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Steffen-Peter Ballstaedt

Texte visualisieren

Steffen-Peter Ballstaedt

Tübingen

Inhaltliche und formale Strukturen eines Textes können in unterschiedlichem Maßesichtbar gemacht werden, z. B. durch eine differenzierende Typografie. Eine Möglich-keit der übersichtlichen Darstellung der begrifflichen Struktur eines Textes ist einChart, der aus sprachlich benannten Einheiten und Relationen zwischen ihnen aufge-baut ist. Charts können mit piktografischen Elementen und einem Hintergrund ange-reichert werden, um eine Botschaft eindrücklicher zu vermitteln (sogenannte Info-grafiken). Ein Chart kann als Textzusatz oder als Textersatz verschiedenen kognitivenFunktionen dienen: Planen und Ordnen, Einprägen und Erinnern, Orientieren undNavigieren. Charts bilden eine Alternative zu begriffsdichten Texten und eignen sichbesonders für den Bildschirm.

Einleitung

Die Menschen haben in der kognitiven Evolution zahlreiche Zeichensysteme bzw.Darstellungsformen entwickelt, um Wissen zu konservieren und zu vermitteln.Der gesprochene oder geschriebene Text ist sicher die potenteste und vielseitigsteForm der Wissensvermittlung, aber für spezielle Inhalte und Ziele gibt es andereMöglichkeiten: Abbilder, Karten, Diagramme, Tabellen usw. Dieser Beitragbefaßt sich mit den Charts als einer Form zur Vermittlung begrifflicher Zusam-menhänge, die einen Text ergänzen oder ersetzen kann. Als spracharme Darstel-lungsform sind Charts besonders für die elektronische Wissensvermittlung attrak-tiv.Im ersten Abschnitt werden die Grade der Visualisierung von Texten aufgezähltund dabei der Chart als eine Möglichkeit vorgestellt. Der zweite Abschnitt refe-riert den Grundbauplan eines Charts. Im dritten Abschnitt geht es um die didakti-schen bzw. kognitiven Funktionen, denen ein Chart im Prozeß der Wissenvermitt-lung dienen kann. Wie ein Chart am Schreibtisch oder Computer konstruiert wirdund welche Richtlinien dabei gelten, zeigt idealtypisch der fünfte Abschnitt. ZumAbschluß werden einige kritische Einwände zur Wissenvermittlung durch Chartsdiskutiert.

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1 Stufen der Visualisierung

Ein Text ist eine lineare Abfolge von Wörtern und Sätzen, hinter denen sich einehierarchische inhaltliche Organisation verbirgt. Das Sichtbarmachen dieserinhaltlichen und formalen Strukturen nennen wir Visualisierung von Texten. Aus-gehend vom visuell kompakten Fließtext lassen sich verschiedene Grade der visu-ellen Auflösung von Texten unterscheiden.

Fließtext

Ein fortlaufender Text ohne Überschriften, Abschnitte oder Hervorhebungen warnach Erfindung des Buchdrucks üblich, als Druck und Papier noch teuer waren.Aus dieser Zeit stammen die

Marginalien

, die sozusagen als Außenskelett demTextblock eine Gliederung geben. Fließtexte sind schwer zu lesen, aber trotzdemnicht ausgestorben wie vor allem geisteswissenschaftliche Bücher, aber auchviele öde WWW-Seiten beweisen, auf die möglichst viel Sätze gepreßt werden.

Typografisches Visualisieren

Inhaltliche Strukturen werden mit typografischen Mitteln sichtbar gemacht (Wal-ler 1979, 1980, 1982; Reichert 1991). Bei einem Textdesign mit

differenzierenderTypografie

finden die Augen durch Abschnitte, Überschriften, Spitzmarken, Spie-gelstriche, Hervorhebungen (fett, kursiv, farbig), Schriftmischungen usw. vieleAnhaltspunkte zum Aufbau einer semantischen Makrostruktur. Robert Wallerspricht treffend von einer

access structure

, sozusagen einer didaktischen Einklei-dung der Inhalte. Derartig gestaltete Texte sind übersichtlich und erlauben einselektives Lesen. Visualisieren mit Mitteln der Mikro- und Makrotypografie istheute bei allen didaktisch aufbereiteten Lernmaterialien üblich.

