WeihnachtsgeschenkeZeit der Gnade und Freude
Thema
Françoise Bihin | aus dem Französischen von Mathilde Hecq
ie Geschenke der NachtWie kommt es, dass Schlafen Kräfte spen
det? Am Tage, Wenn die Sonne ihre Bahn amHimmel zieht, lebt der Mensch im wachen BeWusstsein. Am Abend, Wenn die Sonne sichWieder zur Erde neigt, ermüden die Glieder undWerden schwerer, und der Geist Wird langsamer. Man verspürt Lust, sich hinzulegen, undder Schlaf überkommt einen. Am nächsten Tag,beim Aufwachen, sind Kräfte da, mit denen esdem Menschen Wieder leicht fällt, aufrecht zustehen, aktiv zu sein und an die Arbeit zu gehen.Die Gefühle sind befriedet und die Gedankenrege. Manchmal sogar erWachen wir mit einerLösung zu einem Problem, das am Vortag nochunlösbar erschien. Woher kommen diese neuenKräfte? Siemüssen ja von irgendwoher kommenDieses Erlebnis ist man so gewohnt - solan
geman gesund ist -, dass man gar nicht daraufkommt, sich zu fragen, Waswährend des Schlafes geschieht.Auch von der Wissenschaft wird diese Frage
nicht beantwortet: Der Schlaf bleibt ein Rätsel.Aber dies ändert nichts an den Tatsachen: Vonder Nacht, vom tiefen langen Schlaf, bekommtder Mensch jeden Tag neue Kräfte. Tatsächlichbringen Nacht und Schlaf die kostbarsten Geschenke, das, was es den Menschen ermöglicht,aufrecht zu stehen und bewusst und aktiv in derWelt zu wirken.Die Anthroposophie ermöglicht uns, etwas
mehr vom Schlaf zu verstehen. Dieser wird miteinem »kleinen Tod«verglichen. Der Schlafendedurchläuft einen dem Tod ähnlichen Prozess,nur dass dieser kürzer ist, da er auf die Zeitzwischen dem Einschlafen und dem Aufwachen beschränkt ist. In dem Moment, in demder Schlafende das Bewusstsein verliert, löstsich seine Seele (mit dem Ich) vom Körper undweitet sich außerhalb von Zeit und Raum. Sie
Die Christengemeinschaft 12 | 2017
kehrt in ihre ursprüngliche Heimat zurück, ineine rein moralische und geistige Welt, die einer noch größeren Komplexität unterliegt alsdie materielle Welt - von der sie übrigens auchnicht vollständig getrennt ist. Die Seele desSchlafenden tritt in Beziehung zu geistigen Wesen, die in dieser Welt heimisch sind. Darunterbefinden sich auch die Seelen der Verstorbenen.Der Höhepunkt des Schlafes ist die Begegnungmit dem Christus. Seine göttlichen Sonnenkräfte spenden Lebenskräfte, die bis in den physischen Leib dringen und ihn regenerieren. JederMorgen, jedes Erwachen ist eine neue Schöpfung, ein Neuanfang. Manchmal berührt denAufwachenden ein Ahnen mit dem Bild einesTraumes, wie der Duft eines bereits vergessenen Nachterlebnisses. Doch im Wesentlichenbleiben die Erfahrungen Während des Schlafesfür den Tagesmenschenunbewusst. Er verspürtnur die positive Wirkung davon.
Weihnachten: DieJahresnachtDer sich innerhalb von vierundzwanzig Stunden vollziehende Tag-und-Nacht-Rhythmus findet sich im Jahreszeiten-Rhythmus wieder. DerSommer entspricht dem Tagesbewusstsein, verbunden mit der größten Aktivität. Der Jahresabend kommt mit dem Herbst: Die Nächte werden länger, die Aktivität wendet sich mehr nachinnen. Der Winter ist dieJahresnacht.Das Weihnachtsfest feiern wir im Herzen
des Winters, in der dunkelsten Zeit des Jahres.Die Eingeweihten der vorchristlichen Mysterien hatten in dieser Nacht ein besonderes Erlebnis. Das, Was jeder normalerweise im unbewussten Schlaf erlebt, nahmen sie wach undbewusst wahr. Dank des hellseherischen Blicksschauten sie, durch die Erde hindurch, die ihnen als durchsichtig erschien, die Sonne in ihrergeistigen Dimension, die Mitternachtssonne.
