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Holger Kuße Tolstoj und die Sprache der Weisheit Vandenhoeck & Ruprecht

Kuße, Tolstoj und die Sprache der Weisheit, Leseprobe, ISBN 978-3-525-56004-4

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LESEPROBE In seinen letzten Lebensjahren verfasste Lev Tolstoj eine Reihe von Aphorismen- und Gedankensammlungen, in denen sich sein religiös-moralisches Denken zur Sprache der Weisheit entwickelte. Ihr Höhepunkt ist die im Todesjahr des Dichters, 1910, entstandene Sammlung »Der Weg des Lebens«. Die Sprache der Weisheit bildet eine eigenständige Welt im Werk Tolstojs, ist aber aus der mystischen Spiritualität und den expressionistischen Gegensätzen hervorgegangen, in denen sich sein Denken in umfangreichen moralischen, kirchen- und institutionenkritischen Traktaten seit den siebziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts entwickelt hatte. Zu den Gegensätzen gehören Wahrheit und Täuschung, Gott und Mensch, Geist und Fleisch, Mann und Frau, Tod und Leben. Als Moralist prangerte Tolstoj in langen Traktaten die Übel der Welt und der menschlichen Gesellschaft an. Als Mystiker sprach er vom Licht Gottes, das in jedem Menschen leuchten will. Beides zusammen macht ihn zu einem aktuellen provokanten Denker auch für unsere Gegenwart. Und beides trifft in der Sprache der Weisheit zusammen, in der sich die geschlossene Form des Traktats auflöst in die offene Sammlung einzelner Gedanken. Ihre Lektüre ist eine Meditationspraxis und Suche nach der richtigen Lebensregel für jeden Lebensmoment. Holger Kuße stellt im ersten Teil in vier Kapiteln Tolstojs Denken in Gegensätzen, die Sprache seiner rigoristischen Moral und die Sprache seiner weisheitlichen Sammlungen vor. Die Darstellung ist nicht nur den Inhalten des Tolstojschen Denkens, sondern vor allem auch ihren Ausdrucksformen gewidmet. Der zweite Teil enthält eine Auswahl von Gedanken aus Tolstojs »Der Weg des Lebens« von 1910.

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Vandenhoeck & Ruprecht

Holger Kuße

Tolstoj und die Sprache der Weisheit

Vandenhoeck & RuprechtV

www.v-r.de

Die Sprache der Weisheit, zu der Lev Tolstoj in seinen letzen Lebensjahren fand, bildet eine eigen-ständige Welt im Werk des russischen Dichters. Ihr Höhepunkt ist die Sammlung »Der Weg des Lebens« aus dem Todesjahr 1910.Tolstoj war Moralist, der in Gegensätzen dachte wie Wahrheit und Täuschung, Gott und Mensch, Geist und Fleisch, Mann und Frau, Tod und Leben. Er war aber auch Mystiker, der vom Licht Gottes sprach, das in jedem Menschen leuchten will. Das macht ihn zu einem aktuellen, provokanten Denker auch für unsere Gegenwart.Holger Kuße stellt Tolstojs Denken in Gegensätzen, die Sprache seiner rigoristischen Moral und die Sprache seiner Weisheit vor sowie eine Auswahl aus »Der Weg des Lebens«.

Der AutorDr. phil Holger Kuße ist Professor für Slavische Sprachgeschichte und Sprachwissenschaft an der Universität Dresden.

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Lev Tolstoj und die Spracheder Weisheit

Vandenhoeck & Ruprecht

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für Hanna, Mirjam und Malin

Mit 5 Abbildungen

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in derDeutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind

im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN der gedruckten Ausgabe: 978-3-525-56004-4ISBN der elektronischen Ausgabe: 978-3-647-56004-5

Umschlagabbildung:Leo Tolstoi waehrend einer Rast im Wald. –Gemaelde, 1891, von Ilja Repin (1844–1930)

Ð Foto: akg-images

Ð 2010 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen /Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Oakville, CT, U.S.A.

