Predigt Lk 11,14-23 am 6.11.2011 Andreaskirche
Jesus gibt seiner Umgebung Rätsel auf: wer ist dieser, dass er sogar Sünden vergibt? Woher hat er
seine Legitimation? Wer gibt ihm die Vollmacht das zu tun und das zu sagen?
Auslöser für solche Fragen ist z.B. die Begebenheit von der Heilung des Stummen. Ein stummer
Mensch galt in der damaligen Welt als ein von einem bösen Geist Besessener. Im Text wird deutlich:
hier ist keine Sensationsmeldung für die Regenbogenpresse abgesetzt worden. Die Heilung wird ver-
standen als eine Kampfmaßnahme gegen den Herrschaftsbereich Satans.
Das muss uns heutige in doppelter Weise befremden:
a) Keine/r von uns ist es gewohnt, Krankheit so zusehen wie die Menschen z.Zt. des NT, wie Jesus
selbst. Krankheit wurde verstanden als eine böse Macht, als Besessenheit. Wir sehen in einer
Krankheit normalerweise eben nur die Krankheit, eine Störung der Funktionen des Organismus,
eine ärgerliche Einschränkung der Leistungsfähigkeit. Wir bringen unseren Körper zur Reparatur
wie ein defektes Fahrrad oder eine kaputte Waschmaschine. Wir sehen die Krankheit als Krankheit
und wenden uns kranken Menschen barmherzig zu. Jesus aber sieht mehr als die individuelle
Krankheitsnot. Krankheit ist für Jesus ein Zeichen der alten, der vergehenden, der bösen Weltzeit,
in der das Böse, der Gegenspieler Gottes noch Macht hat. Wir leben in der Zeit nach der sog. Auf-
klärung. Vor etwa 250 Jahren dichtete ein Aufklärer: Gott sei Lob und Preis und Ehr; es gibt kei-
nen Teufel mehr. Ja, wo ist er denn geblieben? Die Vernunft hat ihn vertrieben! Unsere medizini-
schen Kenntnisse sind genauer als zurzeit Jesu – aber wissen wir darum auch genauer, was das
Wesen der Krankheit ist? Ist es damit getan, die Gleichung Krankheit = böse Macht = Dämonie als
Mythologie aus vergangenen Tagen abzutun?
b) Das andere, was uns befremdet: wenn wir ‚Wunder‘ hören, denken wir an eine Durchbrechung
von Naturgesetzen. Wir sagen: entweder Naturgesetze können nicht durchbrochen werden es
gibt keine Wunder; oder wir verteidigen die Bibel / Apologetik und zeigen durch eine Art Gedan-
kenakrobatik, dass es doch möglich ist, dass Gott Naturgesetze durchbrechen kann. Beides wird
dem NT nicht gerecht. Das Wunderbare an den Wundern Jesu ist eben nicht die Durchbrechung
von Naturgesetzen, sondern die Macht der alten Weltzeit, in der Sprache des NT ausgedrückt: die
Macht Satans wird durchbrochen. Der terminus technicus für Wunder im NT: Dynamis – Krafttat,
Machterweis.
Wir machen uns unser Befremden bewusst und gehen damit an den Text heran.
1. Jesus hat Kranke gesund gemacht
Das ist eine unbestreitbare Tatsache. Auch die kritischsten Historiker kommen nicht daran vorbei: es
gehört zum Urgestein der Evangelien Tradition: Jesus hat geheilt. Das ist auch bei den Gegnern in
unserem Text unstrittig. Sie bestreiten nicht das Wunder. Sie ärgern sich darüber, dass Jesus den
Kranken im Namen und in der Vollmacht Gottes gesund macht. V 14 – so knapp wird das Geschehen
berichtet. Ein bisher Stummer kann, was er vorher nicht konnte: er kann reden. Seine Krankheit war
eine Störung der guten Schöpfung Gottes. Sie ergreift den ganzen Menschen. Es ist widernatürlich,
wenn ein Mensch nicht reden kann. Er ist unfähig, sich zu äußern, wenn er ‚unmündig‘, ohne Mund
bleiben muss. Er kann keine Stimme angeben, sich nicht aussprechen. Kann er noch zu Gott schreien?
Kann er ihm sein Leid klagen, ihn loben, ihn anbeten? Jesus befreit ihn zum Menschsein. Die Macht
der Sprachlosigkeit verliert ihre Herrschaft über den geplagten Menschen. Alle sehen das. Alle hören
seine Stimme.
Bis heute ist unbestreitbar, dass durch den Geist Jesu wunderbare Dinge in der Welt geschehen. Men-
schen werden getröstet, befähigt zum Lieben, ermutigt zu neuen Schritten im Leben, bekommen Mut,
ihre Meinung zu sagen – denken wir nur an die vielen Kämpfe um die Meinungsfreiheit, die freie Pres-
se und den Ruf: wir sind das Volk…
Predigt Lk 11,14-23
Andreaskirche 6.November 2011
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2. Wunder schaffen keinen Glauben
Das Wunder begründet keinen Glauben. Diese Geschehnisse sind keine ‚Beweise‘ für die Göttlichkeit
Jesu nach der Melodie: da sieht man’s doch, dass er der Sohn Gottes gewesen sein muss. Das Wunder
fordert die Frage vielmehr erst heraus: in welcher Vollmacht tust du das?
