REVIEW
Beckert, Jens, & Deutschmann, Christoph (Hrsg.). (2009). Wirtschaftssoziologie. Kölner Zeitschrift fĂŒr Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 49. Wiesbaden: VS Verlag fĂŒr Sozialwissenschaften, 479 S.
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Stark, David (2009). The sense of dissonance: Accounts of worth in economic life. Prince-ton, Oxford: Princeton University Press, 264 S.
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Berlin J Soziol (2013) 23:287â304DOI 10.1007/s11609-013-0223-6
Wirtschaftssoziologie als Gesellschaftstheorie
Thorsten Peetz
© Springer Fachmedien Wiesbaden 2013
T. Peetz ()Institut fĂŒr Sozialwissenschaften, Humboldt-UniversitĂ€t zu Berlin, Unter den Linden 6,10099 Berlin, DeutschlandE-Mail: [email protected]
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1 Einleitung
Es bedarf keines gröĂeren argumentativen Aufwands, wenn man die Bedeutung der Aus-einandersetzung mit wirtschaftlichen ZusammenhĂ€ngen fĂŒr das soziologische VerstĂ€nd-nis moderner Gesellschaften hervorheben will â es genĂŒgt ein Blick auf die Klassiker: auf Karl Marx, der ausgehend von der Unterscheidung Kapital/Arbeit eine Theorie gesell-schaftlicher Entwicklung entwarf, auf Georg Simmel, dem die Moderne eine durch die Geldwirtschaft charakterisierte Gesellschaft war, oder auf Max Weber, der sich nicht nur mit dem VerhĂ€ltnis zwischen religiösen Ideen und wirtschaftlicher LebensfĂŒhrung bei der Herausbildung des modernen Kapitalismus auseinandersetzte, sondern auch die BĂŒrokra-tie als eine wirtschaftliche Kerninstitution analysiert und einiges an begrifflicher Grund-lagenarbeit geleistet hat. Auch wenn es nach dieser ersten Hochphase der Thematisierung wirtschaftlicher Fragen in der Soziologie etwas stiller geworden ist, wurde die Ăkonomie doch stĂ€ndig von der Disziplin begleitet (vgl. z. B. Heinemann 1987; Luhmann 2005; Parsons und Smelser 2010). Seit den 1980er Jahren kann man allerdings eine Renaissance der Wirtschaftssoziologie feststellen. Ausgehend von den Arbeiten Mark Granovetters (1985) zur sozialen Einbettung wirtschaftlichen Handelns und Harrison C. Whites (1981) Theorie von ProduktionsmĂ€rkten formierte sich eine breite soziologische Bewegung, die sich seither unter dem Etikett âNeue Wirtschaftssoziologieâ intensiv und Ă€uĂerst produk-tiv mit dem Wirtschaftsleben auseinandersetzt (vgl. Dobbin 2004; Smelser und Swedberg 2005).
Parallel zum steigenden Interesse an der Soziologie des wirtschaftlichen Lebens wird vielfach ein Bedeutungsgewinn der Wirtschaft in der gegenwĂ€rtigen Gesellschaft fest-gestellt. NatĂŒrlich kommt keine Gesellschaft ohne die Produktion, Distribution und Konsumtion von GĂŒtern aus. Das ebenfalls spĂ€testens seit den 1980er Jahren um sich greifende intellektuelle und politische Projekt des Neoliberalismus (vgl. Crouch 2011; Harvey 2005) zielt aber auf die Ausweitung der ökonomischen RationalitĂ€t und von marktlichen Koordinationsmechanismen ĂŒber die Grenzen der Ăkonomie hinaus (Ptak 2008, S. 26 ff.). Die gesellschaftlichen Konsequenzen dieses Projektes werden von einer Reihe von Autoren fĂŒr unterschiedliche ZusammenhĂ€nge beschrieben: als EinfĂŒhrung ökonomischer Modelle in die Verwaltung unter dem Vorzeichen des New Public Manage-ment (vgl. Naschold und Bogumil 2000), als Produktion neuer Formen unternehmerischer SubjektivitĂ€t (Bröckling 2007), als Vermarktlichung von Unternehmen (vgl. Sauer et al. 2005) oder als kapitalistische Landnahme (Dörre und Haubner 2012) â die Liste lieĂe sich fortsetzen. Begrifflich fassen kann man diese PhĂ€nomene mit dem Konzept der Ăko-nomisierung, verstanden als Bedeutungsgewinn ökonomischer Motive und Strukturen auf der Mikro-, Meso- und Makroebene (Schimank und Volkmann 2008) bzw. als gesell-schaftliche Grenzverschiebungen und organisationale Referenzwechsel (Peetz 2013).
Jens Beckert (2009) hat die These von der gestiegenen Bedeutung der Wirtschaft in Soziologie und Gesellschaft zusammengefĂŒhrt und daraus eine privilegierte gesellschafts-theoretische Stellung der Wirtschaftssoziologie abgeleitet. Die neue Wirtschaftssozio-logie lasse jedoch bislang âeine auf gesellschaftliche Entwicklungsprozesse insgesamt gerichtete Perspektiveâ (ebd., S. 183) vermissen, obwohl sich aus der faktisch âprĂ€genden Kraft des Wirtschaftssystems [âŠ] der gesellschaftstheoretische Primat der Ăkonomie fĂŒr die ErklĂ€rung der Dynamik gesellschaftlicher Ordnungsprozesseâ herleite (ebd., S. 187).
289Wirtschaftssoziologie als Gesellschaftstheorie
Zwar dĂŒrfe man die WiderstĂ€ndigkeit des Anderen der Ăkonomie und die daraus ent-stehenden sozialen Konflikte nicht vergessen (ebd., S. 187 ff.); aber bei aller WiderstĂ€n-digkeit habe man die Gesellschaft letztlich von der Ăkonomie her zu verstehen. Dieser gesellschaftstheoretische Anspruch ist nicht unwidersprochen geblieben. So hat Thomas Schwinn (2010, S. 222) darauf hingewiesen, dass âtrotz aktueller Ăkonomisierungsten-denzenâ die âdifferenzierungstheoretische Grundlage der Moderne [âŠ] zu dominantâ sei, man empirisch immer noch von distinkten gesellschaftlichen Teilbereichen ausgehen mĂŒsse und sich die Wirtschaftssoziologie deshalb mit ihrem Status als Bindestrich-Sozio-logie zu begnĂŒgen habe. Zudem untergrabe die Aufgabe differenzierungstheoretischer Konzepte deren ânormatives Momentâ und damit die Möglichkeit zur Kritik (ebd.). Thorsten Strulik (2012) hat in seiner âReplikâ auf Beckerts Aufsatz eine konzeptuelle Kritik an der Relationierung von Wirtschaft und Gesellschaft in der neueren Wirtschafts-soziologie geĂ€uĂert. So merkt er kritisch an, dass der Bedeutungszuwachs der Wirtschaft durch ihr Ausgreifen auf andere Gesellschaftsbereiche in theoretischer Hinsicht immer noch ungeklĂ€rt sei (ebd., S. 60) und die Interdependenzen zwischen den Teilbereichen sowie die Steigerungsprozesse in den anderen SphĂ€ren wie Wissenschaft, Recht und Poli-tik (ebd., S. 61) unberĂŒcksichtigt blieben.
Ich werde diese Debatte im Folgenden zum Anlass nehmen, einige wirtschaftssozio-logische Neuerscheinungen der vergangenen Jahre vorzustellen und auf ihren gesell-schaftstheoretischen Beitrag hin zu prĂŒfen. Im Zentrum steht dabei die Frage, wie das VerhĂ€ltnis der Wirtschaft zu anderen gesellschaftlichen Bereichen konzeptualisiert wird und wo gesellschaftstheoretisch interessante AnknĂŒpfungspunkte liegen. Gegenstand des nĂ€chsten Abschnitts sind zunĂ€chst drei SammelbĂ€nde, die den Stand der deutschsprachi-gen Diskussion zusammenfassen (Beckert und Deutschmann 2009; Engels und Knoll 2012; Maurer 2008). Im Anschluss daran stelle ich die Aufsatzsammlungen von Alejan-dro Portes (2010) und Viviana A. Zelizer (2011) sowie eine Studie von Frank Dobbin (2009) vor â drei prominenten Vertretern der aktuellen amerikanischen Wirtschaftssozio-logie. SchlieĂlich gehe ich auf eine Sammlung von AufsĂ€tzen ein, die der âĂconomie des conventionsâ zurechenbar sind (Diaz-Bone 2011), sowie auf die Arbeiten David Starks (2009), der seine wirtschaftssoziologischen Studien von dieser Strömung frĂŒh hat beein-flussen lassen.