www.v-r.deAlle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlichgeschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenenFällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohnevorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglichgemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für

Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany.Druck und Bindung: c Hubert & Co, GöttingenGedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

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Vorwort

Dieses Buch ist zufällig entstanden. Tolstoj habe ich nie beson-ders gemocht. Und das gilt nicht nur für den Moralisten, denPrediger des einfachen Lebens, den kämpferischen Vegetarieroder den kinderreichen Propagandisten absoluter Keuschheit,als der er in der zweiten Hälfte seines Lebens auftrat, sondernauch für den genialen Schriftsteller, als der er gerühmt wird.„Krieg und Frieden“ habe ich noch gerne gelesen, durch die„Auferstehung“ mich mit Interesse durchgequält, bei „AnnaKarenina“ streckte ich die Waffen. Doch für eine Untersuchungzur normativen Funktion von Modalwörtern (sollen, müssenusw.) entdeckte ich Tolstojs Sammlung „Der Weg des Lebens“von 1910 als wahre Fundgrube an Beispielen. Und es folgte inVorbereitung auf seinen hundertsten Todestag die Einladung,mich an einem Sammelband zu „Lev Tolstoj als theologischerDenker und Kirchenkritiker“ zu beteiligen. Für ein weiteresProjekt zum Thema „Weisheit in Europa und Asien“ schaute ichmir „Der Weg des Lebens“ noch einmal intensiv an. Und je mehrich Tolstoj las, desto interessanter wurde er. Die „Beichte“, „Überdas Leben“, „Das Reich Gottes ist in euch“ oder auch „Was istKunst?“ – all diese berüchtigtmoralschweren Schriften begannenzu wirken und wurden zur spannenden Lektüre. Vor allem aberließ sich in den letzten Werken, den Weisheitssammlungen „Le-sezyklus“, „Für jeden Tag“ und „Der Weg des Lebens“, noch einanderer Ton vernehmen als der des Moralpredigers. Neben demErzähler und dem Prediger begegnet in ihnen ein dritter Tolstoj,der Tolstoj der Weisheit. Wenn die Moral nach der Wende dersiebziger Jahre, nach „Anna Karenina“, die Erzählung verdrängthat (was chronologisch bekanntlich nicht ganz aufgeht), so wur-den die letzten Lebensjahre Tolstojs zu einer weiteren Schaf-fensperiode, in der die Weisheit die Moral abzulösen begann.Und dieser ,ganz späte‘ Tolstoj ist heute vielleicht der interes-santeste.

Was in den verschiedenen Zusammenhängen entstanden ist,habe ich hier neu zusammengefügt, an manchen Stellen gekürzt,

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an anderen ergänzt und erweitert. Im Fokus steht die WeisheitTolstojs. Das Buch handelt aber nicht nur von ihr, sondern be-schreibt auch denWeg, der zu ihr führt. Es geht zunächst um denMoralisten Tolstoj, der in langen Traktaten dieÜbel derWelt undder menschlichen Gesellschaft anprangert, und es geht um denMystiker, der vom Licht Gottes spricht, das in jedem Menschenleuchten will. Es geht auch um die expressionistischen Gegen-sätze, in denen sich sein Denken vollzieht: Wahrheit und Täu-schung, Gott undMensch, Geist und Fleisch,Mann und Frau, Todund Leben.