Standardisiertes Schreiben

Während ein Text erst nachträglich typografisch visualisiert wird, ist Standardi-siertes Schreiben bereits auf ein vorbestimmtes Textlayout bezogen. Man verstehtdarunter festgelegte Formen des Schreibens und des Textlayout. Ein Beispiel istdas

information mapping

® (Horn 1982, 1985): Der Stoff wird in inhaltlicheBlöcke mit jeweils drei bis sieben Sätzen eingeteilt. Im sogenannten

labeled blockdesign

werden die Blöcke typografisch durch Balken voneinander getrennt. JederBlock bekommt eine Überschrift als Marginalie. Drei bis sieben Blöcke werdenmit einer Hauptüberschrift zusammengefaßt. Zum standardisierten Schreibengehören auch Vorschriften zur lexikalischen und syntaktischen Gestaltung.Ansätze zu einer kontrollierten Sprache gibt es zum Beispiel in der TechnischenDokumentation (Lehrndorfer 1996).

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Charts

Ein Chart (laut Duden sind

der

Chart und

das

Chart erlaubt) veranschaulicht inräumlicher Anordnung qualitative Beziehungen zwischen Begriffen, Kategorienoder Aussagen (Kosslyn 1989, 1994). Ein Chart besteht aus begrifflichen Einhei-ten, die durch Relationen miteinander verknüpft sind. Da ein Text die sprachlicheRepräsentation einer begrifflichen Struktur darstellt, läßt sich auch jeder Text alsBegriffsstruktur visualisieren. Ein Chart ist dabei entweder Textersatz oder Text-zusatz. Die ältesten Formen von Charts sind wahrscheinlich Stammtafeln und seitdem 9. Jh. Stammbäume. Schon die Aufklärung kennt Charts, die komplexeTheorien visualisieren. Später haben sich in verschiedenen wissenschaftlichenDisziplinen Charts herausgebildet:•

Tabellarische Charts

. Sie enthalten kategoriale Informationen in einer einfa-chen Listenstruktur (englisch

word table

).•

Zeit-Charts

. Entlang einer Zeitachse sind Ereignisse angetragen. Beispielefindet man in der Geschichtswissenschaft oder im Management als Planskiz-zen, die Tätigkeiten bestimmten Zeiträumen zuordnen.

Organisations-Charts

. Sie stammen aus der Soziologie und visualisieren dieStruktur von Institutionen mit ihren Einheiten und Informations- und Ent-scheidungswegen.

Flowcharts

. Sie wurden in der Informatik zur Darstellung von Programm-abläufen entwickelt, können aber Prozeßabläufe verschiedenster Art visuali-sieren.

Begriffsnetze

. Sie stammen aus der KI-Forschung, um begriffliches Wissenzu repräsentieren. Im didaktischen Kontext sind sie als

concept maps

ver-breitet.

In praktischen Arbeitsbereichen wurden eigene funktionale Formen von Chartsentwickelt. So zum Beispiel Metaplan oder Mind mapping für das Management(Meyer 1996). Auch Menüs und grafische Browser auf dem Bildschirm sind ein-fache Formen von Charts (Roppel 1998). Ein einfaches Begriffsnetz als Beispielfür ein Chart zeigt die Abbildung 1.

Illustrierte Charts = Infografiken

Charts können mit piktorialen Anteilen angereichert werden, um die Inhalte ein-drücklicher herüberzubringen. So haben manche Charts als Hintergrund eineAbbildung oder verwenden Piktogramme bzw. Icons zur Kennzeichnung von Ein-heiten und Beziehungen. Damit ergeben sich kompakte Text-Bild-Kombinationenanstelle eines Textes (Pettersson 1994; Braden 1994). Mit diesen sogenannten

Infografiken

haben die Zeitungen seit Anfang der 90er Jahre den Anschluß an die

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visuelle Kommunikation gesucht. Infografiken sollen meist einen Text ersetzen(siehe Abbildung 2).Im Folgenden befassen wir uns mit den einfachen und den illustrierten Charts, diesowohl in Print-Medien als auch in Multimedia zunehmend Interesse finden, umlange und schwierig lesbare Texte zu vermeiden oder visuell zu ergänzen (Jonas-sen/Beissner/Yacci 1993).