2 Gesellschaftstheoretische ZurĂŒckhaltung und differenzierungstheoretische Perspektiven
Das von Andrea Maurer herausgegebene Handbuch der Wirtschaftssoziologie prĂ€sen-tiert eine Bilanz der neueren wirtschaftssoziologischen Forschung. In Abschnitten zu klassischen Grundlagen der Wirtschaftssoziologie und theoretischen ZugĂ€ngen zum Wirtschaftsgeschehen, zu zentralen Institutionen der Wirtschaft sowie zu gesellschafts-theoretischen Perspektiven gibt dieser Band einen instruktiven Ăberblick ĂŒber theoreti-sche Auseinandersetzungen und wichtige empirische Befunde.
In einem ersten Block gehen die BeitrÀge von Gertraude Mikl-Horke, Andrea Mau-rer und Richard Swedberg den klassischen Positionen zu Wirtschaftswissenschaft und Soziologie, dem VerhÀltnis von Institutionalismus und Wirtschaftssoziologie sowie der
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Frage nach dem Erbe Max Webers in der neuen Wirtschaftssoziologie in den USA nach, der dort immer noch zumeist oberflĂ€chlich und lĂŒckenhaft rezipiert wird. VielfĂ€ltige gesellschaftstheoretische AnknĂŒpfungspunkte ergeben sich in dem explizit theoretischen AnsĂ€tzen gewidmeten Teil des Handbuches. Michael Schmid diskutiert das VerhĂ€ltnis von Ăkonomie und Wirtschaftssoziologie, Dirk Baecker prĂ€sentiert den systemtheore-tischen Blick auf die Wirtschaft als funktionales Teilsystem, Stefan KĂŒhl rekapituliert neomarxistische AnsĂ€tze und Walter Reese-SchĂ€fer die kommunitaristische Perspektive auf die Wirtschaft. DarĂŒber hinaus zeichnet Bettina Fley die Ăkonomie der Praxis fĂŒr das wirtschaftliche Feld nach, wĂ€hrend Sophie MĂŒtzel in netzwerkanalytische Forschungen einfĂŒhrt und Matthias Junge den möglichen Beitrag dekonstruktivistischer Perspektiven skizziert. Auffallend ist die starke PrĂ€senz differenzierungstheoretischer AnsĂ€tze system- bzw. praxistheoretischer Provenienz. In beiden FĂ€llen wird deutlich, dass die Wirtschaft nicht als der Gesellschaft entgegengesetzt gedacht wird, sondern entweder immer schon als Teilsystem in der Gesellschaft oder als eine Praxisform unter anderen. Das geht aber mit EinbuĂen bei der Analyse des Wirtschaftssystems selbst einher. Kritisch merkt Fley zu Bourdieus Praxistheorie an, dass sie âmit Ausnahme des Marktes eher weniger zu den anderen Kerninstitutionen der Wirtschaftâ wie z. B. Unternehmen und Geld beitrĂ€gt (S. 176)1. Und Baecker moniert, dass es der Systemtheorie bisher nicht gelungen ist, Theorie und Empirie auf einem Ă€hnlich hohen Niveau zu kombinieren (S. 117). Viel-leicht kommt den Vertretern dieser AnsĂ€tze deshalb der Vorschlag MĂŒtzels gerade recht, Verbindungen zwischen Netzwerktheorien und System- bzw. Praxistheorie zu suchen (S. 198). Besonders wenn es gelĂ€nge, die formalen Netzwerkanalysen qualitativ anzurei-chern (S. 197), könnten durch solche BezĂŒge AnschlĂŒsse an die reichhaltigen Forschun-gen der relationalen Wirtschaftssoziologie hergestellt und auch theoretisch spannende Fragestellungen entwickelt werden.
Die âKerninstitutionen des modernen Wirtschaftssystemsâ bilden den Gegenstand des an die Theoriediskussion im engeren Sinn anschlieĂenden Teils. Patrik Aspers und Jens Beckert geben einen Ăberblick ĂŒber die Real- und Ideengeschichte von sowie die gegenwĂ€rtigen Forschungen zu MĂ€rkten. Susanne LĂŒtz stellt die FinanzmĂ€rkte vor, deren Entwicklung in unterschiedlichen institutionellen Kontexten sowie deren Globalisierung sie historisch nachzeichnet. Heiner Minssen diskutiert das Unternehmen als Spezialfall von Organisationen und âOrt der GĂŒter- und Leistungsproduktionâ (S. 247), der in den vergangenen Jahren vor allem Prozessen der Dezentralisierung ausgesetzt war. Gesell-schaftstheoretische Anschlusspunkte ergeben sich, wenn Minssen darauf hinweist, dass Entscheidungsprozesse in Unternehmen sich an âInstitutionenâ orientieren, die âLeitbil-der zur VerfĂŒgung [stellen], die bspw. Vorstellungen von und Annahmen ĂŒber RationalitĂ€t umfassenâ (S. 262). Als Betriebe sind Unternehmen zudem die Orte, in denen Lohnarbeit geleistet wird, deren Entwicklungstendenzen Hartmut Hirsch-Kreinsen in seinem Beitrag vorstellt. Er bezieht sich dabei vor allem auf arbeitssoziologische Forschungen zur Sub-jektivierung, Flexibilisierung und Prekarisierung von Arbeit. Beide BeitrĂ€ge zeugen von der fruchtbaren NĂ€he von Arbeits- und Wirtschaftssoziologie. Die theoretischen Konse-quenzen, die sich daraus ergeben, dass in der neueren Wirtschaftssoziologie âMĂ€rkte so
1 Seitenangaben ohne Namensnennung verweisen auf den jeweils besprochenen Band; ein Wech-sel der Autorenreferenz wird mit Namen und Seitenzahl gekennzeichnet.
291Wirtschaftssoziologie als Gesellschaftstheorie
stark in den Vordergrundâ gerĂŒckt werden, âda sie der zentrale Distributionsmechanismus und Referenzpunkt fĂŒr Produktionsentscheidungen in kapitalistischen Ăkonomien sindâ (Aspers und Beckert, S. 241), werden aber leider nicht diskutiert.
Im abschlieĂenden Teil setzen sich die Autoren explizit mit gesellschaftstheoretischen Perspektiven auf das Wirtschaftsgeschehen auseinander. Johannes Berger untersucht den Zusammenhang von âKapitalismusanalyse und Kapitalismuskritikâ. Die kapitalistische Wirtschaft zeichnet sich ihm zufolge dadurch aus, dass âdie Produktions- und Konsum-entscheidungen der Wirtschaftssubjekte dezentral ĂŒber MĂ€rkte koordiniertâ (S. 364) wer-den und dass sie sowohl durch die kapitalistischen Unternehmen â also die rationale Organisation von Arbeit â als auch durch den Arbeitsmarkt, auf dem Arbeitsvermögen gehandelt werden, und dem Arbeitsvertrag, der notorisch unvollstĂ€ndig ist, gekennzeich-net ist. Der so analysierte Kapitalismus ist von Beginn an Gegenstand unterschiedlicher Formen der Kritik geworden: als Produzent von Ungleichheit, verantwortlich fĂŒr die Aus-beutung der Arbeiter, als Auslöser von InstabilitĂ€ten und Ort von Herrschaft, als Quelle von Prozessen der Kolonialisierung und des Verlusts von Gemeinschaft sowie der Zerstö-rung der natĂŒrlichen Grundlagen der menschlichen Existenz auf diesem Planeten. Nimmt man Bergers Ăbersicht ĂŒber unterschiedliche historische Formen der kapitalistischen Wirtschaft (S. 369 ff.) hinzu, dann stellt sich nach diesem breiten Ăberblick ĂŒber Analyse, Geschichte und Kritik des Kapitalismus dem Leser eigentlich fast automatisch die (von ihm nicht aufgeworfene) Frage nach deren Zusammenhang: Wie haben eigentlich Kapita-lismusanalyse und -kritik die geschichtliche Entwicklung des Kapitalismus beeinflusst?2
Uwe Schimank und Ute Volkmann gehen in ihrem Beitrag auf die âĂkonomisierung der Gesellschaftâ ein. Sie verstehen darunter den âVorgang, durch den Strukturen, Pro-zesse, Orientierungen und Effekte, die man gemeinhin mit einer modernen kapitalisti-schen Wirtschaft verbindet, gesellschaftlich wirkmĂ€chtiger werdenâ (S. 382). Auf der Makroebene unterscheiden sie Grade der Ăkonomisierung, die vom Fehlen jeglicher öko-nomischer Referenzen bis zur Gewinnmaximierung als primĂ€rem Handlungsziel reichen. Sie beziehen sich dabei auf gesellschaftliche Funktionssysteme, die sie allerdings mit Bourdieus Feldtheorie bipolar, ĂŒber einen autonomen und einen weltlichen Pol verfĂŒ-gend, denken. Besondere Bedeutung weisen sie der Meso-Ebene und den organisationa-len wie interorganisationalen Beziehungen zu, in denen sich die âĂkonomisierung eines gesellschaftlichen Teilsystems wie der Bildung oder des Sports manifestiertâ (S. 387). Die Konsequenzen der Ăkonomisierung auf der Mikro-Ebene der Handlungseffekte sind Schimank und Volkmann zufolge noch zu wenig erforscht (S. 389). Es lĂ€gen ihres Erach-tens vor allem negative EinschĂ€tzungen vor, deren empirische BestĂ€tigung allerdings noch aussteht.