Tolstoj ist ein radikaler Denker. Kaum etwas Irdisches ist er-laubt auf dem Weg zum Reich Gottes. Schuhe machen ist besserals Bücher schreiben (gleichwertig wäre okay gewesen), Sex sollman bleiben lassen, Kinder würden besser nicht geboren, undwer nicht arm ist, kann nicht gut sein … Die Apodiktik seiner(nicht selten widersprüchlichen) Forderungen, die ihn am Endein den eigenen Tod trieb, wirkt abstoßend. Darüber ist viel ge-schrieben, dafür ist Tolstoj viel kritisiert worden. Der russischePhilosoph Vladimir S. Solov’ev rückte ihn aufgrund der radika-len Moral, die Tolstoj nicht mehr zur Diskussion stellte, sogar indie Nähe des Antichristen. Als reaktionär muss heute seineVorstellung vonderRolle derGeschlechter gelten. So fällt es leichtund ist bequem, sich der Tolstojkritik anzuschließen und denTolstoj jenseits der Erzählungen schnell ad acta zu legen, wennnicht gar ins Altpapier zu geben (wäre ja immerhin ein gutesWerk…). Aber seine Aufzeichnungen aus der Schule von JasnajaPoljana, die er für Bauernkinder einrichtete, haben die Reform-pädagogik inspiriert, und sein Engagement für verfolgte religiöseMinderheiten ließ ihn zumAnwärter auf den Friedensnobelpreiswerden. Und dann lese ich vomPreis für luxuriöse Privatyachten:300 Millionen Euro – und sehe in den Nachrichtenwieder einmalKinder, die am anderen Ende der Welt Steine auf dem Kopfschleppen, um sich und ihre Familien am Leben zu erhalten, undfrage mich, ob Tolstojs harte Gegensätze, sein Ja und sein Nein,sein Wahr und sein Falsch nicht doch ihre Berechtigung haben.Es gibt genug, für das ein Reden in Gegensätzen die einzig ange-messene Sprache ist. Man muss nicht zum Tolstojaner werden,um zu erkennen, dass Tolstoj bedenkenswert ist.

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Dieses Buch handelt nicht nur von Tolstojs Denken in Ge-gensätzen und ihrer Überwindung in der Weisheit, es ist be-sonders auch der Sprache, d.h. den Formen gewidmet, in denenTolstoj die Gegensätze, die ihn quälten, zum Ausdruck brachteund zu überwinden suchte. So werden in insgesamt vier Kapitelnzunächst Tolstojs „Flucht aus den Gegensätzen“ und sein „Den-ken in Gegensätzen“ dargestellt, sodann die „Sprache der Moral“der religiösen Traktate und schließlich die „Sprache der Weis-heit“, zu der er am Ende seines Lebens gefunden hat.

Den Menschen Tolstoj konnte der Weg der Weisheit am Endenicht retten, aber seine Sprache der Weisheit ist auch heute le-senswert. Der zweite Teil des Buches ist deshalb ihm selbstüberlassen: mit einer kleinen Auswahl aus seiner letztenSammlung: „Der Weg des Lebens“ von 1910.

Mein Dank gilt Frau Dr. ClaudiaWoldt und FrauMarina Scharlaj,M.A. vom Institut für Slavistik der TU Dresden für ihre Unter-stützung bei der Korrektur des Manuskripts.

Dresden und Rügen im Oktober und November 2009

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Lev Nikolaevic Tolstoj 1910

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Inhalt

I. Über Tolstoj . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111. Die Flucht aus den Gegensätzen . . . . . . . . . . . . . . . . . 112. Denken in Gegensätzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163. Die Sprache der Moral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 534. Die Sprache der Weisheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95

II Von Tolstoj: Der Weg des Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115

Texte von Lev N. Tolstoj . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149

Werkausgabe 1929–1958 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149

Weitere Texte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151

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I. Über Tolstoj

1. Die Flucht aus den Gegensätzen

Lev Nikolaevic Tolstoj starb am 7. November 19101 auf der Bahn-station Astapovo. Im fremden Haus des Stationsvorstehers endeteseine bizarre Flucht aus Jasnaja Poljana, dem Landgut, auf dem eraufgewachsen war und die meiste Zeit seines Lebens verbrachthatte, die Flucht vor seiner Familie, seinemLebenalsAdliger, der ernicht sein wollte, vielleicht auch die Flucht vor der eigenen Popu-larität, die er als Prediger des einfachen, schlichten Lebens nichtgut heißen konnte und die doch im Presserummel ihr Ende undZiel fand. Bei Dunkelheit, morgens um fünf Uhr, am 28. Oktoberhatte sich Tolstoj aus seinem Haus geschlichen. Begleitet wurde ervon seinem Arzt, später schloss sich die jüngste Tochter an. Zu-nächst mit der Kutsche, dannmit der Bahnmachte er sich auf denWeg, erkrankte und starb – fast noch in der Bewegung, fast nochimWartesaal, im Umsteigen begriffen vom einen in den nächstenZug.