Jesus: es gibt falsche Propheten. Die können auch Zeichen und Wunder tun. Das Volk verwundert
sich. Andere sagen: es gibt auch wunderbare Kräfte des Teufels. Er verführt Menschen durch Wunder,
sich an ihn zu halten statt an Gott. Wieder andere können sich nicht entscheiden, was sie von ihm
halten sollen. Sie wollen ein eindeutiges Zeichen vom Himmel sehen, also ein Zeichen, was von Gott
selbst beglaubigt ist (16) - jeder Zweifel soll ausgeschlossen sein.
Wir müssen den Vorwurf, der gegen Jesus erhoben wird, ganz ernst nehmen. Er ist nicht nur in der
Besorgnis begründet, Jesus könnte die Leute verwirren und eine Revolution anzetteln. Der Vorwurf
liegt auch nicht nur in der Bosheit oder Ignoranz seiner Gegner begründet. Um was es hier geht, ist in
Jesus selbst begründet. Es ist paradox. Er ist immer beides zugleich: den einen ein Ärgernis, den an-
deren eine große Hilfe. Die einen sagen: Verführer, die andern: er offenbart Gott. Ketzer – er bringt
die Wahrheit ans Licht.
Das gehört zum Wesen des Wirkens Jesu. Das ist der Preis, der gezahlt werden muss, wenn wirklich
sein Sieg über die Macht der Finsternis geschehen soll. Anders kann er das Böse in der Welt nicht be-
siegen, als dass er diese Blasphemie auf sich nimmt und erträgt: er stehe selber im Bund mit der
Macht des Teufels.
Der Streit um Jesus ist bis heute nicht zu Ende. Ist er der Herr – oder ist er im Bund mit den Mächten
von unten? Ist das Kreuz ein Zeichen des Heils, der Liebe und der Versöhnung oder das Zeichen für
eine unterirdische Verschwörung und den Aufstand der Minderwertigen (Nietzsche)? Ist Jesus ein Dro-
gendealer, der – so Karl Marx – Opium an das Volk verteilt? Viele unserer heutigen Zeitgenossen keh-
ren ihm den Rücken: Jesus – der Herr? Wir Christen sehnen uns danach, dass er doch seine Herrschaft
hier und da etwas klarer zeigen möge; wir wollen auch einem Sieger folgen, der ein imponierender,
vorzeigbarer zu respektierender Herr ist.
Lk erzählt von Jesus, auf dem Weg nach Jerusalem ans Kreuz. Es ist ja noch nicht raus, wer siegt.
Dass Jesus der Christus ist, mit dem das Reich Gottes in der Welt begonnen hat, ist ja eine andere
Wahrheit als der Satz: 2x2=4. Es gehört zur Menschlichkeit Jesu, dass er mit allem, was er ist, was er
sagt und tut, in die Zweideutigkeit eingeht. Er zwingt seine Wahrheit niemandem auf. Lästerung, Ab-
lehnung, Gleichgültigkeit und Anbetung bleiben möglich. Niemand ist gezwungen. Es ist Deine u meine
Entscheidung gefordert. Darum redet er mit denen, die nur staunen, aber nicht glauben. Darum setzt
er sich mit dem bösen Verdacht auseinander, ein Werkzeug des Teufels zu sein. Darum verweigert ein
plausibles Zeichen, dass die Menschen zwingend überzeugen könnte.
Dass er den Besessenen geheilt hat, ist unbestritten. Daran knüpft er an. Seine Antwort macht den
Verdacht der Gegner in seiner ganzen Hohlheit deutlich. Luther: das ist das weltliche Bild, das die Ver-
nunft fassen kann. Denn wo Mann und Weib im Haus uneins sind, dass er die Krüge und sie die Töpfe
zerschlägt, da ist bald zu merken, dass der Haushalt nicht lange bestehen kann. Die Erfahrung lehrt,
dass Uneinigkeit Land und Leute, Haushalte und alles andere zerreißt und verwüstet.
Des Satans Reich ist ein einiges Reich. Darin besteht seine Macht. Auch die Gegner haben Respekt vor
der Geschlossenheit dieses Reiches. Das Argument der Gegner Jesu zerfällt. Es wird nicht einmal dem
Satan gerecht.
20-23 – so deutet Jesus seine Tat. Mit mir und meinem Wirken gewinnt die Gottesherrschaft jetzt und
heute mitten im Herrschaftsbereich des Todes und der Sünde. Gottes Finger greift in das geschlossene
Reich der Tiefe ein. Gott hat zum Angriff angesetzt. Satan hat keine Ruhe mehr. Der Stärkere plündert
das Waffenarsenal des Starken. Da kann keine/r mehr neutral bleiben.