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Proseminar „Copernicanische Wende“ Atomismus und Fernwirkung Johannes Hielscher, 25. Januar 2012, 2559 1 Was heißt „copernicanisch“? 2 Atomismen 2.1 Vorsokratisches Griechenland Alt-Ionischer Kosmos-Begriff Der Aufbruch vom Mythos zum Logos im 7./6. Jh. in Kleinasien (Thales et al) gilt als gemeinsamer Beginn der abendländi- schen Tradition von Philosophie und Wissenschaft. Die Natuphilosophen begin- nen, sich über die Gründe für Existenz und Vorgänge in der Natur Gedanken zu machen, statt sie auf Götter zu schieben. Sie nutzen den Begrif Kosmos κ´ οσmος nicht mehr nur für „Ordnung und Schön- heit einzelner Dinge, sondern auf die Welt im Ganzen“. Als Antriebs- und Grundstoff für alle Vorgänge, insbesondere Leben, vermuten sie eine – durchaus stofflich-reale – Sonderrolle eines „Elements“: Thales (Wasser), Anaximenes (Luft); Anaximander abstrahiert mit dem „Apeiron“ das Weltmedium auf Spannungsverhältnisse (warm-kalt, trocken-feucht). Heraklit postuliert das Logos als Grund für Existenz und Ordnung, und nur als Metapher dafür das Feuer. Stets bleibt die philosophische Motivation dominierend, einen Grund für die Be- lebtheit und Ordnung der Welt zu begründen. In der Sichtweise auf die Natur als realer Gegenstand konkreter Betrachtungen nehmen sie aber viele Gesichtspunk- te der Naturwissenschaft voraus. Parmenides löst das Logos aus seiner Rolle als Gerüst des Kosmos und belegt es mit der Bedeutung des „Logischen“, der Vernunft. Er erklärt totale Abwesenheit als unvorstellbar, unvernünftig und nicht existent. Mit seinen Warnungen vor der Täuschbarkeit der Sinne trennt er das Logos von der unmittelbar erfahrbaren Realität, und bindet – als Wegbereiter des Idealismus – philosophische Leistungen an die Abstraktion von der Realität, und damit weg von der Naturphilosophie und -„wissenschaft“ Empedokles und die Vier „klassischen“ Elemente ein Pythagoräer, führt die Vier Elemente als „Wurzeln“ (mystischen Ursprungs und unveränderlich)ein. Stoffe unterscheiden sich durch die Verhältnisse, zu denen sie aus diesen Elemen- ten bestehen, und wandeln sich durch Austausch von Korpuskeln (also Element- Quanten im weitesten Sinne) ineinander um. Der Wandel des Seins wird also mit Austauschprozessen begründet. 1

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Proseminar „Copernicanische Wende“

Atomismus und FernwirkungJohannes Hielscher, 25. Januar 2012, 2559

1 Was heißt „copernicanisch“?

2 Atomismen

2.1 Vorsokratisches GriechenlandAlt-Ionischer Kosmos-Begriff Der Aufbruch vom Mythos zum Logos im7./6. Jh. in Kleinasien (Thales et al) gilt als gemeinsamer Beginn der abendländi-schen Tradition von Philosophie und Wissenschaft. Die Natuphilosophen begin-nen, sich über die Gründe für Existenz und Vorgänge in der Natur Gedanken zumachen, statt sie auf Götter zu schieben.

Sie nutzen den Begrif Kosmos κοσμος nicht mehr nur für „Ordnung und Schön-heit einzelner Dinge, sondern auf die Welt im Ganzen“.

Als Antriebs- und Grundstoff für alle Vorgänge, insbesondere Leben, vermutensie eine – durchaus stofflich-reale – Sonderrolle eines „Elements“: Thales (Wasser),Anaximenes (Luft);Anaximander abstrahiert mit dem „Apeiron“ das Weltmedium aufSpannungsverhältnisse (warm-kalt, trocken-feucht).

Heraklit postuliert das Logos als Grund für Existenz und Ordnung, und nur alsMetapher dafür das Feuer.

Stets bleibt die philosophische Motivation dominierend, einen Grund für die Be-lebtheit und Ordnung der Welt zu begründen. In der Sichtweise auf die Natur alsrealer Gegenstand konkreter Betrachtungen nehmen sie aber viele Gesichtspunk-te der Naturwissenschaft voraus.

