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Was ist kognitive Linguistik?Entwicklung und aktuelle Tendenzen

Ringvorlesung „Interdisziplinäre Linguistik“09.11.2005

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Was heißt Denken (Kognition)?In einer Vorlesung, die Heidegger 1951-52

gehalten hat, zergliedert er (in der zweiten Vorlesung) die Frage in vier Lesarten:

Was benennt das Wort „Denken“? Wie wurde (geschichtlich) das Denken, z.B.

in der Logik, aufgefasst? Was wird von uns verlangt, damit wir

imstande sind zu denken? Was heißt uns denken? Was drängt uns

dieses Tun auf?

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Levinas- der Andere Die Andeutungen Heideggers, wie die Frage: „Was heißt uns

Denken (Sprechen)?“ zu beantworten sei, bleiben im Rahmen einer Subjekt-Welt(Sein)-Konfiguration. Gerade die Sprache (und natürlich ebenso das Denken) verweist aber auf den Anderen, den vom Ich differenten, grundsätzlich nicht einholbaren, verstehbaren Anderen. Levinas (1946) hat nicht zuletzt aus der Erfahrung des Zweiten Weltkrieges, die ethische, d.h. die auf den Anderen bezogene Funktion des Sprechens (und Denkens), hervorgehoben. Sie verweist deutlich über das Individuell-Kognitive hinaus, bringt die Differenz der Geschlechter, der Generationen, die Verantwortung, die Begrenzung der Gewalt in den Kreis jener Kräfte, die den Menschen drängen (heißen) zu sprechen und zu denken.

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Evolutionäre Perspektive „Was heißt uns denken und sprechen?“ kann innerhalb der

Wissenschaften aus einer evolutionären Perspektive angegangen werden. Den Schimpansen, der eine Gesten – oder eine Chip-Sprache lernt, heißt sein Appetit bzw. die Belohnung, die er für seine Sprachleistung erhält, sprechen. Auch der Mensch braucht einen sozialen Kontext, der ihn denken und sprechen heißt, wie die Kaspar-Hauser-Fälle zeigen. Aber selbst die armseligsten und härtesten Umweltbedingungen genügen, wenn nur Gelegenheit zur Kommunikation gegeben ist, um den Menschen denken und sprechen zu lassen. Das Geheiß (im Sinne Heideggers) ist im Menschen oder in seiner Gemeinschaft fest verankert und die Fähigkeit entfaltet sich spontan und mühelos. Die Evolution des Menschen und wohl noch stärker der menschlichen Gesellschaft ist also der Schlüssel zur Beantwortung der Frage nach dem was den Menschen sprechen heißt.

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Was heißt Sprache erklären? Chomsky stellte die Erklärungsadäquatheit ans Ende der

Prüfkriterien einer Theorie. Stellen wir aber zuerst die Frage: Wozu wollen wir Sprache erklären?, dann wird die Beschreibung nur Mittel zum Zweck und kann ohne diese nicht bewertet werden. In dieser Hinsicht erscheint die Kognitive Semantik als Fortschritt, denn sie versucht, bereits in der Deskription den Erklärungsanspruch einzulösen.

Das Zurückweichen der generativen Modelle vor dem Verlangen nach Erklärung war in Chomskys Grund-konstruktion bereits angelegt. Die primäre Beobachtungs-adäquatheit konnte nur durch eine radikale Einschränkung des Analyserasters erreicht werden. Bis das Gesamtmodell stand, dessen Erklärungsadäquatheit letztendlich zu bewerten war, mussten so vielfältige Konventionen eingeführt werden, dass unklar war, was nun auf seine Erklärungsadäquatheit zu evaluieren war, der technische Apparat oder die in ihm ausgedrückten Analyseergebnisse.

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Die Entstehung der fundamentalen Problematik Die systematische Anbindung der Sprachtheorie an eine

Kognitionstheorie finden wir bereits in John Lockes (1632-1704) „An Essay Concerning Human Understanding“ (1690), in dem er zuerst auf der Basis von „Empfindung“ (sensation) und „Reflexion“ (Selbstwahrnehmung, reflection) eine Welt von „Ideen“ (ideas) konstruktiv entstehen lässt. Diese reiche Welt von Ideen, also die kognitiven Elemente und Strukturen des Geistes, werden in einem weiteren Buch über die Wörter mit sprachlichen Einheiten und Strukturen verknüpft (darauf aufbauend wurde eine Sprachkritik skizziert).

