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Es gibt kein Richtig oder Falsch Mammographie-Screening In Deutschland lassen sich jährlich rund 2,7 Millionen Frauen im Mammo- graphie-Screening untersuchen. Trotz dieser beeindruckenden Zahl hält die Diskussion um die Vor- und Nachteile des Screenings schon seit Einführung der Früherkennungsuntersuchung an. Gegner stellen den Nutzen der Rei- henuntersuchung infrage, während die Befürworter das Screening als wirksame und nützliche Methode betrachten, um Leben zu retten. 2005 wurde in Deutschland mit dem Aufbau des deutschen Mammogra- phie-Screening-Programms begonnen. Ziel des Früherken- nungspro- gramms ist es, Brust- krebs in einem mög- lichst frühen Stadium zu entdecken, in dem er oft schonender und erfolg- reicher behandelt werden kann. Lang- fristig soll mithilfe des Screenings die Brustkrebssterblichkeit gesenkt wer- den. Seit 2009 wird das Mammogra- phie-Screening in Deutschland flä- chendeckend angeboten. Laut dem aktuellen Evaluationsbericht der Ko- operationsgemeinschaft Mammogra- phie, die das Screening in Deutsch- land koordiniert, sind 2010 bundesweit 53,7 Prozent – in Hessen 52,6 Prozent – der Frauen der Einladung zum Scree- ning gefolgt. Im Bundesdurchschnitt wurde dabei bei 6,6 von 1.000 Frauen eine Brustkrebserkrankung diagnosti- ziert (Hessen: 6,5). Alle zwei Jahre werden Frauen zwi- schen 50 und 69 Jahren von den soge- nannten „Zentralen Stellen“ schriftlich zur Röntgenuntersuchung der Brust eingeladen. Argumente der Befürworter Dr. Tatjana Heinen-Kammerer, Leiterin der Geschäftsstelle der Kooperations- gemeinschaft Mammographie, meint: „Das Mammographie-Screening-Pro- gramm hat einige Ziele bereits erreicht. Bei den Tumoren, die im Screening-Jahr 2010 entdeckt wurden, hat sich der Anteil der Karzinome erhöht, die sich in einem prognostisch günstigen Stadium befinden: Sie sind kleiner und die Lymph- knoten sind häu- figer nicht befallen. Gleichzeitig nehmen die späten Krebs-Stadien ab, was den betroffenen Frauen weniger belasten- de, brusterhaltende Therapien erlaubt. Chemotherapien sind seltener notwen- dig und die Prognose ist oft besser.“ Unabhängig von existierenden Scree- ning-Programmen wird bereits seit Ende der 90erJahre beobachtet, dass die Brustkrebssterblichkeit in Deutsch- land und allen anderen Ländern mit einem gut entwickelten Gesundheits- system sinkt. Die Überlebenswahr- scheinlichkeit ist durch verbesserte Therapiemaßnahmen gestiegen. Erste Ergebnisse, die zeigen, in welchem Maße das Mammographie-Screening die Brustkrebssterblichkeit weiter sen- ken kann, wird es nach Angaben der Kooperationsgemeinschaft erst neun Liebe Leserin, lieber Leser, nach fast zehnjähriger Erfahrung mit dem Mammographie-Screening lässt sich heute sagen: Die Mam- mographie ist keine unfehlbare Methode zur Abklärung eines Brust- krebsverdachts. Nicht jeder auffäl- lige Befund ist Krebs. Doch dies stellt sich erst nach erneuten Tests heraus. Die Mammographie birgt also neben der Chance, eine Brust- krebserkrankung früh zu entdecken, auch das Risiko weiterer Untersu- chungen und eventueller Beunruhi- gung durch einen Verdacht, der sich dann nicht bestätigt. Unter ande- rem aus diesem Grund wird die Debatte um den Nutzen oder Scha- den des Screenings schon seit Jah- ren kontrovers geführt. Mehr Klar- heit werden weitere Studien erst in einigen Jahren bringen. Bis dahin sollten sich die betroffenen Frauen gründlich und ohne Zeitdruck mit dem Thema beschäftigen können und die Gelegenheit nutzen, sich von ihrem Arzt umfassend beraten zu lassen. Nur so können sie schließlich eine eigene, selbstbe- stimmte Entscheidung für oder gegen das Screening treffen. Dr. Barbara Voß Leiterin der TK-Landesvertretung Hessen EDITORIAL Interview mit Prof. Nikola Biller-Andorno: „Das Risiko der Überbehandlung besteht“ Interview mit Prof. Markus Müller-Schimpfle: „Der Gesellschaft kann das Programm empfohlen werden“ spezial Nr. 4 2014 Informationsdienst der Techniker Krankenkasse HESSEN Das Mammographie-Scree- ning-Programm hat einige Ziele bereits erreicht.“ Da nin

