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_ „Die Lymphgefäße sind eigentlich die komplettesten Gefäße, die der Mensch hat, da sie eine Synthese von Venen und Arterien darstellen“, erläuterte Dr. med. Gerd R. Lulay, der selbst eine speziali­sierte Lymphklinik in Rheine etabliert hat. Mit den Venen haben Lymphgefäße die Klappen gemeinsam, mit den Arte­rien die pulsatile Aktivität. Das größte Lymphgefäß im Körper, der Ductus tho­racicus, weist einen Durchmesser von 3–4 mm auf und transportiert täglich zwei Liter Flüssigkeit in den Venenwin­

kel, der durch die Vv. brachiocephalica, jugularis und subclavia gebildet wird.

Wenn das Drainagesystem defekt oder überlastet istAls Ursachen für ein Lymphödem kom­men ein anlagebedingter Mangel an Lymphgefäßen oder eine operative oder traumatische Schädigung der Lymphge­fäße in Betracht. Außerdem kann eine erhöhte Lymphlast, z. B. bei Entzün­dungen oder Malignomen, die Kapazität des Drainagesystems überfordern und

so zum Lymphödem führen. Bei älteren Patienten mit einem Lymphödem sollte man deshalb immer nach einem Malig­nom suchen.

Werden Lymphgefäße z. B. durch ei­nen operativen Eingriff an drainagere­levanten zentralen Punkten geschädigt, kann sich auf der betroffenen Seite ein Lymphödem ausbilden. An der unteren Extremität entwickelt sich ein Lymph­ödem, wenn Lymphbahnen in der Lei­ste geschädigt werden, die eine zentrale Rolle im Lymphabstrom aus der un­teren Extremität darstellen. Mit den Lymphgefäßen der Leiste muss der Chi­rurg deshalb besonders vorsichtig um­gehen.

Erhebliche KomplikationenDabei handelt es sich nicht nur um eine Ansammlung von Gewebsflüssigkeit, sondern um eine progrediente chro­nische Erkrankung, in deren Verlauf

Bevor das Problem elefantös wird

So lösen Sie den LymphstauLassen Sie es nicht so weit kommen, dass monströs veränderte Extremitäten Ihre lymphkranken Patienten entstellen! Eine recht-zeitig eingeleitete, komplexe physikalische Entstauungstherapie des Lymphödems erhält nicht nur die Beweglichkeit der Betrof-fenen, sie hilft auch, drohende schwere Komplikationen wie rezi-divierende Erysipele, Papillomatosen oder Mykosen zu verhindern.

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Binde­ und Fettgewebe zunehmen und extrazelluläre Matrix, z. B. Kollagen, ein­gelagert wird. Die Komplikationen sind erheblich. Etwa 30–40% der Patienten bekommen Erysipele (oft rezidivierend). Es bilden sich Lymphfisteln, die sich nach außen ergießen und Eintrittspfor­ten für Keime darstellen. Mykosen können entstehen. Es entwickeln sich Hyperkeratosen sowie ausgedehnte Pa­pillomatosen, die irgendwann nicht mehr reversibel sind (siehe auch Stadie­neinteilung Tab. 1). Es bleibt nicht aus, dass Patienten mit einem Lymphödem an der unteren Extremität irgendwann kaum mehr gehen können und orthopä­dische Probleme bekommen.

„Wir sehen immer wieder monströs veränderte Extremitäten von lymph­kranken Patienten, die einfach nicht be­handelt worden sind. Das sollte es in unserer High­Tech­Medizin nicht mehr geben. Jeder Arzt kann sich rechtzeitig um diese Patienten kümmern“, forderte Lulay. Und für den Umgang mit den Pa­tienten riet er dazu, das Wort „Elefantia­sis“ aus dem Vokabular zu streichen. „Kein Patient möchte gerne gesagt be­kommen, dass er aussieht wie ein Ele­fant!“