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Francoise Bihin,geboren 1962,Priesterin,Genf, Schweiz
Thema
Gia Mamulaschwili,Ohne Titel., 2017,Acryl auf Papier,
40 ><24 cm
I johannes vonHildesheim:
Die Legende rondenvHeiligenDrei Körzígcrz.,München 1963
Sie empfingen von ihrGnadenfülle, Lebenskräfte und Inspiration.In ihrem Lichte vernahmen sie den schöpferischen Logos, der sichder Erde näherte. Diegroße Nachricht, die dieim Matthäusevangelium erwähnten Magiererschütterte, war genaudiese, dass der Logos,das Sonnenwesen, dassich der Erde bisher nurgenähert, sich nun endlich in ihr verkörperthatte. Eine Legende1besagt, dass die Magier»einen Stern erblickten,so leuchtend Wie dieMittagssonne«, in demsich die Gestalt eineskleinen Kindes unter
dem Zeichen des Kreuzes befand.Seitdem der Christus sich mit dem Erden
leben verbunden hat, ist das Mysterium, dasfrüher den Eingeweihten vorenthalten war, allen zugänglich. Während der Weihe-Nacht istjeder dazu eingeladen, die Gnade, die gewöhnlich im Unbewussten empfangen Wird, Wachund bewusst zu erleben. Das ist übrigens derSinn der traditionellen Mitternachtsmesse. DieNacht zwischen dem 24. und dem 25. Dezember, die dritte nach der Wintersonnenwende,entspricht dem dunkelsten Zeitpunkt des Winters, sie stellt die Mitternachtsstunde desJahresdar. In der heiligen Nacht fließt die Sonnenkraft des Christus auf eine ganz besondere Artder Erde zu. So Wie der Mensch am Ende desSommers die von der Natur in Fülle geschenkten Früchte erntet, so kann er zu Weihnachtendie Fülle der göttlichen Gnade empfangen. Dasist der Grund, warum es traditionell und ebenauch in der Christengemeinschaft nicht nur einen Weihnachtsgottesdienst gibt, sondern drei:um Mitternacht, in der Morgendämmerungund am Tag. Es braucht nicht Weniger als drei
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Gottesdienste, um sich der Weihnachtsgnade zuÖffnen. Diese göttliche Gabe kann Während derzwölf Heiligen Nächte und Tage Weiter erlebtWerden, bis Epiphanias. Der 6. Januar ist dieMorgendämmerung des Jahres. Die Tage habendann begonnen, sich deutlich zu verlängern.
Geschenke, die VomHimmel kommenAll dies ermöglicht uns, zu begreifen, Warumdas Weihnachtsfest in besonderer Weisemit derTradition der Geschenkeverbunden ist. MartinLuther, der den Kult der Heiligen ablehnte, hatan der Stelle des Heiligen Nikolaus das Christkind bevorzugt, das nun die Geschenke bringt,eben nicht am 6. Dezember, sondern an Weihnachten. Aber das Bild ist das gleiche:Ein geistigesWesen steigt in der Nacht hinab, im Winter.Dem Blick verborgen, bringt es Geschenke, dieerst am nächsten Morgen beim Aufwachen entdeckt Werden. Welche Erwartung, Welche Vorfreude für die Kinder! Freude in der Erwartung,dann Dankbarkeit beim Entdecken der Überraschungen um den Kamin, in den Schuhen oderauf dem Fensterbrett. In manchen Ländern istder Heilige Nikolaus von einem mehr oder Weniger bedrohlichen Wesen begleitet, das die gutenund schlechten Taten der Kinder kennt, Weilessie sichwährend desJahres gesammelthat. Ohneden manchmal übertrieben moralischen Aspektdieses Brauches bejahen zu Wollen, kann mandieser Figur trotzdem eine objektive Realitätzuordnen. Denn die Qualität der empfangenenKräfte ist abhängig davon, wie man sich auf diese Nacht vorbereitet hat und mit welcher Haltung man die Geschenke empfängt.Das Märchen der Gebrüder Grimm »Die
Wichtelmänner« drückt diese Tatsache auf eindrückliche Weise aus. Einem sehr arm gewordenen Schuster ist nur noch ein kleines StückLeder übrig, um ein einziges Paar Schuhe zumachen. Ohne zu verzweifeln, schneidet er amAbend das Lederstück aus, legt es hin und bereitet so die Arbeit des nächsten Tages vor. In Gottvertrauen verrichtet er sein Gebet und schläftein. Am nächsten Tag entdeckt er nach seinemMorgengebet, dass die Schuhe bereits fertiggestellt sind! Sie sind so perfekt verarbeitet, dass
