Z. anorg. allg. Chem. 410, 121-128 (1974) J. A. Barth, Leipzig
Platzwechselvorgtinge der Liganden in festen Kornplexsalzen. 1111)
Ligandenbeweglichkeit in reine n Hexahalogenokomplex- salzen von Osmium(lV)
Von W. PREETZ und J. P. NADLER
Kiel, Institut fur anorganische Chemie der Christian-Albrechts-Universitlit
Professor Robert Juxa zum 70. Geburstage am 8. Dezember 1974 gewidmet
Inha l t s i ibers ich t . Die friiher an den gemischten Komplexsalzen des Typs K,[OSC1nY,-n], Y = Br, J; n = 1-5 experimentell bestimmten kinetischen Daten fur die intramolekulare Isomerisierung bzw. den intermolekularen Ligandenaustausch im festen Zustand werden auf die reinen Hexahalogenokomplexe extrapoliert. Bereits unter 100 "C beginnt die Umlagerung innerhalb der einzelnen Oktaedergruppen, der intermolekulare Austausch der Liganden setzt erst bei deutlich hoheren Temperaturen ein. Fur die Reak- tionsgeschwindigkeiten gelten folgende Reihen: intramolekular: K2[0sCl,] < K,[OsBr,] < K,[OsJ,], intermolekular: K,[OsJ,] < K,[OsCI,] < K,[OsBr,].
L igand Exchange in Solid Complex Salts. 111. Mobili ty of Ligands i n P u r e Hexahalo Complexes of Osmium(1V)
Ab s t r a c t. The kinetical dates of intramolecular isomerization and intermolecular ligand exchange in solid-state, formerly determined experimentally for mixed-ligand complexes of the type K,[OSCI~Y,-~], X = Br, I; n = 1-5, are now extrapolated to pure hexahalo-complexes. Already below 100°C the rearrangement within the octahedral groups begins, the intermolecular ligand exchange just arises a t distinct higher temperatures. For the rates the following series are valid: intramolecular: K,[OsCI,] < K,[OsBr,] < K,[OsI,], intermolecular: K,[OsI,] < K,[OsCI,] < K,[OsBr,].
1. Einleitung In den beiden vorangehenden Mitteilungen 1)2) wurde gezeigt , da13 sich
an reinen Gemischtligandkornplexen des Typs K,[OsCl,X,-,], X = Br, J, n = 1 - 5 zwei verschiedenartige Platzwechselvorgange kinetisch verfolgen lassen, niimlich im Temperaturbereich von 115 - 135°C die intramolekulare Isomerisierung der fur n = 2, 3, 4 bekannten reinen cis- bzw. trans-Isomeren und zwischen 170 und 200 "C der intermolekulare Ligandenaustausch durch ____-
1) W. PREETZ u. J. P. NADLER, Z. anorg. allg. Chem. 410, 59 (1974). 2) W. PREETZ u. J. P. XADLER, Z. anorg. allg. Chem. 410, 48 (1974).
122 W. PREETZ u. J. P. NADLER
50
3 30- .k 20- cl - 10- 0
i :: 2 -
Bildung neuer Gemischtligandkomplexe. Der an den mittleren Gliedern der homologen Komplexreihe beobachtete systematische Gang in den kineti- schen Daten fordert zur Extrapolation auf die reinen Hexahalogenokom- plexe heraus, an denen Platzwechselvorgange wegen der Gleichheit aller Liganden nicht direkt meBbar sind.
-
1 -
2. Extrapolation der kinetisehen Daten Die fruher gemessenen kinetjschen Daten sowohl der intramolekularen
Umlagerung I) als auch des intermolekularen Ligandenaustausches a) zeigen, da13 die Platzwechselhaufigkeit in charakteristischer Weise von der Art und der Anzahl der beteiligten Liganden abhangt.
