Man muss vielmehr davon ausgehen, dass

12Der üblichen Nomenklatur folgend, wird in diesem Skript der Buchstabe m sowohl zurBezeichnung des magnetischen Dipolmomentes als auch für die magnetische Quantenzahlverwendet. Es ist sehr wichtig, dass diese beiden Gröÿen nicht verwechselt werden. Das Di-polmoment ist ein Vektor und wird stets durch das Pfeilsymbol gekennzeichnet (~m), währenddie magnetische Quantenzahl einen Index wie z.B. l oder s trägt, der auf die entsprechenDrehimpulsquantenzahl hinweist. Das Symbol m wird weiterhin auch zur Bezeichnung vonMassen verwendet.

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Page 98: Physikalisch-Chemisches Praktikum II

Abbildung 6.2: Links: Die möglichen Einstellungen eines Drehimpulses mitder Quantenzahl l = 2. Rechts: Vernanschaulichung der Richtungsquantelung.Aus [3].

für diese beiden Komponenten alle Werte gleich wahrscheinlich sind. Anschau-lich bedeutet dies, dass der Drehimpulsvektor irgendwo auf einem Kegelmantelum die z-Achse liegt, wie im rechten Teil der Abbildung dargestellt.

Die vierte Quantenzahl, welche zur Beschreibung des Zustandes eines Elek-trons im Atom oder Ion benötigt wird, ist die Spinquantenzahl. Der Spin derElektronen kann als ein Eigendrehimpuls aufgefasst werden, für den ähnlicheGesetzmäÿigkeiten wie für den Bahndrehimpuls gelten. Analog zu letzteremkann sowohl der Betrag des Spinvektors als auch eine seiner Komponenten be-züglich eines beliebigen Koordinatensystems bestimmt werden, wobei für letzte-re wiederum die z-Richtung gewählt wird. Im Gegensatz zum Bahndrehimpulskann die Quantenzahl für den Betrag des Spins, welche hier mit s bezeichnetwerden soll, aber nur einen Wert, nämlich s = +1/2, annehmen. Es gilt dannfür den Spinvektor:

|~s| = ~√s(s+ 1) = ~

√3

4(6.20)

Die z-Komponente des Spins wird durch die Quantenzahlms beschrieben, wobeigilt:

sz = ~ms ms = −1

2,+

1

2(6.21)

Da s fest vorgegeben ist, muss nur ms zur Charakterisierung des Zustandes desElektrons angegeben werden.

Addition von Drehimpulsen Im vorigen Abschnitt wurde dargelegt, dassein Elektron in einem Atom oder Ion in der Regel sowohl einen Bahndrehim-

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puls (Ausnahme: s-Orbitale) als auch einen Spin, der sich wie ein Drehimpulsbehandeln lässt, aufweist. In einem Atom, das nur ein einziges Elektron besitzt,koppeln Spin und Bahndrehimpuls dieses Elektrons zu einem Gesamtdrehim-puls j, dessen Länge und z-Komponente wiederum durch zwei Quantenzahlen,nämlich j und mj charakterisiert werden:

|~j| = ~√j(j + 1) jz = ~mj (6.22)

Um j aus l und s zu bestimmen, ist zu beachten, dass es sich bei den Dre-himpulsen (bzw. Spins) um Vektoren handelt, welche gemäÿ den Regeln derVektoraddition verknüpft werden müssen, wobei j nur ganz- oder halbzahligeWerte annehmen kann und sich die möglichen Werte von j um ±1 unterscheidenmüssen. Im Fall eines einzelnen Elektrons führt dies dazu, dass für j zwei Wertemöglich sind, nämlich l + s und l − s, wobei s = 1/2 gilt.

Die Situation wird komplizierter, wenn die Bahndrehimpulse und Spins vonmehr als einem Elektron zu berücksichtigen sind. Bei der Beschreibung solcherMehrelektronensysteme sind zwei Grenzfälle zu unterscheiden:

� Infolge der Wechselwirkungen zwischen den Elektronen kann es zu einerstarken Kopplung der Bahndrehimpulse und der Spins untereinander kom-men. Dies führt dazu, dass sich die Elektronenspins zu einem Gesamtspinmit den Quantenzahlen S und mS und die Bahndrehimpulse zu einem Ge-samtbahndrehimpuls mit den Quantenzahlen L und mL zusammensetzen.Aus L und S wird dann der Gesamtdrehimpuls mit den Quantenzahlen Jund mJ gebildet13. Diese Art der Kopplung, die für die leichten Elementedes Periodensystems anwendbar ist, wird als Russell-Saunders-Kopplungoder auch als (L,S)-Kopplung bezeichnet.

� Tritt eine starke Kopplung zwischen dem Bahndrehimpuls und dem Spinder Elektronen auf, so ist zunächst der Gesamtdrehimpuls für jedes einzel-ne Elektron zu bestimmen, mit den Quantenzahlen j und mj. Anschlies-send werden diese Drehimpulse zum Gesamtdrehimpuls des Atoms bzw.Ions gekoppelt. Man spricht hier von (j,j)-Kopplung.

Da im vorliegenden Kontext nur das Russell-Saunders-Kopplungsschema vonBedeutung ist, wird nur dieses im Folgenden näher erläutert.

In Abb. 6.3 ist die Kopplung zweier Drehimpulse mit den Quantenzahlenl = 3 und l = 2 dargestellt. Bei der Addition der Vektoren ist zu beachten, dasssich die Resultierende wiederum gemäÿ

|~L| = ~√L(L+ 1) Lz = ~mL (6.23)

mit ganzzahligem L schreiben lassen muss. In der gra�schen Darstellung derAbb. 6.3 bedeutet dies, dass sich der Endpunkt des Vektors auf einem Kreis

13Um den Gesamtbahndrehimpuls, den Gesamtspin und den Gesamtdrehimpuls in einemSystem mit mehreren Elektronen von den entsprechenden Gröÿen des einzelnen Elektrons zuunterscheiden, werden üblicherweise Groÿbuchstaben für die Vektoren und die Quantenzahlenverwendet, d.h. z.B. ~L, L und mL anstelle von ~l, l und ml.

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Page 100: Physikalisch-Chemisches Praktikum II

Abbildung 6.3: Addition zweier Drehimpulse, |~l| = ~√l(l + 1), mit l1 = 3

und l2 = 2 zu einem Gesamtdrehimpuls ~L.

vom Radius ~√L(L+ 1) be�nden muss. Es sind dann fünf Orientierungen für

den Summenvektor möglich und für die möglichen Werte der Quantenzahl L�ndet man:

L = 5, 4, 3, 2, 1

Im allgemeinen Fall zweier beliebiger Drehimpulse mit den Quantenzahlen l1und l2 ergibt sich:

L = (l1 + l2), (l1 + l2 − 1), . . . , (l1 − l2) (6.24)

wobei l1 ≥ l2 vorausgesetzt wurde. Addieren sich mehr als zwei Bahndrehim-pulse, wird der Summenvektor der ersten beiden entsprechend der Regeln derVektoraddition mit dem dritten kombiniert etc. Für die möglichen Werte derQuantenzahl L ergibt sich bei k Drehimpulsen:

L = (l1 + l2 + . . .+ lk), (l1 + l2 + . . .+ lk − 1), . . . (l1− l2− . . .− lk) , (6.25)

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Page 101: Physikalisch-Chemisches Praktikum II

wobei l1 ≥ l2 ≥ . . . ≥ lk angenommen wurde und auÿerdem nur positive Wertefür L verwendet werden dürfen. Völlig analog erhält man für den Gesamtspin

|~S| = ~√S(S + 1) Sz = ~mS (6.26)

mit

S = (s1+s2+. . .+sk), (s1+s2+. . .+sk−1), . . .

{1/2 falls k ungerade0 falls k gerade

, (6.27)

wobei in diesem Fall aber auch halbzahlige Werte der Quantenzahlen S und mS

auftreten dürfen. Die Vektoren ~L und ~S setzen sich dann zu einem Gesamtdre-himpulsvektor ~J zusammen. Auch für diesen gilt

| ~J | = ~√J(J + 1) (6.28)

und

Jz = ~mJ mit mJ = −J,−J + 1, . . . ,+J (6.29)

Die Quantenzahl des Gesamtdrehimpulses kann die folgenden Werte annehmen:

J = (L+ S), (L+ S − 1), . . . , |L− S| (6.30)

J und mJ können wiederum halb- wie auch ganzzahlige Werte annehmen.

Termstruktur, Termsymbole Verschiedene Kombinationen der drei Quan-tenzahlen L, S und J im Russell-Saunders-Schema führen zu elektronischenZuständen unterschiedlicher Energie bei gleicher Elektronenkon�guration. Die-se Energieniveaus werden auch als Terme bezeichnet und durch Termsymboleder Form

(2S+1)TJ

charakterisiert. Hierbei wird zunächst die Quantenzahl des Bahndrehimpulsesin Form eines Buchstaben angegeben. Es gilt die folgende Korrespondenz:

L = 0 1 2 3 4 5S P D F G H

Links oben im Termsymbol wird die Gröÿe (2S + 1), die sogenannte Multipli-zität des Terms, angegeben und rechts unten die Quantenzahl J des Gesamt-drehimpulses. Bei Termen mit S = 0 bzw. (2S + 1) = 1 spricht man von einemSingulett, bei S = 1/2 von einem Dublett, bei S = 1 von einem Triplett, usw.

Als Beispiel für die Bestimmung der bei einer bestimmten Elektronenkon�-guration möglichen Terme sei hier eine p2-Elektronenkon�guration betrachtet,wie sie z.B. beim Kohlensto�-Atom auftritt. Die möglichen Verteilungen derElektronen auf die drei p-Orbitale, die sogenannten Mikrozustände, sind in Ab-bildung 6.4 dargestellt. Der gröÿtmögliche Wert der Quantenzahl ML beträgt

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Page 102: Physikalisch-Chemisches Praktikum II

Abbildung 6.4: Mikrozustände für eine p2-Elektronenkon�guration.

hier +2 und der kleinste Wert ist −2. Die entsprechenden Mikrozustände müs-sen zu einem Term mit der Bahndrehimpulsquantenzahl L = 2 gehören, d.h. zueinem D-Term. Da die MS-Quantenzahl in beiden Fällen Null ist, muss S = 0sein, d.h. es handelt sich um ein Singulett. Es gilt J = L = 2, und somit lau-tet das vollständige Termsymbol: 1D2. Zu diesem Term gehören insgesamt fünfMikrozustände mit ML = −2,−1, 0,+1,+2 und jeweils MS = 0. Diese könnenalso aus der Au�istung in Abb. 6.3 gestrichen werden. Man beachte dabei, dassfür die Kombinationen ML = −1, MS = 0 und ML = +1, MS = 0 jeweils zweiund für die Kombination ML = 0, MS = 0 sogar drei Mikrozustände zur Aus-wahl stehen. Es ist hierbei grundsätzlich nicht möglich, zu entscheiden welchevon diesen zum Term 1D2 gehören. Es verbleiben nunmehr zehn Mikrozustände.Der höchste Wert vonML, der bei diesen auftritt ist eins, gleiches gilt fürMS. Esmuss also ein Triplett-Term (S = 1, 2S + 1 = 3) mit der Bahndrehimpulsquan-tenzahl eins, entsprechend dem Termsymbol P existieren. Gemäÿ den Regelnder Vektoraddition kann J dann die Werte 2, 1 und 0 annehmen, woraus mandrei weitere Terme erhält, nämlich 3P2, 3P1 und 3P0. Diesen Termen können

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neun Mikrozustände zugeordnet werden, die allen möglichen Kombinationenvon ML = 1, 0,−1 mit MS = 1, 0,−1 entsprechen. Es verbleibt schlieÿlich nochein Mikrozustand mit ML = 0 und MS = 0, dem man sofort das Termsymbol1S0 zuordnen kann. Insgesamt erhält man somit die fünf Terme 1D2, 3P2, 3P1,3P0 und 1S0.

Hundsche Regeln Aus dem oben Gesagten wird klar, dass im Allgemeinenfür eine bestimmte Elektronenkon�guration, d.h. eine Besetzung der Schalen desAtoms oder Ions mit Elektronen, mehrere Terme mit unterschiedlichen Energienmöglich sind. Für die Eigenschaften des Systems ist es von Bedeutung, welcherder möglichen Terme die niedrigste Energie besitzt. Um diesen sogenanntenGrundterm zu ermitteln, bedient man sich der Hundschen Regeln:

1. Der Gesamtspin S nimmt den maximalen Wert an, der gemäÿ dem Pauli-Prinzip möglich ist.

2. Der Bahndrehimpuls L nimmt ebenfalls den maximalen Wert an, der mitdem durch die erste Regel vorgegeben Spin vereinbar ist.

3. Der Gesamtdrehimpuls J ist gleich |L−S|, d.h. dem niedrigsten möglichenWert, wenn die Schale (z.B. d- oder f -Schale) weniger als zur Hälfte gefülltist, und gleich L + S, dem höchstmöglichen Wert, wenn sie mehr als zurHälfte gefüllt ist. Wenn die Schale genau zur Häfte gefüllt ist, muss nachder ersten Regel jedes Orbital ein Elektron enthalten und somit L = 0und J = S gelten.

Die erste Hundsche Regel kann wie folgt begründet werden: Aus dem Pauli-Prinzip ergibt sich, dass zwei Elektronen mit gleichem Spin nicht das gleicheOrtsorbital besetzen können. Daher be�nden sich solche Elektronen im Mittelweiter voneinander entfernt als Elektronen mit entgegengesetztem Spin, waseine Verringerung der Coulomb-Abstoÿung zwischen den Elektronen im erstenFall im Vergleich zum zweiten bewirkt. Demnach besitzen die Terme mit dermaximal möglichen Anzahl von Elektronen parallelen Spins (gröÿtmögliches S)die niedrigste Energie. Bezüglich der Begründung der zweiten und der drittenHundschen Regel siehe [1]. Für das im vorigen Abschnitt behandelte Beispielder p2-Kon�guration ergibt sich aus den Hundschen Regeln, dass 3P0 der Termmit der niedrigsten Energie ist.

Paramagnetismus freier Teilchen Im Rahmen eines klassischen Bildes vonAtomen und Ionen, bei dem sich Elektronen auf Kreisbahnen um die Kerne be-wegen, ist es leicht verständlich, dass mit dem Drehimpuls eines Elektrons einmagnetisches Moment verbunden ist: Die Bewegung der Elektronen auf denKreisbahnen entspricht einem elektrischen Strom, der ein Magnetfeld verur-sacht, welches in erster Näherung als das Feld eines magnetischen Dipols be-trachtet werden kann. Die genauere Behandlung im Rahmen der klassischenPhysik liefert den folgenden Zusammenhang zwischen dem Drehimpuls des Elek-trons und seinem magnetischen Moment:

~ml = − e

2me

~l (6.31)

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Page 104: Physikalisch-Chemisches Praktikum II

Diese Verknüpfung zwischen Bahndrehimpuls und magnetischemMoment bleibtauch im Rahmen der Quantenmechanik erhalten, und mit Gl. (6.18) ergibt sich:

|~ml| =e

2me

~√l(l + 1) (6.32)

Die Zusammenfassung der in (6.32) auftretenden Konstanten ergibt das soge-nannte Bohrsche Magneton, welches oft als Einheit bei der Angabe magnetischerMomente verwendet wird:

µB =e~

2me

= 9.274 · 10−24Am2 (6.33)

Der Elektronenspin kann nicht im Rahmen der klassischen Physik erfasst werdenund somit überrascht es nicht, dass Gl. (6.32) in diesem Fall nicht gilt. Viel-mehr muss jetzt ein zusätzlicher Faktor, der sogenannte g-Faktor berücksichtigtwerden, welcher den Wert zwei annimmt14:

|~ms| = gµB√s(s+ 1) mit g = 2 (6.34)

Ähnlich wie beim Elektron, tritt auch bei der Berechnung des magnetischen Mo-mentes, das aus dem Gesamtdrehimpuls ~J eines Atoms oder Ions resultiert einvon eins abweichender g-Faktor auf, der hier als Landéscher g-Faktor bezeichnetwird. Für ihn gilt:

gJ = 1 +J(J + 1) + S(S + 1)− L(L+ 1)

2J(J + 1)(6.35)

Dieser Ausdruck läÿt sich leicht durch Betrachtung der Addition des ~L- unddes ~S-Vektors herleiten (siehe z.B. [4]). Man beachte, dass sich für L = 0 derWert gJ = 2 und für S = 0 gJ = 1 ergibt, wie es für einen Drehimpuls, derausschlieÿlich durch die Spins bzw. die Bahnmomente der Elektronen erzeugtwird, zu erwarten ist. Unter Berücksichtigung des Landé-Faktor erhält man dasmagnetische Moment eines Atoms oder Ions gemäÿ:

|~mJ | = gJµB√J(J + 1) (6.36)

Um vom paramagnetischen Moment zur Suszeptibilität zu gelangen, muss mandie mittlere Orientierung der magnetischen Momente im Raum bei einer be-stimmten Temperatur bestimmen. Unter Annahme einer Boltzmann-Verteilungfür die Moleküle gelangt man dann zu folgenden Ausdrücken für die Volumen-suszeptibilität bzw. die Molsuzeptibilität (siehe [1]):

χpara = N µ0 ·|~m|2

3kTN = Teilchenzahldichte (6.37)

χparamol = NAµ0 ·|~m|2

3kTNA = Avogadro-Konstante (6.38)

14Im Rahmen der Quantenelektrodynamik ergibt sich für den g-Faktor des Elektrons derexakte Wert von 2.002319, jedoch reicht für die meisten Anwendungen der gerundete Wertvon 2.0.