Parmenides löst das Logos aus seiner Rolle als Gerüst des Kosmos und belegt esmit der Bedeutung des „Logischen“, der Vernunft. Er erklärt totale Abwesenheitals unvorstellbar, unvernünftig und nicht existent.

Mit seinen Warnungen vor der Täuschbarkeit der Sinne trennt er das Logos vonder unmittelbar erfahrbaren Realität, und bindet – als Wegbereiter des Idealismus– philosophische Leistungen an die Abstraktion von der Realität, und damit wegvon der Naturphilosophie und -„wissenschaft“

Empedokles und die Vier „klassischen“ Elemente ein Pythagoräer, führtdie Vier Elemente als „Wurzeln“ (mystischen Ursprungs und unveränderlich)ein.Stoffe unterscheiden sich durch die Verhältnisse, zu denen sie aus diesen Elemen-ten bestehen, und wandeln sich durch Austausch von Korpuskeln (also Element-Quanten im weitesten Sinne) ineinander um. Der Wandel des Seins wird also mitAustauschprozessen begründet.

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Bewegungen und Umwandlungen werden durch den mystischen Gehalt (Lie-be, Hass) der Korpuskeln, nicht durch Wechselwirkungen zwischen den Teilchenvermittelt.

Die Zahl Vier entstammt der Zahlenmystik der Pythagoräer, die ihre Harmonie-gesetze überall in der Natur suchten.

Anaxágoras führt die Elementlehre konsequent fort, indem er zum Einen dieExistenz beliebig vieler verschiedener Elemente (kleine Bausteine von verschie-denster Natur) vorschlägt, andererseits die Stofflichkeit des Seienden von ihremGeist νους trennt, und damit auch von der Notwendigkeit von mystischen Kom-ponenten zur Erklärung der Existenz und des Verhaltens der Elemente.

Er erschließt den Standort Athen für die griechische Philosophie, und als Dankwird er verbannt, nachdem er (nur konsequent) der Sonne das Göttliche nimmtund sie als „glühenden Klumpen“ bezeichnet.

Atomistischer Materialismus Fest mit den Namen der Parmenides-Schüler Leu-kipp und Demokrit verbunden, ist dieser eine Synthese aus

• Parmenides’ Theorie der Rückführbarkeit des Beobachtbaren auf ein höheresPrinzip,

• mit der Idee des Anaxagoras, die Welt aus kleinsten Teilchen aufzubauen.

Diese mechanistische Weltsicht erklärt alle Vorgänge durch Wechselwirkungenreal existierender, nicht weiter teilbarer Korpuskeln (῾ατομος).

Eigenschaften und Vorgänge sind aber nicht in der Natur der Atome selbst ko-diert, sondern in deren Anordnung und Bewegung. Sie unterscheiden sich nurquantitativ in Größe, Menge und Packung.

Nur auf Grund ihrer geringen Größe können Atome nicht wahrgenommen wer-den. Mit diesem Skalenproblem entziehen Leukipp und Demokrit ihre Theorie der– in Griechenland sowieso unüblichen – experimentellen Überprüfbarkeit. Sie er-hält rein spekulativen Charakter, ein beliebter Angriffspunkt der „Gesunder Men-schenverstand“ und „Beobachtbarkeit“-Argumentierer.

Dazu ist die Forderung nach der Existenz der Atome in absolut leerem, aberexistierendem Raum ein krasser Bruch mit den Ideen ihres Lehrers Parmenides.Dieser erklärt die Leere als absurd, jene benötigen die reale Existenz leeren Vo-lumens als Raum, in dem sich die Atome bewegen können.

Auf die Kritik, nicht robust gegenüber Sinnestäuschungen zu sein, und dassim mechanistischen Atomismus kein Platz für den λογος bleibt, erwidernsie pragmatisch-materialistisch mit einer (Vor)form des modernen Kausalitäts-Gedankens: Selbst wenn alles Wahrnehmbare Schein sein sollte, muss es eine Er-klärung geben, warum es genau so und nicht anders erscheint.

Trotzdem hat den Demokritschen Atomismus bis ins 19. Jahrhundert der Vor-wurf der Seelenlosigkeit und des Atheismus verfolgt.

Letztlich ist der Atomismus ein Kuriosum der griechischen Geistesgeschichtegeblieben. Zweitausend Jahre im Schatten von Aristoteles hat sie sich weder vonPhilosophen noch Naturwissenschaftlern wesentlich weiterverfolgen lassen, undwar an der Entwicklung des modernen Atombegriffs bestenfalls ideell beteiligt.