Wenn HandbĂŒcher die Funktion der Kodifizierung und Sammlung des Wissens einer Disziplin erfĂŒllen, dann kann man als erstes Ergebnis festhalten, dass die Bedeutung der Wirtschaft und ihrer zentralen Institutionen fĂŒr die moderne Gesellschaft von der Wirt-schaftssoziologie nicht unterschĂ€tzt wird. Zudem wurde in diesem Buch der Versuch unternommen, den engen empirischen Fokus auf den Markt als Koordinationsmechanis-mus durch die Einbeziehung arbeitssoziologischer (und auch geschlechtersoziologischer) Perspektiven zu erweitern. DarĂŒber hinaus scheinen gerade wirtschaftssoziologische Fra-
2 Vgl. dazu kurz und knapp Boltanski und Chiapello (2001).
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gestellungen Anlass zu geben, ĂŒber etablierte Grenzen zu blicken, sei es innerhalb des Pools soziologischer Theorien oder ĂŒber die disziplinĂ€re Grenze zur Wirtschaftswissen-schaft. In den BeitrĂ€gen von Baecker, KĂŒhl sowie Schimank und Volkmann, aber auch implizit bei Berger, Minssen und Hirsch-Kreinsen (und anderen) wird nicht ein VerstĂ€nd-nis der Gesellschaft aus der Perspektive der Wirtschaft gesucht, sondern ein Teilbereich der modernen Gesellschaft soziologisch ausgeleuchtet.
Das von Jens Beckert und Christoph Deutschmann herausgegebene 49. Sonderheft der Kölner Zeitschrift fĂŒr Soziologie und Sozialpsychologie zur Wirtschaftssoziologie bietet eine Vielzahl interessanter Artikel zu theoretischen Grundfragen der wirtschafts-soziologischen Forschung und zu den Forschungsfeldern Finanzen, Konsum und Arbeit, deren gesellschaftstheoretischer Ertrag aber nicht leicht zu fassen ist. Christoph Deutsch-mann sticht in dieser Hinsicht mit seinem Beitrag âSoziologische ErklĂ€rungen kapita-listischer Dynamikâ heraus. Deren zentrale makrogesellschaftliche Voraussetzung sieht er in der âVerallgemeinerung der Warenform im modernen Kapitalismusâ, die âden gesamten Reproduktionsprozess der Gesellschaft dem Regime von Markt und Geld [unterwirft] und [âŠ] das Geld in ein universales Mediumâ verwandelt (S. 51). Es ist die gesellschaftliche OmniprĂ€senz des Geldes, die Deutschmann an der Angemessenheit von Differenzierungstheorien fĂŒr die Analyse der gegenwĂ€rtigen Gesellschaft zweifeln lĂ€sst. Gesellschaftstheoretisch relevant ist darĂŒber hinaus Sigrid Quacks Kritik an der verbrei-teten wirtschaftssoziologischen Konzeption des Marktes, die zu stark an der VerknĂŒpfung von MĂ€rkten und Nationalstaaten festhalte und unterkomplex ausfalle, da sie MĂ€rkte als âunified social orders in which actors share a homogenous orientation towards common rules and normsâ (S. 130) darstelle. DemgegenĂŒber schlĂ€gt sie ein Konzept transnationa-ler MĂ€rkte vor (S. 127 ff.), in dem MĂ€rkte als âexchange networksâ gefasst werden, die durch Konkurrenz und soziale Mechanismen sowie Regeln koordiniert werden. Deren Analyse muss entsprechend die sozialen Relationen genauso einbeziehen wie politisch-kulturelle und vergleichende Aspekte. Julie Froud et al. untersuchen schlieĂlich ErzĂ€h-lungen in finanzialisierten GroĂunternehmen und deren Bedeutung fĂŒr die Untersuchung des Kapitalismus. Ziel der Autoren ist es zu zeigen, dass âadding a cultural inflection to political economy allows new insights about how we can understand corporations, finan-cial markets and their relations with the rest of societyâ (S. 289). Die wirtschaftlichen ErzĂ€hlungen in Unternehmen mĂŒssten auf unterschiedlichen Ebenen analysiert, die sich potenziell im Widerstreit befindlichen Stimmen berĂŒcksichtigt und die Bedeutung von Leistungszahlen fĂŒr die GlaubwĂŒrdigkeit der ErzĂ€hlungen untersucht werden (S. 293 ff.).
Der Blick auf den gegenwĂ€rtigen Stand der wirtschaftssoziologischen Diskussion bestĂ€tigt also die eingangs zitierte EinschĂ€tzung Beckerts, der eine gewisse gesellschafts-theoretische ZurĂŒckhaltung ausmacht. Beim Thema RationalitĂ€t, das in dem von Anita Engels und Lisa Knoll herausgegebenen Sammelband Wirtschaftliche RationalitĂ€t. Soziologische Perspektiven verhandelt wird, muss diese ZurĂŒckhaltung naturgemÀà auf-gegeben werden. Wie die Herausgeberinnen in ihrer Einleitung betonen, ist dies nicht zuletzt deshalb der Fall, weil der Begriff der Rationalisierung eng mit der âPerspektive gesellschaftlicher Differenzierung in eigenlogische WertsphĂ€ren oder Funktionssystemeâ (S. 12) verbunden ist. Es gilt also, die Besonderheit der wirtschaftlichen RationalitĂ€t auf-zudecken. Die entscheidende Vorleistung wurde bereits von Max Weber erbracht (1980, S. 32 f.): Keinesfalls, so Weber, dĂŒrfe man wirtschaftliche RationalitĂ€t mit der bloĂen
293Wirtschaftssoziologie als Gesellschaftstheorie
Optimierung von Zweck-Mittel-Relationen gleichsetzen; dies sei eine rein technische Frage, die zu einer wirtschaftlichen erst dann werde, wenn die Kosten des Mitteleinsatzes thematisiert werden. In dem Sammelband von Engels und Knoll werden soziologische Perspektiven auf wirtschaftliche RationalitĂ€t entwickelt und um Untersuchungen ĂŒber RationalitĂ€t am Finanzmarkt als einem wirtschaftlichen Kernbereich sowie zur wirt-schaftlichen RationalitĂ€t jenseits der Wirtschaft ergĂ€nzt.