Diesen Standpunkt können wir als einen vor der philosophischen Entstehung der grundlegenden Fragestellung der Kognitiven Linguistik bezeichnen: Kognition und Sprache sind noch getrennt, die Kognition geht der Sprache voraus, die Sprache macht aber die Kognition in ihrer kommunikativen Funktion möglich.

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Die Lockesche Innovation wurde von Leibniz in seinem Essay „Nouveaux Essais sur l’Entendement Humain“ (1704; erst 1765 publiziert) aufgegriffen und begründete zusammen mit Condillacs Weiterführung und Verschärfung in dessem „Essai sur l’Origine des Connaissances Humaines“ (1746) die eigentliche Tradition einer sprachzentrierten Erkenntnistheorie; in den Haupt-strömungen der Philosophie (etwa bei Kant und in der Philosophie des 19. Jh.) fand sie dagegen wenig Widerhall (immerhin gab es die Linie Herder-Humboldt).

In dieser neuen Perspektive ist die Kognitive Linguistik mehr als ein empirischer Zugang zur Kognitionsforschung; sie ist das epistemologisches Fundament zumindest der höheren, d.h. besonders der menschlichen Kognition. Die Kognitive Linguistik wird damit zu einem Kernbereich der Kognitionswissenschaft. So gesehen ist die philosophische Voraussetzung einer starken (d.h. epistemologisch notwendigen) Disziplin „Kognitive Linguistik“ im Bereich der Kognitionswissenschaft (die freilich beide erst viel später entstehen sollten) seit 1746 gegeben und Condillac ist ihr eigentlicher Begründer.

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Die Hypothese der „linguistischen Relativität des Denkens“Der sprachliche Relativismus bei Wilhelm von Humboldt versucht,

zwischen einer (fast) inhaltsleeren Formalbetrachtung und der Akkumulation spezifischer Details eine Synthese zu finden, bei der sowohl Umrisse der menschlichen Sprachfähigkeit als auch der Eigentümlichkeit jeder Nation festgestellt werden.

„So wie eine einzelne Sprache das Gepräge der Eigentümlichkeit der Nation in sich trägt; so ist es höchst wahrscheinlich, dass sich in dem Inbegriff aller Sprachen die Sprachfähigkeit, und insofern derselbe davon abhängt, der Geist des Menschengeschlechts ausspricht.“ (Humboldt, 1973: 72 f.)

Der seit Aristoteles vielfach akzeptierte sekundäre Charakter der Sprache wird deutlich abgelehnt.

„Denn die Sprache ist ein selbständiges, den Menschen ebenso wohl leitendes, als durch ihn erzeugtes Wesen; und der Irrtum ist längst verschwunden, dass sie ein Inbegriff von Zeichen, von, außer ihr, für sich bestehenden Dingen, oder auch nur Begriffen sei.“ (ibidem: 73)

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Die Entwicklung exakter Modelle für die (sprachliche) Kognition seit 1940 Den Hintergrund exakter Modellbildungen in diesem Bereich bilden

Synthesebewegungen der 20er Jahre, bei denen zwischen Psy-chologie, Biologie und Physik eine gemeinsame Theoriebildung, eine gemeinsame Systemsprache gesucht wurde.

Bertalanffys Buch „Theoretische Biologie“ von 1932 skizzierte das Programm einer einheitlichen wissenschaftlichen Theorie; mit der Gründung der Gesellschaft für Allgemeine Systemforschung wurde das Programm weiter spezifiziert.