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Es gibt kein Richtig oder FalschMammographie-Screening

In Deutschland lassen sich jährlich rund 2,7 Millionen Frauen im Mammo-graphie-Screening untersuchen. Trotz dieser beeindruckenden Zahl hält die Diskussion um die Vor- und Nachteile des Screenings schon seit Einführung der Früherkennungsuntersuchung an. Gegner stellen den Nutzen der Rei-henuntersuchung infrage, während die Befürworter das Screening als wirksame und nützliche Methode betrachten, um Leben zu retten.

2005 wurde in Deutschland mit dem Aufbau des deutschen Mammogra-phie-Screening-Programms begonnen. Ziel des Früherken-nungspro-gramms ist es, Brust-krebs in einem mög-lichst frühen Stadium zu entdecken, in dem er oft schonender und erfolg-reicher behandelt werden kann. Lang-fristig soll mithilfe des Screenings die Brustkrebssterblichkeit gesenkt wer-den. Seit 2009 wird das Mammogra-phie-Screening in Deutschland fl ä-chendeckend angeboten. Laut dem aktuellen Evaluationsbericht der Ko -operationsgemeinschaft Mammogra-phie, die das Screening in Deutsch-land koordiniert, sind 2010 bundesweit 53,7 Prozent – in Hessen 52,6 Prozent – der Frauen der Einladung zum Scree-ning gefolgt. Im Bundesdurchschnitt wurde dabei bei 6,6 von 1.000 Frauen eine Brustkrebserkrankung diagnosti-ziert (Hessen: 6,5).

Alle zwei Jahre werden Frauen zwi-schen 50 und 69 Jahren von den soge-

nannten „Zentralen Stellen“ schriftlich zur Röntgenuntersuchung der Brust eingeladen.

Argumente der Befürworter

Dr. Tatjana Heinen-Kammerer, Leiterin der Geschäftsstelle der Kooperations-gemeinschaft Mammographie, meint: „Das Mammographie-Screening-Pro-gramm hat einige Ziele bereits erreicht. Bei den Tumoren, die im Screening-Jahr 2010 entdeckt wurden, hat sich der Anteil der Karzinome erhöht, die sich in einem prognostisch günstigen Stadium

befi nden: Sie sind kleiner und die Lymph-knoten sind häu-

fi ger nicht befallen. Gleichzeitig nehmen die späten Krebs-Stadien ab, was den betroffenen Frauen weniger belasten-de, brusterhaltende Therapien erlaubt. Chemotherapien sind seltener notwen-dig und die Prognose ist oft besser.“

Unabhängig von existierenden Scree-ning-Programmen wird bereits seit Ende der 90erJahre beobachtet, dass die Brustkrebssterblichkeit in Deutsch-land und allen anderen Ländern mit einem gut entwickelten Gesundheits-system sinkt. Die Überlebenswahr-scheinlichkeit ist durch verbesserte Therapiemaßnahmen gestiegen. Erste Ergebnisse, die zeigen, in welchem Maße das Mammographie-Screening die Brustkrebssterblichkeit weiter sen-ken kann, wird es nach Angaben der Kooperationsgemeinschaft erst neun