Bauplan von Charts

Alle Typen von Charts haben einen einfachen Bauplan, der folgende Komponen-ten umfaßt: Einheiten, Relationen, Kennzeichnungen, Hintergrund (Kosslyn1989, 1994).

Einheiten

Die Einheiten können Kategorien verschiedener Größenordnung sein, von einzel-nen Begriffen bis zu komplexen Aussagen. Meist sind die Einheiten grafischdurch Rechtecke, Ellipsen, Kreise usw. abgegrenzt, das muß aber nicht sein.Inhaltlich zusammengehörige Begriffe können durch Rahmen, Unterlegungenoder Farbe optisch gebündelt werden. Hier sind die Gestaltgesetze der Wahrneh-mung zu berücksichtigen (Ballstaedt 1997).

VISUALISIERUNGEN

DIAGRAMME KARTENCHARTS

tabellarische ChartsZeitchartsOrganisations-ChartsFlowchartsBegriffsnetze

KreisdiagrammeBalkendiagrammeSäulendiagrammeLiniendiagrammeStreudiagramme

physische Kartenthematische Karten

Abb. 1: Einfaches Chart zum Begriff VISUALISIERUNGEN. Es repräsentiert eine Hierarchie von Begriffen. Zum Beispiel ist ein Begriffsnetz ein Chart und dieser eine Form der Visualisierung.

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Relationen

Die inhaltlichen Verbindungen zwischen den Einheiten lassen sich nach folgen-den Kriterien analysieren:

Richtung

. Die Verbindungen sind

gerichtet oder ungerichtet

. Die Richtung wirddurch Pfeilspitzen dargestellt. Ein Stammbaum enhält zum Beispiel beide Verbin-dungen: Die Relation „Kind von“ ist gerichtet, die Relation „verheiratet mit“ungerichtet.

Benennung

. Die Verbindungen zwischen den Einheiten können

benannt

oder

unbenannt

sein. Unbenannte Verbindungen müssen von den Adressaten interpre-tiert werden. In einem Chart können verschiedene Typen von Verbindungen durchBenennung oder grafische Gestaltung (verschiedene Linien) unterschieden wer-den. Das Inventar an Relationen darf aber nicht zu groß sein (5 bis 7). Die Art derRelationen richtet sich nach Inhalt und Texttyp. Häufige Relationen sind: Ursa-che, Bedingung, Folge, Teil-Ganzes, Über- und Unterordnung.

Abb. 2: Infografik zu rätselhaften Hirnkrankheiten. Diese Text-Bild-Kombination soll einen Text nicht ergänzen, sondern ersetzen. Die Symptome von BSE und CJD sind

gegenübergestellt und die möglichen Übertragungswege visualisiert. Die wichtige Aussage, daß die Übertragung vom Rind auf den Menschen unsicher und umstritten ist, müßte hervorgehoben werden, z. B. durch ein fettes Fragezeichen über dem Pfeil

(Nachdruck mit Genehmigung der GLOBUS Infografik GmbH).

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Zuordnung

. Es gibt verschiedene

Arten der Zuordnung

(mapping) von Einheiten:• Eins-zu-eins: Zwei Einheiten werden verbunden. Beispiel: jedem Ehemann

wird eine Ehefrau zugeordnet.• Eins-zu-mehreren bzw. Mehrere-zu-eins. Eine Einheit ist mit mehreren, oder

mehrere sind mit einer Einheit verbunden. Bei gerichteten Verbindungen ent-steht so eine Hierarchie.

• Mehrere-zu-mehreren. Zwischen den Einheiten gibt es multiple Beziehun-gen. Ein Beispiel sind Begriffsnetze, bei denen jede Einheit mit mehrerenanderen Einheiten verknüpft sein kann.

Gewichtung

. Durch die Dicke der Verbindungslinien kann die Bedeutung einerVerbindung dargestellt werden.

Kennzeichnungen

Die Einheiten und Relationen sind durch Labels (Buchstaben, Nummern, Wörter)interpretiert. Bei Infografiken kennzeichnen oft Piktogramme die Einheiten. Mit

Symbolen

können Leerstellen (*) markiert oder Begriffe als fraglich (?) oder zen-tral (!) hervorgehoben werden.