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sie sofort zu einem guten Preis verkauft Werden. Dank dieses Verkaufes kann der Schuster neues Leder kaufen, undzwar für zwei Paar Schuhe. Am nächsten Morgen sind auchdiese zwei Paar Schuhe während der Nacht auf WunderbareWeise fertiggestellt Wordenund genauso perfekt verarbeitet.Sowird er von Tag zu Tag reicher. Eines Tagesbeschließt ermit seiner Frau, in der Nacht wach zu bleiben, um zu sehen,Wer denn die nächtliche Arbeit verrichtet. Versteckt beobachten sie in dieser Nacht, Wie zwei Winzige nackte Wesenan den Schuhen Werkeln. Um sich zu bedanken, näht dieFrau Kleider in Wichtelgröße und legt sie auf den Arbeitstisch. In der nächsten Nacht bekleiden sich die Wichtel damit und singen und tanzen vor Freude. Sie Werden nichtmehr Wiederkehren, aber seitdem leben der Schuster undsein Frau im Wohlstand.Die Haltung des Schusters und seiner Frau ist entschei
dend. Trotz der Armut verharren sie in Gottvertrauen unddrücken durch Taten ihre Anerkennung gegenüberden kleinen Nachtwesen aus. Ein Geschenk, ein echtes, ist immerbedingungslos, ohne Erwartung, dass etwas zurückkommt,es wird immer aus reiner Freude verschenkt. Aber die AntWort, die Dankbarkeit, mit der das Geschenk empfangenWird, erzeugt einen Überfluss an Freude sowohl bei demEmpfangenden als auch beim Schenkenden. Wir betretensomit ein Gebiet, das von anderen Gesetzen regiert wird alsvon denen der materiellen Welt,Woalles gegeneinander aufgerechnet Wirdund der Reichtum Grenzen hat.
Die Zeit der Gnade und der FreudeDie Weihnachtszeit, die Geschenke-Zeit, ermöglicht jedesJahr die Öffnung zu dieser von der Gnade regierten Dimension. Im Johannes-Prolog ist mit dem Wort charis die Redevon der Gnade. Dieses Wort meint die Gabe, die Überfülle,die das Leben schöner und lichter Werdenlässt und ihm Sinnverleiht. Moseshat das strenge Gesetz gebracht, das die gutenund die schlechten Taten gegeneinander aufrechnet. Der Logos, der Christus, bringt »dieFülle der Gnade und der Wahrheit«.Diese Kraft kann mehr oder Wenigerbewusst empfangenWerden,in einer Dankbarkeit, die selbstQuellevon Lebenund Freude Wird.Denn das Wort charis, Gnade, hat dieselbeWurzel Wie das Wort cham, Freude. Das Motiv der Gnade,von dem im Johannes-Evangelium die Rede ist, findet sicham Ende dieses Evangeliums Wiederin den Christus-Wortenan dieJünger: »DieseWorte habe ich zu euch gesprochen, aufdass meine Freude in euch lebe und eure Freude sich erfülle«Uoh 15,11)und »diese Freude kann euch niemand rauben«Uoh 16,22). ...___
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Ulf StarkWaswir uns wünschenMit s/w-Illustr. von Lina BodénAus dem Schwed. von Birgitta Kicherer112Seiten, gebunden(ab 7 Jahren)ê 12,90 (D) | ISBN978-3-8251-7984-7
Eine Liebeserklärung an den Frieden
Weihnachten feiern, wenn Kriegistund der Vater fort?
Fredwünscht sich Frieden, einen
Heiligabend mit Vater und dass ein ganzbestimmtes Mädchen ihn mag.UlfStark erzählt die Geschichte von
einem Weihnachtsfest im Krieg,von stillen,tiefen Gefühlen, erster Verliebtheit, vonMut und Einfallsreichtum, kleinen und doch
großartigen Heldentaten - eine Geschichte,diejeden Lesermitten ins Herz trifft.
»DieserWeihnachtsgeschichte wünschtman ganz viele Leserinnen und Leser.Soberührend und warmherzig hat derAutor die Sorgen und Nöte des kleinenFred inWorte gefasst.«
Maria Riss,Zentrum LesenPäd. Hochschule Nordwestschweiz
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