Liebe Leserin,lieber Leser,

nach fast zehnjähriger Erfahrung mit dem Mammographie-Screening lässt sich heute sagen: Die Mam-mographie ist keine unfehlbare Methode zur Abklärung eines Brust-krebsverdachts. Nicht jeder auffäl-lige Befund ist Krebs. Doch dies stellt sich erst nach erneuten Tests heraus. Die Mammographie birgt also neben der Chance, eine Brust-krebserkrankung früh zu entdecken, auch das Risiko weiterer Untersu-chungen und eventueller Beunruhi-gung durch einen Verdacht, der sich dann nicht bestätigt. Unter ande-rem aus diesem Grund wird die Debatte um den Nutzen oder Scha-den des Screenings schon seit Jah-ren kontrovers geführt. Mehr Klar-heit werden weitere Studien erst in einigen Jahren bringen. Bis dahin sollten sich die betroffenen Frauen gründlich und ohne Zeitdruck mit dem Thema beschäftigen können und die Gelegenheit nutzen, sich von ihrem Arzt umfassend beraten zu lassen. Nur so können sie schließlich eine eigene, selbstbe-stimmte Entscheidung für oder gegen das Screening treffen.

Dr. Barbara VoßLeiterin der TK-LandesvertretungHessen

EDITORIAL

Interview mit Prof. Nikola Biller-Andorno: „Das Risiko der Überbehandlung besteht“ • Interview mit Prof. Markus Müller-Schimpfl e: „Der Gesellschaft kann das Programm empfohlen werden“

spezialNr. 4 2014Informationsdienst der Techniker Krankenkasse

H E S S E N

Das Mammographie-Scree-ning-Programm hat einige Ziele bereits erreicht.“

Das Mammographie-Scree-ning-Programm hat einige

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bis zwölf Jahre nach der fl ächende-ckenden Einführung des Programms – also frühestens ab dem Jahr 2018 – geben. (1)

Kritische Positionen

Kritiker des systematischen Mammo-graphie-Screenings stellen den Nutzen des Mammographie-Screenings ins-gesamt infrage: „Wir wissen nicht, ob wir mit dem Mammographie-Scree-ning je ein Leben gerettet haben, da die klinischen Studien keinen Hinweis darauf ergeben, dass das Mammografi e-Screening die Gesamtsterblichkeit beeinfl usst. Aber wir wis-sen sicher, dass wir durch Überdiagnosen schaden“, sagt Professor Peter Jüni, Professor in klinischer Epi-demiologie an der Universi-tät Bern und Direktor des dortigen Instituts für Sozial- und Präventivmedizin. Jüni ist Mitglied des Swiss Medical Board und gehört zu den Mitgliedern dieses Expertenrats, der im Dezember 2013 einen Bericht zu den erwünschten und unerwünschten Wirkungen des Mammographie-Screenings veröffentlicht hat. (2)

Das Gremium rät in seiner Veröffentli-chung von systematischen Mammo-graphie-Programmen generell ab und begründet dies unter anderem mit der lückenhaften Studienlage zur Wirk-samkeit des Mammographie-Scree-nings. Aufgrund der teilweise wider-sprüchlichen Ergebnisse in bisherigen internationalen Veröffentlichungen kur-sieren in der Öffentlichkeit zwar jeweils wissenschaftlich begründete, zum Teil aber deutlich voneinander abweichende Zahlenmodelle zu den Vor- und Nachteilen, die Frauen vom Mammographie-Screening erwarten können. Dies hat die Kooperationsge-meinschaft Mammographie zum Anlass genommen, die schwanken-den Angaben mehrerer Veröffentli-chungen der Jahre 2002 bis 2009 (jeweils pro 1.000 Frauen) in einer Informationsbroschüre zusammenzu-fassen und zu bewerten, um Frauen ein Gefühl für die Größenordnung der

Effekte des Screenings zu geben. Demnach bewegen sich die Fallzahlen der vermiedenen Brustkrebsfälle zwi-schen 1 und 5, der im Screening ent-deckten Brustkrebsfälle zwischen 37 und 78, der positiven Befunde zwi-schen 130 und 530 oder der falsch-positiven Befunde zwischen 78 und 500 Fällen. (3)