„Major functions are to: (1) investigate the isomorphy of concepts, laws, and models in various fields, and to help in useful transfers from one field to another; (2) encourage the development of ad-equate theoretical models in the fields which lack them; (3) mini-mize the duplication of theoretical effort in different fields; (4) promote the unity of science through improving communication among specialists.“ (Bertalanffy, 1968: 15)

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Statische Strukturen Atome, Moleküle, KristalleUhrwerke Uhren, Maschinen, das

SonnensystemKontroll-Maschinen Thermostat, SelbstregelungenOffene Systeme Flamme, Zelle, OrganismusNiedere Lebewesen pflanzenähnliche LebewesenTiere Informationstransfer, LernenMenschen Symbolverwendung,

Bewusstsein, SpracheSoziokulturelle Systeme

soziale Lebewesen, Kulturen (beim Men schen)

Symbolische Systeme Sprache, Logik, Mathematik, Wissenschaft, Kunst ...

Implikative Hierarchie der Systemebenen

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Erste neuronale Modelle Für die konkrete Modellierung einfacher kognitiver Prozesse

waren die Arbeiten von McCulloch und Pitts (1943) „A logical calculus of the ideas immanent in neural nets“ von program-matischer Bedeutung. Mit ihnen beginnen Minsky und Papert (1988) ihren Rückblick auf die Entwicklung exakter Modelle für kognitive Prozesse.

1947 gelang den beiden Forschern ein Durchbruch. Sie hatten die praktische Aufgabe zu lösen, einen Apparat für Blinde zu konstruieren, der diesen ermöglichen sollte, eine gedruckte Seite mit Hilfe des Ohres zu lesen.

Ihr Schaltbild zeigte eine Analogie zur Struktur des Sehzentrums und sie entwickelten eine Theorie, welche Eigenschaften der Anatomie und Physiologie des Sehzentrums mit einer tech-nischen Simulation des Leseprozesses verband, d.h. von ihnen stammen die ersten neuralen Netzwerke.

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Die weitere Entwicklung Ende der vierziger Jahre fasste der Psychologie Donald Hebb

die Ansätze zu einer Netzwerktheorie des Denkens in seinem programmatischen Buch „The Organization of Behavior“ zusammen. Als Träger höherer neuronaler Prozesse treten Zellverbände und deren Interaktion in Netzen auf.

Im Gefolge der Kybernetik konstruierte man einfache lernende Maschinen (meist über Verstärkermechanismen, d.h. Erfolgs-messungen und Adaptionen).

Symbolmanipulierende Rechner erlaubten abstrakte Modellbildungen für höhere kognitive Fähigkeiten (inklusive der Sprache); allerdings ging dabei oft der Bezug zu realen Prozessen im Gehirn verloren. Es gab eine Grenzziehung:

parallel processing serial processing

learning programmingemergence analytic description

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Modelle der WissensrepräsentationMinsky und Papert (1988) nennen als neue und weiterführende

Ideen : “... many new and powerful ideas –among them frames,

conceptual dependency, production systems, word-expert-parsers, relational data bases, K-lines, scripts, nonmonotonic logics, semantic networks, analogy generators, cooperative processes, and planning procedures.

These ideas about the analysis of knowledge and its embodiments, in turn, had strong effects not only in the heart of artificial intelligence but also in many areas of psychology, brain science, and applied expert systems.”

In den 80er Jahren wurde das Interesse an neuronalen Netzwerken und einer gehirn analogen Simulierung kognitiver Prozesse wieder aktuell (unter den Stichwörtern: massiv parallele Verarbeitung, PDP – parallele, distribuierte Prozesse, neuronale Netzwerke, Neurocomputer).

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Weiche Modelle der Kognitiven Linguistik Eine neue Aufteilung in der Modell-Landschaft (etwa

seit den 90er Jahren)

A (Computerwiss.) B (Neurowiss.) C (Humanwiss.)

ProgrammierteSimulationenSyntax, SemantikPragmatik

Lernende Maschi-nen, Neurocomputer,Sprach- und Denk-

Roboter

SprachphilosophieSprachtheorie,Grammatik als

Hermeneutik

Die weichen Modelle tendieren stark zu (C), beziehen sich aber lokal auf (A) und (B).

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Eine Rückbesinnung auf die Methoden und Theorie-Konzepte des amerikanischen Strukturalismus (Bloomfield) und der Anthropologischen Linguistik (Boas, Sapir) unter gleichzeitiger Integration in die interdisziplinäre Bewegung der „Cognitive Sciences“ erfolgte auf dem Hintergrund der lexikalistischen Variante der Generativen Grammatik bei Fillmore und Lakoff.