Nachhaltiger ist der Erfolg von Demokrits terminologischer Präzision. Er ringtWörtern wie κίνεσις (Bewegung, Ortswechsel, aber auch qualitative Veränderung)eine Bedeutung für weiteres „wissenschaftliches“ Argumentieren ab.

2.2 Aristoteles: Positionen und MissverständnisseZu den gewichtigen Gegnern des Atomismus demokritscher Prägung zählt Aristo-teles. Er lehnt einerseits die Diskretisierung des Raums in Bereiche endlicher Grö-ße ab, da vom „intuitiven“ Natuverständnis alle Stoffe wie Kontinua wirken. DiePunktteilchen des Anaxágoras seien aber aus Argumentationen mit Unendlichkeit(kein endliches Volumen aus volumenlosen Korpuskeln!) ebenfalls problematisch.

Die Zusammengesetztheit aller Stoffe aus den vier „klassischen“ Elementen er-kennt er jedoch voll an, setzt diese aber wiederum an die Pole des Gegensatzpaar-Paars heiß-kalt–feucht-trocken. Die Elemente tragen ausgeprägt kontinuierlichenCharakter.

Veränderungen geschehen als Verwirklichungen von Möglichkeiten, also in ei-ne gezielte Richtung. Im Gegensatz zum rein mechanistischen Atomismus ist dieseine teleologische Sicht, die jedoch ohne „kosmische Mächte“ auskommt.

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Er betreibt terminologische Grundlagenforschung. So unterscheidet er als ers-ter zwischen Gemengen von Stoffen und μιξις, einer Durchmischung der Elemen-te (im heutigen Sinne „chemische Verbindung“), um so die Vielfalt der Stoffe beider geringen Anzahl an Elementen zu erklären.

Mit seinen häufig als naiv-oberflächlich empfundenen Naturerklärungen hatAristoteles, dessen philosophisches Werk sich mit großem Gewicht in die Geistes-geschichte des Abendlandes geprägt hat, die weitere Entwicklung der Naturphilo-sophie ausgebremst.

Dass im Allgemeinen die Rolle des Aristoteles für die Entwicklung der Natu-wissenschaft als eine schädliche angesehen wird, liegt weniger an ihm, als ander unausgewogenen Rezeption im Umfeld zweier Jahrtausende, die kaum dieRahmenbedingungen für die Entwicklung einer ergebnisoffenen, „wissenschaft-lichen“ Wissenschaft liefern konnten.

2.3 Technik, Spätantike, AlchemieIn den handwerklich-pragmatischen Fertigkeiten, z. B. in der Werkstofftechnik,waren bereits die alten Ägypter sehr fortgeschritten. Es kam aber bis in die Neuzeitnie zu einer Synthese mit den „theoretischen“ Ansätzen der Philosophen.

Mit und nach dem Hellenismus (Stoa, Neuplatoniker, Wiederaufkommen vonMystik und „Aberglauben“, beginnende tendenziöse Auslegung der klassischenTexte) geraten die Ansätze zu Naturwissenschaften aus dem Blick.

Die Alchemie, die sich ab dem 4. Jahrhundert entwickelt, mischt Gedankenvon Empedokles,Aristoteles (und Interpretatoren) und der spätantiken Philosophieund Mystik zu einem „esoterischen“ Bild von Substanzen und deren Umwandlun-gen.

Insofern ist sie aber als Vorläufer wirklicher Naturwissenschaft einzuordnen,da sie, anders als die Naturphilosophen, erstmals ihr Forschen und Handeln aufdie Idee stützen, dass die Beschaffenheit von Stoffen von ihrer Zusammensetzungherrührt.

Im Laufe des Mittelalters driftet die Alchemie zusehends in eine kryptische Ge-heimlehre ab. Erst mit Paracelsus, einem Zeitgenossen desCopernicus, beginnt eineVersachlichung der Stofflehre. Er führt Vorgänge des Lebens auf chemische Pro-zesse zurück und begründet damit die Pharmazie.

Im Wesentlichen stagnierte die Natuphilosophie im Jahrtausend zwischenSpätantike und Renaissance, während die Technologie, Fertigkeiten und Erfah-rungen sich kontinuierlich(er) entwickelten.