Als weiteres Argument gegen die Rei-henuntersuchung führen die Autoren des Swiss Medical Board die nicht

gewollten Folgen des Mammographie-Screenings an. „Einem möglichen Gewinn an Lebensqualität und Lebens-jahren stehen eine ganze Reihe uner-wünschter Wirkungen gegenüber“, sagt Nikola Biller-Andorno, Professorin am Lehrstuhl für Biomedizinische Ethik der Universität Zürich und Mit-glied im Expertenrat des Swiss Medi-cal Board. „Falsch-positive Befunde bedeuten für die betroffenen Frauen psychischen Stress und haben weitere diagnostische Abklärungen zur Folge. Auch werden im Screening Brust-krebsfälle entdeckt, die ohne das Screening nie klinisch relevant gewor-den wären, aber trotzdem behandelt werden. Betroffene Frauen könnten durch solche Übertherapien in ihrer Lebensqualität auf mehrere Monate oder sogar Jahre hinaus beeinträchtigt sein“, so Biller-Andorno.

„Bei der Frage, ob Frauen zum Mam-mographie-Screening gehen sollten oder nicht, gibt es kein Richtig oder Falsch. Auch ist eine hohe Beteiligung an der Untersuchung kein Ziel an sich. Wichtig ist vor allem, dass Frauen die bestmögliche Unterstützung bekom-men, um eine informierte Entschei-dung für sich treffen zu können, die

sie später nicht bedauern. Das kann auch eine Entscheidung gegen ein Screening sein“, so Dr. Voß. Mit der Einladung durch die Zentrale Stelle wird den Frauen sogleich ein erster Untersuchungstermin mitgeteilt. Kriti-ker sind der Auffassung, dass dieses Vorgehen einer ergebnisoffenen Bera-tung widerspricht. An der Mammogra-phie werde so kein Zweifel mehr gelassen. Dr. Barbara Voß, Leiterin der TK-Landesvertretung Hessen, teilt die-se Meinung: „Besser wäre es, die

Frauen zunächst sachge-recht, objektiv und unab-hängig von potenziellen Interessen aufzuklären und aufzufordern, sich mit dem Thema zu beschäftigen. Danach können die Frauen eine selbstbestimmte Ent-scheidung treffen. Wer sich nach dem Abwä-gungsprozess für die Untersuchung entschei-det, dem soll sie auch

von der Krankenkasse bezahlt wer-den. Wer sich bewusst gegen die Teil-nahme am Screening-Programm ent-scheidet, darf nicht als ‚Verweigerin‘ betrachtet werden.“ – Mit Nikola Biller-Andorno und Markus Müller-Schimpfl e lassen wir auf den folgenden Seiten unseres TK spezial zwei Experten zum Thema Mammographie-Screening zu Wort kommen.

Quellen:

(1) Evaluationsbericht 2010. Ergeb-nisse des Mammographie-Screening-Programms in Deutschland. Kooperati-onsgemeinschaft Mammographie, Berlin, Februar 2014. Abrufbar unter www.mammo-programm.de.

(2) Systematisches Mammographie-Screening, Bericht vom 15. Dezember 2013. Swiss Medical Board. Abrufbar unter www.medical-board.ch/index.php?id=809.

(3) Kennzahlen Mammographie-Scree-ning, Dokumentation 2010, Ch. Wey-mayr im Auftrag der Kooperationsge-meinschaft Mammographie. Abrufbar unter www.mammo-programm.de.

Es kann vernünftig sein, sich an einem Brustkrebs-Screening zu beteiligen. Es kann aber ebenso vernünftig sein, sich nicht daran zu beteiligen, da das Screening sowohl nützen als auch schaden kann.“The Nordic Cochrane Centre, Kopenhagen, Dänemark

Es kann vernünftig sein, sich an einem Brustkrebs-Screening zu

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Interview mit Professorin Nikola Biller-Andorno, Lehrende im Fachbereich Biomedizinische Ethik der Universität Zürich und Mitglied im Expertenrat des Swiss Medical Board

„Das Risiko der Überbehandlung besteht“TK spezial | Was kann das Mammo-graphie-Screening zur Senkung der Sterblichkeit an Brustkrebs beitragen?

