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Page 1: Über Todesfälle durch örtliche Betäubung mit Novokain

(~ber Todesfiille durch iirtliche Betiiubung mit Novokain.

Vol]

Dr. Halle, Berlin.

(Eingegangen am 10. September 1932.)

In Band 132, Heft 1, dieses Archivs hat Seeger in ehmr sorgfgltigen und kritischen Zusammenstellung die Todesfglle besproehen, die im Anschlul~ an 5rtliche Be~gubung mit Novokain eingetreten sind. Diese Arbeit ist fiberaus dankenswert, weist sie doeh eindrucksvoll darauf hin, dab wir anscheinend auch in dem Novokain, das wohl yon den meisten Operateuren als sicherstes An~sthetikum geschgtzt und verwand~ wird, noch kein Idealmittel erb]ieken dfirfen.

Ieh will hier nich~ untersuchen, ob die yon Seeger beigebraehten An- siehten der Autoren fiber die Ursache der Unglfieksfglle zutreffen. Ich halte reich aber ffir verpfliehtet, bei dieser Gelegenheit kurz fiber eigene Erfahrungen zu berichten.

Wir verwenden das Novokain fast ausschliel~lich in 1/2 %iger LSsung. Das Originalprgp~rat wird fast t~glich frisch in destilliertem Wasser gelSst und kurz aufgekocht. Friiher setzten wit Adrenalin, spgter Supra- renin nnmittelbar vor dem Gebraueh zu und gaben einen Tropfen auf 3--5 ccm der NovokainlSsung. Es wird zur Operation natfirlich nur das notwendigste Quantum verwandt, doeh haben wir uns nicht gescheut, auch gro~e Mengen zu gebrauehen, woes nStig war, ausgehend yon den Erfahrungen, dal~ wh" bei umfangreiehen plastisehen Operationen nicht selten 2--300 ccm und mehr gebrauehen mul~ten. Bei zahlreiehen Ein- griffen im Bereich unserer Fachdisziplin und der plastisehen Operationen hatte ich wghrend etwa 18 Jahren niemals einen fiblen Zu~all erlebt.

Wghrend des Krieges hatte ich auf tier Kiefers~ation des Reserve- ]azaretts Universitgts-Zahnklinik in Berlin bei den erforderlichen, oft sehr umfangreichen plastischen Operationen das Novokain in der 1/2%igen LSsung im einzelnen Falle in grol~en Mengen ohne jeden Zwischenfall verwandt. Da wurde ieh eines Tages Ton dem Chefarzt Prof. Williger gerufen, der eine grS~ere Osteoplastik ausfiihrte. Er machte reich sehr aufgeregt darauf aufmerksam, dal~ sich bei dem Patienten hSchst auf- fgllige Erscheinungen gezeigt batten. Wghrend er bei frfiheren Opera- tionen nie die geringsten Schwierigkeiten gemaeht hs ware er heute

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fast unmittelbar nach der Injektion in starke Exzitation gekommen, habe um sich gesehlagen, nachdem er sich mit grol]er Gewalt aus den haltenden Armschlingen gerissen hat te , habe geschrien und getobt, dann gesungen und sei schliel~lich in t iefen Schlaf gefallen, der die Vollendung der Operation gestattete.

Wit konnten an dem Patienten auger der tiefen Somnolenz keine wesentlichen Ver~nderungen erkennen. Der Puls war mgl]ig frequent, die Atmung etwas flach, die Pupillen waren m/~l~ig verengt, reagierten auf Lichteinfall. Kornea.lreflex verhanden. Der Patient sehlief fast 6 Stunden, erwachte dann, ohne dal~ sich StSrungen bemerkbar machten, hatte an die vergangene Operation keine Eriunerung, war abet sonst vSllig klar.

Wir konnten uns zun~tchst don Znstand nicht erklgren, zumal wir his dahin bei den tgglichen zahlreichen und oft umfangreicheren Ein- griffen niemals Xhnliches erlebt hatten. Die NovokainlSsung war wie immer frisch aus der Stabsapotheke geliefert worden.