3 Naturforschung in der Neuzeit

3.1 EmpirieIm Spätmittelalter und der Renaissance setzt zaghaft eine systematische Naturbe-obachtung ein, und ergänzt die deduktiv-theoretischen Erkenntnisse der Scholas-tik.

Dass die (Himmels-)Mechanik den Befreiungsschlag der physikalischen Diszi-plinen in der frühen Neuzeit anführen kann, ist auch mit darauf zurückzuführen,dass deren Skalen für die qualitative Akzeptanz mechanistischer Deutungen un-problematisch sind – der Eindruck der himmlischen Kreise als Musterbeispiel vonGleichläufigkeit hat sich (fälschlicherweise!) fest in das Vokabular antiker und mit-telalterlicher Physik gegraben.

Francis Bacon: Die induktive Methode Ein wichtiger Impuls für die Entwick-lung aller natuwissenschaftlicher Disziplinen gibt F. Bacon: Er fordert das Experi-ment als „absichtliche Erfahrung“, um die systematischen Naturgesetze auf Basisvon Beobachtungen zu erforschen.

Die unzugänglichen Maßstäbe der Struktur von Materie verhindern jedoch ex-perimentelle Fortschritte und grundlegende Durchbrüche – in den Zeiten, in de-nen die Mechanik, Optik, andere physikalische Disziplinen, und auch die Philoso-phie der Wissenschaften zu erstaunlicher Reife kommen (Descartes, Newton, Huy-gens etc.).

3.2 Kontroverse des 19. JahrhundertsIndizien für die Existenz von Atomen Im ausgehenden 18. Jhd. revolutioniertbzw. begründet Lavoisier die „Chemie“, indem er mit der exakten, beobachtendenund quantitativen Untersuchung aus ihr eine Wissenschaft (im heutigen Sinne)macht. Er etabliert das moderne Verständnis von Elementen und Verbindungen,und ermöglicht eine Systematik, mit der die Chemie innerhalb eines Jahrhundertszu den weit entwickelten physikalischen Disziplinen „aufschließen“ kann.Faraday, Ampère und Avogadro finden Hinweise auf eine reale, konstante Unter-

teilung der Materie: Stoffmengen und Atommassen bei Gasen, Elektrizität und an-deren Experimenten stimmen übereinstimmen. Dalton formuliert seine Atomhy-pothese, nicht mehr spekulativ, sondern basierend auf den Gesetz der multiplenProportionen bei chemischen Reaktionen.

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Maxwell und Boltzmann entwickeln die kinetische Gastheorie: Aus der mikro-skopischen Mechanik von Gas-Atomen lassen sich die Gesetze, mit denen sichGase beschreiben lassen, direkt ableiten.

Ab dem späten 19. Jahrhundert bedient sich gerade die organische Chemie un-bedarft einer Atomtheorie, die zentral um Geometrie der Anordnung und Symme-trie aufgebaut ist. Ein atomistischer Aufbau der Festkörper wird plausibel.

Denken in Kontinua Insbesondere auf Grund der Erfolge der Wellenlehre,scheint ein Kontinuums-Ansatz dennoch der Mehrzahl der Wissenschaftler einvernünftiger (bzw. hinreichend konservativer) Ansatz zu sein, Stofflichkeit zu be-schreiben.

Spätestens die Elektromagnetischen Wellen (Maxwell, Hertz) lassen den Streitum die Natur des Lichts zu Ungunsten der Atomtheorie entschieden aussehen.Hier wirft sich jedoch die Frage des Fortpflanzungsmediums auf – die Äther-Hypothesen erblühen.

Dem Unwohlsein in Bezug auf die pro-atomistischen Indizien entgegnen sie,dass die „Atome“ lediglich als Modell zu verstehen seien, die ein leichteres Ver-ständnis ermöglichen, aber nicht real seien (vgl. Epizykel).

3.3 Im Detail: Ideengeschichte des KristallsSchon seit jeher müssen den Menschen die Regelmäßigkeit und Symmetrie derStruktur von Kristallen (Eis/Schneeflocken, Edelsteine, Mineralien) aufgefallensein.

Den Bergkristall (κρυσταλλος = Eis) sehen die Griechen als permanent gefrore-nes Wasser an. In der wenig systematischen antiken Stofflehre werden als „Kristal-le“ aber wahllos auch z. B. Glas gezählt.

Es erscheint erstaunlich, dass gerade der Existenz kristalliner Materie, wo Auf-bau und Form so nahe wie sonst nirgends beieinander liegen, in früher Zeit sowenig Beachtung bei geschenkt wurde.