Biller-Andorno | Wie viel das Mam-mographie-Screening zur Senkung der Brustkrebssterblichkeit beitragen kann, ist bis heute umstritten. Die Studien, die vor ca. zwanzig bis fünf-zig Jahren durchgeführt wurden, lie-fern widersprüchliche Ergebnisse. Noch dazu wurden sie unter anderen methodischen und klinischen Voraus-setzungen gemacht. Etliche Studi-endesigns würde man heute kritisie-ren, und man hatte auch nicht die gleichen Behandlungsmöglichkeiten wie heutzutage.

Wenn man die bis heute durchge-führten randomisierten kontrollierten Studien auswertet, kommt man zu dem Schluss, dass das Screening das rela-tive Risiko der Sterblichkeit an Brust-krebs um ca. 20 Prozent reduziert. Was das in absoluten Zahlen heißt, hängt ab vom Alter der Frauen, der Dauer und der Frequenz des Scree-nings und dem Beobachtungszeit-raum nach Durchführung des Scree-nings. So werden, wenn sich 1.000 Frauen im Alter von 50 Jahren ein Jahrzehnt lang jährlich screenen las-sen, 0,3 bis drei dieser Frauen einen Brustkrebstod vermeiden. Allerdings werden dafür ca. 500 bis 600 Frauen mindestens ein falsch-positives Test-ergebnis erhalten und drei bis14 wer-den überdiagnostiziert und unnötig behandelt werden. Ein Einfluss auf die Gesamtmortalität lässt sich in jedem Falle nicht feststellen.

TK spezial | Was sind aus Ihrer Sicht die Gründe für den Rückgang der Brust-krebs-Sterblichkeit und welchen Anteil das Mammographie-Screening daran?

Biller-Andorno | Für den Rückgang der Brustkrebs-Sterblichkeit werden ver-schiedene Gründe diskutiert, darunter die verbesserten Behandlungsmöglich-keiten selbst in fortgeschrittenen Brust-krebsstadien, der Rückgang der Hor-monersatz-Therapie in der Menopause oder auch ein veränderter Gebrauch von Genussmitteln wie Alkohol und Tabak.

Der Anteil des Mammographie-Scree-nings am Rückgang ist unklar. Aller-

dings hat er zum Beispiel in der Schweiz schon vor dem Beginn des systematischen Screenings einge-setzt. Seit den Screenings steigt die Zahl der berichteten Neuerkran-kungen. Das heißt, es werden mehr Frauen mit einem Brustkrebs diagnos-tiziert, und zugleich sterben immer weniger daran.

TK spezial | Wie beurteilen Sie die potenziell negativen Wirkungen des Screenings auf die Frauen wie etwa die Übertherapien mit allen ihren Nebenwirkungen oder den durch falsch-positive Befunde entstehenden psychischen Stress?

Biller-Andorno | Ich glaube, dass wir dazu neigen, die Belastung durch Über-behandlung zu unterschätzen. Oft hört

man, es ginge ja nur darum, dass man halt noch einen Ultraschall anschließe oder sich im schlimmsten Fall ein paar Tage umsonst Sorgen machen würde, bis eine Biopsie den klärenden Befund bringt. Dabei ist das Problem derzeit, dass behandlungsbedürftige Karzi-nome von nicht behandlungsbedür-tigen Befunden nicht hinreichend klar unterschieden werden können, so -dass die betroffenen Frauen das volle Therapieprogramm bekommen, mit Operation, Chemo- und Radiotherapie.

Eine Studie hat gezeigt, dass die meis-ten Teilnehmer kein Screening machen würden, wenn pro gerettetem Leben mehr als eine Person überbehandelt werden müsste. Nach allem, was wir wissen, ist das Verhältnis bei der Mam-mographie wesentlich ungünstiger.