1001
1 1 I I I I I
0 1 2 3 1 5 6 - n
Abb. 1. Extrapolation der Geschwindigkeitskonstanten der intramolekularen Umlagerungen im System K,[O~ClnBr,-nl auf n = 0 und 1 bzw. 5 und 6
d"
301
1 1 ' I
0 1 2 3 4 5 6 - n
Abb. 2. Extrapolation der Geschwindigkeitskonstanten der intramolekularen Umlagerungen im System K,[OsClnJ,-n] auf n = 0 und 1 bzw. 5 und 6
Ligandenbeweglichkeit in Hexahalogenokomplexsalzen 123
2.1. I n t r amoleku la re Umlagerung Aus den an den reinen Stereoisomeren bestimmten Umlagerungsgeschwindigkeiten
laDt sich unter Beriicksichtigung des sich einstellenden cisltrans-Verhiiltnisses die mittlere Platzwechselhaufigkeit far jedes Isomerenpaar berechnenl). In Abb. 1 und 2 sind die ge- wichtet gemittelten Geschwindigkeitskonstanten der Chloro-Bromo- bzw. Chloro-Jodo-
Tabelle 1 Extrapolierte Geschwindigkeitskonstanten k [min-’ . lo8] f i i r intramolekulare Unlagernngen
115°C 125°C 135OC
Abb. 3. Extrapolation der Geschwindigkeitskonstanten des intermolekularen Ligandenaustausches in den Systemen Kz[O~ClnB~~-n] und KZ[OsClnJ,-n] auf n = 0 bzw. 6
124 W. PREETZ u. J. P. NADLER
Komplexe fur verschiedene Temperaturen in Abhangigkeit des Ligandenverhkltnisses auf- gezeichnet. Von den experimentell bestimmten Werten fur n = 2, 3 nnd 4 wird linear auf 1 und 0 bzw. 5 und 6 extrapoliert. Die Fehler der sich so ergebenden Geschwindigkeits- konstanten mogen groD sein, dennoch tritt ein Trend deutlich hervor. Demnach ist die Umlagerungsgeschwindigkeit im Hexachlorokomplex am kleinsten. Fur den Hexajodo- bzw. Hexabromokomplex liegt sie deutlich hoher. Die extrapolierten Daten fur die Geschwin- digkeitskonstanten bei verschiedenen Temperaturen sind in Tab. 1 zusammengestellt.
2.2. I n t e r in o leku 1 are r L i g a nd e n au s t au s c h Die Abschatzung der intermolekularen Ligandenaustauschvorgange in den reinen
Hexahalogenokomplexen ist weniger problematisch, weil keine Mittelung aus den Ge-
- n Abb. 4. Extrapolation der Aktivierungsenergien des intermolekularen Liganden- austausches in den Systemen K2[OsClnBrs-n] und K2[OsC1nJ,-n] auf n = 0 bzw. 6
Tabelle 2 Extrapolierte Ralbwertszeiten Geschwindigkeitskonstanten k und Aktivierunaseneraien Ea des intermolekularen Linandenaustausches
~ ~
T t l / 2 k Ea 1"CI [min] [min-* . lo'] [kcal/Moll
t K,[OsClnBr,-nl n = 1 - 5 &
200 1824 190 2 166 180 2666 170 3 014
200 198 190 267 180 365 170 4 62 200 248 190 330 180 408 170 533
200 330 190 408 180 462 170 630
200 31 190 46 180 63 170 99
35 26 19 15 28 21 1 7 13
21 1 7 15 11
225 150 110
70
12,2
12,3
12,4
16.0
Ligandenbeweglichkeit in Hexahalogenokomplexsalzen 125
schwindigkeitskonstanten fur die cis- bzw. trans-Form erforderlich ist. Zusatzlich liegen die Daten fur die einfach substituierten gemischten Komplexe mit n = 1 und 5 vor, so daB sich die Extrapolation nur auf die Endglieder n = 0 und 6 erstreckt. Bei halblogarithmi- scher Auftragung der experimentell bestimmten Geschwindigkeitskonstanten gegen die Komplexzusammensetzung ergeben sich Geraden, die in Abb. 3 fur das Chloro-Bromo- und Chloro- Jodo-System dargestellt und auf die reinen Hexahalogenokomplexe extra- poliert sind. Auch die Aktivierungsenergien zeigen einen charakteristischen Gang, so daB ebenfalls auf n = 0 und 6 extrapoliert werden kann, Abb.4. Die sich fur die reinem Hexa- halogenokomplexsalze aus der Extrapolation ergebenden Werte sind in Tab. 2 zuaammen- gefaBt. Die Austauschgeschwindigkeit nimmt also in der Reihe K,[OsJ,] < K,[OsClJ < KJOsBr,] zu.