Ansätze, Theorien, Hypothesen Als Nebenprodukt der Fragestellung, wieKanonenkugeln am sinnvollsten zu schlichten sind, erkennt Kepler sechszäh-lige Symmetrien in der „dichtesten“ Packung. Daraufhin entwickelt er dieTheorie, dass Schneeflocken aus kleinen Kugeln regelmäßig zusammenge-setzt sind. Dies ist kein „Atomismus“ im demokritschen oder alchemischen

Sinne, sondern benötigt nur eine stapelbare „Überstruktur“ des Wassers.Es nimmt jedoch das (sich als korrekt herausstellende)Verständnis vom Kristallaufbau um 200 Jahre vorweg.

Der Lichtwellen-Verfechter Huygens baut im glei-chen Bild Kristalle aus verformten Kugeln auf, um Er-klärungen für die Form von Bruchflächen und die Dop-pelbrechung zu suchen.

René-Just Haüy begründet Ende des 18. Jahrhundersdie moderne Kristallographie, indem er Kristalle ausregelmäßigen Polyedern zusammensetzt. Damit kann er geometrisch erklären,warum alle Kristallflächen in festem Winkel zueinander stehen.

Durchbruch An der Schwelle zum 20. Jahrhundert Experimentiertechnik, klas-sische Physik und Chemie bereits weit entwickelt, die Frage nach der eigentlichenNatur der Stoffe aber weiterhin offen, auch wenn immer mehr Befunde für Atomesprechen.

Aus dem Primat der Struktur, das die Praxis der organischen Chemie mit derHaüyschen Kristallographie verbindet, entstehen konkrete Modelle der Atoman-ordnung im Kristall.

Dann äußert Max von Laue 1913 die Überlegung, die Wellennatur der Röntgen-strahlen an Hand der Bestrahlung von Kristallen nachzuweisen – und beweist da-mit den periodischen Aufbau der Kristalle aus kleinsten Teilchen. Mit der Rönt-genbeugung steht erstmals ein Verfahren zur Verfügung, das in seiner Auflösungin atomare Skalen vorstoßen kann.

In großem Tempo werden auch die kompliziertesten Strukturen experimentellnachweisbar (DNA, 1953). Kristalle haben nicht nur als Objekt der Forschung,sondern auch als Hilfsmittel eine enorme Bedeutung erlangt. Der Welle-Teilchen-Dualismus von Licht, aber auch Atomen selbst, ist mit Kristallen beobachtbar ge-worden.

Beugung von Elektronen an einem Kristall (LEED).Mit dieser Technik wurde die Wellennatur des

Elektrons nachgewiesen.

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4 Fernwirkung

4.1 Notwendigkeiten und MotivationBereits Ptolemaios liefert eine mögliche „mechanis-tische“ Erklärung für die Bewegung der Planetenauf Epizykel und Deferent: Die Radien sind nichtals Stangen zu verstehen, sondern die Bahnen alsKreise bzw. Kugeln einer transparenten, festen Ma-terie, die aufeinander abrollen.

Für das copernicanische System ist dieser An-satz genauso möglich und kann eine (ebenfallssehr komplizierte) mechanische Theorie der Planetenbewegung liefern.

Mit Keplers Entdeckung bzw. Forderung von Ellipsenbahnen (1. Keplersches Ge-setz) und seiner endgültigen Verabschiedung von der Idealisierung der supraluna-ren „Sphären“ fällt nun dieser Ansatz zur Naturerklärung weg. An seine Stelle mussein Effekt treten, welche die Planeten auf den Bahnen hält. Es entstehen zwei kon-kurrierende Ansätze:

Mechanistische Deutung Der Raum ist von Substanz/Teilchen o. ä. erfüllt, dieüber die Gesetze der Mechanik die Kenntnis von der Existenz (Gravitation:Schwere/Masse) anderer Körper übertragen

Fernwirkung Aus den Eigenschaften eines Objekts (Masse, Ladung, Magnetisie-rung. . . ) erwächst eine „Macht“, die Bewegung dafür anfälliger anderer Ob-jekte zu beeinflussen, auch über die Distanzen „direkter“ mechanischerWechselwirkung hinaus.1

4.2 Descartes und die WirbelEine erste, halbwegs konsistente Theorie, wie die gebundene Planetenbewegungzustande kommen könnte, entwickelt René Descartes im Zuge seines mechanisti-schen (jedoch ausdrücklich anti-atomistischen!) Weltbildes.