Klinische und apparative DiagnostikSchon die körperliche Untersuchung er­möglicht meist, das Lymphödem von Ödemen anderer Genese zu unterschei­den. Beweisend für ein Lymphödem ist das positive Stemmer­Zeichen: Die Haut über dem Strahl der 2. Zehe lässt sich nur schwer als Falte abheben. Das be­deutet, dass das Lymphödem den Fuß mit einschließt. In der Bonner Venen­studie wurde 2003 bei 1,8% der Bevölke­rung ein manifestes Lymphödem an­hand eines positiven Stemmer­Zeichens identifiziert. Zur klinischen Untersu­chung gehören auch Umfangsmessung, Volumenberechnung – z. B. optoelektro­nisch mit dem Pedometer – und eine Fotodokumentation.

Mit der B­Mode­Sonografie sollten die Dicke von Cutis und Subcutis erfasst werden sowie die freie Flüssigkeit in der Subcutis und eventuelle pathologische Veränderungen von Lymphknoten. Die Duplexsonografie des oberflächlichen

und tiefen Venensystems dient dazu, ein Phlebödem differenzialdiagnostisch auszuschließen. Die beste Methode, um ein Lymphödem zu beweisen, auszu­schließen und quantitativ einzuordnen, bietet sich mit der Funktionslymph­szintigrafie. Dabei wird die Zeit des Abtransports radioaktiv markierter Kol­loide über das Lymphsystem erfasst. „Manche Patienten haben überhaupt kein Lymphödem, sondern sind einfach nur zu dick. Das kann man mit dieser Untersuchung gut differenzieren“, so Lulay. Alle Befunde sollten sorgfältig dokumentiert werden, auch um den Verlauf gut kontrollieren zu können.

Lymph- oder Lipödem?Auch das Lipödem verhält sich chro­nisch progredient, tritt aber im Gegen­satz zum Lymphödem in der Regel sym­metrisch auf. Es handelt sich um eine Vermehrung des Unterhaut­Fettgewebes mit orthostatischer Ödembildung. Bei einem Patienten mit Lipödem findet sich kein positives Stemmer­Zeichen, da das Lipödem den Fuß ausspart. Typisch ist eine Neigung zu Spontanhämatomen. Ein Lipödem bekommen fast nur Frauen. Es wird eine familiäre Häufung beobachtet. Das Lipödem hat prinzipiell nichts mit Adipositas zu tun, ist aber oft damit verbunden. Wer große Lipödeme mit sich herumträgt, kann auch sekun­där übergewichtig werden, weil er sich einfach nicht mehr bewegen kann. Von der reinen Adipositas lässt sich das Lip­ödem durch einen erheblichen Berüh­rungs­, Druck­ und Spannungsschmerz abgrenzen.

Komplexe physikalische Entstauung reduziert VolumenTherapieziele beim Lymphödem sind, den Lymphabfluss zu steigern, fibro­tische Veränderungen zu erweichen so­wie Funktionsdefizite und damit die Muskel­Venen­Pumpe zu verbessern. Eingesetzt wird dazu die komplexe phy­sikalische Entstauungstherapie, die Dr. Manfred Klare, Zechlin, näher be­schrieb.

Diese Behandlung besteht aus ma­nueller Lymphdrainage, Kompressions­therapie mit speziellen Bandagen und Strümpfen sowie entstauenden Bewe­gungs übungen. Wichtig ist überdies ei­ne sorgfältige Hautpflege. Die komplexe physikalische Entstauungstherapie redu­ziert das Volumen der behandelten Ex­tremität signifikant. Je höher das Aus­gangsvolumen ist, desto erfolgreicher ist die Therapie.

– Tabelle 1

Stadien des LymphödemsStadium Charakteristika

0 Latenzstadium, keine klinischen Symptome

I Weiches, bei Palpation Dellen hinterlassendes reversibles Ödem, Rückbildung der Schwellung bei Hochlagerung der Extremität

II Mäßig Dellen hinterlassendes Ödem mit ausgeprägter Gewebever­härtung, Veränderungen spontan irreversibel

III Elefantiastische Volumenentwicklung mit harter Gewebekonsistenz, Entstellung der Extremität, sekundäre Hautveränderungen mit Lymph­fisteln, Hyperkeratosen und Papillomatosen

Penis-Lymphödem bei einem Patienten mit Prostatakarzinom.