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Ein Vergleich mit dem Curie-Gesetz (6.14) ergibt für die Curie-Konstante:

C = N µ0 ·|~m|2

3k(6.39)

Neben dem paramagnetischen Anteil der Suszeptibilität ist stets auch ein dia-magnetischer Anteil vorhanden, und es gilt:

χ = χdia + χpara = χdia +C

T(6.40)

χdia kann jedoch oft in guter Näherung vernachlässigt werden.

Auslöschung des Bahndrehimpulses im Ligandenfeld Misst man dieSuszeptibilitäten der Salze von Übergangsmetallen und berechnet daraus diemagnetischen Momente, so �ndet man, dass die experimentellen Werte meistnur sehr schlecht mit denen übereinstimmen, die man aus Gl. (6.36) für dengemäÿ den Hundschen Regeln bestimmten Grundterm erhält. Demgegenüberwird eine gute Übereinstimmung beobachtet, wenn lediglich der Gesamtspinbei der Berechnung berücksichtigt wird, d.h. wenn in Gl. (6.36) J = S gesetztwird. Dies steht im Gegensatz zu Verbindungen der Lanthaniden, bei denen sichdie magnetischen Momente sehr gut mit Gl. (6.36) bestimmen lassen.

Die Ursache für dieses unterschiedliche Verhalten von Übergangsmetallenund Lanthaniden liegt darin, dass im letzteren Fall die für den Magnetismusverantwortlichen ungepaarten Elektronen die f -Schale besetzen und somit vonUmgebungsein�üssen abgeschirmt sind, während im ersten Fall die d-Elektronender äuÿersten Schale den Paramagnetismus verursachen. Die d-Schalen spüreninhomogene elektrische Felder, welche von Ionen und Molekülen der Umgebungausgehen. Diese werden im Kristall durch die übrigen Ionen des Gitters ver-ursacht, in Lösung durch komplex gebundene Ionen oder die Solvenshülle. DieWechselwirkung der d-Orbitale mit der Umgebung ruft im Wesentlichen zweiE�ekte hervor: Zum einen wird die Kopplung zwischen ~L und ~S weitgehendaufgehoben, woraus folgt, das J keine gute Quantenzahl mehr darstellt, welchezur Charakterisierung des Terms verwendet werden könnte. Da es sich bei demKristallfeld auÿerdem nicht um ein Zentralfeld handelt, ist der Bahndrehimpulskeine Konstante der Bewegung mehr. Während man meist in guter NäherungL2 weiterhin als konstant annehmen kann, gilt dies üblicherweise für die z-Komponente des Vektors nicht mehr, d.h. Lz ist keine gute Quantenzahl mehr.Die Richtung des Drehimpulsvektors verändert sich im Ligandenfeld stetig unddemnach kann sich im zeitlichen Mittel ein Wert von Null ergeben. Wenn diesgeschieht, spricht man von der Auslöschung des Bahndrehimpulses.

6.4 Prinzip der Messung

Das hier verwendete Verfahren zur Suszeptibilitätsbestimmung an Flüssigkeitenwurde zuerst von G. H. Quincke angegeben. In den Bereich maximaler Feldstär-ke |Hmax| eines radialsymmetrischen und möglichst homogenen Feldes bringtman den schmalen Schenkel eines asymmetrischen U-Rohres, dessen zweiter,

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Page 106: Physikalisch-Chemisches Praktikum II

wesentlich breiterer Schenkel im feldfreien Raum verbleibt (s. Abb. 6.5). Beieingeschaltetem Feld beobachtet man dann eine Höhendi�erenz ∆h zwischenden Menisken in den beiden U-Rohrschenkeln, die über die Suszeptibilität deruntersuchten Lösung Aufschluss gibt. Zur Auswertung betrachte man Abbil-dung 6.6. Die Lösung der zu untersuchenden Ionen wird im Magnetfeld solangesteigen, bis die Schwerkraft der Flüssigkeitssäule mit der Höhe ∆h genau sogroÿ wie die magnetische Kraft ist:

~Fmag = −~Fg (6.41)

Anders ausgedrückt: Im Gleichgewicht muss die Energieänderung, die erzieltwird, wenn man ein (in�nitesimal) kleines Volumen ∆V aus dem feldfreienRaum in den Bereich maximaler Feldstärke bringt, Null sein. Die Energieände-rung, die sich bei der Magnetisierung des Volumens ∆V ergibt, errechnet sichunter Verwendung von (6.7) und (6.8) gemäÿ:

Emag = −µ0

Hmax∫0

~Hd~m . (6.42)

Mit der Magnetisierung ~M = ~m/∆V erhält man aus Gl. (6.42):

Emag = −µ0∆V

Hmax∫0

~Hd ~M (6.43)

Mit Hilfe von (6.10) ergibt sich daraus:

Emag = −µ0 ∆V χ

Hmax∫0

~Hd ~H = −µ0∆V1

2χH2

max (6.44)

Addiert man hierzu die Gravitationsenergie des Flüssigkeitsvolumens ∆V mitder Dichte ρ, ergibt sich für die gesamte Energieänderung:

Emag + Eg = −µ0 ∆V1

2χH2

max + ∆V ρg∆h = 0 (6.45)

Abbildung 6.5: Versuchsaufbau (schematisch).

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Page 107: Physikalisch-Chemisches Praktikum II

Abbildung 6.6: Illustration zum Prinzip der Messung der magnetischen Sus-zeptibilität nach Quincke.

Daraus erhält man für die Volumensuszeptibilität den Ausdruck

χ =2ρg∆h

µ0H2max

. (6.46)

Die spezi�sche Suszeptibilität erhält man hieraus nach Division durch ρ:

χg =2g∆h

µ0H2max

(6.47)

Die Suszeptibilität einer Lösung oder Mischung setzt sich additiv aus den Sus-zeptibilitäten der einzelnen Bestandteile zusammen, falls diese während des Mi-schungsvorganges keine tiefgreifende Veränderung ihrer elektronischen Strukturerleiden:

χmol,12 = x1χmol,1 + x2χmol,2 (6.48)

χg,12 =1

100[p1χg,1 + (100− p1)χg,2] (6.49)

mit xi als Molenbruch und pi als Massenprozent der Komponente i. Somit kanndie Suszeptibilität eines gelösten Salzes aus der der Lösung bestimmt werden,insofern χ für das reine Lösungsmittel bekannt ist.

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6.5 Aufgabenstellung und Versuchsdurchführung

Theoretische Aufgabe

Bestimmen Sie alle Terme, die für eine p3-Kon�guration, d.h. drei Elektronenin einer p-Schale, möglich sind. Welches ist der Grundterm?

Experimentelle Aufgabe

Mit Hilfe der für Mangan(II)chlorid und Wasser unten angegebenen spezi�schenSuszeptibilitäten werde die maximale Feldstärke ermittelt. Man bestimme wei-terhin die spezi�sche Suszeptibilität von zwei Lösungen der Eisen-Gruppe: ent-weder Cobalt(II)- und Kupfer(II)- oder Chrom(III)-chlorid und berechne darausdas permanente magnetische Moment des betre�enden Metallions in Vielfachenvon µB, sowie die Zahl der freien Elektronen. Man bestimme ebenso die spe-zi�sche Suszeptibilität von entweder Dysprosium(III)- oder Gadolinium(III)-chlorid und berechne daraus das permanente magnetische Moment des betref-fenden Metallions in Vielfachen von µB, sowie den Gesamtspin J . Die Ergebnissesollen anhand der bekannten Elektonenkon�gurationen der untersuchten Metal-lionen diskutiert werden (Fehlerrechnung und -betrachtung!). Auÿerdem sollendie ermittelten Werte mit Literaturdaten verglichen werden [5]15.

Versuchsdurchführung

Achtung: Verwenden Sie beim Umfüllen der MetallsalzlösungenSchutzhandschuhe, und informieren Sie sich über die R- und S-Sätzeder Substanzen!

Die bereitgestellten Salzlösungen sollen solange wie möglich wiederverwendetwerden. Deshalb ist das Glasgefäÿ vor dem Einfüllen der jeweiligen Lösung sorg-fältig zu säubern und zu trocknen (dest. Wasser und Aceton, Fön). Die Lösungenwerden nach Verwendung in die Vorratsgefäÿe zurückgefüllt. Das verbrauchteAceton wird in den Restebehälter gegossen.

Für den Versuch wird ein Elektromagnet benutzt, der zwischen seinen Polschu-hen ein ca. 1 cm langes magnetisches Feld mit einer maximalen Feldstärke vonca. 1.6 · 106 Am−1, entsprechend einer Flussdichte von B = 2.0 T, zu erzeu-gen gestattet. Für die Messung wird zunächst das am Platz be�ndliche U-Rohrmit der betre�enden Lösung befüllt, so dass der Flüssigkeitsspiegel im schmalenSchenkel des Rohres etwa 2 cm über der Biegung steht. Anschlieÿend wird dieserSchenkel bei eingeschaltetem Magnetfeld in den Spalt des Magneten gebracht,und die gewünschte Höhe am Stativ eingestellt. Dabei sollte man darauf achten,dass sich das Rohr möglichst mittig zwischen den Polschuhen be�ndet. Die Hö-he h1 des Meniskus wird durch Projektion auf einen Schirm (Millimeterpapier)gemessen. Anschlieÿend wird das Feld abgeschaltet (Vorsicht: Das Feld nichtschlagartig, sondern langsam durch Verringerung der Stromstärke ab-schalten!) und die Höhe h2 auf dem Schirm abgelesen. Der Projektionsmaÿstab

15Beachten Sie, dass die tabellierten Werte in [5] mit dem Faktor 4π multipliziert werdenmüssen, um zu SI-Einheiten zu gelangen.

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wird mit Hilfe einer Millimeterskala bestimmt, so dass anschlieÿend die tatsäch-liche Höhendi�erenz ∆h berechnet werden kann.

Folgende Lösungen werden verwendet: 15%ige Mangan(II)-, Cobalt(II)-und Chrom(III)-chlorid-Lösung; 20%ige Kupfer(II)-chlorid-Lösung; 10%igeDysprosium(III)- und Gadolinium(III)-Lösung (Massenprozent, bezogen auf daskristallwasserfreie Salz). Zuerst wird das Feldstärkepro�l des Elektromagne-ten mit Hilfe der Manganchloridlösung aufgenommen und gra�sch dargestellt(H = f(h)). Dazu sind mindestens zehn Messpunkte erforderlich. Bei der Höhe,bei der H maximal ist, werden zur genauen Bestimmung von Hmax weitere fünfMesswerte aufgenommen und der Mittelwert gebildet. Hierbei ist unbedingtdarauf zu achten, dass Hmax genau bestimmt wird und alle folgenden Messun-gen bei Hmax durchgeführt werden. Bei falscher Bestimmung muss der Versuchwiederholt werden. Die spezi�sche Suszeptibilität der MnCl2-Lösung wird nachGleichung (6.49) aus folgenden Daten berechnet:

χg(MnCl2, 20◦C) = +4π · 1.08 · 10−4cm3g−1

χg(H2O , 20◦C) = −4π · 7.2 · 10−7cm3g−1

Aus der spezi�schen Suszeptibilität und der gemessenen Höhendi�erenz kanndann mittels Gl. (6.47) die maximale Feldstärke Hmax berechnet werden.

Anschlieÿend wiederholt man das Experiment mit den anderen Salzlösungenbei der Position maximaler Feldstärke für jede Lösung fünf Mal und berechnetjetzt aus den Mittelwerten gemäÿ (6.47) die spezi�schen Suszeptibilitäten derLösungen. Während des Experimentes sollte die Gleichförmigkeit des Erreger-stromes am Ampèremeter laufend überwacht und die Temperatur gemessenwerden.

Zur Auswertung berechne man nach Gleichung (6.49) die spezi�schen Sus-zeptibilitäten der Salze aus denen der Lösungen. Diese werden anschlieÿend indie molaren Suszeptibilitäten umgerechnet. Daraus bestimme man unter Ver-nachlässigung der kleinen diamagnetischen Suszeptibilitäten der Ionen gemäÿGl. (6.38) die permanenten magnetischen Momente |~m| der einzelnen Metallio-nen. Bei den Ionen der Eisengruppe gelangt man mit Hilfe von Gleichung (6.34)(Van Vlecksche spin-only Formel) zur Zahl der ungepaarten Elektronen, woraussich gemäÿ n = 2S die Zahl der ungepaarten Elektronen ergibt. Beim Ion derseltenen Erden lässt sich aus Gleichung (6.36) der Gesamtspin ermitteln.

Im Text erwähnte Literatur

[1] C. Kittel, Einführung in die Festkörperphysik, 14. Au�age, Oldenbourg-Verlag, 2006.[2] H. Hänsel, W. Neumann, Physik, Band 4 (Moleküle und Festkörper), Spek-trum Verlag 1996.[3] G. Wedler, Lehrbuch der Physikalischen Chemie, 4. Au�age, Wiley-VCH1997.[4] P. W. Atkins, R. Friedmann, Molecular Quantum Mechanics, 4. Au�age,Oxford University Press 2005.[5] D. R. Lide, CRC Handbook of Chemistry and Physics, CRC Press.

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7 Silberdi�usion in Silbersul�d

7.1 Stichworte

� Gitterdefekte in Festkörpern und ihre Klassi�zierung

� Thermodynamik der Punktdefekte, Defektgleichgewichte

� Elektrochemisches Potential, Aktivität↔ Stöchiometrie einer Verbindung

� Di�usion im Festkörper, Mechanismen der Di�usion, verschiedene Di�u-sionskoe�zienten

� Galvanische Ketten

� Festkörperreaktionen, Parabolisches Wachstumsgesetz

7.2 Literatur

Grundlagen

� W. Borchardt-Ott, Kristallographie: Eine Einführung für Naturwissen-schaftler, 6. Au�., Springer-Verlag 2008.

� L. Smart, E. Moore, Einführung in die Festkörperchemie, Vieweg 1997,insbes. S. 145 - 159.

� H. Rickert, Elektrochemistry of Solids, Springer Verlag, Berlin 1982.

Weiterführend

� H. Schmalzried, Chemical Kinetics of Solids, VCH, Weinheim 1995.

� R. Haase, Transportvorgänge, Steinkop� Verlag 1987.