Die Komplettierung ihres Programms durch die Modellentwürfe Langackers und die spezielleren Modell-Vorschläge Talmys wurde unter dem Namen „Kognitive Semantik“ bekannt und hat sich seit den 90er Jahren international ausgebreitet.

Fauconnier und Turner entwickelten ähnliche Konzepte auf dem Hintergrund der logischen Tradition in der Mögliche-Welten-Semantik; siehe die Begriffe „blending“ und „conceptual integration.

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Kognitive Modelle und Metaphern bei LakoffFür die linguistische Metapherntheorie ist der Aufsatz

von Michael J. Reddy (1979) der eigentliche Ausgangspunkt. Reddy geht von metalinguistischen Metaphern aus wie:

Get RM across (to someone).Versuche, deine Absichten/Ideen besser rüber zu bringen. (RM = repertoire member):

Lakoff verallgemeinert und radikalisiert diesen Ansatz: “Since its appearance, an entire branch of linguistics

and cognitive science has developed to study systems of metaphorical thought that we use to reason and base our actions on, and that underlie a great deal of the structure of language.” (1993)

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In seinem Buch „Women, Fire, and Dangerous Things“ (1987) nimmt Lakoff eine neue Standortbestimmung der Bedeutungstheorie vor. Er schließt sich der Kritik Putmans in „Reason, Truth and History“ (1981) an. Das, was Putman am metaphysischen Realismus, nämlich die Illusion eines externen Standpunktes, aussetzt, überträgt Lakoff auf die Semantik. Seine eigene Position nennt er in Anlehnung an Putmans „internal realism“: „experiental realism“. Der Mensch in seiner leiblichen und ökologischen Gebundenheit ist der Ausgangs- und Zielpunkt jeder Bedeutungsanalyse.

“Experiental realism characterizes meaning in terms of embodiment, that is, in terms of our collective biological capacities and our physical and social experiences as being functioning in our environment” 

“Experientalism claims that conceptual structure is meaningful because it is embodied, that is arises from, and is tied to, our preconceptual bodily experiences.” (Lakoff, 1987: 267)

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Eine Säule vieler Detailanalysen; vgl. z.B.: die Fallstudien in Lakoff (1987: 377-585) bildet die „natürlichen Logik“ (sie arbeitet charakteristischerweise mit Prädikatskonstanten, z.B. CAUSE).

Die zweite Säule der Kognitiven Semantik stellt die wieder entdeckte Rhetorik dar. Rhetorische Figuren werden ins Zentrum der Theoriebildung gerückt und sowohl linguistisch als auch kognitionswissenschaftlich neu interpretiert. Die Metapher: Sie erlaubt in einer generalisierten Form

den Übergang von körper- und erfahrungsnahen konzeptuellen Strukturen zu allgemeinen, abstrakteren Bereichen. Als Wegweiser dienen dabei feststehende Wendungen bzw. globale Metaphern, wie „time is money”, „love is a journey”.

Die Metonymie, der Schluss vom Teil auf das Ganze und umgekehrt. Diese Figur ist auf andere Beziehungen anwendbar.

Eine dritte, und vielleicht die stärkste Säule, bilden Schematheorien und der Begriff des Prototyps.

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Die Kognitive Bildsemantik Langackers Die Basis ist durch Räume bzw. Matrizen, sowie die

Netzwerke, Zugangshierarchien, die Zentralität und die Primärdomänen spezifiziert. Das Profil hebt eine Teilstruktur hervor und hierarchisiert damit die Struktur.

(a) Die Lampe über dem Tisch. (b) Der Tisch unter der Lampe. (c) Das Bein des Tisches unter der Lampe. (d) Das Licht von der Lampe über dem Tisch.

Schematische Darstellung der vier Sätze nach Langacker

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Landmark und Trajector bei der Nominalisierung

Landmark im Profil (inneres Objekt):•der Angeklagte•der Tanz (er/sie tanzt einen Tanz, eine Figur ...)•das Gedicht (er/sie dichtet einen Text)

Instrumente (landmark):•Bohrer (womit man bohrt)•Schläger (womit man schlägt)•Flieger (womit man fliegt)

Trajector als Profil (als inneres Subjekt):•Tänzer (das sich bewegende/handelnde Subjekt steht im Profil)•Koch (das sich bewegende/handelnde Subjekt steht im Profil)•Richter (das sich bewegende/handelnde Subjekt steht im Profil)•Sänger, Läufer, Schreiber, Angreifer usw.