FĂŒr Raimund Hasse und Georg KrĂŒcken bezieht sich ökonomische RationalitĂ€t auf âWettbewerbsstrukturen und de[n] Umgang mit diesen Strukturenâ, die es zwar auch jenseits der Wirtschaft gebe, dort aber âpointierter zum Ausdruckâ kommen und die öko-nomische ĂberlebensfĂ€higkeit von Akteuren beeinflussen (S. 27). Lisa Knoll weist dem-gegenĂŒber mit Bezug auf die weiter unten noch ausfĂŒhrlicher vorzustellende âĂconomie des conventionsâ darauf hin, dass man von der âMehrdeutigkeit genuin wirtschaftlicher RationalitĂ€tâ (S. 51, Hervorhebung weggelassen) auszugehen habe: neben der Rationali-tĂ€t des Marktes mĂŒsse man zumindest auch noch mit einer Form industrieller RationalitĂ€t rechnen. Mit den FinanzmĂ€rkten wird dann ein wirtschaftliches Feld diskutiert, bei dem man zumindest auf den ersten Blick davon ausgehen kann, dass formale RationalitĂ€ts-kriterien der Wirtschaft zur Anwendung kommen. Stefanie HiĂ stellt die Frage, inwiefern die Idee der Nachhaltigkeit die RationalitĂ€t des Finanzmarktes irritiert und kommt zu einem erwartbaren Ergebnis: Aller KrisenphĂ€nomene zum Trotz stellt sie eine âbemer-kenswerte StabilitĂ€t der konventionellen FinanzmarktrationalitĂ€tâ (S. 104) fest.
Abseits des finanzwirtschaftlichen Kerns der Ăkonomie, in der Realwirtschaft und den Randbereichen des Wirtschaftssystems scheint es allerdings durchaus Irritations-potenzial zu geben. So zeigen Uwe Schimank und Ute Volkmann am Beispiel von Wis-senschaftsverlagen, wie Wirtschaftsorganisationen, die VerlagshĂ€user nun einmal sind, fremde RationalitĂ€ten berĂŒcksichtigen mĂŒssen. In ihnen hat die âwirtschaftliche Ratio-nalitĂ€t [âŠ] zwar den Primat inne. Aber die in sie eingelagerte fremdreferentielle wissen-schaftliche RationalitĂ€t ist inhaltlich richtungweisend fĂŒr das wirtschaftliche Wollen der Verlageâ (S. 170). Folgt man Frank Meier, dann haben fremdreferentielle BezĂŒge auch in Bildungsorganisationen eine gewisse Tradition. An der These der Ăkonomisierung kriti-siert er mit Verweis auf den Diskurs der Hochschulreform, dass der Bezug auf das Wirt-schaftssystem als solcher nicht neu sei, sondern sich lediglich das Organisationsmodell geĂ€ndert habe, das als Vorbild rationaler Organisation hochgehalten wird. An die Stelle des (eher bĂŒrokratisch gedachten) Betriebes trete das Unternehmen als Vorbild, das als ein eigenstĂ€ndiger dynamischer Akteur gedacht wird, der in permanenten Wettbewerbs-beziehungen steht.
Die drei besprochenen SammelbĂ€nde zeigen, dass sich in den vergangenen Jahren in der deutschen Soziologie eine lebhafte Debatte zu wirtschaftssoziologischen Fragestellungen entwickelt hat. Neben dem Anschluss an die internationale, d. h. vor allem US-amerikani-sche Diskussion zeichnet sie sich auch durch die durchgĂ€ngige Auseinandersetzung mit der deutschsprachigen Tradition aus, sei es mit der sich gegenwĂ€rtig in einer Krise befindlichen Arbeits- und Industriesoziologie, sei es mit der Tradition des differenzierungstheoretischen Denkens. Es scheint sich allerdings weniger eine Konfrontation von Wirtschaftssoziologie als Gesellschaftstheorie und soziologischer Differenzierungstheorie abzuzeichnen als eine Ausweitung des soziologischen Wissens ĂŒber die Wirtschaft der Gesellschaft und dessen Integration in einen entsprechenden gesellschaftstheoretischen Diskurs.
294 T. Peetz
3 RĂ€nder und Grenzen der Ăkonomie
Von genuin gesellschaftstheoretischen Diskussionen hat man in der US-amerikanischen Soziologie nach Talcott Parsons zugunsten von Detailstudien und Theorien mittle-rer Reichweite weitgehend Abstand genommen. Alejandro Portes geht in seinem Buch Economic sociology. A systematic inquiry entsprechend von einem Theorieproblem der neuen Wirtschaftssoziologie aus, die sich ihrer Grundlagen nicht bewusst ist â ein Pro-blem, das er durch AusfĂŒhrungen zu metatheoretischen Prinzipien, erklĂ€renden Mecha-nismen und âstrategic sites of inquiryâ (S. 1) bearbeiten will. Die Grundannahmen, die seiner Ansicht nach wirtschaftssoziologischen Forschungen zugrunde liegen, bestehen im ökonomisch, das heiĂt am Problem der Knappheit orientierten Handeln (S. 13 ff.), dem Konzept der unintendierten Folgen rationalen Handelns (S. 18 ff.) sowie in der Annahme, dass Macht grundlegend in wirtschaftliche Beziehungen eingelassen ist. Nach knappen und eher definitorischen als argumentativ hergeleiteten theoretischen Ăberlegungen zu Beginn ist der GroĂteil des Buches den entsprechenden ErklĂ€rungsmechanismen (Sozial-kapital, Institutionen und Klassen) sowie einigen exemplarischen Untersuchungsfeldern (informelle Ăkonomie, ethnische Enklaven und transnationale Gemeinschaften) der Wirtschaftssoziologie gewidmet.
Der Mechanismus des Sozialkapitals wird von Portes als wichtiges Resultat der Ein-bettung wirtschaftlichen Handelns eingefĂŒhrt (S. 27 ff.) und als Quelle sozialer Kont-rolle sowie des ĂŒber Netzwerke vermittelten Zugangs zu Ressourcen charakterisiert. Der Mechanismus der Institutionen fungiert als âsymbolic blueprint for organizationsâ: âThey comprise the set of rules, written or informal, governing relationships among role occupants in organizations like the family, the schools; and the other major institutionally structured areas of social life: the polity, the economy, communications and information, and leisure.â (S. 55) SpĂ€testens hier rĂ€cht sich, dass Portes gleich eingangs theoretische Konzepte wie soziale Differenzierung oder soziale Systeme mit dem Hinweis verabschie-det, dass sie zu weit gefasst seien, um âany clear empirical referenceâ (S. 4) aufzuweisen. Denn natĂŒrlich stellt sich sofort die Frage ein, was denn die Familie zu einer Organisation macht, ob es sich vielleicht nicht um unterschiedliche Typen sozialer Systeme handelt und wie das VerhĂ€ltnis der âareas of social lifeâ zueinander zu denken ist. Der Mechanis-mus der Klassen schlieĂlich âdirectly reflects and fleshes out [âŠ] powerâ (S. 72). Sowohl gegen die traditionelle marxistische Klassenanalyse als auch gegen die Aufgabe des Konzeptes gewendet (S. 73 ff.), formuliert Portes ein flexibles Klassenkonzept mittlerer Reichweite. Unter Klassen in diesem Sinn versteht er Elemente der gesellschaftlichen Tiefenstruktur, die in Beziehung aufeinander definiert werden und ĂŒber den âdifferential access to power within a given social systemâ, der zudem sozial vererbbar ist, definiert werden (S. 79). Auf dieser Grundlage werden dann die Klassenstrukturen in den USA und Lateinamerika sowie deren VerĂ€nderungen durch Globalisierung und Immigration (USA) bzw. den Neoliberalismus (Lateinamerika) vorgestellt. Die Kapitel zu den empirischen Forschungsfeldern konzentrieren sich dann stark auf den Mechanismus des Sozialkapi-tals, auch wenn es zu wiederkehrenden Referenzen auf Klassen und Institutionen kommt.
Eine zusammenfassende EinschÀtzung von Portes Economic sociology fÀllt zwiespÀl-tig aus. Seinem Vorschlag, die theoretischen Grundlagen der Wirtschaftssoziologie stÀr-ker auszubauen und soziale Mechanismen zu identifizieren, die wirtschaftliches Handeln
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(mit)erklĂ€ren können, mag man genauso gerne folgen wie seinen empirischen Erkun-dungen jenseits des Mainstreams der Disziplin. In den Dunkelzonen der Gesellschaft und in ihren Rand- bzw. Zwischenbereichen nach ökonomischen AktivitĂ€ten Ausschau zu halten, ist eine willkommene ErgĂ€nzung zu den Analysen der Kerninstitutionen der west-lichen Ăkonomie. Nicht wirklich ĂŒberzeugend ist die Herleitung der metatheoretischen Prinzipien und der ihnen zugeordneten sozialen Mechanismen sowie die starke Konzen-tration der Empirie auf das PhĂ€nomen der Einbettung, die die Dimensionen der Klassen und Institutionen etwas aus dem Blick verliert. Zudem wird der Begriff des Mechanismus lediglich metaphorisch verwendet und auf einen expliziten Anschluss an entsprechende Diskussionen der erklĂ€renden Soziologie verzichtet (vgl. aus der anglo-amerikanischen Debatte z. B. Hedström und Swedberg 1996; Tilly 1995).