3. Diskussion
Wegen der Ahnlichkei t der Halogenliganden untereinander ist fur die reinen und die gemischten Hexahalogenokomplexe kein grundsatzlich ver- schiedenes Verhalten zu erwarten, so daB die Extrapolation gerechtfertigt ist. Da die Anderung der Symmetrieverhaltnisse beim Ubergang von einem zum anderen Gemischtligandkomplex keinen entscheidenden EinfluB auf das kinetische Verhalten erkennen laBt, ist damit auch bei Einbeziehung des regularen Oktaeders nicht zu rechnen, zumal bei allen Komplexen mit ver- gleichbaren Verzerrungen durch den dynamischen JAHN-TELLER-Effekt zu rechnen ist. Die bei dem intermolekularen Austausch in allen Fallen beob- achtete Gleichverteilung aller Liganden uber alle Komplexe des Systems weist aus, daB die reinen Hexahalogenokomplexe keine Sonderstellung ein- nehmen. DaB die durch Extrapolation gefundenen kinetischen Daten in der GroBenordnung richtig sind, folgt aus der befriedigenden Ubereinstimmung der Werte, die fur den Hexachlorokomplex einerseits aus dem Chloro-Jodo-, andererseits aus dem Chloro-Bromo-System erhalten werden, Tab. 1 und 2.
Die sowohl thermodynamisch als auch kinetisch sehr stabilen Hexahalo- genokomplexsalze sind demnach nicht als starre Gebilde aufzufassen. Schon bei geringer thermischer Anregung verfugen die Liganden uber betrkchtliche Bewegungsmoglichkeiten. Wahrend das Oktaedergerust als Ganzes ruht oder zumindest den strukturellen Aufbau nicht verandert, die Schwerpunkte der Atome also festliegen, fluktuieren die Liganden lebhaft. Die Liganden jeder Oktaedergruppe verhalten sich im unteren Temperaturbereich wie Balle in einer elastischen aber festen Hulle, die sie nicht verlassen, sondern in der sie nur ihre relative Lage verandern konnen. Bei ausreichend hoher Temperatur finden demnach standig intramolekulare Umlagerungen statt. Bei Erhohung der Temperatur wird in zunehmendem MaBe der Potential- wall zwischen den einzelnen Oktaedergruppen iiberwunden, so daB zusatzlich intermolekularer Ligandenaustausch auftritt. Es ist nicht zu bezweifeln, da13 die beiden verschiedenartigen Platzwechselvorgange in den reinen Hexa-
126 W. PREETZ u. J. P. NADLER
halogenokomplexsalzen in grundsatzlich ahnlicher Weise wie in den Ge- mischtligandkomplexen ablaufen.
Wie aus den vorangehenden Arbeiten1)2) bekannt, sind der intra- und intermolekulare Vorgang durch ein deutliches Temperaturintervall vonein- ander getrennt. Das wird besonders anschaulich, wenn man Einsatztempe- raturen definiert oder das Verhaltnis der Geschwindigkeitskonstanten der beiden Platzwechselvorgiinge kintrak/inter bildet .
Einsa tz tempera turen . Urn die Beweglichkeitsverhaltnisse der Li- ganden in verschiedenen Substanzen untereinander vergleichen zu konnen, ist es zweckmaBig, Temperaturen zu berechnen, bei denen die Austausch- prozesse mit der gleichen Geschwindigkeit ablaufen. Unter Verwendung der kinetischen Daten kann man auf sehr kleine Reaktionsgeschwindig- keiten extrapolieren und die zugehorigen Temperaturen als charakteristisch fur den Beginn der Austauschvorgange ansehen.
und 1 * 10-3[min-1], entsprechend Halbwertszeiten von 115, 23 und 11 Stunden sind fur alle untersuchten Verbindungen die zugehorigen Einsatztemperaturen in Tab. 3 zusammengestellt. Die intramolekularen Umlagerungen beginnen fur die meisten Verbindungen schon unterhalb von 100 "C, wiihrend die intermole- kularen Austauschprozesse im allgemeinen erst 30 - 40" hoher einsetzen. Ein besonders breites Temperaturintervall findet man bei den jodreichen Kom- plexsalzen.
Verha l t nis kintra/kinter. Der intermolekulare Ligandenaustausch ist zwangslaufig immer von der fruher einsetzenden und schnelleren intramole- kularen Umlagerung begleitet. Das Verhaltnis der Geschwindigkeitskon-
' stanten kintra/kinter gibt an, um welchen Faktor der intramolekulare ProzeB schneller ist. Die teils aus experimentell bestimmten, teils aus extrapolierten Geschwindigkeitskonstanten fur bestimmte Temperaturen gebildeten Verhaltnisse sind in Tab. 4 zusammengestellt. Die hochsten Werte ergeben sich fur die jodreichen Komplexe. Mit steigender Temperatur nehmen sie wegen der groBeren Temperaturabhangigkeit des intramolekularen Vor- gangs stark zu. Generell ist die Platzwechselhaufigkeit innerhalb abgeschlos- sener Koordinationsspharen um ein Vielfaches grol3er als zwischen den kom- plexen Gruppen.