7.3 Theoretische Grundlagen

Eine Festkörperreaktion im klassischen Sinne liegt vor, wenn in kristallinen Pha-sen lokaler Materietransport beobachtet wird. Werden die Reaktionspartner beikonstantem Druck und konstanter Temperatur in ein geschlossenes System ein-gebracht, so wird die Reaktion freiwillig ablaufen, wenn sich die Gibbs-EnergieG (Freie Enthalpie) des Systems dabei verringert. Die Änderung von G ist iden-tisch mit der reversiblen Arbeit, die beim isothermen und isobaren Prozess amSystem geleistet wird. Die Volumenarbeit ist darin nicht enthalten.

Im Einkomponentensystem ist die Änderung der molaren Freien EnthalpiedGm gleich der Änderung des chemischen Potentials dµ. Wird eine Mengenein-heit einer gelösten Substanz von einem Ort z, an dem sie das chemische Poten-tial µ(z) hat, zu einem anderen Ort z+dz transportiert, an dem ihr chemischesPotential den Wert µ(z + dz) hat, so ist dafür die Arbeit

dW = µ(z + dz)− µ(z) = µ(z) +∂µ

∂z· dz − µ(z) =

∂µ

∂z· dz (7.1)

aufzuwenden.

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In der klassischen Mechanik wird die Arbeit dW = −Fdz gebraucht, umein Objekt gegen die Kraft F um eine Strecke dz zu bewegen. Damit folgt,dass der Gradient des chemischen Potentials eine Kraft ist. Diese thermody-namische Kraft kann als FTh = −(∂µ/∂z)p,T geschrieben werden. (Wenn dasGefälle des chemischen Potentials in einer beliebigen Raumrichtung vorliegt,kann es formal beschrieben werden als gradµ := (∂µ/∂x, ∂µ/∂y, ∂µ/∂z). ImFolgenden wird vereinfachend angenommen, dass das Potentialgefälle nur in z-Richtung vorliegt.) Der thermodynamischen Kraft liegt der zweite Hauptsatzund das Streben nach minimaler Freier Enthalpie und somit nach einer maxi-malen Entropie zugrunde. Bei dieser Gröÿe handelt es sich um eine molare Kraftmit der Einheit N·mol−1. Somit ergibt sich als Ursache für den Sto�transportdie lokale Änderung der partiellen molaren freien Enthalpie der verschiedenenTeilchensorten bzw. beim Transport von Ionen das chemische Potentialgefälle.

Der Transport von Materie im festen Zustand und damit die Reaktivitätfester Sto�e ist prinzipiell an die Bewegungsmöglichkeiten der einzelnen Gitter-bausteine gebunden. Jeder Materietransport in festen Phasen kann somit direktmit den Abweichungen von der idealen Kristallordnung in Zusammenhang ge-bracht werden.

Kristallfehler

In der Idealfall zeigt ein Kristall bei 0 K im Gleichgewicht ein regelmäÿigesGitter ohne jegliche Art von Fehlern. Das Gitter von Kristallen unter realenBedingungen ist jedoch immer gestört. Zur Klassi�zierung der Kristallfehlerwerden diese nach ihrer räumlichen Dimension eingeteilt:

� Punktdefekte sind nulldimensionale Kristallfehler, deren Wirkung sich nurauf die unmittelbare Umgebung der Fehlstelle beschränkt. Beispiele sindLeerstellen im regulären Gitter (das heiÿt, unbesetzte Gitterplätze dieüblicherweise nach dem Bauschema des Kristalls besetzt sein müssten),Zwischengitterteilchen (Teilchen, die sich auf normalerweise unbesetztenGitterlagen be�nden) oder Substitutionsfehler, bei denen reguläre Gitter-plätze durch Fremdteilchen belegt sind (siehe Abb. 7.1).

� Versetzungen als eindimensionale Kristallbaufehler bestimmen hauptsäch-lich das plastische Verhalten des Festkörpers. In Abb. 7.2 sind eine Stu-fenversetzung und eine Schraubenversetzung dargestellt. Entlang dieserVersetzungen können im Kristall Teilchen besonders schnell transportiertwerden. Auÿerdem erweisen sich Versetzungen als besonders günstige Ortezur Bildung neuer Phasen und für das Wachstum des Kristalls.

� Zu den zweidimensionalen Kristallfehlern zählen Korn- und Phasengren-zen, Stapelfehler und Ober�ächen.

� Dreidimensionale Fehler schlieÿlich sind z.B. Einschlüsse oder Ausschei-dungen in der Kristallmatrix.

In einphasigen Kristallen sind nur die Punktfehlstellen thermodynamisch stabil,d.h. ihre Konzentrationen sind jeweils durch die thermodynamischen Variablen

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Page 112: Physikalisch-Chemisches Praktikum II

Abbildung 7.1: Punktdefekte: a) Schematische Darstellung der Fehlordnungs-typen in AgBrund KCl . AgBrzeigt Frenkelfehlordnung. KClzeigt Schottky-fehlordnung. In beiden Fällen liegt thermische Fehlordnung vor. b) Silizium,das mit Aluminium bzw. Phosphor dotiert wurde. Defektelektronen (+) bzw.Überschusselektronen (−) be�nden sich als quasifreie Teilchen in der Nähe derDotierungsatome Al und P, die als Akzeptoren bzw. Donatoren wirken.

Abbildung 7.2: Eindimensionale Gitterdefekte. Links Stufenversetzung,rechts Schraubenversetzung.

112

Page 113: Physikalisch-Chemisches Praktikum II

p, T und die Zusammensetzung des Kristalls festgelegt. Diese Fehlstellen entste-hen statistisch im Kristall und sie wandern durch Brownsche Bewegung durchden Kristall. Sie können deshalb analog zu konventionellen chemischen Spezi-es wie Moleküle beschrieben werden, die in einer Lösung vorliegen, sich darinstatistisch bewegen, zerfallen oder auch aus anderen Molekülen entstehen. Ent-sprechend lassen sich chemische Gleichgewichte im Rahmen der Thermodyna-mik formulieren. Die Konzentration und Anordnung aller übrigen Fehlstellenhängt von der Herstellungs- und Behandlungsweise des Kristalls ab, also vonseiner Vorgeschichte, und sind nicht Gegenstand der Gleichgewichtsthermody-namik.

Als Folge von Punktdefekten treten auch Verbindungen mit nichtidealer Stö-chiometrie auf. Das Silbersul�d, das Modellsubstanz dieses Versuches sein soll,hat einen stöchiometrischen Existenzbereich, der bei 300°C von Ag2.000S imGleichgewicht mit Schwefel bis Ag2.0025S im Gleichgewicht mit Silber reicht (vgl.Abb. 7.3). In der allgemeinen Schreibweise Ag2+δS gibt δ die Abweichung vonder idealen Stöchiometrie an. Während die oben angegebene mögliche Ände-rung der Zusammensetzung klein ist, kann sie jedoch eine sehr groÿe Änderungder Aktivität der Komponenten in diesem Bereich hervorrufen.

Silbersul�d bei 300°C:

Zusammensetzung Ag-Aktivität S-Aktivitätim Gleichgew. mit S Ag 2.0000S aAg = 0.01 aS = 1im Gleichgew. mit Ag Ag 2.0025S aAg = 1 aS = 0.0001

Di�usion im Festkörper

In Teil A des Versuchs wird die Bildung eines Silbersul�dkristalls aus Silberund Schwefel verfolgt. Das Wachstum des Kristalls auf einem Silberblock unter�üssigem Schwefel ist eine Folge des anliegenden Silberpotentialgradienten überder gebildeten Produktphase. Am Silberblock liegt die Aktivität aAg = 1 vor,am oberen Ende des Kristalls dagegen eine deutlich geringere Silberaktivität imKontakt mit Schwefel. Wie aus dem Phasendiagramm (siehe Abb. 7.3) ersicht-lich ist, liegen auch unterschiedliche Silberkonzentrationen im Sul�d vor. DasAktivitätsgefälle verursacht nun einen Fluss von Silberionen und Elektronendurch die bereits gebildete Produktphase in Richtung geringeren Silbergehaltes(siehe Abb. 7.4). Die im Gradienten wandernden Silberionen und Elektronenbilden, wenn sie an der Phasengrenze angelangt sind, zusammen mit �üssigemSchwefel neues Silbersul�d nach der Gleichung

2Ag+(Ag2S) + 2e−(Ag2S) + S(l) −→ Ag2S (7.2)

Wenn die Phasengrenzreaktionen

Ag −→ Ag+(Ag2S) + e−(Ag2S) (7.3)

und (7.2) schnell ablaufen und die Substanz ein guter Elektronenleiter ist (beidesist in erster Näherung für Ag2S erfüllt), dann wird das Wachstum des Ag2S -Kristalls durch die Di�usion der Silberionen bestimmt.

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Page 114: Physikalisch-Chemisches Praktikum II

Abbildung 7.3: Phasendiagramm Ag� S . Mit Zuordnung der jeweiligen Sil-beraktivität zur Stöchiometrie des Ag2S

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Page 115: Physikalisch-Chemisches Praktikum II

Abbildung 7.4: Schematische Darstellung der Vorgänge beim Wachstum desAg2S -Kristalls

Selbst wenn kein chemischer Potentialgradient vorliegt, bewegen sich die Sil-berionen auf Grund der statistischen Teilchenbewegung und der Fehlordnung imKristall. Die individuellen Teilchen bewegen sich in mikroskopischer Betrach-tungsweise in alle möglichen Richtungen, wobei ein dynamisches Gleichgewichtvorliegt, bei dem sich im Mittel alle Ströme aufheben. Dieser Vorgang wirdSelbstdi�usion genannt. Er wird gemessen, indem einige Teilchen radioaktivmarkiert werden (Tracer-Methode). Der so erhaltene Di�usionskoe�zient heiÿtTracerdi�usionskoe�zient.

In der Praxis ist der sogenannte Komponentendi�usionskoe�zient DK vongröÿerer Bedeutung. Er unterscheidet sich vom Tracerdi�usionskoe�zienten nurdurch einen ausschlieÿlich von der Gittergeometrie abhängigen Faktor.

Unter der Teilchenstromdichte ji versteht man die Anzahl der pro Zeiteinheitdie Einheits�äche passierenden Teilchen der Sorte i. Diese Grösse kann unterVerwendung der Teilchenkonzentration ci und der mittleren Driftgeschwindig-keit vi geschrieben werden als

ji = civi = cibiK , (7.4)

wobei die vi proportional zur treibenden Kraft K ist, mit der mechanischenBeweglichkeit bi als Proportionalitätsfaktor.

Die treibende Kraft K ist in diesem Zusammenhang der negative Gradientdes chemischen Potentials bezogen auf ein Teilchen:

K = − 1

NL

dzNL: Loschmidtsche Konstante (7.5)

Wird zunächst angenommen, dass für das chemische Potential der Störstellenwie für den gelösten Sto� in einer idealen Lösung folgende Beziehung gilt

µ = µ◦ +RT lnc

c◦, (7.6)

so ergibt sich mit dµ = RTd ln c und cd ln c = dc, sowie den Gleichungen (7.4),(7.5) und (7.6):

ji = −bikBTdcidz

kB: Boltzmann-Konstante (7.7)

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Page 116: Physikalisch-Chemisches Praktikum II

Ein Vergleich von Gleichung (7.7) mit dem 1855 von Fick empirisch beschrie-benen Di�usions�uss im Konzentrationsgradienten dc/dz zeigt:

ji = −Ddcidx

D: Fickscher Di�usionskoe�zient (7.8)

Hieraus erhält man die Nernst-Einstein-Beziehung für ideale Lösungen, gemäÿderer D gleich dem Produkt aus der Temperatur T , der mechanischen Beweg-lichkeit und der Boltzmann-Konstante ist:

D = bikBT (7.9)

Als Transportgleichung für ideale Lösungen resultiert daraus

ji = −DciRT· dµdz

(7.10)

Der Komponentendi�usionskoe�zient DK wird nun derart de�niert, dass sichauch für reales Verhalten eine ebensolche Transportgleichung ergibt, d.h.

ji = −DKciRT

dz(7.11)

Für den Komponentendi�usionskoe�zienten gilt die Nernst-Einstein-Beziehungallgemein, d.h. bei idealem und nichtidealem Verhalten. DK wird also durch dieBeziehung von Nernst-Einstein de�niert. Im Falle nichtidealer Lösungen gilt fürdas chemische Potential

µ = µ◦ +RT ln a a: Aktivität. (7.12)

Unter Berücksichtigung von dµ = RT ·d ln a und c ·d ln c = dc ergibt sich daraus

ji = −d ln aid ln ci

·DKdcidz

. (7.13)

Ein Vergleich mit dem 1. Fickschen Gesetz, Gl. (7.8), liefert den Zusammenhangzwischen dem Fickschen Di�usionskoe�zienten D und dem Komponentendi�u-sionskoe�zienten DK :

D = DKd ln aid ln ci

= DKω . (7.14)

ω heiÿt thermodynamischer Faktor. Für ideale Mischungen ist dieser Wert gleich1; für reale Systeme jedoch kann er sehr groÿe Werte annehmen. Im Falle einernichtidealen Mischung wird die Wechselwirkung der Mischungspartner durchden Aktivitätskoe�zienten beschrieben. Im Fickschen Di�usionskoe�zientenwird also zusätzlich zur Beweglichkeit der Ionen noch die Wechselwirkung mitden Mischungspartnern berücksichtigt. Im Falle des idealen Verhaltens wird derKomponentendi�usionskoe�zient DK mit dem Fickschen Di�usionskoe�zien-ten D identisch.

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Page 117: Physikalisch-Chemisches Praktikum II

Auf Grund der Elektronenneutralität sind die Silberionen- und Elektronen-�üsse in Ag2S miteinander gekoppelt. Sie können zu einem Fluss zusammenge-fasst werden, so dass in der Transportgleichung ein für beide Teilchen gemeinsa-mer Di�usionskoe�zient steht, der sogenannte �chemische Di�usionskoe�zient�.

Daraus ergibt sich für die Silber�uÿdichte jAg des Silber�usses, der für dasSilbersul�dwachstum verantwortlich ist:

jAg = −DdcAg

dz. (7.15)

Für den Sto�transport gilt zum einen Gleichung (7.15) und zum anderen ist dieFluÿdichte de�niert als transportierte Sto�menge pro Fläche A und Zeit t

jAg =1

A

dnAg

dt. (7.16)

Gleichsetzen von (7.15) und (7.16) liefert

−DdcAg

dz=

1

A

dnAg

dt. (7.17)

Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass pro Mol an die Phasengrenze trans-portiertes Ag ein halbes Mol Ag2S gebildet wird, d.h.

1

2dnAg = dnAg2S , (7.18)

ergibt sich für das Schichtwachstum

A · ds = V mAg2SdnAg2S =

1

2V m

Ag2SdnAg

V mAg2S : molares Volumen von Ag2S

(7.19)

Kopplung der Gleichungen (7.17), (7.18) und (7.19) und Integration liefern dasparabolische Wachstumsgesetz

1

2s(t)2 = kt s(t): Kristalllänge zur Zeit t. (7.20)

mit der parabolischen Wachstumskonstante k, aus der sich näherungsweise derchemische Di�usionskoe�zient bestimmen lässt nach

k = −c2∫c1

1

2V m

Ag2S DdcAg ≈ −1

2V m

Ag2S D∆cAg . (7.21)

Dabei wird in erster Näherung angenommen, dass der chemische Di�usionsko-e�zient unabhängig von der Zusammensetzung des Ag2S ist. Bei einer genauenBestimmung würde sich natürlich eine Abhängigkeit von der jeweiligen Silbe-raktivität im Silbersul�d ergeben. ∆cAg lässt sich aus dem Phasendiagrammermitteln. V m

Ag2S ist aus Tabellenwerken zu entnehmen.

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Page 118: Physikalisch-Chemisches Praktikum II

Abbildung 7.5: Messkette zur Bestimmung der Silberionenleitfähigkeit.