Von geringerem theoretischem Anspruch, aber ĂŒberaus ertragreich ist die von Viviana A. Zelizer unter dem Titel Economic lives. How culture shapes the economy publizierte Sammlung ihrer AufsĂ€tze, deren Grundidee darin besteht, dass ökonomische Sachver-halte nicht losgelöst von sozialen Beziehungen und kulturellen Sachverhalten existieren, sondern selbst sozial und kulturell durchdrungen sind. Sie zeigt dies unter anderem am Beispiel der EinfĂŒhrung von Lebensversicherungen in den Vereinigten Staaten, anhand derer man das âlarger theoretical problem of establishing monetary values for sacred thingsâ (S. 20) â in diesem Fall des menschlichen Lebens â nachvollziehen kann. Die Eta-blierung von Lebensversicherungen war ihres Erachtens nur dadurch möglich, dass der Abschluss einer Police selbst sakralisiert wurde durch die âtransformation of the mone-tary evaluation of death into a ritualâ (S. 32). In dem Aufsatz âThe social of meaning of moneyâ macht Zelizer deutlich, dass selbst das ökonomische Medium par excellence, das Geld, die Beziehungen, in die es eindringt, nicht widerstandslos und vollstĂ€ndig umwĂ€lzt. Am Beispiel des Haushaltsgeldes zeigt sie, dass âregardless of its sources, once money had entered the household, its allocation, calculation, and uses were subject to a set of domestic rules distinct from the rules of the marketâ (S. 114).
In den Abhandlungen zu ökonomischen Aspekten in Intimbeziehungen und zur âEco-nomy of careâ wird der theoretische Beitrag Zelizers greifbar. Sie unterscheidet zwi-schen drei Weisen, das VerhĂ€ltnis von ökonomischen und nicht-ökonomischen SphĂ€ren zu verstehen: als Bereiche, deren innere Logiken einander diametral entgegengesetzt sind (âhostile worldsâ), die letzten Endes aufeinander reduziert werden können (ânothing-butâ), oder aber als âdifferentiated tiesâ, in denen unterschiedliche Logiken miteinander vermischt und in ein VerhĂ€ltnis zueinander gebracht werden (S. 182). Am Beispiel von Care zeigt sie etwa, dass â[c]aring and economic considerations intersect all the time, from neighborly exchanges of babysitting to the high salaries of physiciansâ (S. 270). Als begriffliches Instrument zur Analyse dieser âunordentlichenâ VerhĂ€ltnisse schlĂ€gt Zeli-zer das Konzept der âcircuits of commerceâ (S. 315, Hervorhebung weggelassen) vor. Darunter versteht sie sozio-kulturelle Netzwerke, die klar abgegrenzt sind, bestimmte Medien verwenden, deren Mitglieder gewisse Ăberzeugungen teilen und innerhalb derer âa distinctive set of transfers of goods, services, or claims upon them occurs within its interpersonal tiesâ (ebd.). Bei den âcircuits of commerceâ handelt es sich also um soziale Strukturen, die neben den MĂ€rkten existieren (S. 303 f.) und in denen wirtschaftliche Beziehungen mit nicht-wirtschaftlichen Beziehungen verknĂŒpft sind.
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Die Arbeiten Zelizers können als eine Aufforderung verstanden werden, offene Instrumentarien fĂŒr die Analyse wirtschaftlicher Beziehungen zu entwickeln, die es ermöglichen, die verwirrende RealitĂ€t unterschiedlich gefĂ€rbter sozialer Beziehungen soziologisch zu untersuchen. GegenĂŒber Diagnosen wie der Kommodifizierung oder Vermarktlichung sozialer SphĂ€ren pocht sie auf die kultursoziologische Analyse der tat-sĂ€chlichen Bezugnahmen auf wirtschaftliche und wirtschaftsferne Logiken in sozialen Beziehungen. Das Eindringen ökonomischer Logiken in nicht-ökonomische Bereiche scheint nicht zwangslĂ€ufig zu deren totaler Ăkonomisierung zu fĂŒhren. Vielmehr besteht in diesen FĂ€llen zumindest prinzipiell die Möglichkeit, dass ökonomischen Imperativen nicht nur ausgewichen werden kann, sondern ökonomische Beziehungen selbst durch soziale und kulturelle Aspekte ĂŒberlagert werden. Ob es zu âgood matchesâ (S. 153) zwi-schen ökonomischen und ökonomiefremden BezĂŒgen tatsĂ€chlich kommt, sich die beiden Logiken also nicht wechselseitig behindern und in ihrer Wirksamkeit einschrĂ€nken, ist dann allerdings eine empirische Frage.
Ăhnlich theoretisch unambitioniert, aber gehaltvoll wie Zelizers Arbeiten ist Frank Dobbins die Grenzen von Wirtschafts-, Organisations- und Professionssoziologie gekonnt ignorierende preisgekrönte Monografie zur EinfĂŒhrung von Gleichstellungsprogrammen in den Vereinigten Staaten Inventing equal opportunity. Dobbin erzĂ€hlt in diesem Buch die Geschichte eines Versuchs der politischen Regulierung der Einstellungs- und Beför-derungspraktiken wirtschaftlicher Organisationen. Er argumentiert, dass man sozialen Bewegungen und politischen Akteuren zwar die Initiierung von GleichstellungsmaĂnah-men in den Vereinigten Staaten zuschreiben kann; deren konkrete Umsetzung und inhalt-liche Formulierung wurde aber durch die Profession des Personalmanagements geleistet, die sich dazu aus dem professionseigenen Vorrat an Problemlösungen bediente. âPerson-nel managers had invented a legal code internal to the corporation â equal opportunity rules and pledges inscribed not in federal statutes but in corporate human resource manu-als. [âŠ] Firms have become states unto themselves.â (S. 2)
NatĂŒrlich spielten in diesem Zusammenhang politische Entscheidungen eine groĂe Rolle. Besonders die Bedeutung der AmtseinfĂŒhrung John F. Kennedys im Jahr 1961, der âaffirmative actionâ zur Beendigung von Diskriminierung in Unternehmen anordnete, die Auftragnehmer des Staates waren (S. 32 f.), und der Civil Rights Act von 1964, in dem âequal treatment in private employmentâ (S. 31) Gegenstand staatlicher Garantien wurde, werden von Dobbin hervorgehoben. Allerdings hielt sich der Gesetzgeber bei der posi-tiven Definition von MaĂnahmen im Civil Rights Act zurĂŒck, was den Gerichten beim Vollzug einen weiten Spielraum lieĂ (S. 36 f.). Die so staatlich induzierte Unsicherheit fĂŒhrte zu proaktiven MaĂnahmen seitens der Unternehmen: âIn the face of uncertainty about just how judges would interpret this ban, entrepreneurial personnel experts promo-ted one wave after another of equal opportunity innovations.â (S. 19) Die Instrumente, die von den Personalmanagern dazu eingesetzt wurden, stammten aus ihrem professionellen Werkzeugkasten: âcorporate policiesâ gegen Diskriminierung, die ihre Vorbilder in MaĂ-nahmen zur Verhinderung der Diskriminierung von Gewerkschaftern fanden, in speziel-len Programmen zur Rekrutierung unterreprĂ€sentierter Bevölkerungsgruppen sowie in entsprechenden Trainingsprogrammen (S. 52 ff.). Auf die VerschĂ€rfung der Antidiskrimi-nierungsgesetzgebung und ihre forcierte Durchsetzung in den 1970er Jahren reagierte die Profession ebenfalls mit ihr vertrauen MaĂnahmen: der Etablierung spezialisierter Abtei-
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lungen, der Einbeziehung von Gleichstellungsaspekten in die Leistungsevaluation des Managements und der Einrichtung entsprechender unternehmensinterner Beschwerde-prozeduren (S. 83 ff.). Zu Beginn der 1980er Jahre waren diese Instrumente in den Unter-nehmen derart integriert, dass selbst die politischen BemĂŒhungen zur Deregulierung seitens der Reagan-Administration nur geringen Einfluss auf die tatsĂ€chlichen Praktiken hatten. Der Beitrag, den GleichstellungsmaĂnahmen zur ProduktivitĂ€t von Unternehmen leisteten, wurde vom Personalmanagement hervorgehoben (S. 133 ff.), aus âEqual Oppor-tunityâ-Programmen wurde âDiversity Managementâ (S. 138 ff.).