Der spektakuläre Tod, unterwegs, an einem unspektakulärenOrt wurde zum letzten Wort des Schriftstellers und Denkers, zumletzten seiner berühmten Werke. 17 Jahre danach zählte StefanZweig dieses Werk zu den „Sternstunden der Menschheit“ (Zweig1987 [1927]), in einer Reihe mit dem Fall Konstantinopels undScotts Ende in der Arktis, und er nannte es „Die Flucht zu Gott“.Aber zu Gott musste Tolstoj nicht fliehen, wenn er seiner eigenenGlaubenslehre nicht misstraute, und er musste auch nicht die„Flucht in die Unsterblichkeit“ antreten, wie der Titel einer we-niger bekannten Zusammenstellung von Dokumenten aus seinenletzten Tagen lautet (Pozner o. J.). DennbeiGottwar er schon –wiejeder Mensch. Und auch unsterblich war er – wie jeder Mensch.Tolstoj war ein mystischer Denker, und das heißt: Er fand Gott imMenschen, nur im Menschen. In den letzten Eintragungen des

1 Aten Stils (Julianischer Kalender); nach heutigem (Gregorianischem)Kalender: 20. November.

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„nur für sich selbst“ geschriebenen Tagebuchs, die er seinerTochter Aleksandra am 31. Oktober 1910 diktierte, steht: „Wahr-haft existiert nur Gott. Der Mensch ist Seine Erscheinung in derMaterie, in der Zeit und imRaum“ (PSS 1934/58, 1432). Und: „Gotterkennen wir nur durch das Bewusstsein Seiner Erscheinung inuns“ (PSS 1934/58, 144). Das menschliche Wesen ist eine Er-scheinung Gottes – das ist die Mitte der Tolstojschen Religion,Tolstojs Evangelium. Schon deswegen ist der Mensch, jederMensch, unsterblich, weil Gott in ihm nicht sterben kann. Er ist esaber auch,weil das Leben jedesMenschen sich fortsetzt in anderenMenschen, weil Leben fortlebt und geistig weitergegeben wird, sowie es seine fleischliche Geburt der fleischlichen Weitergabe vonLeben in der Zeugung verdankt. In „Über das Leben“ hatte Tolstojschon Ende der achtziger Jahre geschrieben: „Mein Bruder istgestern oder vor tausend Jahren gestorben, und die Kraft seinesLebens, die während seiner fleischlichen Existenz wirkte, wirkt inmir und Hunderten, Tausenden, Millionen Menschen noch stärkerweiter, auch wenn das sichtbare Zentrum dieser Kraft seiner zeit-lichen fleischlichenExistenzmeinenAugen entschwunden ist“ (PSS1936/26, 414).

Wenn die Kraft des Lebens sich in Handlungen und Wortenausdrückt, die auf Menschen wirken und in ihnen über Genera-tionen weiterwirkt, und wenn Gott in jedem Menschen lebt, dannmusste sich Tolstoj um Unsterblichkeit keine Sorgen machen undauch keine Flucht zu einem fernen Ort beginnen, um Gott zufinden. Es musste ihn anderes bewegt haben.

Tolstoj dachte in Gegensätzen: Gott und Mensch, Mann undFrau, Geist und Fleisch, das Innerliche und das Äußerliche,Wahrheit und Täuschung.Und er hoffte auf dieÜberwindung derGegensätze in einem geistbestimmten Leben, dessen verbleibendeMaterialität sich auf die notwendige Versorgung des Körpers, dermateriellen Hülle des Geistes, mit Nahrung beschränkt. Nichtsmehr als die Ernährung (vegetarisch) und die elementare Arbeit

2 PSS = Polnoe Sobranie Socinenij v 90 tomach. Moskva/Leningrad:Gosudarstvennoe izdatel’stvo „Chudozestvennaja literatura“. 1929–1958[Vollständige Werkausgabe in 90 Bänden. Moskau/Leningrad: StaatlicherVerlag „Künstlerische Literatur“.]