Hintergrund

Vor allem bei Infografiken wird der Hintergrund mit Fotos oder schematischenAbbildern dazu genutzt, um die kommunikative Absicht zu verstärken. In Zeitun-gen und Zeitschriften sind derartige dekorative Augenfänger üblich.

2 Charts als Textersatz oder -zusatz

Ein Chart als Textzusatz veranschaulicht die wichtigen Zusammenhänge (Alver-mann 1986; Bernard 1990). Ein sogenanntes Outline-Chart kann vor dem Text als

Vorstrukturierung

, nach dem Text als

Zusammenfassung

stehen. Er soll als visua-lisiertes Inhaltsverzeichnis die Bildung von inhaltlichen Makrostrukturen fördern.Sehr wichtig sind hier die Text-Bild-Beziehungen: Ein Chart darf keine anderenWörter als im Text enthalten und er muß vor allem die hierarchiehohen Begriffeenthalten.Ein Chart als Alternative zum Text empfiehlt sich vor allem bei dichten Texten,die zahlreiche Begriffe einführen und verknüpfen. Derartige Texte kommen vorallem in Lehrmaterial vor. Charts als Textersatz sind für die Präsentation auf demBildschirm besonders geeignet, da lange Texte ungern vom Monitor abgelesenwerden. Der nachfolgende Text, nach dem das Chart in der Abbildung 3 konstru-iert wurde, stammt aus einem Handbuch für Techniker (Böge 1985).

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Gasförmige Brennstoffe: Als natürliches Gas wird Erdgas oft bei Erdölbohrungen miterbohrt. Durch Entgasung wird aus Kohle Schwelgas, Stadtgas und Koksofengasgewonnen. Durch Vergasung von Koks, Halbkoks, Anthrazit, wird je nach Verga-sungsmittel Luftgas, Generatorgas und Wassergas hergestellt. Beim Hochofenbetriebentsteht Gichtgas.

3 Funktionen von Charts

Die Veranschaulichung von qualitativen Beziehungen zwischen Begriffen undAussagen unterstützt als „geistiges Werkzeug“ verschiedene kognitive Prozessewie Planen und Ordnen, Einprägen und Erinnern, Orientieren und Navigieren(Holley/Dansereau 1984; Jüngst/Strittmatter 1995; Stary 1997).

Planen und Ordnen

Charts dienen der Veräußerlichung eigener Denkprozesse und -strukturen: Gedan-ken und Ideen (z. B. eines

brain storming

) können geordnet und vermittelt wer-den. Dazu dienen z. B. das

Mind Mapping

als einfache Form eines Chart oder die

Metaplan-Methode

(Kirckhoff 1988; Langner-Geißler/Lipp 1994; Buzan/Buzan1996). Ein Autor oder eine Autorin kann ein Chart zum Planen eines Aufsatzesoder einer Präsentation nutzen. In der Moderation dienen Charts der visualisiertenDarstellung von Gruppenergebnissen und Planungsprozessen.

Entgasung Vergasung ?Erbohrung

gasförmige Brennstoffe

SchwelgasKoksofengasStadtgas

LuftgasGeneratorgasWassergas

Gichtgas

Erdöl-förderung Kohle

KoksHalbkoksAnthrazit

Hochofen-betrieb

natürlichesGas = Erdgas

Abb. 3: Chart anstelle eines Textes. Der Chart visualisiert den Ursprung verschiedener Gasarten (gerichtete Pfeile) und faßt diese hierarchisch zu den gasförmigen Brennstoffen

zusammen (ungerichtete Pfeile). Bei der Entstehung von Gichtgas ist der Prozeß im Text nicht benannt, die Leerstelle ist an der Relation als Fragezeichen markiert.