Die erfolgreiche Implementierung und Konsolidierung von GleichstellungsmaĂnah-men in US-amerikanischen Unternehmen werden von Dobbin nicht auf politische Ăber-zeugungen des Personalmanagements und der GeschĂ€ftsleitungen zurĂŒckgefĂŒhrt. Diese waren âoften less concerned about whether new programs equalized opportunity than they were about whether those programs could help to protect them in courtâ (S. 223). Da die Rechtsprechungspraxis sich aber an dem âemerging corporate standardâ orientierte, lag es nahe, dass sich die Unternehmen an den GleichstellungsmaĂnahmen etablierter Unternehmen orientierten: âexecutives surmised that the best way to protect themselves was to follow the crowdâ (ebd.). Professions- und mikropolitisch wurde dies durch die Möglichkeiten unterstĂŒtzt, die sich in diesem Zusammenhang der Profession des Per-sonalmanagements boten, da schon zu Beginn der MaĂnahmen âa growing number of personnel executives saw that equal opportunity law would enable them to expand their role in the firmâ (S. 43).
Der gesellschaftstheoretische Beitrag von Dobbins Studie liegt in der Erhellung des VerhĂ€ltnisses von externer politischer Steuerung und der inneren Reorganisation von Unternehmen. WĂ€hrend Zelizer zeigen kann, dass ökonomische Logiken nicht umstands-los ökonomieferne Bereiche umwĂ€lzen, belegt der von Dobbin analysierte Fall, dass politische RegulierungsbemĂŒhungen auf die Eigenlogiken von Unternehmen treffen. Teilweise liest sich die Studie wie ein Versuch, Niklas Luhmanns AusfĂŒhrungen zu strukturellen Kopplungen zwischen sozialen Systemen durch empirische Beobachtungen anzureichern: Kollektiv verbindliche Entscheidungen im politischen System lösen auf-grund ihrer potenziellen Kosten Irritationen in wirtschaftlichen Organisationen aus, die daraufhin versuchen, sich durch RĂŒckgriff auf ihre eigenen Strukturen und Prozeduren der gewandelten Umwelt anzupassen.
4 Multiple Handlungsregime und Organisationswelten
Der von Rainer Diaz-Bone edierte Sammelband zur Soziologie der Konventionen reiht sich in eine ganze Serie von Veröffentlichungen des Herausgebers ein (vgl. u. a. Diaz-Bone und ThĂ©venot 2010 sowie Diaz-Bone in Beckert und Deutschmann 2009), die auf die Popularisierung einer pragmatischen Strömung in der gegenwĂ€rtigen französischen Soziologie zielen. Deren deutsche Rezeption wurde â anders als im Fall Pierre Bourdieus, der das leicht wahrnehmbare Zentrum eines theoretischen und empirischen Forschungs-zusammenhangs darstellte â, durch ihren Netzwerkcharakter deutlich erschwert. Insofern ist es zu begrĂŒĂen, dass mit dem Band eine Reihe von Ăbersetzungen vorgelegt wird,
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die den Zusammenhang der Arbeiten unterschiedlicher Autoren prĂ€sentiert.3 Neben einer Einleitung, in der Diaz-Bone einen Ăberblick ĂŒber zentrale Konzepte und die historische Entwicklung der pragmatischen Soziologie in Frankreich gibt, enthĂ€lt der Band Arbeiten, die zwei groĂen Blöcken zurechenbar sind. Es handelt sich einerseits um sozialtheore-tische AufsĂ€tze, die die Grundlagen einer pragmatischen Soziologie klĂ€ren, andererseits um Arbeiten, die der âĂconomie des conventionsâ zugerechnet werden können, in denen eine pragmatische Perspektive auf wirtschaftliches Handeln entwickelt wird.
Die Hauptcharakteristika der pragmatischen Soziologie arbeitet Nicolas Dodier her-aus. Ihm zufolge richtet sich der Fokus pragmatischer Untersuchungen auf Situatio-nen, die gleichwohl in einen zeitlichen Horizont eingebettet werden (S. 72 f.), sowie auf Akteure und die in der Situation relevanten Objekte (S. 75). Aufgrund der PluralitĂ€t von Handlungsregimen muss man davon ausgehen, dass Personen stĂ€ndig zwischen diversen Kontexten wechseln mĂŒssen. Die Akteure der Soziologie der Konventionen werden also ebenso multidimensional gedacht wie die soziale Ordnung; sie verfĂŒgen neben der FĂ€hig-keit, sich in einem bestimmten Handlungsregime zu engagieren, auch ĂŒber die Kompe-tenz, zwischen Handlungsregimen zu wechseln (S. 92).
Einen guten Ausgangspunkt fĂŒr die Auseinandersetzung mit dem französischen Prag-matismus bietet der Beitrag von Luc Boltanski und Laurent ThĂ©venot âDie Soziologie der kritischen Kompetenzenâ, in dem die Autoren die GrundzĂŒge ihrer gemeinsam ent-wickelten und nunmehr auch in deutscher Sprache vorliegenden Theorie der Rechtfer-tigungsordnungen (Boltanski und ThĂ©venot 2007) rekapitulieren. Ausgangspunkt ihrer Ăberlegungen bilden âkritische Momenteâ, in denen es zu einer âUnterbrechung des Gangs der Dingeâ (S. 43) kommt, die Koordination sozialer Akteure also problematisch geworden ist. Da â[n]iemand [âŠ] permanent im Ausnahmezustand lebenâ kann (S. 44), ist diesen Situationen ein Zwang zur Lösung des Koordinationsproblems inhĂ€rent, die durch die Erzielung einer Einigung ĂŒber den Zustand, in dem sich die Akteure befin-den, erreicht werden kann. Dazu mĂŒssen zwischen den Akteuren und mit in die Situation einbezogenen Objekten Beziehungen hergestellt werden, die auch kritischen Nachfragen gegenĂŒber zu rechtfertigen sind. In Situationen mit einer gewissen öffentlichen Bedeu-tung beziehen sich die Akteure dabei auf eine âbegrenzte[] Vielfalt von Ăquivalenzprin-zipienâ, die âformal miteinander unvereinbarâ sind (S. 52). Die Ordnungsprinzipien, aus denen die Akteure so differenzierte Welten bauen wie âInspirationâ, âHausâ, âBekannt-heitâ, âStaatsbĂŒrgerâ, âMarktâ, âIndustrieâ (S. 57 ff.), ermöglichen es, Personen und Objekte sowie ihre Beziehungen zu charakterisieren, ihre âWertigkeitâ, d. h. ihre relative Position im GefĂŒge einer Welt zu bestimmen und die in einer Welt relevanten Informa-tionen einzugrenzen.
Zwei BeitrĂ€ge von Laurent ThĂ©venot verbreitern die konzeptuellen Grundlagen der pragmatischen Soziologie. Ausgehend von der âKategorie des Engagementsâ (S. 231), mit der die Versuche von Individuen gefasst werden sollen, ihre Umwelt unter Kontrolle zu bringen, unterscheidet ThĂ©venot Regime des âEngagements mit Anderenâ (S. 235). Neben dem Handlungsregime, das sich auf Rechtfertigungsordnungen bezieht, identi-fiziert er ein âRegime des Engagements im Vertrautenâ (S. 266, Hervorhebung wegge-
3 Einige der abgedruckten BeitrÀge wurden bereits im Online-Journal Trivium publiziert und kön-nen unter http://trivium.revues.org/3540 aufgerufen werden.
299Wirtschaftssoziologie als Gesellschaftstheorie
lassen), das die lokale Umwelt von Personen betrifft, und ein âRegime des planenden Handelnsâ (S. 267, Hervorhebung weggelassen), das die instrumentelle Umweltorientie-rung begrifflich fassen soll. Dadurch wird der durch die Theorie der Rechtfertigungs-ordnungen eingefĂŒhrten âhorizontalen KomplexitĂ€tâ der Gesellschaft noch eine vertikale Dimension hinzugefĂŒgt, âdie darin besteht, dass Akteure ihr individuelles Handeln, das durch Handlungslogiken ohne Rechtfertigungszwang strukturiert wird, in Ăbereinstim-mung bringen mĂŒssen mit dem kollektiven Handeln, in das sie involviert sindâ (Diaz-Bone, S. 29).
