Traditionelle Anwendung von Phytopharmaka: Phytopharmaka:
Historische Forschung als Erkenntnisweg
Priv.-Doz. Dr. Axel Helmstädter
Marburg/Frankfurt
15.11.2012
Tradition: What‘s in a word …
Lat. tradere: Übergabehandlung
„Verb des Gebens und Nehmens“
Übergang zwischen „Generationen“
Einbezug „sprachlicher, geistiger Einbezug „sprachlicher, geistiger
und kultureller Gegenstände“
Kulturelle Bewahrung
Vgl. engl. trade
Tradition: What‘s in a word …
Voraussetzung: Übergang über mindestens drei GenerationenGenerationen
Tradition: What‘s in a word …
Voraussetzung: Übergang über mindestens drei Generationen
Generationsdauer?
Anthropologie: 30 J.
Grundschule: 4 JahreGenerationenAusbildungsgeneration
Arzt: 7-10 Jahre
Tradition 12-30-90 J.
Formale Veränderungen sind unschädlich
Formale Veränderungen sind unschädlich
… und zum längerfristigen Erhalt von Traditionen geradezu erforderlich.
Formale Veränderungen sind unschädlich
… und zum längerfristigen Erhalt von Traditionen geradezu erforderlich.
Phytopharmaka
… werden größtenteils seit langer Zeit angewendet
>> 3 Anthropologische Generationen
(Empfehlung innerhalb der Familie)
>> 3 Ärztegenerationen>> 3 Ärztegenerationen
>> 3 Generationen Literatur (Kräuterbücher � moderne Kompendien)
Tlw. geänderte Arzneiform, Verpackung, Anwendungsweise etc.
Naturstoffe und Verwandte: Nach wie vor wichtigste Quelle neuer Arzneistoffe
B Biological: Usually a large peptide or protein either isolated from an organism/cell line or produced by biotechnological means in a surrogate host
144 (12.7%)
N Natural product 47 (4.2 %)
ND Derived form a natural product 247 (21.9%)ND Derived form a natural product 247 (21.9%)
S Totally synthetic drug, often found by random screening/modification of an existing agent
325 (28.8%)
S* Made by total synthesis, but the pharmacophore is/was from a natural product
50 (4.4%)
S/NM Synthetic/Natural product mimic 130 (11.2%)
V Vaccine 68 (6.0%)
1130 neue Arzneistoffe 1986-2010 (Newman and Cragg 2012)
Algorithmus zur Auffindung sedativer Wirkstoffe in Phytopharmaka (Farnsworth et al. 1972)
Literaturberichte über sedative Wirkungen 10Glaubhafte Berichte über trad. Anwendung 6Taxon. Verwandtschaft zu sedativen Phytopharmaka 5
Gehalt an Alkaloiden 4Bislang wenig untersuchte Klasse 3Bislang wenig untersuchte Klasse 3> 2 Vertreter 10 oder 6 Punkte zus. 2Toxizität berichtet oder tradiert - 5
84 Species > 15 Punkte15 getestet , 5 mindestens so wirksam wie Pentobarbital Kaum Nebenwirkungen(Test auf spontane Bewegungsaktivität)
Reverse Pharmacology (Beside-to-bench)-Approach
Proof of principle: Syzygium cumini
Therapie des Diabetes mellitus vor Einführung des Insulins
Wiss. Literatur
Trad. Anwendung
Helmstädter 2008
Syn. Syzygium jambolanum, Eugenia
jambolana, Jambul, Javapflaume
(Myrtaceae)
Eingeführt nach Europa um 1886
Syzygium cumini
Eingeführt nach Europa um 1886
Über 100 Fallberichte vor 1896
Vier Dissertationen vor 1896
Samenpulver bis zu 100 g/Tag
Syzygium cumini
Autor Dosis Urinvolumen Glucosurie Bemerkungen
Clacius (1885) 325 mg Samen Pulver 4x/d
-35 to -50% -65% nach 3 Wochen
Posner/Eppen-stein (1891)
4-10 g Samen Pulver 3x/d
-30 to -50% -25 to -50% Gewichts-zunahme
Lewaschew (1891)
20-30 g Samen Pulver/d
- 60 % nach 3 Wochen
- 60 % after 3 Wochen
Gewichts-zunahme
Lenné (1892) 30 g Frucht Zuckergehalt sogar erhöht
Keine Verbesserung
Vix (1893) 40 g Extrakt (Früchte/ Rinde)
- 100%
Colasanti (1895)
10 – 100 g/d -20 bis -50% Subjektive Besserung
Syzygium cumini
Autor Dosis Tier Blutzucker Bemerkungen
Wastl (1947) 2-4 g Samen-Pulver/kg
Ratte Nicht bestimmt Kein Effekt auf Glucosurie