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Einprägen und Erinnern

Charts nutzen beim Lernen fremder Sach- oder Denkstrukturen, indem dereninhaltliche Struktur sichtbar und verfügbar wird. Für die kognitive Verarbeitunglassen sich folgende Vorteile anführen:1. Das Verstehen von Charts ist einfacher als das Verstehen von Texten: DieBeziehungen zwischen Begriffen und Aussagen sind direkt ablesbar und müssennicht durch eine syntaktische Analyse erarbeitet werden. Diese Behauptung klingtplausibel, ist aber bisher empirisch nicht untersucht. Im Unterschied zum Textwird beim Chart keine lineare Abfolge, sondern eine räumliche Anordnung derEinheiten vorgegeben. Ein Chart läßt sich mit den Augen in verschiedenenSequenzen durchmustern.2. Charts bieten eine räumliche Anordnung, die besonders gut im Gedächtnis haf-ten bleibt. Räumliches Wissen ist resistenter gegenüber dem Vergessen alsbegriffliches Wissen (Moore/Readence 1984; Rewey/Dansereau/Skaggs/Hall/Pitre 1989; Robinson/Kiewra 1995). Fast jeder kennt das Phänomen, daß maneine Information vergessen hat, aber noch weiß, daß sie auf einer Seite rechtsunten stand. Räumliches Wissen ist hier erhalten, das konzeptuelle Wissen istnicht mehr abrufbar.3. Piktoriale Zusätze wirken als Abrufhilfe beim Reproduzieren von Informatio-nen. Es hat sich in vielen Experimenten gezeigt, daß Bilder besser behalten wer-den als Wörter (Wippich 1984). Dieser Bildüberlegenheitseffekt wird in Infografi-ken genutzt, um Inhalte effektiv im Langzeitgedächnis zu verankern.Charts zum Einprägen müssen einfach sein, d. h. sie dürfen aus nicht mehr als sie-ben Einheiten und nicht zu vielen verschiedenen Relationen bestehen.

Orientieren und Navigieren

Charts bieten eine Struktur an, die als geistige Landkarte Orientierung, Suche undExploration in einem unübersichtlichen Wissensgebiet ermöglicht (deshalb „con-cept mapping“ oder „knowledge map“, Novak 1990). In dieser Funktion könnenCharts einen erheblichen Umfang annehmen.Als Menüs, Paletten oder grafische Browser findet man

interaktive Charts

alsStruktur- bzw. Inhaltsübersichten in der computerbasierten Instruktion. Sie dienender Orientierung in Hyperdokumenten, in denen man sich leicht verirren kann(

lost in hyperspace

). Untersuchungen belegen, daß das Navigieren in Hyper-medien gelernt werden muß und dazu geeignete Navigationshilfen unentbehrlichsind (Reynolds/Dansereau 1990; Jonassen 1993; Kamps/Reichenberger 1995).

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4 Konstruktion eines Chart

Ein Chart kann mit Bleistift und Kärtchen konstruiert werden, man kann aberauch ein Computerprogramm benutzen. In Präsentationsprogrammen wie z. B.PowerPoint ist ein Unterprogramm für Charts – hier Organisationsdiagrammegenannt – vorhanden. Fischer/Gräsel/Kittel/Mandl (1995) haben ein elektroni-sches Mapping-Verfahren zur Strukturierung von Wissen entwickelt. Am komfor-tabelsten ist das Programm

Inspiration

, mit dem die Abbildungen 1 und 3 erstelltwurden (im Internet: http://www.inspiration.com). Es erlaubt die Konstruktionvon einfachen Charts wie von piktografisch angereicherten Varianten. Die Pro-gramme verleiten jedoch zum Losbasteln, bevor man sich klar darüber ist, wel-ches Wissen visualisiert werden soll. Das ausführliche Vorgehen bei der Kon-struktion eines Chart sieht idealtypisch so aus:(1) Die wichtigen Begriffe in einem Text werden in einer bestimmten Form oderFarbe angestrichen.(2) Wörter, die eine Beziehung zwischen den wichtigen Begriffen ausdrücken,werden in einer anderen Form oder Farbe angestrichen. Achtung: Relationen zwi-schen Begriffen lassen sich sprachlich in sehr unterschiedlicher Form verpacken:Es können Verben, Nominalisierungen oder Konjunktionen sein. Oft sind Relatio-nen an der Textoberfläche nicht klar ausgedrückt und müssen erschlossen werden.(3) Der zentrale Begriff, die Idee oder das Thema wird in die Mitte (des Blattes,der Tafel) geschrieben (in ein Rechteck oder eine Ellipse).(4) Begriffe, die mit dem Zentralbegriff eng zusammenhängen, werden mit die-sem durch möglichst benannte Relationen verbunden (durch Linien, Pfeile).(5) Weitere Begriffe werden nacheinander in das Chart einbezogen. Dabei mußentschieden werden, welche „Korngröße“ die Visualisierung haben soll. Es giltdie Faustregel: Je weniger Einheiten, desto einprägsamer der Chart!(6) Da das Ergebnis meist recht unordentlich aussieht, werden die Einheiten ineine übersichtliche Anordnung gebracht. Dabei sind folgende Regeln wichtig(Winn/Holliday 1982):• Einheiten, die konzeptuell zueinander gehören, sollen auch in räumlicher