Professorin Nikola Biller-Andorno

hat an der Universität Erlangen-Nürnberg Medizin sowie an der Fernuniversität Hagen Philosophie und Sozialwissenschaften studiert. Während des Studiums absolvierte sie diverse Studienaufenthalte an den Uni-versitäten Oxford, Edinburgh, McGill (Montreal), Har-vard und Genf; Förderung unter anderem durch die Studienstiftung des deutschen Volkes, das Bayerische Stipendium für Hochbegabte, den Stifterverband für die deutsche Wissenschaft und den DAAD. 1997 und 1998 war Biller-Andorno Visiting Scholar am Program for Humanities in Medicine der Yale University und Postdoctoral Research Fellow an der Harvard Medical School. Von 1998 bis 2002 war sie als Assistentin bzw. Oberassistentin an der Abteilung Ethik und Geschichte der Medizin der Universität Göttingen tätig; Habilitati-on für das Fach Medizinethik und Medizintheorie. 2002 bis 2004 Ethikerin bei der Weltgesundheitsorgani-sation (WHO) in Genf. 2004 bis 2005 Professorin und Direktorin des Instituts für Ethik in der Medizin, Chari-té – Universitätsmedizin Berlin. Seit Oktober 2005: Ordentliche Professorin für Biomedizinische Ethik an der Universität Zürich. Seit 2007: Gründungsdirektorin des Instituts für Biomedizinische Ethik. Seit 2009: Direktorin des WHO Collaborating Center for Bioethics in Zürich; Direktorin des PhD-Programms „Biomedical Ethics and Law“ (medical track). Derzeit Leiterin des Ethik-Zentrums der Universität Zürich sowie Mitglied im Leitungsausschuss des Kompetenzzentrums Medi-zin, Ethik, Recht Helvetiae (MERH).

ZUR PERSON

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TK spezial | Wie müsste aus Ihrer Sicht eine ausreichend ergebnisoffene Information im Rahmen der Einladung zum Mammographie-Screening for-muliert sein?

Biller-Andorno | Fairerweise sollten die Frauen wissen, dass es nicht nur falsch-negative und falsch-positive Resultate geben kann, sondern dass das Risiko der Überbehandlung besteht. Ebenfalls sollten sie informiert wer-den, was dieses Risiko konkret mit sich bringt, und was wir über seine Häufi gkeit im Verhältnis zum erwartbaren Nutzen wissen.

Auch sollten Einladungen nicht so gestaltet sein, als wäre der Public-Health-Nutzen zweifelsfrei erwiesen. Wenn ich von einer Gesundheitsbe-hörde für einen Screening-Termin ein-geladen werde, denke ich entweder, ich muss da hin, oder im Minimum gehe ich davon aus, dass das Scree-ning erwiesenermaßen etwas Gutes für mich ist – denn sonst würde es mir ja nicht von offi zieller Seite angetra-gen. Die Evidenzen zu Nutzen und unerwünschten Wirkungen stehen meines Erachtens nicht für ein solches Vorgehen.

Vielmehr sollte die Botschaft lauten: „Man kann sich mit guten Gründen für das Screening entscheiden, aber man kann sich aus mindestens ebenso guten Gründen dagegen entscheiden.“ Wichtig ist, dass man nicht Frauen, die sich gegen das Screening entscheiden, nachher die Schuld in die Schuhe schiebt, sollten sie an Brustkrebs erkranken. Denn das würde vorausset-zen, dass mit dem Mammographie-Screening eine wirksame und zweck-mäßige Früherkennungsmethode vor-liegt, und das ist eben umstritten.

TK spezial | Welche Argumente spre-chen aus Ihrer Sicht für, welche gegen ein systematisches Mammographie-Screening?

Biller-Andorno | Ich rechne den syste-matischen Screening-Programmen ihr Bemühen um Qualitätssicherung hoch an. Es ist sicher wünschenswert, dass

wir Transparenz und Standards zum Beispiel im Bereich der Kommunikation fördern. Auf der anderen Seite kann ein fl ächendeckendes Screening sich nur rechtfertigen, wenn es wirklich deutlich mehr positive als negative Effekte hat. Und dann sind natürlich auch die Kosten zu berücksichtigen; denn das Geld, das in das Mammogra-phie-Screening investiert wird, steht nicht für andere Zwecke zur Verfügung.

TK spezial | Gibt es alternative, sichere Früherkennungsmöglichkeiten bei Brustkrebs, die anstelle des Mam-mographie-Screenings breitfl ächig ein-gesetzt werden könnten oder sollten?