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mit den Dingen, die Feldarbeit oder das Handwerk, sollten denGeistmit der ErdeunddemLeib verbinden.Nur so sei ein Leben inder Wahrheit möglich, nur so sei menschliche Gemeinschaftwahrhaftig: inderGesellschaft, in der Familie, zwischenMannundFrau, in der Religion … Jasnaja Poljana–Astapovo war deshalbkeine Flucht zu und keine Flucht in, sondern eine Flucht aus: eineFlucht aus den Gegensätzen, in denen der fleischlicheMensch LevTolstoj sich gefangen fühlte, auch wenn der geistige Mensch LevTolstoj sich längst aus ihnen befreit sah.

Beides, die Überwindung der Gegensätze und die Flucht ausihnen, fand bei Tolstoj vor allem auf dem Papier statt. Selbst dieArbeit auf dem Feld mit der Sense in der Hand oder das Schus-terhandwerk, das er für wertvoller erachten wollte als seine Ro-mane, und schließlich die Flucht mit Kutsche und Eisenbahnwurden von einer beständigen Textproduktion begleitet. Tolstojhörte nicht auf zu schreiben, bis er insKoma fiel. Das falsche Lebensollte mit Worten bezwungen, das wahre und gute Leben mitWorten erkannt und vermittelt werden.

In Tagebucheintragungen, Briefen und immer neuen Schriftenvergewisserte er sich und andere eindeutiger Werte, die das guteund richtige Leben ohne Kompromiss und Kehrseite ge-währleisten sollten. Tolstoj nannte es das unveränderliche Gesetzdes wahren Lebens, daswahre Gesetz des Lebens, daswahre GesetzGottes, das Gesetz Gottes und des Menschen oder auch nur GesetzGottes oder Gesetz des Lebens. Zum Prediger dieses „wahren Ge-setzes“ wurde Tolstoj in seiner zweiten Lebenshälfte. Öffentlichhatte er, fünfzig Jahre alt, nach dem Erscheinen von „Anna Kare-nina“ (1875–1877), seine innerliche Lebenswende eingeleitet. Inder „Beichte“ (1879/18823) bezichtigt er sich, sein bisheriges Lebensei irdisch, fleischlich, materiell und eine Verkettung von Sündengewesen. Die Erkenntnis des wahren Lebens oder wenigstens desWeges dorthin habe er aber erkannt und sich auf diesen Weg desLebens begeben.

Zu Tolstojs Erkenntnis und Selbsterkenntnis schreibt RomainRolland (1866–1944), dass sich „der Hang zur Vernunft und der

3 Die erste Jahreszahl gibt das Jahr der Entstehung, die zweite das derErstveröffentlichung an.

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Tätigkeitsdrang des Abendländers den Träumen des Asiaten bei-mischte“, denn da Tolstoj eben kein indischer Mystiker gewesensei, dem Ekstase genügt, „musste er die ihm gewordene Offenba-rung in praktischen Glauben umsetzen und aus diesem göttlichenErlebenRegeln für das tägliche Leben ableiten“ (Rolland 1922, 79).Undnicht nurdas.Ausder ErkenntniswurdePolemikund,wie derliberale Philosophiehistoriker Isaiah Berlin (1909–1997) sagt, ein„Aktionsprogramm“: „eine Kriegserklärung gegen gängige sozialeWerte, gegen die Tyrannei von Staaten, Gesellschaften und Kir-chen, gegenBrutalität,Ungerechtigkeit,Dummheit,Heuchelei undSchwäche, vor allem aber gegen Eitelkeit und moralische Blind-heit“ (Berlin 1981, 334 f.).