Bestimmung des Komponentendi�usionskoe�zienten

Im Versuchsteil B soll der Komponentendi�usionskoe�zient der Silberionen imAg2S bestimmt werden. Dies kann mit Hilfe der Anordnung in Abb. 7.5 gesche-hen. Unter Verwendung des Ohmschen Gesetzes folgt:

U∼I

= RKette +R1

U1 = R1I

⇒ RKette = R1

(U∼U1

− 1

) (7.22)

Wird eine Spannung an die Kette angelegt, so können sich nur Silberionen be-wegen, da AgI ein reiner Silberionenleiter mit der Überführungszahl tAg+ = 1ist, der also den Elektronentransport vollständig unterbindet. Aus dem Gesamt-widerstand der Kette ergibt sich damit die reine Silberionenleitfähigkeit σAg+ .Der Widerstand des Ag -Metalls ist vernachlässigbar.

Mit der De�nition der elektrischen Stromdichte jel als Quotient von Strom-stärke I und Leiterquerschnitt A

jel =I

A(7.23)

dem Ohmschen Gesetz

U = R · I (7.24)

der De�nition für den Widerstand

R =1

σ· lA

(7.25)

σ : spezi�sche Leitfähigkeitl : Länge des LeitersA : Querschnitt des Leiters

und der De�nition der elektrischen Feldstärke E als Quotient aus Spannungund Länge des Leiters

E =U

l(7.26)

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Page 119: Physikalisch-Chemisches Praktikum II

ergibt sich für die elektrische Stromdichte jel:

jel = σE (7.27)

Diese ist folgendermaÿen mit der Teilchen�uÿdichte verknüpft:

ji =jelziF

=σiE

ziF(7.28)

zi : Ladung der betrachteten IonenF : Faraday-Konstante

Im Ag2S -Kristall liegt bei angelegter Spannung ein Gleichgewicht zwischen derKraft des elektrischen Stroms (Fel = zAg+ · eE) und der Reibungskraft, die aufdie wandernden Ag+-Ionen wirkt (FR = vAg+/bAg+), vor. Damit folgt für dieelektrische Feldstärke

E =νAg+

bAg+zAg+ee: Elementarladung , (7.29)

und für die Leitfähigkeit der Ag+-Ionen ergibt sich schlieÿlich

σAg+ = z2Ag+Fe cAg+bAg+ , (7.30)

Wenn gleichzeitig ein Konzentrations- bzw. Aktivitätsgradient und ein elektri-sches Feld vorhanden sind, wird angenommen, dass sich die durch die beidenArten von Kräften verursachten Teilchen�üsse addieren

ji = −cibiNL

(gradµ+ ziFgradφ) = −cibiNL

gradη

= −ciDK

RTgradη = − σi

z2i F

2gradη

(7.31)

φ : elektrisches Potentialη : elektrochemisches Potential

Dabei ist zu beachten, dass die mechanische Beweglichkeit bi für einen Teilchen-�uÿ in einem Aktivitätsgefälle identisch ist mit derjenigen zur Beschreibung imelektrischen Feld.

Für das Ag2S ist die Teilleitfähigkeit σS2− der Schwefelanionen gegenüberder der Silberionen vernachlässigbar, d.h. das Bezugssystem ist ein praktischunveränderliches Anionenteilgitter. Auÿerdem ist die Elektronenteilleitfähigkeitwesentlich gröÿer als die der Silberionen. Es gilt also:

σe− � σAg+ � σS2− .

Der Fluss des Silbers setzt sich aus den Flüssen der Silberionen und der Elek-tronen zusammen. Für diese gilt unter Verwendung der Teilleitfähigkeiten σiund der elektrochemischen Potentiale ηi:

jAg+ = −σAg+

z2Ag+F 2

dηAg+

dzund je− = −σe

F 2

dηe−

dz(7.32)

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Page 120: Physikalisch-Chemisches Praktikum II

Da aus Gründen der Elektroneutralität die Flüsse der Metallionen, der Elektro-nen und des neutralen Metalls äquivalent sein müssen (jAg+ = je− = jAg ) unddie elektrochemischen Potentiale ηAg+ und ηe− zu dem chemischen PotentialµAg des neutralen Metalls zusammenfassbar sind, folgt aus Gl. (7.32)

jAg = jAg+ = −σAg+σe−

z2Ag+F 2(σAg+ + σe−)

dµAg

dz(7.33)

Mit σe− � σAg+ und Gl. (7.30) folgt:

jAg = −σAg+

z2Ag+F 2

dµAg

dz= −

cAg+DAg+

RT

dµAg

dz. (7.34)

Ein Vergleich zwischen den Gleichungen (7.16) und (7.34)

−DdcAg

dz= −

cAg+DAg+

RT

dµAg

dz(7.35)

liefert mit dµ = RTd ln a und cd ln c = dc:

D = DAg+

d ln aAg+

d ln cAg

= DAg+ω . (7.36)

Somit kann aus dem chemischen Di�usionskoe�zienten D und dem Kompo-nentendi�usionskoe�zienten DAg+ der thermodynamische Faktor ω bestimmtwerden.

7.4 Aufgabenstellung und Versuchsdurchführung

Theoretische Aufgabe

Leiten Sie das parabolische Wachstumsgesetz, Gl. (7.20), aus den Gleichungen(7.17), (7.18) und (7.19) ab.

Bestimmung der parabolischen Wachstumskonstanten für Silbersul�d

Zur Bestimmung der parabolischen Wachstumskonstanten wird die Bildung ei-nes Ag2S -Kristalls aus Ag und Schwefel als Funktion der Zeit beobachtet unddie mit einem Kathetometer bestimmte Kristallänge als Funktion von t aufge-tragen. Unter Anwendung des parabolischen Wachstumsgesetzes lässt sich beigeeigneter Auftragung dann die Wachstumskonstante k bestimmen.

Mit Hilfe eines Glasstempels wird der planparallele Silberblock (Durchmes-ser 4 - 5 mm, Höhe mindestens 3 mm) gegen die Ö�nung der Kapillare ge-drückt (es ist darauf zu achten, dass guter Kontakt zwischen Glasboden undAgvorliegt) und mit Hilfe zweier Federzüge, die am Stempel eingehängt wer-den können, fest angezogen. Die Federzüge sorgen für eine einfache Nachführungdes Blockes, auch wenn Ag verbraucht wird. Die gesamte Glasapparatur wird ineinen ca. 1/4 h bei 60 V vorgeheizten Glasröhrenofen geschoben. Die Tempera-tur soll etwa 300°C betragen. Sie kann exakt mit einem NiCr/Ni-Thermoelement

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Page 121: Physikalisch-Chemisches Praktikum II

Abbildung 7.6: Glasapparatur zur Messung des Kristallwachstums.

bestimmt werden. Erst dann wird vorsichtig Schwefel in das Glasrohr gegeben.Als Zeitpunkt t = 0 wird der Moment gezählt, wo Silberblock und Schwefel ers-ten Kontakt haben. Zu Beginn wird alle 10 Min., später seltener die Kristallängeabgelesen. Es ist während der Versuchsdurchführung darauf zu achten, dass im-mer genug Schwefel im Glasröhrchen ist (eventuell nachfüllen). Bei einer Längedes Kristalls von ca. 3 cm kann der Versuch abgebrochen werden. Glasstempelund Federn sind gereinigt an den Versuchsplatz zu legen. Das Glasröhrchen mitdem Kristall kann nicht gereinigt werden und wird bei dem/der technischenAssistenten/in abgegeben.

Messung der ionischen Leitfähigkeit von Ag2S

In der im zweiten Teil des Versuchs benutzten Kette (Ag |AgI |Ag2S |AgI |Ag)ist AgI bei den gewählten Versuchstemperaturen ein reiner Ionenleiter für Sil-berionen, so dass bei Strom�uss durch die Kette nur Silberionen �ieÿen können,da durch das AgI ein Strom der Elektronen unterdrückt wird. Wird also die Ge-samtleitfähigkeit der Zelle gemessen, so wird damit die Silberionenleitfähigkeitim Ag2S bestimmt. Zur Messung der Ionenleitfähigkeit wird eine Wechselspan-nung (ca. 200 mV / 50 Hz) an die Kette gelegt und der Spannungsabfall überdem festen Widerstand R1 gemessen. Daraus wird der Kettenwiderstand be-stimmt, der dann die Leitfähigkeit der Kette liefert nach:

σAg+ =l

ARKette

(7.37)

l: Länge des Kristalls

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Page 122: Physikalisch-Chemisches Praktikum II

A: Querschnitts�äche

R1 und U∼ werden mit dem Multimeter genau ausgemessen. A und l sind denAngaben am Arbeitsplatz zu entnehmen. Die Silberionenleitfähigkeit soll alsFunktion der Temperatur gemessen werden, wobei im Bereich zwischen 190°Cund 420°C etwa 10 Meÿpunkte aufgenommen werden sollen. Es muÿ bei jedemMeÿpunkt auf die Einstellung des thermischen Gleichgewichtes gewartet werden,was etwa 20 Min. dauert.

Aus den im ersten Versuchsteil gemessenen Daten sollen der chemische Dif-fusionskoe�zient D , der Komponentendi�usionskoe�zient DAg+ und die Leit-fähigkeit σAg+ des Silbers im Ag2S bei der vorgegebenen Temperatur bestimmtwerden. Welche Auftragung von Leitfähigkeit gegen Temperatur ist sinnvoll?Weiterhin soll der thermodynamische Faktor berechnet und interpretiert wer-den, welcher den Komponentendi�usionskoe�zienten, der als Maÿ für die Ionen-beweglichkeit zu sehen ist, über einen konzentrationsabhängigen Aktivitätskoef-�zienten mit dem chemischen Di�usionskoe�zienten verknüpft. Die ermitteltenWerte sind mit Literaturwerten zu vergleichen und zu diskutieren.

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Page 123: Physikalisch-Chemisches Praktikum II

8 Kinetik schneller Reaktionen mit der

�Stopped-Flow� Methode

8.1 Grundlagen

� De�nition der Reaktionsgeschwindigkeit, Geschwindigkeitskonstante, Ele-mentarreaktionen

� Ordnung, Molekularität, Pseudo-Ordnung

� Geschwindigkeitsgesetze, Formalkinetik

� Exp. Bestimmung von Reaktionsgeschwindigkeiten (di�erentiell, integral,Halbwertszeiten), Stopped-Flow Verfahren

� Arrhenius-Gleichung, Aktivierungsenergie, Frequenzfaktor

� Potentialhyper�ächen, Reaktionskoordinate, kinetischer Isotopene�ekt

� Stoÿtheorie, Maxwell-Boltzmann Geschwindigkeitsverteilung

� Theorie des aktivierten Komplexes (Eyring)

� Kinetik von Reaktionen in Lösung, di�usionskontrollierte Reaktionen

� Grundlagen der Photometrie, Lambert-Beersches Gesetz

8.2 Literatur

Grundlagen� Wedler, 4. Au�., Kapitel 6.1 � 6.5.

� Atkins, 5. Au�., Kapitel 22 und Kapitel 24

Weiterführend� S. R. Logan, Grundlagen der Chemischen Kinetik, Wiley-VCH 1997.

� P. L. Houston, Chemical Kinetics and Reaction Dynamics, Dover Publi-cations 2006.

� R. I. Masel, Chemical Kinetics and Catalysis, Wiley-Interscience 2001.

8.3 Theoretische Grundlagen

Einleitung

Im Versuch soll die Kinetik der Dehydrierung von Ascorbinsäure (VitaminC) durch 2,6-Dichlorphenolindophenol-Natrium (DCIP), auch als Tillmanns-Reagenz bekannt, bei pH 8 (H2PO

�4/HPO4

2−-Pu�er) untersucht werden (s. Abb.8.1). DCIP zeigt in neutraler Lösung eine intensiv blaue Färbung, während diereduzierte Form farblos ist. Der Fortgang der obigen Reaktion lässt sich da-her spektralphotometrisch verfolgen. Die Reaktion verläuft so schnell, dass her-kömmliche Verfahren zum Mischen der Komponenten nicht anwendbar sind.Daher wird das Stopped-Flow Verfahren eingesetzt, welches eine sehr schnelleDurchmischung ermöglicht.

123

Page 124: Physikalisch-Chemisches Praktikum II

Abbildung 8.1: Oxidation von Ascorbinsäure mit DCIP.

Die Geschwindigkeitsgleichung der obigen Reaktion lautet:

d[DCIP]

dt= −k · [Asc.]p[DCIP]q (8.1)

Es ist bekannt, dass die Reaktion von erster Ordnung bezüglich DCIP ist(q = 1). Die Versuchsbedingungen werden nun so gewählt, dass ein groÿer Über-schuss von Ascorbinsäure verwendet wird, so dass deren Konzentration in ersterNäherung als konstant angesehen werden kann. Man gelangt so zu einem Ge-schwindigkeitsgesetz pseudo-erster Ordnung für die Konzentration von DCIP:

d[DCIP]

dt= −ke� · [DCIP] mit ke� = k[Asc.]p (8.2)

Die Lösung dieser Gleichung ergibt eine logarithmische Abhängigkeit der DCIP-Konzentration von der Zeit:

ln

([DCIP]

[DCIP]0

)= −ke� · t bzw. [DCIP] = [DCIP]0e

−ke�·t (8.3)

[DCIP]0 ist hierbei die Ausgangskonzentration.Durch eine Auftragung des Logarithmus der Konzentration gegen die Zeit,

oder auch durch einen direkten Fit der Messdaten mit einer Exponentialfunk-tion, lässt sich also die e�ektive Geschwindigkeitkonstante bestimmen und ausdieser wiederum die Konstante k, wenn die Ordnung der Reaktion bzgl. deszweiten Reaktanden (Ascorbinsäure) bekannt ist.

Messprinzip, Strömungsmethoden

Das Stopped-Flow Verfahren wurde in den 1960er Jahren, aufbauend auf den be-reits bekannten Strömungsverfahren, zur Beobachtung schneller Reaktionen mit

124

Page 125: Physikalisch-Chemisches Praktikum II

Halbwertszeiten im Sekunden- und Millisekundenbereich entwickelt. Der Auf-bau einer Strömungsapparatur mit photometrischer Detektion ist schematischin Abbildung 8.2 dargestellt. Es werden zwei Lösungen der beiden Reaktandenhergestellt und diese mittels zweier Hochdruckspritzen in die MischungskammerM gepresst, wo sie sich innerhalb weniger Millisekunden, oder auch schneller,vermischen. Anschlieÿend �ieÿen die Lösungen in ein Beobachtungsrohr R, woin der Entfernung x von der Mischkammer die Absorption des Lichtes aus derQuelle S (Lichtquelle + Monochromator) mittels des Detektors D beobach-tet wird. Man kann nun den zeitlichen Verlauf der Reaktion verfolgen, indemman Messungen bei unterschiedlichen Positionen x durchführt. Bei bekannterFlieÿgeschwindigkeit lässt sich daraus die Zeitabhängigkeit der Konzentrationbestimmen. Bei einer anderen Methode wird die Entfernung x konstant gehal-ten, und die Flieÿgeschwindigkeit wird variiert. Beide dieser �Continous Flow�Methoden haben den Nachteil eines groÿen Substanzverbrauches.

Abbildung 8.2: Aufbau einer Srömungsapparatur.

Bei der �Stopped Flow� Methode (Abb. 8.3) bleibt die Entfernung x, wieauch die Strömungsgeschwindigkeit u konstant. Der Fluss wird jedoch nacheiner bestimmten Zeitspanne tTot = x/u nach Beginn der Durchmischung ab-rupt angehalten. Dies geschieht in der Regel, indem an den Auslass der Strö-mungsapparatur eine weitere Spritze angebracht wird, in die die abreagierteLösung gepresst wird. Diese Spritze wird nach kurzer Zeit mechanisch ange-halten. Anschlieÿend kann der Reaktionsverlauf in einem bestimmten, festenVolumen am Beobachtungspunkt (Küvette, K) gemessen werden. Es handeltsich also eigentlich nicht um eine Strömungsmethode, sondern es wird lediglichdie dort entwickelte Technik verwendet, um eine sehr schnelle Durchmischungder Reaktanden zu erreichen. Es ist wichtig, die Totzeit des Apparates, wäh-rend derer nicht gemessen werden kann, zu minimieren. Dies geschieht, indemman möglichst groÿe Strömungsgeschwindigkeiten und möglichst kleine Flüs-sigkeitsvolumina verwendet. Auÿerdem ist ein kompakter Aufbau, bei dem der

Abbildung 8.3: Aufbau einer Stopped-Flow-Apparatur.