Nähe angeordnet sein (Cluster).• Einheiten zur Darstellung von Ursachen sollen links von den Einheiten ange-

ordnet werden, die Folgen darstellen (Kausalkette).• Einheiten, die übergeordnet sind, sollen auch über den untergeordneten Ein-

heiten plaziert sein (Hierarchie).

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• Einheiten, die eine zeitliche Abfolge darstellen, müssen von links nachrechts angeordnet werden (Zeitachse).

• Einheiten, die eine zeitliche Wiederholung darstellen, sollen kreisförmigangeordnet sein (Zyklus).

• Einheiten, die sich gegenseitig im logischen Sinne einschließen, sollen sichauch in der Darstellung umschließen (Inklusion).

• Nach Möglichkeit sollen natürliche räumliche Beziehungen zwischen Ein-heiten erhalten bleiben.

• Die Anordnung von Einheiten in einem Chart sollte die kulturell bedingteLeserichtung berücksichtigen.

(7) Für die Aussage besonders wichtige Einheiten werden typografisch hervor-gehoben (Strichdicke, Farbe, Größe usw.). Zusammengehörige Begriffe könneneinheitlich ausgezeichnet werden (Farbe, Schraffur, Unterlegung usw.).(8) Schließlich kommen nach Bedarf und Zielgruppe piktoriale Bestandteilehinzu. Hier gelten Gestaltungsregeln für eindrückliche Piktogramme. Wichtigsind prototypische Abbildung, eindeutige visuelle Organisation, konsistenteGestaltung. Sprachlich und bildlich zusammengehörige Informationen müssenvisuell eindeutig zugeordnet sein (Ballstaedt 1997).

5 Kritik an Charts

Die Möglichkeit, Wissen in einer visualisierten Form darzubieten, befürwortenviele Instruktionspsychologen aus didaktischen Gründen (Wright 1971; Jüngst1992). Gegen diese Tendenz zur Visualisierung lassen sich aber auch gewichtigeArgumente anführen:1. Es werden Zweifel daran geäußert, daß diese Form der Darstellung einem Textin der kognitiven Verarbeitung wie in der Gedächtnisleistung tatsächlich über-legen ist. Dies ist eine empirische Frage, die derzeit noch nicht überzeugendbeantwortet werden kann. Vielleicht helfen Charts nur leseschwachen Personen.2. Es wird befürchtet, daß die Darbietung von sprachlichen und piktorialen Infor-mationshäppchen die Rezipienten dem Lesen zusammenhängender Texte ent-fremdet. Mit einfachen wie illustrierten Charts würde so der funktionale Analpha-betismus gefördert. 3. Da ein Chart zur Vereinfachung und Prägnanz tendiert, wird vor einer Standar-disierung der Darstellung und damit Simplifizierung des Denkens gewarnt. Beider Wissensvermittlung durch Charts verkümmern die Fähigkeiten zur differen-zierten sprachlichen Argumentation.

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Alle drei Argumente werten Charts im Vergleich zum Text. Die Kritikpunkte wer-den meist in kulturkritischer Absicht vorgebracht, um die Sprache als überlegeneDarstellungsform gegenüber Visualisierungen zu verteidigen (z. B. Pörksen1997). Grundsätzlich ist es jedoch wenig sinnvoll, eine Darstellungsform an eineranderen zu messen und ab- oder aufzuwerten. Charts sind für bestimmte didakti-sche Funktionen gut geeignet, bei anderen sind sie sicher nicht das Mittel derWahl. Ein Chart kann im Sinne einer didaktischen Reduktion für die Einprägunghervorragend geeignet sein (man denke an die alten Tafelbilder!). Aber eine diffe-renzierte Argumentation und Gewichtung ist erst im begleitenden Text möglich.Charts sind nur eine Variante der Wissensvermittlung, um bestimmte Verarbei-tungsprozesse anzuregen und zu unterstützen.

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