Die wirtschaftssoziologisch einschlĂ€gigen BeitrĂ€ge von François Eymard-Duvernay zu âKonventionalistischen AnsĂ€tzen der Unternehmensforschungâ sowie von François Eymard-Duvernay, Olivier Favereau, AndrĂ© OrlĂ©an, Robert Salais und Laurent ThĂ©ve-not zu âWerten, Koordination und RationalitĂ€tâ stellen die Grundprinzipien der âĂco-nomie des conventionsâ dar, einer wirtschaftswissenschaftlichen Strömung, die in enger VerknĂŒpfung mit der pragmatischen Soziologie entwickelt wurde. Ausgangspunkt der Autoren ist ein Handlungsmodell, das realistischer als das der neoklassischen Ăkonomik angelegt ist: âDie Akteure lernen darin, ohne dass sie von vornherein schon wissen, was sie lernen werden. Sie treffen Vereinbarungen, in denen noch nicht der gesamte Verlauf der Transaktion antizipiert wird. Es ist schon verwunderlich, dass solche VorschlĂ€ge als âheterodoxâ angesehen werden, wĂ€hrend sie doch zumindest trivial sind.â (Eymard-Du-vernay, S. 101) Eymard-Duvernay weist darauf hin, dass es sich bei einem Unternehmen um ein âhochkomplexes Universumâ (S. 103) handelt, in dem gleichzeitig mehrere Prin-zipien der Bewertung angewendet werden. Dementsprechend wird ein vergleichender Ansatz verwendet, der mehrere Unternehmensmodelle anhand der âAuffassung hinsicht-lich dessen [âŠ], was die QualitĂ€t des Produkts und die QualitĂ€t der Arbeit ausmachtâ (S. 105), unterscheidet.
Mit der Soziologie der Konventionen liegt ein theoretischer Entwurf mit einigem gesellschaftstheoretischen Potenzial vor. Auch wenn Boltanski und ThĂ©venot (2007) selbst diesbezĂŒglich zurĂŒckhaltend sind, liefern ihre Unterscheidung sozialer Gram-matiken und korrespondierender Welten sowie ihre Hinweise auf deren wechselseitige Beziehungen (Kritik, Kompromiss, Verschiebung) AnsĂ€tze einer eigenstĂ€ndigen diffe-renzierungstheoretischen Position. Deren Konsequenzen fĂŒr die Analyse wirtschaftlicher ZusammenhĂ€nge kann man im Anschluss an eine Bemerkung von Eymard-Duvernay et al. bestimmen: âEine gegebene wirtschaftliche AktivitĂ€t kannâ, so die Autoren (S. 218), âselbst wenn sie in kleine Tranchen aufgeteilt ist, zu mehreren Koordinationsformen gehören, dasselbe gilt fĂŒr Unternehmen. In derartigen pluralistischen Kontexten besteht das Koordinationsproblem im Zusammentreffen von mehreren Evaluationsprinzipien sowie in der Verteilung der Evaluationsmacht auf verschiedene ZustĂ€nde der Personen.â Wirtschaftliches Handeln zeichnet sich also durch die PluralitĂ€t von Handlungslogiken aus; die Wirtschaftssoziologie kann sich folglich analytisch nicht auf die Logik des Mark-tes beschrĂ€nken, sondern muss die Interferenzen zwischen verschiedenen Handlungs-logiken und gesellschaftlichen Ordnungen, die Konflikte und Kompromissbildungen untersuchen.
Eine BrĂŒcke zwischen den amerikanischen BeitrĂ€gen zur neuen Wirtschaftssoziologie und der französischen Diskussion schlĂ€gt die unter dem Titel The sense of dissonance. Accounts of worth in economic life veröffentlichte Sammlung von AufsĂ€tzen David
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Starks.4 Ihren Kern bilden ethnografische Studien in drei unterschiedlichen organisatio-nalen Kontexten, die Stark in Zusammenarbeit mit Mitarbeitern angefertigt hat: einer Fabrik im sozialistischen Ungarn (mit JĂĄnos LukĂĄcs), dem âtrading roomâ einer interna-tionalen Investmentbank an der Wall Street (mit Daniel Beunza) sowie einem Start-Up-Unternehmen im Bereich Neue Medien (mit Monique Girard). Diese Arbeiten werden gerahmt von theoretischen Ăberlegungen zur Rolle der Organisationsform Heterarchie fĂŒr die Innovations- und ReorganisationsfĂ€higkeit von Unternehmen sowie zu den ana-lytischen Werkzeugen der Analyse von wirtschaftlichen Prozessen in Organisationen.
Ausgangspunkt von Starks Ăberlegungen ist die These, dass die InnovationsfĂ€higkeit von Organisationen an ihre FĂ€higkeit geknĂŒpft ist, sich auf ein Suchverfahren einzulas-sen, âduring which you do not know what you are looking for but will recognize it when you find itâ (S. 1). Es sind âperplexing situationsâ, die durch ein âprincipled disagree-ment about what countsâ gekennzeichnet sind (S. 5), in denen es möglich wird, tatsĂ€ch-lich innovative, nĂ€mlich bislang unbekannte Lösungen zu identifizieren. Im Anschluss an Boltanski und ThĂ©venot entwickelt er eine âsociology of worthâ, in der die moderne Ăko-nomie âis not a single order but contains multiple âorders of worthââ (S. 11). Anders als seine französischen Bezugsautoren interessiert er sich aber weniger fĂŒr die Bearbeitung der Unsicherheit in Situationen, in denen die Koordination sozialer Beziehungen proble-matisch geworden ist, als fĂŒr das kreative Handlungspotenzial, das in solchen unklaren Situationen liegt: das ââgetting actionâ in worlds that are already too ordered and rule governedâ (S. 16), wie er im Anschluss an Harrison C. White ausfĂŒhrt. In Heterarchien (S. 19 ff.) identifiziert er dann eine organisationale Form, die durch âmore crosscutting network structuresâ und âno hierarchical ordering of competing evaluative principlesâ gekennzeichnet ist und so Handlungsmöglichkeiten generiert.
Die empirischen Studien setzen sich mit der Koexistenz evaluativer Prinzipien in Organisationen auseinander. Am Beispiel der sozialistischen Fabrik âMinotaurâ zeigt Stark, wie im Ungarn der 1980er Jahre unterschiedliche Organisationsformen inner-halb ein und desselben Unternehmens existierten. Die Möglichkeit, nach der offiziellen Arbeitszeit legal auf eigene Rechnung zu arbeiten, fĂŒhrte zur Bildung privatwirtschaft-licher Partnerschaften, in denen Arbeiter âgained higher incomes whithout losing the benefits of employment in the socialist sectorâ, wĂ€hrend die sozialistischen Manager durch die Vergabe von AuftrĂ€gen an die Partnerschaften FlexibilitĂ€tsspielrĂ€ume in der Produktion gewannen (S. 35). Innerhalb der Partnerschaften kamen dabei unterschied-liche Evaluationsprinzipien zur Geltung, marktliche Rechtfertigungsmuster genauso wie auf ReziprozitĂ€t und Redistribution abzielende. Eine Ă€hnliche evaluative âUnord-nungâ herrschte in dem New-Media Start-Up, das Stark in New York untersucht hat. Hier waren es verschiedene âcommunities of practiceâ, die je eigene Evaluationsprinzipien und Leistungskriterien verwendeten (S. 103 ff.). Diese PluralitĂ€t der Leistungsevaluation fĂŒhrte zur Entwicklung von âorganizational reflexivity not at some specialized or privi-leged location but throughout the organizationâ (S. 109) â eine Voraussetzung, um sich in unsicheren und schnell verĂ€ndernden Umwelten zu orientieren. In der Fallstudie zu einem âWall Street trading roomâ zeigen Stark und Beunza dann, dass es weder allein die Anwendung mathematischer Formeln noch die Technisierung des Arbeitsplatzes sind,
4 Zu dieser Verbindung vgl. auch den Beitrag von SĂžren Jagd in Diaz-Bone (2011).
301Wirtschaftssoziologie als Gesellschaftstheorie
die den modernen Handel mit Finanzprodukten ausmachen, sondern eine Kombination aus Technik, SozialitĂ€t und dem rĂ€umlichen Arrangement des âtrading roomsâ. In dem untersuchten Fall herrscht eine klare funktionale Differenzierung in Teams, die jeweils spezifische Finanzprodukte bearbeiten und eigene differenzierte Strategien der Markt-beobachtung herausgebildet haben (S. 130 ff.). Die rĂ€umliche Anordnung der Teams hilft dabei, divergente Perspektiven zu generieren und auszutauschen und dadurch wechsel-seitig blinde Flecken aufzuhellen.