125

Page 126: Physikalisch-Chemisches Praktikum II

Beobachtungspunkt möglichst nahe bei der Mischungskammer liegt, von Vorteil.Zur Beobachtung des Reaktionsfortschrittes kann neben Absorptionsmes-

sungen eine Reihe weiterer spektroskopischer Verfahren eingesetzt werden. Hier-bei ist insbesondere die Fluoreszenzspektroskopie zu erwähnen, die vor allem fürbiochemische Systeme eingesetzt wird. Auch Leitfähigkeitsmessungen könnenzur Detektion verwendet werden.

Prinzip der photometrischen Messung

Der Fortgang der Dehydrierungsreaktion nach dem Mischen der Lösungen, wirdim Versuch anhand der Abnahme der Extinktion am Absorptionsmaximum vonDCIP bei 615 nm verfolgt. Für die Transmission T der Probe gilt das Lambert-Beersche Gesetz

T =I

I0

= 10−ε(λ)cd , (8.4)

wobei I die Lichtintensität nach Durchtritt durch die Probe, I0 die Intensitätdes einfallenden Lichtes, c die Konzentration der untersuchten Substanz, d dieLänge des Lichtweges in der Probe und ε(λ) der molare dekadische Extinktions-koe�zient ist. Im UV/Vis-Bereich wird aber als Messgröÿe üblicherweise nichtT , sondern die Absorbanz (früher auch als Extinktion bezeichnet) verwendet:

A = − log T (8.5)

Daraus ergibt sich die Konzentration im Stopped-Flow-Experiment zu:

c(t) =1

εdA(t) (8.6)

Aus Gleichung (8.4) ergibt sich somit (ε(λ) und d sind zeitunabhängig):

A(t) = A0e−ke�t (8.7)

Aus einer Messung der Absorbanz in Abhängigkeit von der Zeit kann somitdirekt die Geschwindigkeitskonstante der Reaktion ermittelt werden.

Arrhenius-Gleichung, Temperaturabhängigkeit der Geschwindig-keitskonstanten

Die Geschwindigkeitskonstanten chemischer Reaktionen zeigen in der Regel einesehr starke Abhängigkeit von der Temperatur. Aus einer Vielzahl experimentel-ler Beobachtungen wurde von Arrhenius eine Gleichung abgeleitet, welche dieReaktionsgeschwindigkeit mit der Temperatur verknüpft

k = A exp(−Ea/RT ) , (8.8)

wobei Ea die Aktivierungsenergie und A der präexponentielle Faktor oder auchStoÿfaktor genannt werden. Durch Logarithmieren ergibt sich

ln k = lnA− Ea/RT (8.9)

126

Page 127: Physikalisch-Chemisches Praktikum II

Abbildung 8.4: Potentielle Energie als Funktion der Reaktionskoordinate

woraus folgt, dass diese beiden Gröÿen bei Auftragung des Logarithmus derGeschwindigkeitskonstanten gegen die reziproke Temperatur aus der Steigungund dem Achsenabschnitt gewonnen werden können.

Eine anschauliche Interpretation der Arrhenius-Gleichung ergibt sich, wennman die Änderung der potentiellen Energie im Verlaufe einer Reaktion betrach-tet. Siehe dazu Abb. 8.4. Zu Beginn liegen die Ausgangssto�e vor, die sichaneinander annähern müssen, damit die Reaktion statt�nden kann, wodurchdie potentielle Energie des Systems steigt. Nach der Reaktion entfernen sich dieProduktmoleküle wieder voneinander und die potentielle Energie nimmt wiederab. Der Fortschritt der Reaktion kann durch die sogenannte Reaktionskoordina-te wiedergegeben werden, welche die Änderungen aller Koordinaten des Systems(Bindungslängen, Bindungswinkel etc.) im Verlauf der Reaktion widerspiegelt.Eine präzisere De�nition der Reaktionskoordinate �ndet sich z. B. im �Wedler�,Kapitel 6.4.3.

Aus der Abbildung ist zu erkennen, dass die potentielle Energie des Systemsim Verlaufe der Reaktion ein Maximum durchlaufen muss. Die Geometrie, beider dieses Maximum erreicht wird, wird als Übergangszustand bezeichnet. Ei-ne einfache stoÿtheoretische Überlegung ergibt, dass die Geschwindigkeit einerReaktion gegeben ist durch die Anzahl der Stöÿe der Reaktanden multipliziertmit der Wahrscheinlichkeit, dass ein Stoÿ zur Reaktion führt. Geht man von derklassischen Boltzmann-Verteilung aus, so besteht ein exponentieller Zusammen-hang zwischen der Energie eines Stoÿes und der Wahrscheinlichkeit, dass dieserauftritt. Demnach lässt sich der Exponentialterm in Gl. (8.8) als Erfolgswahr-scheinlichkeit für einen Stoÿ und der präexponentielle Faktor A als Stoÿfrequenzinterpretieren. Die Aktivierungsenergie Ea stimmt dann, wie in Abb. 8.4 gezeigt,mit der Höhe der Energiebarriere entlang der Reaktionskoordinate überein.

Die Arrhenius-Gleichung ist eine empirisch gewonnene Gesetzmäÿigkeit, siekann aber sowohl mit Hilfe der Stoÿtheorie, als auch durch die Theorie des ak-tivierten Komplexes (Eyring-Theorie), welche im Folgenden geschildert werdensollen, gerechtfertigt werden.

127

Page 128: Physikalisch-Chemisches Praktikum II

Die Stoÿtheorie

In ihrer einfachsten Form geht diese Theorie davon aus, dass sich eine chemi-sche Reaktion als Stoÿprozess zwischen starren Kugeln ohne Wechselwirkungenbeschreiben lässt, wobei der Stoÿ eine gewisse Mindestenergie aufweisen muss,damit die Reaktion erfolgt. Ist die Mindestenergie bekannt, so reduziert sichdie Berechnung der Geschwindigkeitskonstante für eine bimolekulare Reaktionauf die Bestimmung der Anzahl der Stöÿe pro Zeiteinheit zwischen den beidenbeteiligten Molekülarten A und B. Es lässt sich also schreiben

J = ZAB · F , (8.10)

wobei ZAB die Anzahl der Stöÿe pro Zeit- und Volumeneinheit und F denBruchteil der Stöÿe mit ausreichender Energie darstellen. J ist die Reaktions-geschwindigkeit in der Einheit Teilchen pro Sekunde.

Die Stöÿe erfolgen zwischen Molekülen von A und B, welche sich unabhän-gig voneinander durch den Raum bewegen, wobei die Geschwindigkeiten mittelsder kinetischen Gastheorie bestimmt werden können. Um die Betrachtung zuvereinfachen, ist es sinnvoll, sich eine Situation vorzustellen, bei der die Teil-chen der Sorte B ruhen und sich nur die Teilchen A bewegen. Dieses Bild wirdäquivalent zur tatsächlichen Situation, bei der sich alle Moleküle bewegen, wennman annimmt, dass sich die Teilchen A nicht mit ihrer gewöhnlichen mittlerenMolekülgeschwindigkeit, sondern mit der mittleren Relativgeschwindigkeit vAB

bewegen. Diese berechnet sich im Rahmen der kinetischen Gastheorie (Maxwell-Boltzmann-Verteilung) zu

vAB =

√8kBT

πµ, (8.11)

mit der reduzierten Masse µ = mAmB

mA+mBund der Boltzmann-Konstante kB. Die

Zahl der Stöÿe ergibt sich dann durch folgende Betrachtung (s. Abbildung 8.5):Ein Teilchen der Sorte A legt im Zeitintervall ∆t die Strecke vAB · ∆t zurück.In dieser Zeit kollidiert es mit allen Molekülen der Sorte B, welche sich in demsogenannten Stoÿzylinder mit dem Querschnitt σ und der Höhe vAB ·∆t be�n-den, wobei der Stoÿquerschnitt σ der Summe der Radien der als kugelförmig

Abbildung 8.5: Zur Berechnung der Stoÿzahl ZAB

128

Page 129: Physikalisch-Chemisches Praktikum II

angenommenen Moleküle A und B entspricht. Die Zahl der Stöÿe eines TeilchenA pro Zeiteinheit ergibt sich dann gemäÿ:

Z = σvABNB (8.12)

wobei NB der Teilchenzahldichte der Spezies B entspricht. Die Gesamtzahl derStöÿe pro Zeiteinheit und pro Volumeneinheit erhält man daraus durch Multi-plikation mit der Teilchenzahldichte von A:

ZAB = σvABNANB = σ

√8kBT

πµ·NANB (8.13)

Um den Faktor F zu bestimmen, nimmt man an, dass eine Reaktion beim Stoÿnur dann eintritt, wenn die kinetische Energie für die Bewegung entlang derKernverbindungslinie einen Minimalwert εmin erreicht bzw. überschreitet. DerBruchteil von Molekülen, für die dieses gilt, lässt sich mittels der Boltzmann-Verteilung bestimmen.16 Es gilt:

F = e− εmin

kBT (8.14)

Es besteht im Rahmen der Stoÿtheorie keine Möglichkeit, die Minimalenergieεmin zu berechnen. Aus (8.13) und (8.14) erhält man für die Reaktionsgeschwin-digkeit in mol l−1 s−1

r =J

NA

= σ

√8kBT

πµe− εmin

kBT1

NA

·NANB = σ

√8kBT

πµe−

EminRT NA[A][B] , (8.15)

wobei Emin die Minimalenergie pro mol der Reaktanden und NA die Avogadro-Konstante darstellt.

Das phänomenologische Geschwindigkeitsgesetz für die bimolekulare Reak-tion hat die Form:

r = k2[A][B] (8.16)

Vergleicht man (8.15) mit (8.16), so erhält man für die Geschwindigkeitskon-stante k2:

k2 = NAσ

√8kBT

πµ· e−

EminRT (8.17)

Es ergibt sich somit tatsächlich ein Arrhenius-Verhalten, wobei für die Aktivie-rungsenergie gemäÿ

Ea = −R(d ln k2

d(1/T )

)= RT 2

(d ln k2

dT

)(8.18)

16Siehe dazu: Wedler (4. Au�.), Kapitel 1.3.

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Page 130: Physikalisch-Chemisches Praktikum II

der folgende Ausdruck erhalten wird:17

Ea = Emin +RT

2(8.19)

Durch Vergleich zwischen Gleichung (8.9) und (8.17) folgt für den präexponen-tiellen Faktor:

A = NAσ

√8kBTe

πµ(8.20)

Theorie des aktivierten Komplexes (Eyring-Theorie)

Die von Eyring und Polanyi in den 1930er Jahren entwickelte Theorie des ak-tivierten Komplexes stellt bis heute einen der besten theoretischen Ansätze zurBerechnung von Geschwindigkeitskonstanten dar. Im Rahmen dieses Modellswird der Komplex, der sich aus den Reaktanden im Übergangszustand einerReaktion bildet, wie eine eigene chemische Spezies behandelt, die entlang eineskurzen Teilstückes δ der Reaktionskoordinate in der Nähe des Sattelpunktesexistent ist (siehe Abb. 8.4). Als Beispiel sei die bimolekulare Reaktion

A + BC −→ AB + C (8.21)

betrachtet. Der aktivierte Komplex M‡ wird hier einer Kon�guration der Kerneentsprechen, bei der es bereits zu einer spürbaren bindenden Wechselwirkungzwischen dem Molekül A und dem Fragment B kommt und die Bindung zwi-schen den Fragmenten B und C gelockert, jedoch noch nicht vollständig gebro-chen ist. Die Hin- und die Rückreaktion lassen sich dann schreiben als

A + BC −→ M‡ −→ AB + CAB + C −→ M‡ −→ A + BC .

(8.22)

Es sei erwähnt, dass die Eyring-Theorie genauso gut auf Reaktionen mit andererMolekularität, wie z. B. unimolekulare Zerfallsreaktionen, angewendet werdenkann. Ist der Übergangszustand erreicht, so kann das Molekül entweder zu denReaktanden oder zu den Produkten weiterreagieren. Aufgrund des Prinzips dermikroskopischen Reversibilität kann man dabei annehmen, dass beide Reak-tionen gleich wahrscheinlich sind und somit jeweils die Hälfte der Moleküle zuAusgangssto�en und den Endprodukten abreagiert.

Man postuliert nunmehr, dass sich trotz der extrem kurzen Lebensdauerdes aktivierten Komplexes ein Gleichgewicht zwischen dieser Spezies und denEdukten ausbildet:

A + BC � M‡ (8.23)17Um zu verstehen, warum Gl. (8.18) zur Bestimmung der Beziehung zwischen Ea und

Emin verwendet wird, erinnern Sie sich daran, dass die Arrhenius-Gleichung eine empirischeBeziehung ist und die Aktivierungsenergie keine andere Bedeutung hat, als die Steigung derexperimentell erhaltenen Kurve von ln k gegen 1/T , welche meist in sehr guter Näherung eineGerade darstellt. Diese experimentelle Gröÿe muss mit dem aus der Stoÿtheorie resultierendenAusdruck für die Steigung verglichen werden. Auf gleiche Art erhält man im Rahmen derEyring-Theorie die Beziehungen (8.43) und (8.44), wie in der ersten theoretischen Aufgabegezeigt werden soll.

130

Page 131: Physikalisch-Chemisches Praktikum II

Die zugehörige Gleichgewichtskonstante ist über das Massenwirkungsgesetz ge-geben als

K‡ =[M‡]c−◦

[A][BC](8.24)

c−◦ ist die Standardkonzentration von 1 mol/l. Sie muss hier, im Falle einer bimo-lekularen Reaktion, berücksichtigt werden, damit die Gleichgewichtskonstantedimensionslos ist. Im Falle einer bimolekularen Gasreaktion würde c−◦ durch p−◦ ,den Standarddruck von 1 bar, ersetzt werden. Ein analoges Gleichgewicht stelltsich zwischen den Produkten AB und C und dem Übergangszustand ein, diesesist jedoch für die weitere Behandlung des Problems nicht von Interesse.

Es gilt nunmehr, die Reaktionsgeschwindigkeit für die Hinreaktion unterVerwendung der Konzentration des aktivierten Komplexes zu ermitteln. Umdie mittlere Geschwindigkeit, mit der sich die Moleküle durch den Übergangs-zustand bewegen, zu erhalten, betrachtet die nahezu kräftefreie Bewegung ent-lang der Reaktionskoordinate wie die Bewegung eines Gasteilchens in einemeindimensionalen Volumen. Es gelten hier die gleichen Gesetzmäÿigkeiten wiein der kinetischen Gastheorie, allerdings ist zu beachten, dass es sich um eineindimensionales Problem handelt. Die Verteilungsfunktion (eindimensionaleMaxwell-Boltzmann-Verteilung) für die Geschwindigkeit x18 lautet in diesemFall:

F (x)dx =

(m‡

2πkBT

) 12

exp

(−1

2

m‡x2

kT

)dx (8.25)

m‡ ist hierin die e�ektive Masse des aktivierten Komplexes. Wie die weite-re Betrachtung zeigt, muss diese nicht explizit bestimmt werden. kB ist dieBoltzmann-Konstante. Die mittlere Geschwindigkeit ergibt sich daraus gemäÿ:

v =

∞∫0

xe−m‡x2/2kBTdx

∞∫0

e−m‡x2/2kBTdx

(8.26)

Nach Au�ösen der Integrale erhält man hieraus (siehe �Wedler�, Mathem. An-hang K):

v =

√2kBT

πm‡(8.27)

Die Strecke δ auf der Reaktionskoordinate, entlang derer der aktivierte Kom-plex existent ist, lässt sich nicht präzise de�nieren. Dies ist jedoch auch nichtnötig, wie weiter unten klar werden wird. Akzeptiert man für den Augenblickδ als eine nicht näher de�nierte Länge, so ist die Zeit t, die im Mittel zumDurchlaufen des Übergangszustandes gebraucht wird, gegeben als

t =δ

v=

δ

(2kBT/πm‡)1/2. (8.28)

18Die Bezeichnung x steht hier, wie in der Physik üblich, für die zeitliche Ableitung derKoordinate x, also für die Geschwindigkeit der Bewegung entlang dieser Koordinate.