Dabei ist der gesamte Raum mit Materie in verschiedener Dichte (Verklum-pung) aufgefüllt. Die rotierenden Himmelskörper (Sterne, Sonne) versetzen ihreUmgebung in begrenztem Wirkungsbereich ebenfalls in Rotation. Durch die Flieh-kräfte werden die „schwereren“ Substanzen weggedrückt und sammeln sich in der

Mitte zwischen den Sternen. Kleine Himmelskörper (Planeten) werden durch ih-ren Auftrieb zu den Zentren der Rotation hingezogen.

Die Vermittlung der Gravitation erfolgt nach den Gesetzen der Hydrodynamik,in einer mechanistischen Formulierung, die Descartes aus seinen (falschen) Er-kenntnissen über Stoßgesetze induziert.

Analog kann das Verbleiben der Monde in ihren Umlaufbahnen durch kleineUnterwirbel um die Planeten erklärt werden. Eine quantitative Aussage, insbeson-dere warum das 3. Keplersche Gesetz so gut eingehalten wird, liefert die Theorienicht.

4.3 Newton: KraftIn Newtons epochaler Systematisierung der Naturwissenschaft (Mathematik, Dya-mik, Masse) spielt der Begriff Kraft als Ursache der Veränderung eines Bewegungs-zustandes eine zentrale Rolle.

Die Kreisbewegung verliert ihre Sonderstellung, da er die Notwendigkeit einerZentripetalkraft erkennt.

Bei seiner Beschäftigung mit der Mechanik der Himmelskörper stößt er auf die1/r 2-Abhängigkeit der Schwerkraft vom Massenzentrum. Zusammen mit den Ge-

1Die „Fernwirkung“ von Magneten ist die offensichtlichste und war seit jeher Gebiet wüstester Spekulationen. Befriedigend geklärt ist sie immer noch nicht.

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setzen der Kreisbewegung erhält er daraus die Kepler-Gesetze, die nach wie voraktuelle (nicht-relativistische) Beschreibung der Umlaufbahnen.

Kräfte zwischen Himmelskörpern Damit kann bzw. muss Newton die Fragenach einer Fernwirkungskraft in einem quantitativen, wissenschaftlichen Sinneformulieren.

Folgende Fragen drängen sich zum Herantasten auf eine Erklärung der Ursacheauf:

• Wirkt die Kraft instantan? Spürt also jeder sofort, wenn sich ein anderer be-wegt? Oder besitzt die Fortpflanzung der gravitativen Wirkung eine endlicheGeschwindigkeit auf?

• Wodurch wird die Kraft vermittelt? Wird das Signal auf einer Trägersubstanzweitergeleitet (die aus Atomen oder kontinuierlich sein kann), oder han-delt es sich (ursprünglich im philosophisch-theologischen Sinne) tatsäch-lich um eine actio in distans, eine Verbindung zwischen den Körpern aufeiner nicht-materiellen Ebene?

In seiner statischen (bzw. „quasi-statischen“) Formulierung ist Newtons Gesetzinstantan. Zur Ursache kann er nur spekulieren. Er ist mit der experimentellen Un-zugänglichkeit der Gravitation2 sehr unzufrieden, beruft sich notfalls auf göttlicheKontrolle zur Einhaltung seiner Kraftgesetze.

Die Erfolge der Wellen- und Elastizitätslehre (Schall) im 17. und 18. Jhd. ermun-tern mechanische Erklärungen, neben der Tatsache, dass sie besser in die damali-ge induktive Wissenschaftskultur passen.

Eine mechanische Erklärung der Gravitation Die von Fatio und Le Sage entwi-ckelte Gravitationstheorie galt (trotz unvorstellbarer Parameter) eine Zeit lang alsvielversprechender Kandidat, konnte aber schließlich durch theoretische Überle-gungen widerlegt werden.

Es geht davon aus, dass das ganze Universum homogen von einem dünnen,durchdringenden Gas durchsetzt wird, dessen sehr leichte Teilchen sich mit enor-men Geschwindigkeiten bewegen.

Diese Teilchen wechselwirken mit Materie, indem sie daran stoßen und abge-lenkt werden. Nach den Stoßgesetzen ergibt sich ein Impulsübertrag (Kraft). Im„Schatten“ eines schweren Körpers ist die Zahl der ankommenden Teilchen aberverringert, und so gleichen sich die Kräfte nicht völlig aus. Im Endeffekt bleibt eineanziehende Kraft zwischen den beiden Körpern übrig – Gravitation?