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Funktionsverb-Gefüge (Langacker)

wandern (V) Eine Wanderung (N) machen

Unterschied zwischen Verb und Verb-Nominalisierung im Funktionsverbgefüge.

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Die Raum- und Prozess-Semantik von Talmy Anfang der 80er Jahre löst sich Talmy zunehmend von

Theorie-Konzepten der generativen Semantik (siehe die Tiefenprädikate und Transformationsebenen seinem Artikel von 1975) und versucht, Konzepte der Kognitiven Psychologie, z.B. zur mentalen Imagination, einzubeziehen.

Er geht von vier Vorstellungssystemen aus („imaging systems“; vgl. Talmy, 1983), welche in natürlichen Sprachen benutzt werden. Sie sind unabhängig voneinander und somit in ihrer Wirkung addierbar. Die geometrische Konfiguration Die Spezifizierung des Perspektivpunktes, dem Ort des

„geistigen Auges“ Die Fokussierung der Aufmerksamkeit Die Kraft-Dynamik (force - dynamics)

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Force-dynamicsTalmy verwendet zwar den mathematischen Begriff des

Vektors, führt dann aber normalsprachliche Begriffe ein:

Kraft-Tendenzen, deren Resultat, Ruhe und Handlungszustände, sowie Übergänge zwischen Handlung und Ruhe.

The ball kept rolling because of the wind blowing on it.Innere Tendenz des Agonisten: Ruhezustand (); der Antagonist ist stärker (+)Wirkung der Kraft: Handlung/Prozess (): Der Agonist verändert seine Lage.

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Modelle mit mentalen Karten und konzeptueller Integration (Fauconnier, Turner) Seit den 90er Jahren gibt es eine Verbindung zwischen den

Forschungen zur Kognitiven Semantik von Lakoff und Langacker einerseits und Arbeiten, die aus einer kognitiv interpretierten Situationssemantik hervorgegangen sind. Fauconnier hatte bereits relativ früh den logischen Ansatz einer Möglichen-Welten-Semantik kognitionswissenschaftlich interpretiert.

Die Semantik bildet demnach sprachliche Ausdrücke auf mentale Karten ab. Da auch Lakoff in seiner Metaphern-theorie von einer Abbildung zwischen mentalen Bereichen, vom Basisbereich (ground) zum Zielbereich (goal) spricht und damit eine kognitive Kartierung impliziert, war eine Ver-bindung von Metapherntheorie (im Stil von Lakoff/Johnson, 1980) und mentalen Karten im Stil von Fauconnier nahe-liegend.

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„Die Forschung zu analogen Abbildungen (Metaphern) hat sich wesentlich auf Prozesse des inferentiellen Transfers von einer Quelle (oder Basis) auf ein Ziel konzentriert. Der Kernpunkt solcher Prozesse liegt in der partiellen Abbildung und im Zusammenfügen der Strukturen und Elemente von Quelle und Ziel. Danach können die Operationen des Zusammenfügens und der partiellen Abbildung dazu benützt werden, zu-sätzliche Struktur, die in der Quelle nicht vorhanden ist, auf den Zielbereich abzubilden, wodurch dieser weiter angereichert wird. Diese Zusatzstruktur kann wiederum dynamisch manipuliert werden, wodurch weitere Relationen und Verbindungen entstehen.“ (Fauconnier, 2002: 1; Übersetzung d.A.)

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Abbildung von 1 nach 2

Input-Karte 1

Überlagerungskarte (Blend)

Input-Karte 2

Generische Karte

Standard-Darstellung des Blending.

Der Verband der Überlagerung von zwei Input-Karten

Verbandstheoretische Modellierung der konzeptuellen Integration

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Ein anschauliches Beispiel

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Einige kritische Fragen an die „Kognitive Semantik“ Wegen ihrer konsequenten Orientierung an der Folk-Kategorisierung

müsste sich die Kognitive Semantik selbst als „Folk-Linguistik“ verstehen und könnte als solche von keinem Kognitions-wissenschaftler ernst genommen werden. Dies könnte man als Zielkonflikt bezeichnen.