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Page 132: Physikalisch-Chemisches Praktikum II

Die Reaktionsgeschwindigkeit, d.h. die Änderung der Konzentrationen der bei-den Reaktanden in Schema (8.21), entspricht der halben Konzentration [M‡]dividiert durch die Zeit, während der sich das Molekül im Übergangszustandbe�ndet:

r =1

2· [M‡] · 1

δ

(2kBT

πm‡

)1/2

(8.29)

Drückt man [M‡] gemäÿ Gleichung (8.24) durch die Gleichgewichtskonstanteund die Reaktandkonzentrationen aus, so ergibt sich

r =K‡

δc−◦·(kBT

2πm‡

)1/2

[A][BC] . (8.30)

Nimmt man an, dass die Ordnung der Reaktion gleich ihrer Molekularität ist,so erhält man gemäÿ (8.21) das folgende phänomenologische Geschwindigkeits-gesetz:

r = kc[A][BC] (8.31)

Durch einen Koe�zientenvergleich erhält man aus den Gleichungen (8.30) und(8.31) den folgenden Ausdruck für die Geschwindigkeitskonstante kc:

kc =K‡

δ · c−◦

(kBT

2πm‡

)1/2

(8.32)

Der Index c drückt aus, dass sich die Geschwindigkeitskonstante auf molareKonzentrationen bezieht.

Um in der Rechnung weiter fortzuschreiten, muss K‡ ermittelt werden. Diesgelingt mit Hilfe der statistischen Thermodynamik. In den Lehrbüchern derPhysikalischen Chemie wird gezeigt, wie man die Gleichgewichtskonstante einerReaktion über die Zustandssummen der Reaktanden und Produkte bestimmenkann. In der allgemeinsten Form sind die Zustandssummen de�niert gemäÿ19

z =∑i

gie−εi/kBT (8.33)

wobei εi für die Energie des Moleküls in einem bestimmten Quantenzustand derTranslation, Rotation, Schwingung und der elektronischen Anregung steht, wel-cher durch den Index i beschrieben wird. Die Summe läuft über alle möglichenZustände des molekularen Systems. Bei der Formulierung der Zustandssummedes aktivierten Komplexes M‡ ist zu beachten, dass dieser im Vergleich zu ei-nem �normalen� Molekül über einen Schwingungsfreiheitsgrad weniger verfügt,welcher in einen Translationsfreiheitsgrad für die Bewegung entlang der Reak-tionskoordinate übergegangen ist. Die Zustandssumme für eine Translationsbe-wegung �ndet man, indem in Gl. (8.33) die Energieniveaus eines Teilchens in

19Insbesondere in der englischsprachigen Literatur wird anstelle von z auch q als Symbolfür die Zustandssumme verwendet.

132

Page 133: Physikalisch-Chemisches Praktikum II

einem eindimensionalen Kasten eingesetzt werden und anschlieÿend die Summeausgewertet wird.20 Es ergibt sich:

z = (2πmkBT )1/2 · xh

(8.34)

Im vorliegenden Fall ist für die Kastenlänge x die Strecke δ auf der Reaktions-koordinate, auf der der aktivierte Komplex existiert, und für m die e�ektiveMasse des Komplexes einzusetzen. Damit folgt für die Gesamt-Zustandssummedes aktivierten Komplexes

z‡ = z∗M(2πm‡kBT )1/2 δ

h, (8.35)

wobei z∗M für die Zustandssumme aller Freiheitsgrade mit Ausnahme der Trans-lationsbewegung steht. Mit den Zustandssummen der beiden Edukte A und BClässt sich die Geschwindigkeitskonstante dann berechnen gemäÿ

K‡ =z∗M(2πm‡kBT )1/2 · δ

h

zA · zBCe−E

‡0/RT , (8.36)

wobei E‡0 für die Reaktionsenergie der Bildung des aktivierten Komplexes amabsoluten Nullpunkt der Temperatur steht.

Setzt man Gl. (8.36) in Gl. (8.32) ein, so ergibt sich:

kc =kBT

hc−◦· z∗MzA · zBC

· e−E‡0/RT (8.37)

Man erkennt, dass m‡ und δ aus der Rechnung herausfallen und somit nichtexplizit bestimmt werden müssen. Eine Dimensionsbetrachtung ergibt für kcdie Einheit J · K−1·K · (J · s)−1 · L · mol = L · mol−1 · s−1, wie es gemäÿ dembimolekularen Geschwindigkeitsgesetz (8.31) zu erwarten ist. Es ist üblich, einePseudo-Gleichgewichtskonstante für das Aktivierungsgleichgewicht einzuführen:

K‡c =z∗M

zAzBCe−E

‡0/RT

1

c−◦(8.38)

Damit ergibt sich schlieÿlich:

kc =kBT

h· K‡c (8.39)

Unter Verwendung der aus der Thermodynamik bekannten Beziehung zwi-schen der Gleichgewichtskonstante und der Gibbs-Funktion kann nunmehr demAktivierungsgleichgewicht eine Freie Standard-Aktivierungsenthalpie zugeord-net werden:

∆G−◦‡

= −RT ln K‡c (8.40)

20Siehe Wedler (4. Au�.), Kapitel 4.2.3, bezüglich der Details der Rechnung, die zu Gl.(8.34) führt.

133

Page 134: Physikalisch-Chemisches Praktikum II

Weiterhin lässt sich diese in eine Standard-Aktivierungsenthalpie und eineStandard-Aktivierungsentropie zerlegen:

∆G−◦‡

= ∆H−◦‡ − T∆S−◦

‡ (8.41)

Setzt man Gl. (8.40) und (8.41) in Gl. (8.39) ein, erhält man

kc =kBT

he−∆G−◦

‡/RT =

kBT

he∆S−◦

‡/R · e−∆H−◦

‡/RT . (8.42)

Durch einen Vergleich mit dem Arrhenius-Ausdruck Gl. (8.8) bzw. (8.9) �n-det man die folgenden Beziehungen zwischen experimentellen und theoretischenGröÿen:

Ea = ∆H−◦‡

+RT (8.43)

A =kBTe

h· e∆S−◦

‡/R (8.44)

Wesentliche thermodynamische Daten des aktivierten Komplexes können so-mit direkt aus den experimentell bestimmten Arrhenius-Parametern gewonnenwerden.

8.4 Versuchsdurchführung

Theoretische Aufgaben

� Leiten Sie die Gleichungen (8.43) und (8.44) her. Gehen Sie dabei so vor,dass Sie die logarithmische Form der Arrheniusgleichung und von Glei-chung (8.42) nach der Temperatur ableiten und die entstehenden Aus-drücke vergleichen. Verwenden Sie dabei die Beziehung

d∆S−◦‡

dT=

1

T· d∆H−◦

dT, (8.45)

welche sich aus der Fundamentalgleichung der Thermodynamik ergibt.

� Erklären Sie, wie es zu negativen Aktivierungsenergien in der Arrhenius-Gleichung kommen kann.

� Leiten Sie das Lambert-Beersche Gesetz (Gl. (8.4)) her.

Experimentelle Aufgaben

� Die e�ektive Geschwindigkeitskonstante der Oxidation von Ascorbinsäuremit DCIP ist für mindestens sechs verschiedene Temperaturen zu bestim-men.

� Aus der Temperaturabhängigkeit der Geschwindigkeitskonstanten sindmittels eines Arrhenius-Plots die Aktivierungsenergie und der Stoÿfaktorder Reaktion zu bestimmen.

� Aus den beiden so bestimmten Gröÿen sollen die Aktivierungsenthalpieund -entropie (bei Raumtemperatur) berechnet werden.

Anmerkung: Detaillierte Beschreibungen des Gerätes und der zugehörigenSoftware sind am Messplatz vorhanden.

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Page 135: Physikalisch-Chemisches Praktikum II

Beschreibung des Gerätes

Die Messungen werden an einem Stopped-Flow Spektrometer des Typs App-lied Photophysics SX 20 durchgeführt (siehe Abb. 8.6). Als Lichtquelle dienteine Xe-Lichtbogenlampe mit eigener Stromversorgung welche direkt an einenMonochromator angeschlossen ist. Nach Durchtritt durch den Monochromatorwird das Licht mittels eines Glasfaserkabels zum optischen Kopf des eigentlichenStopped-Flow Moduls (�Sample Handling Unit�) geführt. Dieses Modul ist fürdas Mischen der Lösungen verantwortlich. Das von dem Gemisch transmittier-te Licht wird mittels eines Photomultipliers (Sekundärelektronenvervielfacher)detektiert, welcher direkt auf dem optischen Kopf montiert ist. Auf der lin-ken Seite des Versuchsaufbaus be�nden sich die zentrale Steuereinheit für diegesamte Elektronik sowie der Computer.

Abbildung 8.6: Aufbau des Stopped-Flow Spektrometers.

Die Funktionsweise des Stopped-Flow Moduls ist im Detail in Abbildung8.7 dargestellt. Zwei gläserne Spritzen C und F, im folgenden Vortriebssprit-zen genannt, werden mit den beiden Reaktandlösungen befüllt. Diese Spritzenwerden durch eine druckgasbetriebene Ramme (�Drive Ram�) vorwärts bewegt.Die beiden Lösungen werden in einer T-förmigen Kammer vermischt und ge-langen anschlieÿend in die optische Zelle, wo die Absorbanz der Mischung beieiner vorgegebenen Wellenlänge gemessen wird. Die während des Vortriebs ver-drängte, alte Lösung wird in einer dritten Spritze (�Stop Syringe�) gesammelt.Der Stempel dieser Stoppspritze schlägt auf einen Stoppblock mit Schalter auf.Der Vortrieb wird somit angehalten und durch den Schalter wird die Daten-aufnahme ausgelöst (Nullpunkt der Messung). Durch Variieren des Abstandeszwischen dem Stoppblock und dem Stempel der Spritze lässt sich das verwen-dete Flüssigkeitsvolumen vorgeben. Diese Einstellung ist aber bereits optimiertund sollte während des Versuches nicht verändert werden. Die Höhe des Stopp-

135

Page 136: Physikalisch-Chemisches Praktikum II

blocks wird von der Steuerung des Gerätes vor jeder Messung automatischangepasst. Die Vortriebsspritzen werden mittels zweier auf der Oberseite desModuls angebrachter Ventile aus entsprechenden Vorratsspritzen befüllt. DiePositionen der Ventile während des Vortriebs (�Drive�) und während des Befül-lens (�Load�) sind in Abbildung 8.8 dargestellt. Die Stoppspritze kann über einähnliches Ventil entleert werden, dessen zwei Einstellungen ebenfalls in Abbil-dung 8.8 dargestellt sind. Ein manuelles Entleeren ist in der Regel nur am Endeeiner Messreihe nötig. Bei einer Reihe aufeinander folgender Messungen wirddas Stoppventil von der Computersteuerung kontrolliert. Die Vortriebsspritzenwie auch die Mischkammer und die optische Zelle werden durch ein Wasserbadthermostatisiert, dessen Temperatur mittels eines eingebauten Thermoelemen-tes kontrolliert wird.

Durchführung der Messung

Achtung: Stellen Sie vor Auslösen einer Messung sicher, dass alle drei Ventilein der �Drive�-Position sind und dass der Rammblock, der die Spritzen antreibtin Kontakt mit beiden Stempeln ist. Ist letzteres nicht der Fall, kann es zuSchäden am Gerät kommen!

Beginn der Messung

� Setzen Sie zunächst die benötigten Lösungen an, insofern nicht vorhanden:

Pu�erlsg. pH8: 23,877 g Na2HPO4 * 12 H2O+ 0,281 g KH2PO4

auf 1 l mit H2Oau�üllenDCIP-Lösung: 2 mg auf 100 ml mit Pu�erlösung au�üllenAscorbinsäure: 273,35 mg auf 50 ml mit Pu�erlösung au�üllen

(Ascorbinsäure unbedingt frisch ansetzen)

� Schalten Sie die Steckerleiste hinter dem Gerät, die Stromversorgung derLampe und die Steuereinheit des Gerätes (�Electronics Unit�) ein. StartenSie die Lampe durch Drücken des roten Knopfes.

� Drehen Sie die N2-Gaszufuhr auf und stellen Sie einen Druck von 8 barein. Kontrollieren Sie, ob das zweite Reduzierventil, welches sich direkthinter dem Stopped-Flow Modul be�ndet, einen Druck von 4 bar anzeigt.

Spülen der Apparatur

� Füllen Sie zwei 10 ml Plastikspritzen mit destilliertem Wasser und ste-cken Sie diese auf die Luer-Adapter neben den beiden Ventilen derVortriebsspritzen. Spülen Sie nun die beiden Vortriebsspritzen einige Male,indem Sie abwechselnd auf die Stempel der Vorrats- und Vortriebsspritzendrücken (Ventile in der �Load�-Position).

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Page 137: Physikalisch-Chemisches Praktikum II

Abbildung 8.7: Aufbau des Stopped-Flow Mischungsmoduls.

Abbildung 8.8: Die verschiedenen Einstellungen der Vortriebsventile (oben)und des Stoppventils (unten).

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Page 138: Physikalisch-Chemisches Praktikum II

� Entleeren Sie die Vortriebsspritzen und füllen Sie eine anschlieÿend mitfrischem destilliertem Wasser. Bringen Sie nun das zugehörige Ventil wieauch das Stoppventil in die �Drive�-Position und drücken Sie mehrmalshintereinander etwas Wasser aus dieser in die Stoppspritze, wobei Sie letz-tere zwischendurch immer wieder entleeren. Entleeren Sie anschlieÿend dieVortriebsspritze wieder.

Messung

� Füllen Sie zwei Plastikspritzen mit den zu mischenden Lösungen und set-zen Sie sie auf die Adapter.

� Füllen Sie die Vortriebsspritzen mit den Reaktandlösungen. Dabei ist dar-auf zu achten, dass sich keine Gasbläschen in den Lösungen be�nden, dadiese die Messungen verfälschen würden. Hierfür ist es zunächst wichtig,dass das Befüllen durch Druck auf den Stempel der Vorratsspritze (oben)und nicht durch Ziehen am Stempel der Vortriebsspritze (unten) erfolgt.Um vorhandene Gasbläschen zu eliminieren, sollten die Lösungen einigeMale durch Druck auf die jeweiligen Stempel zwischen Vorrats- und Vor-triebsspritze hin und her bewegt werden. Am Stempel haftende Gasbläs-chen können entfernt werden, indem man den Stempel bis zum Anschlaghereindrückt.

� Wichtig: Ziehen Sie den Rammblock nach oben, bis er in Kontakt mitbeiden Stempeln ist.

� Stellen Sie die beiden Ventile in die �Drive�-Position. Auch das Ventil ander Stoppspritze muss auf �Drive� stehen.

� Das Gerät ist jetzt bereit für die Messungen. Eine Beschreibung der Com-putersteuerung be�ndet sich am Arbeitsplatz. Führen Sie zunächst einigeProbemessungen bei Raumtemperatur durch, um sich mit der Funktions-weise des Gerätes vertraut zu machen.

� Führen Sie dann noch eine Messreihe mit fünf Wiederholungen bei Raum-temperatur durch und bestimmen Sie für jede der erhaltenen Kurven dieGeschwindigkeitskonstante. Berechnen Sie auch den Mittelwert der fünfMessungen und die zugehörige Geschwindigkeitskonstante.