Die real existierende DiversitĂ€t in Organisationen muss, so Stark in seinen abschlie-Ăenden Bemerkungen, auch von der soziologischen Forschung ernst genommen werden: âDiversity matters not because it preserves already-known solutions at hand. Instead, it contributes to adaptability by preserving a more diverse organizational âgene poolâ increasing the likelyhood of possibly fruitful recombinations in times of unpredictable change.â (S. 180) Soziologische Studien sollten sich dementsprechend nicht auf ein Orga-nisations- oder Evaluationsprinzip konzentrieren und sich ebenso wenig mit der Anfer-tigung einer Landkarte von Rechtfertigungsordnungen zufrieden geben. Stattdessen gilt es, die Prozesse der Vermischung und Durchdringung zu analysieren. Oder einfacher aus-gedrĂŒckt: âorganizational analysis needs more sexâ (ebd.).
5 Ausblick
Will man Wirtschaftssoziologie als Gesellschaftstheorie betreiben, dann steht man ana-lytisch vor der Entscheidung, die Gesellschaft entweder als von der Wirtschaft determi-niert, als schlicht ökonomisch zu denken oder die Perspektive so einzuengen, dass man die Gesellschaft von der Wirtschaft aus betrachtet und Politik, Recht, Bildung etc. nur insofern fĂŒr theorierelevant erachtet, als sie ökonomisch (mit)bedingt bzw. ökonomisch relevant sind.5 Gegen die erste Variante sprechen nicht nur zahlreiche der hier diskutierten Arbeiten, die auf die PluralitĂ€t moderner Gesellschaften hinweisen. Es reicht, wie so oft, schon ein Blick in das Werk Webers, der âdiejenigen, deren kausales Gewissen ohne öko-nomische [âŠ] Deutung nicht beruhigt istâ, darauf hinweist, dass es neben der Ăkonomie weitere soziale RealitĂ€ten gibt, die âihre Eigengesetzlichkeit und zwingende Macht auch rein in sichâ tragen (Weber 1988a, S. 192, FuĂnote 1, am Beispiel religiöser Ideen). Wenn dem aber so ist, dann ist es auch nicht wie in der zweiten, abgeschwĂ€chten Variante damit getan, die Gesellschaft theoretisch von der Wirtschaft aus zu rekonstruieren â unabhĂ€n-gig davon, ob man sie als WertsphĂ€re, Teilsystem, Feld oder als eine soziale Welt denkt. Nicht, dass diese Sicht illegitim ist (obwohl mit ihr blinde Flecken einhergehen). Es han-delt sich dabei aber lediglich um eine teilbereichsspezifische Rekonstruktion der Gesell-schaft, um Reflexions-, nicht um Gesellschaftstheorie, die als solche anzuerkennen hat, dass gesellschaftliche Sachverhalte und Dynamiken auch einfach nur politisch, religiös, juristisch usw. sein können.
Bleibt die Alternative, Wirtschaftssoziologie und Gesellschaftstheorie zu betreiben, ohne das Mantra der Gleichheit und Geschlossenheit gesellschaftlicher Teilbereiche
5 Zur Unterscheidung von eigentlich ökonomischen, ökonomisch bedingten bzw. mitbedingten und ökonomisch relevanten Erscheinungen vgl. Weber (1988b, S. 162).
302 T. Peetz
unendlich zu wiederholen. Wie die Analyse von Organisationen, so braucht auch die gesellschaftstheoretisch informierte Wirtschaftssoziologie mehr âsexâ (Stark, S. 180). Die Arbeiten Viviana A. Zelizers, David Starks, der Soziologie der Konventionen oder Uwe Schimanks, die allesamt die PluralitĂ€t der modernen Gesellschaft betonen und auf dieser Basis Reibungen, Vermischungen und GrenzĂŒberschreitungen zwischen wirt-schaftlichen PhĂ€nomenen und dem Rest der Gesellschaft untersuchen, beschreiten mal mehr, mal weniger bewusst diesen Weg. Die Frage, ob es zu einem gegebenen histori-schen Zeitpunkt zur gesellschaftlichen Dominanz eines bestimmten Teilbereichs kommt, ist unabhĂ€ngig davon empirisch zu klĂ€ren â darauf haben bereits frĂŒh Alois Hahn (2000) und jĂŒngst wieder Bob Jessop (2011) hingewiesen. Die Ăkonomie stellt dabei einen aus-sichtsreichen Kandidaten dar, unter anderem weil sie sich stĂ€rker von den Entwicklun-gen in anderen Systemen entkoppeln kann, ĂŒber eine gewisse FlexibilitĂ€t und schwer zu ĂŒberschauende KomplexitĂ€t verfĂŒgt sowie eine wichtige âQuelle externen Anpassungs-drucksâ fĂŒr die anderen Funktionssysteme darstellt (vgl. ebd., S. 590). PhĂ€nomene, die als eine wachsende Dominanz anderer Funktionssysteme interpretiert werden können, z. B. die Verrechtlichung sozialer Beziehungen und Ordnungen oder die PĂ€dagogisierung sozialer Probleme, mĂŒssten aber ebenso ergebnisoffen geprĂŒft werden (vgl. auch Strulik 2012).
Als differenzierungstheoretischer Orientierungsrahmen fĂŒr gesellschaftstheoretisch relevante wirtschaftssoziologische Forschungen bietet sich natĂŒrlich die soziologische Systemtheorie Luhmanns an. Nicht nur, weil hier eine Theorie der modernen Gesellschaft zu VerfĂŒgung steht, die der Wirtschaft bereits einige Aufmerksamkeit geschenkt hat (Luh-mann 1994, 1998), sondern auch, weil Luhmann eine ausgearbeitete Organisationstheorie vorgelegt hat, die es ermöglicht, das Unternehmen als eine zentrale Instanz der Wirtschaft zu verstehen und wirtschaftliche BezĂŒge in anderen Organisationstypen aufzuklĂ€ren (vgl. Luhmann 2000; Tacke 2001). Man kann aber auch andere Wege gehen, und eine feldtheo-retische Alternative haben wiederum im Anschluss an Bourdieu bzw. dem âNew Institu-tionalismâ Beckert (2012) sowie Neil Fligstein (2001; vgl. auch Fligstein und McAdam 2011) vorgeschlagen. Das ist nicht zuletzt deshalb plausibel, weil Bourdieu durchaus differenzierungstheoretisch interpretiert werden kann (vgl. Bongaerts 2011). Ob man sich zwischen diesen (und anderen alternativen) EntwĂŒrfen entscheiden muss, ist eine Frage ihrer KompatibilitĂ€t und kann im Rahmen dieser Besprechung nicht beantwortet wer-den. Dass eine komplexe Theorielandschaft â Ăbersetzungsversuche vorausgesetzt â der Analyse einer komplexen Gesellschaft aber nicht abtrĂ€glich ist, kann man allerdings mit Sicherheit annehmen.
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Thorsten Peetz, geb. 1978. Dr., Sozialwissenschaftler am Institut fĂŒr Sozialwissenschaften der Humboldt-UniversitĂ€t zu Berlin. Forschungsschwerpunkte: Soziologische Theorie und Methodolo-gie; Arbeits-, Organisations- und Wirtschaftssoziologie; Ăkonomisierung. AusgewĂ€hlte Veröffent-lichungen: (mit K. Lohr) Arbeit und Organisation in der funktional differenzierten Gesellschaft, in: Berliner Journal fĂŒr Soziologie, 2010; (mit K. Lohr und R. Hilbrich) Bildungsarbeit im Umbruch. Zur Ăkonomisierung von Arbeit und Organisation in Schulen, UniversitĂ€ten und in der Weiterbil-dung, 2013; (mit K. Lohr und R. Hilbrich) Die Kritik der Reform. Zur Konstruktion von Personen in Bildungsorganisationen im Umbruch, in: Schweizerische Zeitschrift fĂŒr Soziologie, 2013.