Jedoch kann gezeigt werden, dass die Kraft entweder unmerklich klein, oder die1/r 2-Abhängigkeit nicht exakt erfüllt sind.

4.4 Äther?

(Un)endlichkeit der Lichtgeschwindigkeit Die Frage nach der Fortpflan-zungsgeschwindigkeit3 einer anderen „Fernwirkung“ – nämlich des Lichts – be-antwortet Ole Rømer mit „endlich“.

Um die Bedeckungen der Jupitermonde zuverlässig zur Bestimmung der geo-graphischen Länge nutzen zu können, entdeckt er die jährliche Periodizität in denVerzögerungen, und erklärt sie als erster richtig mit der endlichen Lichtgeschwin-digkeit c. Huygens bestimmt c dann mit Schätzwerten (und landet tatsächlich nurum etwa ein Viertel neben dem echten Wert).

Theorien des Lichts Für Aristoteles folgt Licht bzw. die Sichtbarkeit eines Ob-jekts unmittelbar aus deren Existenz; Licht-Wirkung tritt also instantan ein. Diesübernimmt Descartes und schließt das Licht aus seiner mechanistischen Physikquasi ganz aus.

2die nach wie vor besteht3Experimentell ist sie bei der Gravitation immer noch nicht beantwortet.41919/20 beweist eben dieser Effekt Einsteins Allgemeine Relativitätstheorie

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Newton ist davon überzeugt, dass leuchtende Körper einen Strom an Lichtteil-chen freisetzen, und überlegt sich bereits, dass diese von Gravitation abgelenktwerden müssten.4

Bei der gewaltigen Geschwindigkeit des Lichts, spätestens mit der Beugungund Interferenz, scheint die Frage jedoch zu Gunsten der Welle ausgefallen. Dochworin schwingt das Licht, wenn keine Materie vorhanden ist?

Hier wird der Äther als ein dünnes, elastisches Medium eingeführt, das den Kos-mos durchzieht, und als Schwingungsmedium für das Licht dient, ähnlich wie Luftbzw. Materie dem Schall zur Ausbreitung dient.

4.5 Was ist „Nahwirkung“?Die Nahwirkung bezeichnet die Veränderung des Bewegungszustand eines Kör-pers bei unmittelbarem Kontakt mit einem anderen (Stoß).

Besonders in der Anfangszeit der neuzeitlichen Naturwissenschaft spielenStoßgesetze eine fundamentale Rolle beim Entwickeln des Physik-Begriffes. Nichtnur Descartes und Newton bauen ihre Theorien auf Erkenntnissen auf, die aus den(vermeintlich) einfach und genau zu beobachtenden Gesetzen der Stöße harterKugeln erwachsen. Atomistische Theorien nutzen Stöße zur Übertragung von Be-wegung und erklären so z. B. Schall.

Auf Grund der anfangs erwähnten Skalenprobleme auf der Mikroskala bleibtdie Beschreibung der Ursache der Nahwirkung aber ebenso diffus wie Atomismus,Gravitation und Lichtäther. Da die Unmitelbarkeit der Übertragung aber Erfah-rung und einleuchtend ist, scheint hier kein wesentlicher Forschungsbedarf.

Hier beschreitet der Jesuit Boškovic einen radikalen und sehr modern anmu-tenden Weg, indem er jede Nahwirkung auf (kurzreichweitige) Fernwirkung zu-rückführt. Alle Kräfte seien auf eine einzige Wechselwirkung zwischen atomarti-gen Kraftzentren zurückzuführen.

Zwar ist auch diese Theorie spekulativ, zum Einen aber stellt sie eine sau-ber formulierte Naturerklärung dar (sie hätte für einen Fahrplan zur weiterenForschung getaugt, wäre sie nicht in Vergessenheit geraten), andererseits zeigt

sie überraschende Ähnlichkeit mit dem heutigen Kenntnisstand von den Kräfte-Verhältnissen in der Materie (obwohl Boškovic von Quantenmechanik noch nichtswissen konnte!):

Links: Boškovic illustriert die Abhängigkeit der Kraft vom Abstand zu Ato-men/Kraftzentren. Rechts: Tatsächliches Potential an einer Festkörperoberfläche.