Das falsche Leben zu bekämpfen und das wahre Leben allen zupredigen, wurde Tolstoj zur Lebensaufgabe, der Zwang, diesesLeben im eigenen Leben zu verwirklichen, zum Trauma. „Ent-setzlich, immer wieder sich verstellen müssen, immer wieder sichverstecken“, lässt Stefan Zweig ihn sprechen: „Vor der Welt willmanwahr sein, vor sich selbst will manwahr sein und darf es nichtvor seiner Frauund seinenKindern! Nein, so kannmannicht leben,so kann man nicht leben!“ (Zweig 1987, 197).

Tolstoj entzog sich durch Flucht, letztlich durch den Tod, den ersichbuchstäblichholte, indemerdieFahrtmal imüberheiztenundüberfüllten Wagen der dritten Klasse, mal auf der offenen Platt-form im kalten Fahrtwind zubrachte (Schklowski 1984, 696 f.).Aber bevor es dazu kam, hatte Tolstoj noch einen anderen als denWegdes sublimenSelbstmordes gesucht, umdemAnspruch seinerrigoristischen Moral – nur in vollkommener Keuschheit und invollständiger Armut und Bedürfnislosigkeit ist das wahre Lebenmöglich – gerecht zu werden, genauer: ihn auf dem Papiersprachlich zumeistern. Dies ist nicht mehr die Sprache der Moral,sondern die Sprache der Weisheit, zu der Tolstoj in seinen letztenWerken, den „Gebeten“ (1909) und den Spruchsammlungen „Le-sezyklus“ (1904–1908), „Für jeden Tag“ (1907–1910) und „DerWeg des Lebens“ (1910) fand. In ihnen spricht Tolstoj nicht allein.Er fügt Zitate aneinander und folgt besonders amerikanischenVorbildern, aus denen er übersetzt (Alekseeva 2005). Doch imAnschluss an die und im Dialog mit seinen Vorlagen und denVorbildern aus der Menscheitsgeschichte entstehen eigene Worte

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und Einsichten, spricht dann doch ein Autor und nicht ein Kom-pilator. Tolstojs religiöse und moralische Botschaft ändert sichgegenüber den großen religiösen und moralischen Traktaten wie„Kurze Darlegung des Evangeliums“ (1881–1883), „Über dasLeben“ (1886–1887), „Das Reich Gottes ist in euch“ (1890–1893)oder „Was ist Kunst?“ (1897–1898) nicht, was sich aber ändert, istdie Form:AusdemgeschlossenenTextwird eine offene Sammlungvon Gedanken, die Lücken lässt, in die eigene Erfahrungen ein-getragen werden können, und die den Rigorismus des Wahrheits-anspruchs und des moralischen Imperativs relativieren, manch-mal sogar aufheben. Weisheit ist hier nicht nur die von allenWeisen aller Zeiten und Religionen übereinstimmend erkannteWahrheit des wahren Lebens, die Tolstoj in seinen Sammlungenvereinen wollte, sondern auch die Weisheit der Beschränkung.Einzelne Worte werden in den Alltag gesprochen. Zusammenbilden sie vielleicht ein System, eine allumfassende Welterklärungund Philosophie, aber vor allem sollen sie einzeln im Leben ihrerLeser wirken.

Es ist kein Zufall, dass nach den großen Romanen, „Krieg undFrieden“ (1868–1869), „Anna Karenina“ (1875–1877) oder auch„Auferstehung“ (1889–1899), Tolstojs Sprache der Weisheit ambekanntesten ist und,wie ichmeine, Zukunft habenwird. Das einewie das andere verdankt sie nicht zuletzt den ganz kleinen Formendes Gedankenaustausches, in denen weisheitliches Denken sichausdrücken kann: traditionell als Kalenderspruch auf Abreißka-lendern, als Spruchbuch oder, neuerdings, in den Zitatensamm-lungen desWorldWideWeb. Das mag unseriös erscheinen, erfülltaber den Zweck, den das weisheitliche Wort haben soll: den Ge-danken, vielleicht die moralische Forderung mit den Erfahrungendes Alltags in Verbindung zu bringen und das eine am anderen zumessen. Diese Form, zu der Tolstoj in seinen letzten Lebensjahrenfand, steht am Ende des Denkens in Gegensätzen und ist in ihmschon angelegt – da die Gegensätze selbst untereinander gegen-sätzlich sind: Sie könnenunversöhnlichundunüberwindlich sein:Wahrheit und Täuschung und Geist und Fleisch. Sie können inandere Gegensätze eingehen und nicht das sein, was sie zu seinscheinen:Todund Leben.EinGegensatz kann komplementär sein:Mann und Frau.Und es gibt den Gegensatz, der, obwohl er größer