� Schalten Sie den Thermostaten ein, und führen Sie weitere Messreihen ausjeweils fünf Messungen für fünf Temperaturen im Bereich zwischen derRaumtemperatur und 40°C durch. Notieren Sie jeweils die Temperaturund die vom Programm ausgegebenen Daten. Diese Notizen stellen dasMessprotokoll dar.

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Page 139: Physikalisch-Chemisches Praktikum II

Nach Beendigung der Messungen

� Spülen Sie die Anlage wie oben beschrieben.

� Speichern Sie Ihre Daten auf einem geeigneten Medium (USB-Stick, Spei-cherkarte oder CD).

� Schalten Sie alle elektrischen Geräte ab.

� Drehen Sie die Gaszufuhr ab und entlasten Sie die Gasleitungen über dasan der Rückseite des Kontrollmoduls angebrachte T-förmige Ventil.

Hinweise zur Auswertung

� Das Protokoll soll Abbildungen der Messkurven (gemittelt) und der ge-�tteten Kurven jeweils im gleichen Diagramm enthalten. Im Normalfallsind diese Kurven kaum unterscheidbar; Abweichungen deuten auf mögli-che Probleme bei der Messung hin.

� Für die Geschwindigkeitskonstanten (alle!) soll der mittlere Fehler derEinzelmessung aus der maximalen Abweichung zwischen den fünf einzel-nen k-Werten der ersten Messreihe bestimmt werden. Der mittlere Feh-ler des Mittelwertes ergibt sich anschlieÿend aus Gleichung (1.11). DiesesVerfahren ermöglicht zwar nur eine grobe Abschätzung des Messfehlers,zeigt aber doch, in welcher Gröÿenordnung die durch das Gerät bedingtenAbweichungen liegen. Für eine genauere Bestimmung müssten wesentlichmehr Wiederholungen der Messungen durchgeführt werden. Die von derSoftware nach der Kurvenanpassung ausgegebenen Standardabweichun-gen beziehen sich nur auf die Qualität des Fits und spiegeln nicht diedurch den experimentellen Aufbau gegebenen Messfehler wider. Sie sollenin der Auswertung nicht verwendet werden.

� Die Bestimmung der Arrhenius-Parameter erfolgt gemäÿ Gleichung (8.9)durch Auftragung von ln k gegen 1/T und anschlieÿende Geradenanpas-sung nach der Methode der kleinsten Fehlerquadrate. Für die weitere Feh-lerrechnung werden die aus der Geradenanpassung erhaltenen mittlerenFehler der Steigung und des y-Achsenabschnitts verwendet, welche entwe-der von der zur Auswertung verwendeten Software (Excel, OO Calc o.ä.)ausgegeben, oder gemäÿ Gl. (1.15) und (1.16) berechnet werden.

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Page 140: Physikalisch-Chemisches Praktikum II

9 1H NMR�Bestimmung der Spin-Gitter-

Relaxationszeit von Glyzerin bei 15 MHz

9.1 Stichworte

� Grundlagen der Vektorrechnung (Skalar- und Vektorprodukt, ...)

� Kernspin, Kernspinquantenzahlen

� Magnetisches Moment ~µ im Magnetfeld, Zeeeman-E�ekt, d~µ/dt, Kreisel-gleichung

� Magnetisierung ~M , Curiesches Gesetz, d ~M/dt, Radiofrequenzpuls, rotie-rendes Koordinatensystem, de�nierte Ungleichgewichtszustände

� Free Induction Decay (FID), Phasenkohärenz, Blochgleichungen

� Relaxationsprozesse (longitudinal und transversal), Spin-Gitter-Relaxationszeit T1

� Pulssequenzen zur Messung von T1

9.2 Literatur

Grundlagen

� P. W. Atkins, Physikalische Chemie, 4. Au�age, Wiley-VCH, Weinheim(u.a.) 1996, Kapitel 15; bzw. 2. Au�age, Kapitel 18.

� H. Friebolin, Ein- und zweidimensionale NMR-Spektroskopie, 4. Au�age,Wiley-VCH 2006.

� H. Günther, NMR-Spektroskopie, 3. Au�age, Thieme-Verlag, Stuttgart1992, Kapitel 7.

Weiterführend

� G. Schatz, A. Weidinger, Nukleare Festkörperphysik, Teubner-Studienbücher, Stuttgart 1997.

� C. P. Slichter, Principles of Magnetic Resonance, Springer-Verlag, Berlin1990.

� E. Fukushima, Experimental Pulse NMR � A Nuts and Bolts Approach,Perseus Books, Reading Massachusetts 1998.

Für Illustrationen und Animationen zur Fouriertransform-NMR-Spektroskopiesiehe: http://www.cis.rit.edu/htbooks/nmr

140

Page 141: Physikalisch-Chemisches Praktikum II

9.3 Einleitung

Seit der Entdeckung der kernmagnetischen Resonanz (nuclear magnetic reso-nance � NMR) im Jahre 1946 durch Edward Purcell und Felix Bloch hat sichdie NMR-Spektroskopie zu einer mächtigen Methode entwickelt, die in unter-schiedlichsten Varianten in der Physik, Chemie, Biologie sowie in der Medizinihre Anwendungen �ndet. Die ersten Experimente wurden dabei nach der cw-Methode (cw = continous wave) durchgeführt, d. h. es wurde bei kontinuierli-cher Radiofrequenzeinstrahlung die Absorption durch die Kernmomente detek-tiert. Moderne Spektrometer arbeiten heutzutage jedoch mit einer Anregungdurch kurze Radiofrequenzpulse und nehmen danach ein zeitlich abklingendesSignal auf, den sogenannten FID (free induction decay). Die Fouriertransforma-tion dieses primären Messsignals liefert das bekannte NMR-Spektrum. Währenddie NMR-Spektren von Flüssigkeiten oder Festkörpern detaillierte Informatio-nen über den atomaren Aufbau der Materialien liefern, gewinnt man aus Mes-sungen der sog. Relaxationszeiten i. A. Informationen über dynamische Prozessewie z. B. über die Di�usion von Atomen oder Ionen in Festkörpern [1,2]. Gegen-stand dieses Versuches ist die Bestimmung der 1H Spin-Gitter-Relaxationszeit(T1) von Glyzerin bei einer Resonanzfrequenz von 15 MHz, d. h. einem externenMagnetfeld B0 von etwa 0.35 Tesla. Die Relaxationszeit wird dabei mit einemTeachSpin-Impulsspektrometer [3] mit Hilfe der Inversionspulsfolge aufgezeich-net [4].

9.4 Theorie

Grundlagen Elementarteilchen wie Elektronen oder Protonen besitzen nebenEigenschaften wie der Masse m und der Ladung q auch einen Spin. Gleiches giltfür Atomkerne, bei denen sich der Betrag des Kernspins ~I wie folgt berechnet:

|~I| = ~√I(I + 1) mit I = 0,

1

2, 1,

3

2, . . . (9.1)

Dabei ist ~ = h/2π und h die Planck-Konstante. Die Kernspinquantenzahl I isteine kernspezi�sche Gröÿe. Es gibt folgende Regeln zur Vorhersage von I:

� Bei gerader Protonen- und Neutronenzahl kompensieren sich die Kern-spins, I = 0.

� Bei gerader Protonen- und ungerader Neutronenzahl (oder umgekehrt)ergibt sich eine halbzahlige Kernspinquantenzahl, I = 1/2, 3/2, . . .

� Bei ungerader Protonen- und Neutronenzahl ergibt sich eine ganzzahligeKernspinquantenzahl, I = 0, 1, 2, . . .

Im vorliegenden Versuch werden ausschlieÿlich die Relaxationszeiten von Pro-tonen (I = 1/2) bestimmt. Quantenmechanisch betrachtet kann die z-Komponente des Kernspinvektors nur diskrete Werte annehmen

Iz = ~mI mit mI = −I,−I + 1, . . . , I − 1, I . (9.2)

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Der Kernspinvektor ist mit dem magnetischen Moment ~µ der Kerns folgender-maÿen verknüpft:

~µ = γ · ~I (9.3)

Dabei ist γ die für jede Kernsorte charakteristische magnetogyrische Konstan-te. Die Wechselwirkungsenergie E zwischen ~µ und einem externen statischenMagnetfeld ~B0 beträgt:

E = −µ~B0 (9.4)

O. B. d. A. liege ein Magnetfeld ~B0 parallel zur z-Achse des Koordinatensystems.Dann ergibt sich bei Gegenwart des Feldes eine Aufspaltung der zuvor entartetenEnergieniveaus der Kerne mit unterschiedlichen Quantenzahlen mz gemäÿ:

EI = −~µ · ~B0 = −|~µ| · | ~B0| cos Θ = −µzB0 = −γ · ~ ·MI ·B0 . (9.5)

Für I = 1/2 ergeben sich zwei verschiedene Energiezustände. Im thermischenGleichgewicht sind die Energieniveaus gemäÿ der Boltzmannverteilung besetzt.Der Winkel, den ~µ und ~B einschlieÿen, ist immer ungleich Null. Für die Beset-zungszahlen N1 und N2 der beiden 1H-Energieniveaus (Abb. 9.1) gilt:

N2

N1

= e− ∆E

kBT mit ∆E =h

2πω0 = hν0 (9.6)

Dabei ist kB die Boltzmann-Konstante, ν0 = ω0/2π ist die Resonanzfre-quenz. Wird das Kernspinensemble mit dieser Frequenz angeregt, dann werdenÜbergänge zwischen den Zeeman-Niveaus induziert. Werden nur Einquanten-Übergänge betrachtet (∆mi = ±1), ergibt sich sofort:

∆E = ~ · γ ·B0 (9.7)

D. h. für den Betrag der Kreisfrequenz |~ω0| = ω0 gilt:

ω0 = γ ·B0 (9.8)

Da γProton = 2.675 · 108(Tesla · s)−1, kann die Resonanzfrequenz in Abhängig-keit vom Magnetfeld im Falle von Protonen durch folgende Gröÿengleichungangegeben werden:

ν0/MHz = 42.58 ·B0/Tesla (9.9)

Abbildung 9.1: Kernspin-Energieniveaus in einem statischen Magnetfeld B0

für den Fall I = 1/2 (Zeeman-E�ekt). Das Besetzungszahlenverhältnis ist indiesem Beispiel stark überzeichnet.

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Vektormodell Für den Fall W( ~B0, ~µ) 6= 0 (s. o.) wirkt auf das magnetischeMoment µ das Drehmoment

~D = µ× ~B0 . (9.10)

Da der Kernspinvektor die Eigenschaften eines Drehimpulses besitzt, ergibt sichmit der De�nition ~D = d~I/dt unmittelbar

d~µ

dt= γ ·

(~µ× ~B0

). (9.11)

Gl. (9.11) ist die Bewegungsgleichung für das magnetische Moment ~µ im stati-schen Magnetfeld ~B0 6= f(t). Die Lösung ~µ(t) der Di�erentialgleichung (9.11)ergibt, dass die z-Komponente µz des Vektors ~µ unabhängig von t ist, die x-und y-Komponenten, µx und µy , sich aber periodisch mit der Zeit t ändern.D. h. ~µ präzediert mit der Larmorfrequenz ~ω0 = −γ ~B0 um die z-Achse. DasMinuszeichen verrät, dass für positive γ die Präzessionsbewegung von ~µ imUhrzeigersinn erfolgt. Bei einem Ensemble von N Kernspins addieren sich dieeinzelnen magnetischen Momente ~µi zu einem makroskopischen Moment ~M .Diese Gesamtmagnetisierung wird auf das Volumen V bezogen:

~M =1

V

N=N1+N2∑i=1

~µi (9.12)

Im thermischen Gleichgewicht (Index 0) müssen die x- und y-Komponenten der~µi nicht berücksichtigt werden:

~M0 =1

V

N=N1+N2∑i=1

~µi =1

V

N=N1+N2∑i=1

(0, 0, µi,z) , (9.13)

d. h. ~M0 hat nur eine z-Komponente ( ~M0 = (0, 0,Mz))

Mz = (N1 −N2) · µz . (9.14)

Analog zu Gl. (9.10) gilt allgemein für die Magnetisierung im externen Ma-gnetfeld:

d ~M

dt= γ ·

(~M × ~B

)(9.15)

Da die Gleichgewichtsmagnetisierung parallel zu ~B0 ausgerichtet ist ( ~M0 ‖~B0), wirkt e�ektiv kein Drehmoment auf den Vektor ~M0 (Abb. 9.2 b). Die Aus-richtung von ~M0 kann jedoch durch ein zweites, zeitabhängiges Magnetfeld ~B1

verändert werden. ~B1 wird mit einer um die Probe gewickelten Spule erzeugt,an die eine Wechselspannung mit der Frequenz ν0 angelegt wird. Das linearpolarisierte ~B1-Feld kann dabei als Summe zweier zirkular polarisierter Felderaufgefasst werden. Nur eine der beiden Komponenten wirkt e�ektiv auf dasSpinsystem (rotating wave approximation) und induziert Übergänge zwischen

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Abbildung 9.2: a) Präzession des magnetischen Momentes ~µ im Magnetfeld~B0, b) makroskopisches Moment ~M und Ausrichtung im thermischen Gleichge-wicht ( ~M0|| ~B0), c) Präzession von ~M nach Auslenkung durch einen Radiofre-quenzpuls W( ~B0, ~M) 6= 0.

den Zeeman-Niveaus (Abb. 9.1). Dadurch wird der Vektor ~M aus seiner Ru-helage ~M = ~M0 gebracht und beginnt gemäÿ Gl. (9.15) (vgl. auch (9.11)) umdie z-Achse zu präzedieren (Abb. 9.2 c)). Nach dieser Störung ist ein Ungleich-gewichtszustand erzeugt worden, und die 1H-Spins verteilen sich nicht mehrnach der Boltzmann-Statistik auf die beiden Energieniveaus. Bewegungsprozes-se (Rotations- und Translationsprozesse) der Protonen induzieren jedoch dieRückkehr (Relaxation) des Spinsystems in den energetischen Grundzustand (s.u.). Die Berücksichtigung des oszillierenden ~B1-Feldes in Gl. (9.15) führt zu:

d ~M(t)

dt= γ ·

(~M(t)× ~Be�(t)

)mit ~Be�(t) = ~B1(t) + ~B0 (9.16)

Aufgrund der Zeitabhängigkeit des ~B1-Feldes, das nur für kurze Pulsdauernan- bzw. ausgeschaltet wird, ist Gl. (9.16) im Gegensatz zu Gl. (9.15) nichtmehr analytisch lösbar. Die Lösung ist aber graphisch leicht zu erhalten: Imeigentlichen (statischen) Laborkoordinatensystem zeigt ~M eine Spiralbewegung,die aufgrund der Überlagerung zweier Präzessionsbewegungen, nämlich eine um~B0 und eine andere um ~B1, zustande kommt. Letztere kann allein betrachtetwerden, wenn man sich vorstellt, dass das gesamte Koordinatensystem wie dasrotierende Feld ~B1 mit der Frequenz ω0 (sog. Resonanzfall) um die z-Achsegedreht wird. In diesem rotierenden Koordinatensystem (x′, y′, z = z′) ist dasFeld ~B1 stationär und liege o. B. d. A. entlang der x′-Achse. Jegliche Präzessionvon ~M um B0 ist dann �rechnerisch� ausgeschaltet. Das bedeutet, dass das~B0-Feld im rotierenden Koordinatensystem nicht mehr wirkt. Tatsächlich giltbeim Übergang vom statischen (x, y, z) in das mit ω0 rotierende System (x′, y′,z = z′) für das e�ektive Feld ~Be�:(

~Be�

)′= ~B1 +

(~B0 +

~ω0

γ

)(9.17)

Da ~ω0/γ = − ~B0 ist, ergibt sich anstelle von Gl. (9.15):(d ~M(t)/dt

)′= γ ·

(~M(t)× ~B1

)mit ~B1 6= f(t) (9.18)

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Page 145: Physikalisch-Chemisches Praktikum II

Gl. (9.18) lässt sich genauso lösen wie Gl. (9.11) bzw. (9.15). Der Vektor ~M

präzediert jetzt nicht mehr um ~B0 (Abb. 9.2 c)), sondern nur um das Feld ~B1

mit der Winkelgeschwindigkeit ω1 = γB1.Schaltet man das Feld ~B1 in dem Moment aus, in dem die Magnetisierung

die (x, y)-Ebene erreicht hat, so können gezielt Nichtgleichgewichtszuständeerzeugt werden, die in Abb. 9.3 schematisch dargestellt sind. Z. B. liegt nacheinem 90◦-Puls eine Netto-Magnetisierung in der (x, y)-Ebene vor. Wird dasMagnetfeld ~B1 doppelt so lange angeschaltet, so wird die Magnetisierung in die(−z′ = −z)-Richtung gekippt. Nach der vierfachen Zeit zeigt die Magnetisierungwieder in die Ausgangsrichtung. Die entsprechenden Pulse werden nach ihrenKippwinkeln benannt (Abb. 9.3).