Die kinetisch stabilen Gemischtligandkomplexe haben sich als eine brauchbare ,,iMolekulsonde" zur Untersuchung von Platzwechselvorgangen erwiesen und lassen Ruckschlusse uber das ,,bewegte Innenleben" in kri- stallinen Komplexsalzen zu. Bisher ist dariiber wenig bekannt, und zur Klarung der Mechanismen sind weitere Untersuchungen notwendig. Beson- deres Interesse verdienen die Zusammenhange der Platzwechselhaufigkeit mit dem strukturellen Aufbau der Komplexsalze und der EinfluB der Kat-
Fur die Geschwindigkeitskonstanten 1 * 5 -
Ligandenbeweglichkeit in Hexahalogenokomplexsalzen 127
Tabelle 3 Einsatztemperaturen T der intra- bzw. intermolekularen PlatzwechseIvorg&nge. bezogen auf drei verschiedene Geschwindigkeitskonstanten k
~~~ ~~ ~ ~
k = lo-' [min-'1 k = 5 * lo-& [min-'I k = [min-'1 Komplex T ["CI T I"C1 T ["CI T W l T ["GI T ["CI
intra inter intra inter intra inter
90
94
100 102
107
113
117
115
113
110
107
102
98
92
87
127 130
141
144
150
163
175
167
158 167
182
196
218
236
277
83
87 93
95
101
107
111
109
107
104
100
96
91
85 79
114
117 125 127
132
143 154
146
138
147
159
170
183
196 220
69
73
79 81
86
92
97
95
93
90
80
81
75 69
62
86
88 93 93
96 103
111
105
98
106
113
117
123
122
124
Tabelle 4 und Verhgltnisse kintra/kinter fur verschiedene Temperatnren
Geschwindigkeitskonstanten der intra- bzw. intermolekdaren Platzwechselvorgange kintra bzw. kinter
Komplex 135°C 170°C 200 "C
kintra kinter kintra kintra . kinter kintra kintra kinter kintra [lo* .min-'] [lO8.min-'] kinter [los .min- '][lo3 .min-'] kinter [1OJ.min-'1 [1Oa.min-'1 kinher
- - -
E,[OsBr.l 65 K,[OsCIBr,] 45
K,[OsCl,Br.] 25
Ks[OsC1aBral 22 K,[OsCI1Br.] 14
Ks[OsC1.Brl 8,6 K,[OsCl.] 6,O
K~[OsC1,1Mittel82
K,[OsC1.1 10,5 K,[OsCI.J] 13
K,[OsC14J,l 16
~~[OSCISJII 20
K~[OSCIJII 25 K,[OsCIJ,I 32
Kr[OaJ,l 37
1,5 12 0 3 0.7 0,55
0,40 0,25
0,35
0,44 0,33
0,23 0,18
0,14 0,14 0,13
43 38
31 31 25 22 24
23
24
39
70 111
179 229 285
904 7 8 657 5 2 388 3 2
358 2,6 248 2,1
177 1,3 136 1, l
199 13
262 13 294 1,09
298 0,72 307 0,52
315 0,37 '
329 0,31 316 0,23
129 126
121
138 118 136 124
153
175 270 414
590 851
1061 1374
6 330
4 770 2885 2810 2085 1650 1365
2098
2830 2 957
2 592 2 308 2 055 1857 1544
281 306
321
390 393
550 650
750
809
1137 1525 2308
2 936 3714 3860
128 W. PREETZ u. J. P. NADLER
ionen. Bei Ubertragung dieser Uberlegungen auf andere Verbindungen mit komplexen Baugruppen, z. B. BaSO,, stellt man mit Uberraschung fest, da13 man von diesen einfachen anorganischen Salzen iiber intra- und inter- molekulare Platzwechselvorgiinge kauin etwas weiB.
Der Deutschen Forschungsgemeinschaft und dem Fonds der chemischen Industrie danken wir fur die Unterstiitzung unserer Arbeit.
Bei der Redaktion eingegangen am 7. Mlirz 1974.
Anschr. d. Verf.: Prof. Dr. W. PREETZ und Dr. J. P. NADLER, Inst. f . anorg. Chemie d. Univ. Kiel, BRD-23 Kiel, Olshausenstr. 40- 60