Vom Typus der Argumentation her, d.h. der Nutzung von intuitiven Bildschemata, der Abwehr einer Systematisierung (Mathema-tisierung) der Bildersprache, der (eklektischen) Nützung generativer Mechanismen, passen diese Modelle nicht in eine naturwissen-schaftlich dominierte Kognitionswissenschaft. Sie bleiben herme-neutisch.

Die „Mental-Map-“ und Blending-Modelle von Fauconnier und Turner nützen zwar Techniken der logischen Semantik, müssen dazu aber die „kognitiv“ relevanten, bildhaften und prozessualen Aspekte in ein algebraisches Prokrustesbett pressen.

Die Bezüge zur Kognitionswissenschaft, sei es zu Modellen des Wahrnehmens oder der Motorik, sei es zu neurobiologischen Modellen des Gedächtnisses bleiben vage und haben auf die konkrete linguistische Analyse nur geringe Auswirkungen.

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Die geringe Anpassung an die Methodologie der Kognitionswissenschaften hat einerseits mit der starken Grammatiktradition (globale Theorien werden bevorzugt) zu tun.

Andererseits sind die exakten Modele und die diesen zu Grunde liegenden experimentellen Ergebnisse der Neurowissenschaften auf einfachere Prozesse (Motorik, Wahrnehmung, einfaches Gedächtnis- und Lernleistungen) bezogen, so dass eine solide naturwissenschaftliche Basis für eine Sprachtheorie (Syntax und Semantik) weitgehend fehlt.

Mathematische Modelle für eine neuronale Sprachdynamik müssen erst entwickelt werden.

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Schlussbemerkung In einem Beitrag von 2004 unter dem Titel: “How the

Cognitive Revolution Passed Lingusitics by” analysiert Seuren das Scheitern einer konsequenten kognitiven Neuorientierung in der Linguistik. Um dieses Ziel doch noch zu erreichen, empfiehlt er:

“For a serious and up-to-date reintroduction of the cognitive factor in the human sciences it is necessary, first that a group of psychologists, linguists, pragmaticists, logicians, philosophers, and possibly also geneticists, anthropologists and prehistorians come together and commit themselves to the study of the FOUNDATIONS OF LANGUAGE AND COGNITION.”

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Einige bibliographische Hinweise Fauconnier, Gilles and Mark Turner, 2002. The Way we Think. Conceptual Blending

and the Mind’s Hidden Complexities, Basic Books, New York. Heidegger, Martin,1971. Was heißt Denken?, Niemeyer, Tübingen. Lakoff, George and Mark Johnson, 1981. Metaphors We Live By, University of

Chicago Press, Chicago. Lakoff, George, 1987. Women, Fire, and Dangerous Things. What/How Cate gories

Reveal About the Mind. Chicago: Chicago U.P. Langacker, Ronald, 1987, Foundations of Cognitive Grammar, Vol. 1, Theoretical

Prerequisites. Stanford: Stanford U.P.. --, 1993. Foundations of Cognitive Grammar, Vol. 2, Descriptive Application, Stanford

U.P., Stanford: Talmy. Leonard, 2003 Toward a cognitive semantics, MIT Press, , Bd.. 1: Concept

structuring systems, Bd. 2: Concept structuring systems. Wildgen, Wolfgang. 1982. Catastrophe Theoretic Semantics. An Elaboration and

Application of René Thom's Theory. Amsterdam: Benjamins. Wildgen, Wolfgang. 1994. Process, Image, and Meaning. A Realistic Model of the

Meanings of Sentences and Narrative Texts. Amsterdam: Benjamins.. Wildgen, Wolfgang. 2004. The Evolution of Human Languages. Scenarios, Principles,

and Cultural Dynamics. Amsterdam: Benjamins. Wildgen, Wolfgang, 2005. Einführung in die Kognitive Grammatik (Skript) auf meiner

home page:http://www.fb10.uni-bremen.de/homepages/wildgen.htm. Dort sind weitere Arbeiten zum Thema zu finden (ling25)


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