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Therapie in zwei PhasenDie erste Phase der Therapie eines Lymph ödems findet in der Regel in der Klinik statt: Zweimal täglich manuelle Lymphdrainagen über je 45 Minuten und Kompression mit Bandagen sowie entstauende Gymnastik. Dies wird durchgeführt, bis der Umfang der Extre­mität nicht mehr weiter abnimmt, was etwa drei bis sechs Wochen dauert. In dieser Zeit wird der Patient in einem strukturierten Schulungsprogramm auf die anschließende ambulante Erhal­tungsphase vorbereitet. Er soll Hautpfle­ge, Anlegen von Bandagen und einige entstauende Handgriffe erlernen, damit er diese Maßnahmen im Alltag selbst anwenden kann.

In der Erhaltungsphase wird die ma­nuelle Drainage mehrmals pro Woche durchgeführt. Die Kompressionsthera­pie erfolgt mit Strümpfen der Klasse III (34–46 mmHg), die grundsätzlich maß­gefertigt werden. Optimal sind flach­gestrickte Strümpfe, weil sie keine Roll­neigung aufweisen sowie eine bessere Luftzirkulation und einen besseren Mas­sageeffekt ermöglichen. Der Patient soll die Klinik mit einer Erst­ und einer Wechselbestrumpfung verlassen. Wich­tig sind auch in der Phase II entstauende Bewegungsübungen. Wovor Klare aus­drücklich warnte, sind Wärmeanwen­dungen: „Jede Form von Wärme ist Gift für den Patienten; trotzdem steht sie im

Heilmittelkatalog unter ergänzenden Therapien!“ Auch Sauna und Solarium tun nicht gut.

Kontraindikationen berücksichtigenZu den Kontraindikationen gegen die Lymphdrainage gehören akutes Erysi­pel, andere Hautinfektionen wie Borre­liose, Thrombophlebitis, Herzinsuffi­zienz, arterielle Verschlusskrankheit und malignitätsverdächtige Nävi in der Ödemregion. Die apparative intermit­tierende Kompression eignet sich für das sekundäre Lymphödem nicht als al­leinige Therapie, sondern nur zusätzlich und für begrenzte Zeit, z. B. bei immobi­lisierten Patienten.

Chirurgische Maßnahmen wie Re­konstruktion des unterbrochenen Lymphsystems, alternative Lymphablei­tung und Resektion von verändertem Gewebe kommen erst in Betracht, wenn über mindestens sechs Monate eine kon­servative Therapie durchgeführt wurde.

Um die Versorgung der Patienten weiter zu verbessern und noch mehr im ambulanten Sektor ansiedeln zu kön­nen, wäre es förderlich, eine Zusatzbe­zeichnung „Lymphologie“ zu schaffen, mehr Schwerpunktpraxen zu gründen und funktionierende Netzwerke zu ent­wickeln, so Klare.

Erysipel kann rasch zum Notfall werdenEine der schlimmsten Komplikationen des Lymphödems ist das Erysipel, wie Dr. med. Helmut Uhlemann, Altenburg ausführte. Da die Hautbarriere gestört ist, können leicht Keime eindringen und finden in der eingelagerten Ödemflüs­sigkeit einen hervorragenden Nährbo­den, weil der Abtransport nicht funktio­niert. Deshalb entstehen oft protrahierte oder rezidivierende Infektionen, die als Erysipel oberflächlich bleiben oder schlimmstenfalls als nekrotisierende Fasziitis bis zur tiefen Muskelloge rei­chen können. Das Erypipel weist ein Re­zidivrisiko von bis zu 70% auf. Die häu­figsten Erreger sind betahämolysierende A­Streptokokken, bei phlegmonösen Verlaufsformen auch Staphylokokken.