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nicht sein könnte, in sich schon überwunden ist:Gott undMensch.Dieser in sich überwundene Gegensatz prägt auch Tolstojs weis-heitliches Denken.Über Gott undMensch schreibt er in „DerWegdes Lebens“, dass der Mensch Gott nur in sich selbst erkenne: „Esgibt keinenGott für den, der Ihn nicht in sichweiß“ und: „WennDudich ihm hingibst, erhebst Du dich höher als das Glück und dasUnglück“ (PSS 1956/45, 60).

Dass Tolstoj sich dennoch zur letzten Flucht gezwungen sah, istmehr als ein Gegensatz. Das ist der Widerspruch, in dem seinLeben endete. Es endete im Widerspruch zu seiner Weisheit. Sichdamit zu beschäftigten, wäre die Aufgabe einer Tolstojbiographie.Dieses Buch jedoch handelt von Texten. Es bleibt also bei denGegensätzen, der Moral und der Weisheit und ihren Ausdrucks-formen. Sie sind, anders als sein persönliches Lebensdrama, nichtnur für Tolstoj selbst oder die Befriedigung unserer Neugier,sondern von allgemeiner – wenn der Ausdruck erlaubt ist: vonphilosophischer Bedeutung.

2. Denken in Gegensätzen

Wahrheit und Täuschung (der erste unversöhnliche Gegensatz)

1891 erschien in Russland, ein Jahr nach der Erstveröffentlichungder deutschen Übersetzung, eine Erzählung Tolstojs mit demharmlos schöngeistigen Titel „Die Kreutzersonate“. Schon vorihrer Veröffentlichung sorgte die Novelle für Klatsch und Skandal,denn in ihr legt Tolstoj seine eigenenMoralvorstellungen niemandanderem als einem Mörder in den Mund. Auf einer Zugfahrtbeichtet der traurigeHeldVasilij Pozdnysev denMitreisenden, wieer seine Frau umgebracht hat. Tolstojs eigene Ehe war (abgesehenvondessenEnde)demerzähltenDramanicht unähnlich, und seineFrau Sof ’ja Andreevna Tolstaja (1844–1919) schien in der Er-mordeten porträtiert zu sein. Zwar kümmerte sie sich selbst umdie Veröffentlichung, sah sich aber doch so getroffen, dass sie eineGegendarstellung verfasste (die allerdings gut hundert Jahre un-

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Die Sprache der Weisheit, zu der Lev Tolstoj in seinen letzen Lebensjahren fand, bildet eine eigen-ständige Welt im Werk des russischen Dichters. Ihr Höhepunkt ist die Sammlung »Der Weg des Lebens« aus dem Todesjahr 1910.Tolstoj war Moralist, der in Gegensätzen dachte wie Wahrheit und Täuschung, Gott und Mensch, Geist und Fleisch, Mann und Frau, Tod und Leben. Er war aber auch Mystiker, der vom Licht Gottes sprach, das in jedem Menschen leuchten will. Das macht ihn zu einem aktuellen, provokanten Denker auch für unsere Gegenwart.Holger Kuße stellt Tolstojs Denken in Gegensätzen, die Sprache seiner rigoristischen Moral und die Sprache seiner Weisheit vor sowie eine Auswahl aus »Der Weg des Lebens«.

Der AutorDr. phil Holger Kuße ist Professor für Slavische Sprachgeschichte und Sprachwissenschaft an der Universität Dresden.

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