Am ngchsten Tage hatte ich selber eine grebe plastisehe Operation zu machen, wobei ieh etwa 300 ccm der NovokainlSsung gebrauchte. Zu meiner grS~ten 13berraschung erlebte ich bei meinem Patienten fast genau den gleichen Zustand, wie wit am Tage zuvor beobaehtet batten.

Nunmehr veranlaBte ich, dab die Novokainlgsung sofort mit Beschlag belegt und untersucht wsrde. Dabei stellte es sich heraus, daI3 ein grebes Versehen passiert war. Man hatte uns nicht eine 1/~ %ige Lgsung gelie[ert, sondern eine 5 % ige Lgsung yon Novokain / U n d yon dieser L6sung hatte ieh etwa 300 cem eingespritzt, also 15 g! Novokain. Und beide Patienten hatten diese enormen ~engen ohne jeden siehtb~ren dauernden Naehteil tiberstanden.

Hiernach war ich geneig~, das Novokain fiir praktisch ungiftig zu halten, und habe es bedenkenlos gebraueht. Allerdings habe ich reich niemals ffir stgrkere L6sungen entssheiden k6nnen und habe aush bei Leitungsangsthesien lieber ein gr6~eres Quantum der L6sung genommen, aber selten eine 1- odor 2%ige L6sung.

Um so mehr ersch/itterten reich einige Fglle, die ich im Laufe einer Woche erlebte.

Im Jahre 1919 w~rde yon einem meiner Assistenten eine 21jghrige Patientin zur Tonsillektomie vorbereitet. Wenige Minuten nach der Injektion der LSsung klagte die Patientin fiber stgrkste Xopfsehmerzen, und kurz darauf sank sie bewuBtlos zu Boden. ~ a n dachte zuerst an eine Ohnmacht, rief reich aber zu Hilfe. Ich land die Patientin bewul~tlos, r6chelnd, Arme und Beine in Xrampfstellung, Hgnde und Fii6e nach medial gedreht, Daumen eingeschlagen. Puls setzte kurz darauf aus, und trotz intrakardialer Injektion yon Suprarenin, Lobelin, trotz stundenlang fortgesetzter ktinstlieher Atmung war die Kranke nieht zu retten.

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Die Autopsie durch einen erfahrenen Pathologen ergab einen Status thymico-lymphaticus, sonst keinen Befund, der zur Erkl/~rung h/s herangezogen werden kSnnen.

Die LSsung wurde dem St/~dtischen Untersuchungsamt fibergeben. Sie wurde als durchaus einwandfrei und den Anforderungen der Pharma- kopoe entsprechend befunden.

Ich HeB die restHche LSsung fortgieBen, Gef~Be frisch sterilisieren und eine neue LSsung herstellen.

iV[it dieser am Operationstage frisch bereiteten L5sung injizierte ich 2 Tage sp/~ter eine Patientin, bei der eine Korrektur der Nasenspitze gemacht werden sollte. Es wurden hier nieht mehr a]s 5 ccm der LSsung gebraueht. Wenige 5Iinuten nach der Injektion wiederholte sich der gr/~Bliehe Vorgang yon vor 2 Tagen in genau derselben Weise. Bevor ich auch nm" das 1Vfesser ansetzte, sank die Patientin unter Krampf- zust/~nden bewuBtlos zusammen und starb trotz aller denkbaren MaB- nahmen, worunter auch eine Venaesectio erw/~hnt sei.

Eine Autopsie wurde leider verweigert. Das erneut untersuehte Pr/~- parat erwies sieh als einwandfrei.