Auch bei Lymphödempatienten kommt das klassische perakut auftre­

tende Erysipel am häufigsten vor. Aber es gibt auch mitigierte Formen, die je­doch nicht minder gefährlich sind. Jeder Erysipelschub verstärkt das Lymph­ödem weiter, weil Lymphkapillaren durch bakterielle Enzyme zerstört wer­den und zusätzliche entzündliche Lym­phlast die Kapazität des Systems noch weiter überschreitet.

Die Diagnose wird praktisch immer klinisch gestellt, kaum jemals mittels Er­regernachweis. Meist findet sich eine scharf begrenzte flächige Rötung mit Schwellung, Spannungsschmerz, hohem Fieber und schwerem Krankheitsgefühl. Die BSG und der CRP­Spiegel steigen rasch an. Als wichtigste Differenzialdia­gnosen müssen akute Kontaktdermati­tis, Thrombophlebitis und beginnende Phlegmone in Betracht gezogen werden.

Therapie des akuten Erysipels Der Weg zur Sepsis kann sehr kurz sein. Deshalb muss sofort eine Therapie mit Penicillin G oder V (3–30 Mio E/Tag, je nach klinischer Symptomatik) einge­leitet werden. Alternativ kommen ein Makrolid oder Clindamycin (bei tiefer Ausdehnung) in Betracht. Allgemein­maßnahmen wie kalte desinfizierende Umschläge, Bettruhe, Hochlagerung der Extremität und Analgetika bei Bedarf ergänzen die Antibiotikatherapie.

Eine Entstauungstherapie ist erst nach Rückgang der Entzündung wieder

Jeder Erysipelschub verstärkt das Lymphödem weiter.

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Die Therapie des Lymphödems beginnt mit regelmäßiger Lymphdrainage.

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möglich. Bei häufigen Rezidiven kann eine Dauer­antibiose (mit Penicillin G) notwendig werden.

Nach Brustkrebs-OP immer noch zu häufig: Arm-ÖdemeJeder kennt das Arm­Lymphödem von Frauen, die wegen Brustkrebs operiert wurden. Es verursacht einen hohen Leidensdruck und schränkt die Be­weglichkeit im Schultergelenk ein. Als noch regel­haft aus der Axilla mehr als zwölf Lymphknoten entfernt wurden, entwickelten 7% der operierten Frauen Arm­Lymphödeme, wie Priv.­Doz. Dr. med. Helmut Rogge, Damp, erklärte.

Nach Einführung der Wächterlymphknoten­Op., bei der nur ein bis fünf Lymphknoten entfernt werden, ist die Inzidenz zwar stark zurückgegan­gen, aber immer noch höher als nötig. Bei diesem Eingriff, der nur dann eine komplette Axillaausräu­mung nach sich zieht, wenn der Sentinelllymph­knoten befallen ist, sollten eigentlich überhaupt keine Lymphödeme auftreten. Das gilt aber nur, wenn tatsächlich nur Lymphknoten in der vorderen Axillarlinie entfernt wurden und nicht doch welche an der großen Gefäßstraße, die eigentlich geschont werden sollte.

In schweren Fällen DauertherapieTritt ein geringgradiges Lymphödem auf, sollte eine manuelle Lymphdrainage durchgeführt werden. Nach drei Monaten kann man versuchen, die The­rapie zu beenden. Denn das Arm­Lymph ödem, bei dem keine hydrostatische Last einwirkt, entwickelt sich nicht grundsätzlich chronisch­progredient wie ein Bein­Lymphödem. Ausgeprägte oder mäßig­gradige Lymphödeme (mehr als 3,5 cm Seitendiffe­renz, im Bizepsbereich am Arbeitsarm korrigiert um 1,5 cm für die höhere Muskelmasse) bleiben dagegen lebenslang behandlungsbedürftig. Als un­sinnig bezeichnete Rogge prophylaktische Lymph­drainagen. Tritt ein Lymphödem spät auf, ist dies ein ernster Hinweis auf ein Rezidiv.

Dr. meD. AngelikA Bischoff ■

■ 118. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM), Wiesbaden 2012


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