Cirvan-Nia (1972)
Extrakt Ratte -60 bis -70% Reduz. Augen-symptome
Bansal (1981) 170 – 519 mg Samen-Pulver
Ratte - 50% = Chlorpropamid
Prince (1989) wässr. Extrakt
5 g/kg
Ratte fast normo-glykämisch
= Glibenclamid
Sharma (2003) 100 mg/kg Kaninchen bis -30% HbA1c – 25%
Sridhar (2005) 250 – 1000 mg/kg
Ratte Bis -50% = Glibenclamid
Insulin ↑
UAW: Magen-/Darmbeschwerden
Syzygium cumini
„In the present 1-month dosing study, completing our study cycle, with tea prepared with leaves from S. cumini, the way it is prepared and used by patients, we did not see any antihyperglycaemic effect. The doubleblind, double-dummy design, with placebo and active treatment control, demonstrated that this tea is ineffective.“
Syzygium cumini
Natriumoxamat
Syzygium cumini
S. cumini Samenpulver ist ein antidiabetisch wirksames traditionelles Arzneimittel
Es liegen (alleine in Europa) Erfahrungen aus über 100 Jahren bzgl. Wirksamkeit und Anwendungssicherheit vor
Phytochemische Forschung hat einige wirksamkeitsbestimmende Phytochemische Forschung hat einige wirksamkeitsbestimmende Inhaltsstoffe nachgewiesen
Diese müssten von Grund auf getestet und zugelassen werden
Der Patentinhaber verzichtet wohl aus wirtschaftlichen Gründen darauf
Zulassung als traditionelles Arzneimittel nicht möglich
Den Patienten bleibt auf lange Sicht wird ein traditionelles , wahrscheinlich wirksames und sicheres Arzneimittel vorenthalten
Argemone mexicana: Malariatherapie in Mali
Graz et al. (2005): „Retrospective treatment outcome study“
RTO = Ethnopharmakol. Studien + Klinik + StatistikRTO = Ethnopharmakol. Studien + Klinik + Statistik
Ausgangspunkt: Wirkstoffe gegen Malaria sind zwar bekannt, gelangen aber aus verschiedensten Gründen nicht zur Marktreife (Kinetik, Toxizität, Regulatorische Aspekte)
Argemone mexicana: Malariatherapie in Mali
1. Befragung der Bevölkerung nach traditioneller Behandlung: 952 Haushalte nennen 66 Pflanzen2. Beste Korrelation zwischen Anwendungshäufigkeit und Wirksamkeit: Argemone mexicana3. Bioverfügbarkeit und toxikologische 3. Bioverfügbarkeit und toxikologische Unbedenklichkeit gilt als gewährleistet (WHO-Guideline)4. Einführung einer A. mexicana-Abkochung in ländlichen Gegenden Malis ohne Zugang zu kommerziellen Arzneimitteln
„The saving in time and cost comes from the fact that substantial experience of
human use increases the chances that a remedy will be effective and safe, and that
precautions will be known.“ (Willcox et al. 2011)
„vorläufiges“, sicheres Arzneimittel
„übliche“ Arzneimittel-entwicklung
(„validated self-prepared traditional medicine“;
„Home based management of malaria“, HMM)> 10 Jahre?
Historische Forschung: Sicherheit
Johanniskraut in der Antike als Abortivum bekannt (Riddle 1998)
� Kontraindikation Schwangerschaft (1999 eingeführt)Schwangerschaft (1999 eingeführt)
Nephrotoxizität von Aristolochia in der modernen wiss. Literatur bekannt seit Orfila (1815), zudem bereits in der Antike geläufig (Scarborough 2011)
Historische Forschung: Sicherheit
Phenazon: 1883 als frühes synthetisches Analgetikum eingeführt
Frühe Werke über Frühe Werke über Nebenwirkungen:
Lewin 1899
Kebler 1909
Seifert 1915
Bis auf Veränderungen des blutbildenden Systems alle in den heutigen Fachinformationen genannten NW bereits bekannt
Darüber hinaus Hinweise auf
- Visusstörungen
- Krampfanfälle u.a. ZNS-Reaktionen
Historische Forschung: Wirksamkeit
Systematische Auswertung überlieferter Literatur, „Kräuterbücher“ etc.
Universität Basel:
Malaria, Rheuma, Epilepsie, Age related brain disorders
Historische Forschung (Adams et al.)