Abbildung 9.3: Beein�ussung des Vektors ~M durch ein geeignetes Hochfre-quenzfeld ~B1 im rotierenden Koordinatensystem (Resonanzfall). Θ heiÿt Im-pulswinkel. Nach de�nierten Pulsdauern (90°, 180°) können verschiedene Nicht-gleichgewichtszustände eingestellt werden. Die Rückkehr des Spinsystems nacheinem 90°- bzw. 180°-Puls erfolgt durch Spin-Gitter-Relaxationsprozesse.

Spin-Gitter Relaxation Nach einem 90°-Puls steht die Magnetisierungsenkrecht zum externen Magnetfeld. Im Laborkoordinatensystem präzediert ~Min der (x, y)-Ebene um die z-Achse.Mxy wird jedoch nicht permanent bestehenbleiben, sondern in seine Ausgangsposition zurückkehren. Den Relaxationspro-zess kann man in zwei Teilprozesse unterteilen, die sich bei Festkörpern i. A.auch zeitlich voneinander getrennt messen lassen. Der Vektor ~M wird zunächstdurch Spin-Spin-Relaxationsprozesse mit der Zeit abnehmen. Dieser Prozessfolgt im einfachsten Fall einem exponentiellen Zeitgesetz. Zusätzlich zur Prä-zessionsbewegung von ~M im Laborkoordinatensystem nimmt der Vektor mitjeder Präzessionsbewegung kontinuierlich ab. Dieses zeitliche Verhalten von ~Minduziert in der Detektorspule ein oszillierendes, zeitlich auf Null abklingendesSpannungssignal. Die Einhüllende des Signals, U(tacq.), wird als Freier Indukti-onszerfall (FID) bezeichnet. Die Anfangsamplitude des FID ist dabei gleichzeitigein Maÿ für die Intensität von Mxy bzw. M(xy)′ .

Die Anfangsamplitude von ~M wird im Folgenden genutzt, um den Rück-kehrprozess von ~M entlang der z-Achse nach der Störung durch einen 180°-Pulszu verfolgen. Aus dem Verlauf von −M0(t = 0) bis M0(t = t′) lässt sich die

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Abbildung 9.4: a) Freier Induktionszerfall nach einem 90°-Puls. Die Anfang-samplitude (oder die Fläche unter der Kurve) kann als Maÿ für die Magneti-sierung herangezogen werden. b) Wiederaufbau der z-Magnetisierung nach derAnregung durch einen 180°-Puls (Gl. (9.18)).

Spin-Gitter-Relaxationsrate ermitteln, die u. a. Informationen über dynamischeProzesse in der Probe in sich trägt. Direkt nach einem 180°-Puls zeigt die Ma-gnetisierung in die (−z)-Richtung. Di�usionsprozesse in der Probe induzierendabei den Spin-Gitter-Relaxationsprozess. Die Kerne geben ihre zuvor durchden Hochfrequenzpuls aufgenommene Energie an die Umgebung (Gitter) ab.Der Betrag des Vektors ~M nimmt zunächst auf Null ab und steigt dann wiederbis auf +M0 an. Lässt man den Vektor nicht vollständig relaxieren, sonderndetektiert seine aktuelle Intensität nach unterschiedlichen Wartezeiten t durchSenden eines 90°-Detektionspulses (Wirkungsweise s. o.), so kann der Verlaufvon Mz(t) verfolgt werden. Mz(t) gehorcht folgender Di�erentialgleichung:

dMz(t)

dt=M0 −Mz(t)

T1

(9.19)

Mit der Randbedingung (−M0 zur Zeit t = 0) ergibt sich

Mz(t) = M0 ·(

1− 2 exp

(− t

T1

)). (9.20)

Der zeitliche Verlauf von Mz(t) ist in Abb. 9.4 dargestellt. Die Spin-Gitter-Relaxationsrate 1/T1 lässt sich am einfachsten durch eine Linearisierung vonGl. (9.18) bestimmen. Dazu muss auch die Gleichgewichtsmagnetisierung beit→∞ bestimmt werden. Die Relaxationsrate ist charakteristisch für jede Pro-be. 1/T1 hängt von der Messtemperatur und i. A. von der Messfrequenz ab(s. Abb. 9.5). Während die Pulslängen der externen Radiofrequenzpulse typi-scherweise in der Gröÿenordnung einiger µs liegen, kann es einige ms bis meh-rere Tage dauern bis ein Spinsystem in den Ausgangszustand relaxiert ist. InAbb. 9.5 ist ein Paradebeispiel für die Temperatur- und Frequenzabhängigkeitder (ausschlieÿlich di�usionsbedingten (Index di�)) Spin-Gitter-Relaxationsrate1/T1 di� von 8Li-Kernen in Li-Metall dargestellt.

Die Raten sind bei unterschiedlichen Magnetfeldern (d. h. unterschiedlichenResonanzfrequenzen) aufgezeichnet worden. Charakteristisch ist, dass 1/T1 di�

mit der Temperatur zunächst zunimmt, dann ein Maximum durchläuft undanschlieÿend wieder abnimmt. Auf der Tieftemperatur�anke gilt folgende Tem-

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Abbildung 9.5: Di�usionsinduzierte 8Li Spin-Gitter-Relaxationsraten von fes-tem Li in Abhängigkeit von der reziproken Temperatur und der Magnetfeldstär-ke B0. Die gezeigten Raten sind mit der β-NMR-Methode aufgezeichnet worden.Abb. aus: P. Heitjans, H. Ackermann et al., J. Phys. F: Met. Phys. 15 (1985)41.

peraturabhängigkeit:

T−11 di� = A0 exp

(− EAkBT

)(9.21)

Dabei kennzeichnet EA die Aktivierungsenergie, die im Falle des Beispiels inAbb. 9.5 ein Li-Atom aufwenden muss, um von einem regulären Gitterplatzzu einem vakanten Platz zu springen. Das Maximum wird bei der Temperaturdurchlaufen, bei der folgender Zusammenhang gilt:

ω0τ ≈ 1 (9.22)

τ ist die Verweilzeit des Teilchens auf seinem Gitterplatz zwischen zwei Sprün-gen. Wird z. B. mit einer Frequenz von ν0 = ω0/2π = 6MHz gearbeitet, dannwird das Maximum durchlaufen, wenn jedes Teilchen etwa eine Million Sprün-ge pro Sekunde ausführt. Die Sprungrate τ−1(T ) zeigt oftmals ein Arrhenius-Verhalten, was ihre T-Abhängigkeit betri�t:

τ−1 = τ−10 exp

(− EAkBT

)(9.23)

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Der präexponentielle Faktor τ−10 entspricht dabei einer sog. Versuchsfrequenz

des Teilchens erfolgreiche Sprünge auszuführen. Sie liegt im Bereich von 1012

bis 1014 s−1, d. h. in der Gröÿenordnung typischer Debye-Frequenzen.Mit Hilfe der (vereinfachten) Einstein-Smoluchowski-Gleichung lässt sich aus

der Verweilzeit τ und dem Abstand a der Gitterplätze der Di�usionskoe�zientD bestimmen:

D =a2

2 · d · τ(9.24)

d ist die Dimensionalität des Di�usionsprozesses (d = 1, d = 2, d = 3). Sie kannüber die Frequenzabhängigkeit der 1/T1-Raten auf der Hochtemperatur�anke(ω0τ � 1) bestimmt werden. Ist 1/T1 di� unabhängig von ω0, dann gilt d = 3.Eine logarithmische Frequenzabhängigkeit von 1/T1 di� im Bereich ω0τ � 1deutet auf d = 2. Rechts der Maxima in Abb. 9.5 gilt ω0τ � 1. Im einfachstenFall hängt die Spin-Gitter-Relaxationsrate in diesem Bereich quadratisch vonder Frequenz ab [5].

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9.5 Versuchsdurchführung und Versuchsaufbau

Abb. 9.6 zeigt die Inversionspulsfolge, mit der im vorliegenden Experiment dieRate 1/T1 der Protonen von Glyzerin (99.995%) bei Raumtemperatur bestimmtwerden soll. Durch den 180°-Puls wird die Magnetisierung in (−z)-Richtunggekippt und relaxiert danach mit der Rate 1/T1 in den Gleichgewichtszustand

Abbildung 9.6: Inversionspulsfolge zur Bestimmung des zeitlichen Wiederauf-baus der longitudinalen Magnetisierung Mz als Funktion der Wartezeit t. Dererste Puls (180°) heiÿt Präparationspuls, dem sich eine Evolutionsphase derDauer t anschlieÿt. Der letzte Puls detektiert die zum Zeitpunkt t vorhandeneMagnetisierung.

nach Gl. (9.20). Ihre Intensität zum Zeitpunkt t lässt sich durch Senden ei-nes 90°-Pulses bestimmen, der die Magnetisierung in die (x, y)-Ebene kippt.Daraufhin kann ein FID aufgezeichnet werden, dessen Anfangsintensität derMagnetisierung zum Zeitpunkt t proportional ist. Nachdem die FID-Amplitudebestimmt worden ist, muss so lange gewartet werden, bis der Vektor ~M seineGleichgewichtslage ~M = ~M0 wieder erreicht hat. D. h. die Wiederholzeit (re-petition time) der einzelnen Experimente mit unterschiedlichen Wartezeiten tmuss mindestens 5 ·T1 betragen. Üblicherweise liegt T1 von Glyzerin bei Raum-temperatur und 15 MHz im Bereich von 10 bis 30 ms. Die Pulslängen tp werdenfolgendermaÿen bestimmt: Ein einzelner 90°-Puls maximiert den FID; ein 180°-Puls lässt kein Signal auf dem Oszilloskop erscheinen, da die Spule nur die(xy)-Komponenten von ~M registrieren kann.

Abb. 9.7 zeigt schematisch den Aufbau des Experimentes. Der Synthesizererzeugt ein hochfrequentes, sinusförmiges Spannungssignal mit einer Frequenzvon 15 MHz. Der Puls-Programmierer generiert Rechteck-Pulse, die den Synthe-sizer triggern und somit aus dem Hochfrequenzsignal die entsprechenden Pulse�herausschneiden�. Die so erzeugten Hochfrequenzpulse werden verstärkt undzu den Sendespulen im Permanentmagneten (0.35 T) geschickt. Dort erzeugendiese Spulen das rotierende (genauer: oszillierende) Magnetfeld B1 von etwa 12Gauss (104 Gauss = 1 Tesla). Die Magnetisierung in der Probe, die senkrechtzum statischen Magnetfeld B0 präzediert, induziert in der Empfängerspule ein

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Abbildung 9.7: Blockschaltbild des Experimentes.

Spannungssignal, welches zunächst im Empfänger verstärkt wird. Dieses Signalwird dann in zwei verschiedenen Detektoren aufgenommen (demoduliert). DerRF-Amplituden-Detektor bewirkt eine Gleichrichtung und hat ein Ausgangssi-gnal, das proportional zur Amplitude des eingehenden Radiofrequenzsignals ist.Mit diesem Detektor werden sowohl die FIDs als auch die Echos aufgenommen.Der zweite Detektor mischt das eingehende Signal mit dem Ausgangssignal desSynthesizers, was einer elektronischen Multiplikation der beiden Signale ent-spricht. Seine Ausgangsfrequenz ist deshalb proportional zur Di�erenz der Fre-quenzen des Synthesizers und des detektierten Signals. Dieser zweite Detektor(Mixer) ist notwendig zur korrekten Einstellung der Frequenz des Synthesizers.Die Resonanzfrequenz ist nur durch den Magneten und die magnetogyrischeKonstante der untersuchten Kernsorte bestimmt. Der Synthesizer hat die kor-rekte Frequenz, wenn das Ausgangssignal des Mixers keine Oszillationen mehraufweist. Mit einem Zweikanal-Oszilloskop können die beiden Signale der De-tektoren simultan aufgenommen werden. Das Feld des Permanentmagneten isttemperaturabhängig und deshalb sollte die Frequenz des Synthesizers häu�gernachgestellt werden. Der Temperaturkoe�zient für diesen Magneten beträgt∆B/∆T = 4 Gauss/°C, was bei Protonen 17 kHz/°C entspricht.

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Abbildung 9.8: Schaltplan des Spektrometers.

Theoretische Aufgaben und Fragen

1. Berechnen Sie das Besetzungszahlenverhältnis nach Gl. (9.6) für den FallB0 = 2T und bei T = 300K. Wie ändert sich das Verhältnis, wenn B0 undT erhöht bzw. verringert werden?

2. Welcher Temperatur T würde die Situation nach einem 90°-Puls (N1 =N2) entsprechen? Was erwarten Sie für T , wenn das energetisch höhereNiveau stärker besetzt ist, als das energetisch günstigere (180°-Puls)?

3. Warum spielen bei der Rückkehr des Spinsystems in den thermodynami-schen Gleichgewichtszustand nur induzierte, aber keine spontanen Prozes-se eine Rolle?

4. Zeichnen Sie die Spiralbewegung des Vektors ~M im Laborkoordinatensys-tem in Gegenwart der Felder ~B1 und ~B0.

5. Welche Feldstärken B0 sind optimal für die Bestimmung von τ .

6. Wie müssen die Daten aus Abb. 9.5 ausgewertet werden, um den präex-ponentiellen Faktor τ−1

0 zu bestimmen?

Hinweise zur Auswertung der Daten

1. Tragen Sie die FID-Amplituden (M(t)) als Funktion der Wartezeit t (delaytime) auf.

2. Bestimmen Sie die Gleichgewichtsmagnetisierung für t→∞ durch einengeeigneten Fit mit einer Sättigungsfunktion nach Gl. (9.20). Sie erhaltendurch den Fit gleichzeitig auch die gesuchte T1-Zeit.

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3. Die Auftragung von ln (1−M(t)/M0) gegen t liefert eine Gerade mit demAchsenabschnitt ln 2. Aus der Steigung können Sie ebenfalls die Relaxa-tionszeit T1 bestimmen.

4. Führen Sie eine Fehlerbetrachtung durch und vergleichen Sie ihr Ergebnismit Resultaten aus der Literatur [3].

Im Text erwähnte Literatur

[1] P. Heitjans, A. Schirmer, and S. Indris, in Di�usion in Condensed Matter� Methods, Materials, Models, edited by P. Heitjans and J. Kärger, Springer,Berlin (2005).

[2] P. Heitjans, S. Indris, M. Wilkening, Di�usion Fundamentals, Di�usion Fun-damentals 2, (2005) 45.(Online-Journal, freier Zugang auf www.di�usion-fundamentals.org).

[3] G. A. Lorigan, R. E. Minto, W. Zhang, J. Chem. Educ. 78 (2001) 956.

[4] E. Fukushima, Experimental Pulse NMR � A Nuts and Bolts Approach, Per-seus Books, Reading, Massachusetts (1998).

[5] N. Bloembergen, E. M. Purcell, R. V. Pound, Phys. Rev. 73 (1948) 679.

Weitere Informationen auf:

www.heitjans.pci.uni-hannover.de/physika.html

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