Nun stellte ich lest, daI~ auf Veranlassung eines meiner Assistenten das ITovokain aus einer Apotheke als Pulver und nicht in den Original- fl/~sehchen bezogen war entgegen meinen ausdrfiekliehen Anweisungen. Ich verffigte, daB fortan wieder wie frfiher nur noch das Originalpr/~parat verwandt werden sollte. Da wit dieses aber nicht Iiir den ni~ehsten Tag zur Verffigung hatten und mir die Operationssehwester ohne mein Wissen yon dem anderen Novokain eine frisehe LSsung noch einm~l gab, h~itte ich beinahe einen 3. Todesfall erlebt. Bei einem 8j/ihrigen Kind war eine schwere Stenose des Nasenrachenraums entstunden, nachdem man ihr die Tonsillen mit der Klappsehen Zange entfernt hatte. Um diese Stenose zu beseitigen, wurde eine 5rtliche Bet/~ubung vor- genommen. Nach Injektion yon etwa 5 cem der L5sung wurde das Kind unruhig, klag~e fiber heftige Kopfsehmerzen, wurde d~nn unbesinnlieh und bekam leiehte Krampfzust/~nde. Entsetzt fragte ieh, ob ich dennoch dieselbe LSsung bekommen h/~tte, was die Operationssehwester bejahen muBte. Es gelang glficklieherweise, dieses Kind zu retten, ob dutch die ungewandten Mittel oder nicht, will ich nicht entscheiden.

In der Folge habe ieh wieder wie frfiher nur alas Originalpr/~parat gebraucht, und seit 1919, in etwa 13 Jahren, bei vielen tausend kleineren und grSBeren Operationen keinen Zufall mehr erlebt.

War das Novokain Schuld an den Unglficksf/s ? Nach meinen Er- fahrungen im Lazarett war ich geneigt, da ran zu zweifeln. Die eigenen erlebten Unglfieksf/~lle schienen mir darauf hinzudeuten, dab zwar das damals verwandte Novokain pharmakologisch einwandfrei, dab aber anseheinend seine Wirkung biologisch eine yon der OriginallSsung in fataler Weise versehiedene war. Denn weder vorher noch nachher habe

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ich gliicklicherweise einen Unfa.ll erlebt, so sehr ich anfangs begreiflicher- weise beunrnhigt war.

Soil ich nach meinen Fallen die Erkl~rung yon Seeger amlehmen ? ~e in 2. Fall sprich~ nicht far diese Auffassung. Denn hier wirkten an- scheinend wenige Kubikzentimeter der LSsung in die Nasenspitze gespritzt als Todesursache, wenn man nicht, angesichts des Fehlens einer nachweisbaren organischen Erkrankung bei der Untersuchung vor der Operation, e~wa einen Herzkollaps aus psychischen Griinden, Vago- tonie oder einen nicht bewiesenen Status thymico-lymphaticus annehmen will. Die beiden anderen, bei denen Injektionen in den Pharynx gemacht wurden, kSnnten sich in die Deutung Seegers nnd Herings einffigen, falls nicht eine besondere Toxizitat des Praparats an~unehmen ist, die ffir Tiere allerdings in den angestellten Versuchen nicht nachgewiesen werden konnte.

Ist nun das Novokain in den fraglichen Fallen immer die Todesursache gewesen ? Ein Fall aus der letzten Zeit gab mir sehr zu denken, nnd ich will ihn ohne Kommentar beschreiben. Ein junges, anscheinend vSllig gesnndes ~gdchen yon 22 Jahren sollte zur Tonsillek~omie vorbereitet werden. Es war abet noch keine Injektion, auch keine Pinselung des ttalses mit einem An~sthetikum vorgenommen worden. Ich bemerke hierbei, da6 ich seit Jahren in fast allen Fallen auf jede Vorbereitende Pinselung des Pharynx verzichtet und reich mit der Injektion begniigt habe. Dieses junge ~ tdchon koll~bierte pl6tzlich. Sie wurde besinnungs- los, bekam einen Krampfzustand im KSrper, Armen und t~einen in etwa der gleichen Weise wie meine Patienten yore Jahre 1919. tt~nde und FaUe waren krampfhaft nach einwarts gedreht, der Daumen eingesshlagen, ebenso die FtiBe. ~ach wenigen Minuten war der Zustand voriiber, und die Operation konnte ohne jeden Zwischenfall durchgefiihr~ werden, wobei wir nur die Vorsich~ iibten, erst auf der einen Seite zu injizieren und zu operieren und dann auf der anderen Seite.

Ich hgtte diesen Znstand unzweifelhaft der Wirkung des 5[ovokain zugeschrieben, wenn die Injektion vorher gemacht worden ware. Wie aber, wenn die Patientin im Kollaps gestorben ware!


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