4.6 Elektrische Kraft und Faradays FeldbegriffBei der Aufgabe, aus Experimenten mit Elektrizität Gesetze zu formulieren, erweistsich die Newtonsche Kraft-Formulierung als sehr nützlich. Die Verwandtschaft zudessen Gravitationsgesetz wird schnell offenkundig: Ladungen statt Massen, glei-che Abstandsabhängigkeit.

Hierbei gelingt Faraday mit seinem (damals) unkonventionellen Bild, Kräfte alsFelder darzustellen, eine Weichenstellung in Verständnis und Beschreibung desZusammenhangs zwischen Kraft und Raum.

Während bei Newton, Coulomb etc. die Kraft eine Eigenschaft der Wechselbezie-hung zwischen zwei Objekten darstellt, formuliert Faraday die Kräfte „einzeln“ fürjeden Körper: Die Kraft wird zu einer kontinuierlichen Eigenschaft des des Raum-es, einem Feld.

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An dieses Bild schließt sich zum Einen die Potential-Formulierung und damitdie zentrale Rolle der Energie an, zum Anderen vollendet Maxwell mit seinen Glei-chungen damit die Elektrodynamik – und macht die Existenz eines Licht-Äthersüberflüssig.

Dieser Feldbegriff hat sich tief verankert, sodass wir uns heute einen „leeren“Raum unwillkürlich nicht als leer, sondern mit Feldern5 durchsetzt vorstellen.

Die Frage nach der Fernwirkung reduziert sich somit auf die Frage nach derÜbertragungsgeschwindigkeit von Informationen durch ein Kraftfeld (von demuns Einstein sagt, dass sie höchstens mit Lichtgeschwindigkeit stattfinden darf).

5 Und heute?Die Welt des Kleinen und Kleinsten Mit der Handhabung immer größererEnergien (Radioaktivität, Kosmische Strahlung, Kernreaktoren, Teilchenbeschleu-niger) ist der Zugang zu immer engeren Skalen in den letzten hundert Jahren im-mer besser geworden, und hat uns ein (ziemlich) umfassendes Bild vom Aufbauder Materie vermittelt: Das Standardmodell der Elementarteilchen.

Prinzipiell erlaubt die Quantenmechanik, alle Vorgänge im Mikrokosmos zu be-rechnen, nur scheitern wir an der endlichen Rechenkapazität (Dirac).

Gravitation Mit Einsteins Allgemeiner Relativitätstheorie ist Newtons Theorienicht „widerlegt“ worden, sondern stellt sich als (besonders einfacher) Spezialfallheraus. Die ART ist heute der weitgehend unbestrittene Weg, die „Schwerkräfte“zu erklären. Heute kämpfen die Astronomen weniger mit der Theorie der Gravita-tion, als mit der Erklärung, wo die Massen sind (Dunkle Materie, Dunkle Energie).

Eine Verbindung zwischen den beiden „großen“ Theorien ART und Standard-modell (Quantenmechanik, Verhalten der Elementarteilchen auf kleinen Skalen)steht nach wie vor aus.

Literatur[1] Shmuel Sambursky. Der Weg der Physik. dtv, 1978.

[2] Károly Simonyi. Kulturgeschichte der Physik. Harri Deutsch, 1990.

[3] Elisabeth Ströker. Denkwege der Chemie. Verlag Karl Alber, 1967.

[4] Tomaso Aste, Denis Weaire. The Pursuit of Perfect Packing. Taylor & Francis,2008.

Inhaltsverzeichnis1 Was heißt „copernicanisch“? 1

2 Atomismen 12.1 Vorsokratisches Griechenland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.2 Aristoteles: Positionen und Missverständnisse . . . . . . . . . . . . . . 22.3 Technik, Spätantike, Alchemie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3

3 Naturforschung in der Neuzeit 33.1 Empirie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33.2 Kontroverse des 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33.3 Im Detail: Ideengeschichte des Kristalls . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4

4 Fernwirkung 54.1 Notwendigkeiten und Motivation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54.2 Descartes und die Wirbel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54.3 Newton: Kraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54.4 Äther? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64.5 Was ist „Nahwirkung“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74.6 Elektrische Kraft und Faradays Feldbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . 7

5 Und heute? 8

25. Januar 2012, r2559

5Elektrisches, Magnet-, Schwerefeld, letztlich auch die quantenmechanischen Wellenfelderψ(~r ) aller Teilchen.

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