Biller-Andorno | Eine – ebenfalls nicht unumstrittene – Studie aus Kanada kommt zum Schluss, dass das Mammographie-Screening bei Frauen zwischen 40 und 59 Jahren nicht mehr Leben rettet als eine ein-fache körperliche Untersuchung, inso-fern moderne Behandlungsmethoden (adjuvante Therapien) verfügbar sind.

Ich denke, dass die Mammographie ihren Platz in der Diagnostik hat, aber wohl nicht als ungezieltes Massen-screening, sondern eher in einer verfei-nerten Form, die sich an Frauen mit erhöhtem Risiko wendet und besser zwischen therapiebedürftigen und harm-losen Befunden unterscheiden kann.

TK spezial | Das Fachgremium Swiss Medical Board kommt in seiner Studie zu der Einschätzung, dass das syste-matische Mammographie-Screening in der Schweiz nicht eingeführt wer-den sollte. Auf welche Resonanz sind Sie national und international mit die-ser Empfehlung gestoßen?

Biller-Andorno | National hat der Bericht einigen Wirbel verursacht. Ein Vorwurf war, er verunsichere Frauen. Ich denke aber, diese Verunsicherung können und sollten wir mündigen

Frauen nicht ersparen. Jede Frau muss selbst eine informierte Abwä-gung treffen, ob ihr der mögliche Nut-zen das Risiko und die Belastung wert sind. Einige Kantone haben daraufhin jedoch ihre Entscheidung, ebenfalls ein systematisches Screening durch-zuführen, nochmals überdacht.

Auch international ist die Pionierrolle des Swiss Medical Board gewürdigt

worden und hat wohl auch dazu beigetragen, dass die-se inzwischen jahrzehnte-lange Debatte in einigen Ländern noch einmal frisch angeschaut wurde.

TK spezial | Welchen Weg sollten aus Ihrer Sicht diejenigen Län-der einschlagen, in denen ein Mam-mographie-Screening bereits vor Jah-ren fl ächendeckend etabliert wurde?

Biller-Andorno | Der Weg zu einer guten Lösung führt meines Erachtens über eine Debatte, die sich an den ver-fügbaren Evidenzen orientiert, sowie über eine unvoreingenommene Infor-mation der „Konsumenten“. Ich würde mir wünschen, dass künftig gut ange-legte Studien für mehr Klarheit bezüg-lich Nutzen und unerwünschten Wir-kungen unter aktuellen Rahmenbedin-gungen sorgen. Obgleich immer wieder zu hören ist, man könne heut-zutage aus ethischen Gründen keine randomisierten Studien mehr durchfüh-ren, sehe ich das nicht so. Ich denke vielmehr, dass es genug Frauen gibt, die dem Screening skeptisch gegen-überstehen, aber durchaus bereit wären, an einer Studie teilzunehmen, die helfen kann, den Disput über den Nutzen von Screening-Programmen beizulegen.

Ich rechne den systematischen Screening-Programmen ihr Bemü-hen um Qualitätssicherung hoch an.“

Ich rechne den systematischen Screening-Programmen ihr Bemü-

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Interview mit Professor Markus Müller-Schimpfle, Chefarzt der Klinik für Radiologie, Neuroradiologie und Nuklear-medizin am Klinikum Frankfurt-Höchst und Mitglied des wissenschaftlichen Beirats der Kooperationsgemeinschaft Mammographie

„Der Gesellschaft kann das Programm empfohlen werden“TK spezial | Welchen Nutzen hat das Mammographie-Screening?

Müller-Schimpfle | Durch das Mam-mographie-Screening soll Brustkrebs in einem früheren Stadium entdeckt werden, als es durch Abtasten der Brust möglich ist. Genau das macht das Programm auch. Bei den im Screening untersuchten Frauen sind 80 Prozent aller entdeckten Tumore kleiner als zwei Zentimeter und haben noch nicht die Lymphknoten befallen. Vor der Einführung des Screenings galt das nur für knapp 50 Prozent der entdeckten Tumore. Das Screening arbeitet also erfolgreich.