Rheuma: 5 bedeutende europäische Kräuterbücher
63 Pflanzen; > 50% bekanntermaßen antiphlogistisch
Malaria: 8 bedeutende KräuterbücherMalaria: 8 bedeutende Kräuterbücher
314 Pflanzen; ca. 5% mit nachgewiesener Wirkung
Epilepsie: 9 bedeutende europäische Kräuterbücher
221 Pflanzen; < 5% mit nachgewiesener Wirkung
Historische Forschung
Kooperation Uni Würzburg/Industrie
Erforschung des traditionellen Arzneischatzes
Verfügbarmachen zentraler Werke der mittelalterlichen Medizin für unsere Zeitmittelalterlichen Medizin für unsere Zeit
Pharmaziegeschichte Uni Marburg
Forschungsschwerpunkt Missionspharmazie
Arzneibücher der Jesuiten u.a. Missionsorden
Schwierigkeiten und Probleme
(Crellin 2008):
Einbezug aller wesentlichen, auch ungedruckter Quellen, Aufzeichnungen mündlicher Überlieferung
Evidenz umso besser, je häufiger und (regional) diversifizierter Evidenz umso besser, je häufiger und (regional) diversifizierter eine Wirkung (oder Nebenwirkung) berichtet wird
„Indeed the same information from different areas may point to relatively robust evidence of mainstream usage that will be indicative of being therapeutically useful for many patients.“
Terminologische Probleme (Krankheiten, Pflanzen)
Wandel in Herstellung und Arzneiform (noch) konsistent mit dem Traditionsbegriff?
„Soziale Validierung“
John K. Crellin 2001
Anwender wollen „trotz besseren Wissens“ nicht von Anwender wollen „trotz besseren Wissens“ nicht von einem Verfahren lassen
Allg. Erfahrungstatsachen („popular belief systems“)
Gesellschaftlich akzeptiert
+: Traditionen in geographisch getrennten „Clustern“
+: Bis in die Gegenwart bestehend
Fundgrube: Traditionelle Therapie Asiens
Identification of Novel Anti-inflammatory Agents from Ayurvedic Medicine for Prevention of Chronic Diseases: “Reverse Pharmacology” and “Bedside to Bench” Approach
Bharat B. Aggarwal et al.
„We found that Ayurveda, a science of long life, almost 6,000 years old, can serve as a “goldmine” for novel anti-inflammatory agents used for centuries to treat chronic diseases.“
103 Seiten, 175 Pflanzen, 922 Zitate
Fundgrube: Traditionelle Therapie Asiens
Traditional medicine-inspired approaches to drug discovery: can Ayurveda show the way forward?
B. Patwardhan, R. A. Mashelkar
„Drug discovery strategies based on natural products „Drug discovery strategies based on natural products and traditional medicines are re-emerging as attactive options. We suggest that drug discovery and development need not always be confined to new molecular entities. Rationally designed, carefully standardized, synergistic traditional herbal formulations and botanical drug products with robust scientific evidence can also be alternatives.“
„Tradition“ in regulatorischer Hinsicht
• Ein definiertes (Handels)produkt
• Seit 30 Jahren ununterbrochen vermarktet
• Inkonsistent mit dem historischen Traditionsbegriff • Inkonsistent mit dem historischen Traditionsbegriff
– Wandel des „traditionellen“ Produktes
– Tradition bezieht sich auf die Droge, nicht auf des spezifische Produkt
– Zulassungshindernis für traditionell angewandte Zubereitungen, solange kein Handelspräparat bestand
„Evidenz-Niveaus“
Zusätzliches (niederrangiges) Evidenzkriterium
Soziale Validierung >= 2 Cluster
Zusätzliches (niederrangiges) Evidenzkriterium
? ?
Soziale Validierung >= 2 Cluster
? ?
Fazit
• Traditionelle Phytopharmaka gelten (inzwischen wieder) als eine der wesentlichsten Quellen zum Auffinden neuer Arzneimittel
• „Innovationslücke“ der pharm. Industrie• Dramatisch lange Entwicklungszeiten• Aus traditioneller Anwendung lassen sich mit geeigneter • Aus traditioneller Anwendung lassen sich mit geeigneter
Methodik valide Daten zu Wirksamkeit und Sicherheit gewinnen
• „Traditionsbegriff“ der bewertenden Behörden steht nicht im Einklang mit dem historischen Traditionsbegriff
• Wirksame und sichere Naturprodukte kommen nicht oder mit langer Verzögerung auf den Markt
• Einbezug der Erkenntnisse aus traditioneller Anwendung in das EbM-System könnte hier Abhilfe schaffen