Man muss wissen, Brustkrebs ist eine systemische Erkrankung, kann also nicht nur die Brust, sondern im fortge-schrittenen Stadium weitere Regionen des Körpers befallen. Wird der Krebs jedoch früh genug erkannt, ermöglicht das häufig eine schonendere Behand-lung. Was wir derzeit nur aus den Ländern wissen, die bereits früher mit dem Screening angefangen haben, aber noch nicht für Deutschland zeigen können, ist, dass das Mammographie-Screening die Brustkrebssterblichkeit senken kann. Für diesen Nachweis benötigen wir noch einige Jahre.

TK spezial | Die Kooperationsgemein-schaft Mammographie wirbt mit der Aussage, das Mammographie-Scree-ning könne Frauen davor bewahren, an Brustkrebs zu sterben. Neuere Studien führen die Senkung der Brustkrebs-Sterblichkeit auf eine ganze Reihe ver-schiedener Faktoren zurück. Sollte Ihrer Meinung nach die Aussage der Koope-rationsgemeinschaft Mammographie überdacht werden?

Müller-Schimpfle | Selbstverständlich muss ein Arzt immer wieder neu abwä-gen, welche Untersuchungsmethoden und welche Behandlungen er seinen Patienten empfiehlt, abhängig von neu-en Erkenntnissen, aber auch nach ein-gehender Prüfung von Plausibilitäten.

Die derzeitige wissenschaftliche Daten-lage bietet keinesfalls eine sichere Unterscheidung zwischen den Effekten des Screenings und den Effekten der

Behandlungsmöglichkeiten. Beides greift ineinander. Weiterhin gilt jedoch, dass die Tumorgröße bei Ent-deckung eines Krebses ein ganz ent-scheidender Faktor für die Prognose und die Behandlungsoptionen dar-stellt. Einzelne Analysen von Epide-miologen, die sich ausschließlich mit den Zahlenwerken, nicht aber mit den medizinischen Behandlungen und Erkenntnissen als solchen befassen, mögen nahelegen, dass Früherken-nung ähnliche Chancen wie Risiken bietet; dies erscheint mir als Arzt aber nicht plausibel. Es gibt einen evidenten Zusammenhang zwischen guter Dia-gnosestellung und guter Therapie. Viele behandelnde Ärzte aus den Brustzen-tren betonen deutschlandweit immer

wieder – und wir können das für unser Brustzentrum ebenfalls bestätigen –, dass gerade bei den Frauen aus dem Screening die Karzinome klein und ohne Streuung sind und dadurch in vielen Fällen eine schonendere Behandlung möglich wird.

TK spezial | Studien zufolge wird durch den Schaden des Screenings dessen Nutzen – unter anderem durch falsch-positive Befunde oder unnötige Behandlungen von Tumoren, die ohne das Screening nie klinisch relevant geworden wären – relativiert. Wie hoch ist der Anteil der Frauen in Deutschland, die durch das Screening fälschlicherweise zu Brustkrebspati-entinnen erklärt werden?

Professor Markus Müller-Schimpfle

war nach dem Medizinstudium an der Universität Tübingen von 1990 bis 1992 am Institut für Radiologie und Pathophysiologie des Deutschen Krebsfor-schungszentrums in Heidelberg und von 1992 bis 1998 an der Abteilung für Radiologische Diagnostik an der Universität Tübingen tätig. 1998 folgte die Habilita-tion an der Medizinischen Fakultät der Universität Tübingen im Fach Diagnostische Radiologie.

In seiner nächsten beruflichen Station war Müller-Schimpfle von 1998 bis 2002 als Oberarzt an der Abteilung für Radiologische Diagnostik an der Univer-sität Tübingen tätig. Seit Juli 2002 ist er Chefarzt des Radiologischen Zentralinstituts an den Städtischen Kli-niken Frankfurt-Höchst. Zudem ist Professor Müller-Schimpfle seit 2004 als Lehrbeauftragter an den Uni-versitäten Tübingen und Frankfurt am Main tätig. Seit 2006 ist er außerplanmäßiger Professor für Radiologie an der Universität Tübingen. Ein weiteres Standbein des Mediziners ist die Seniorpartnerschaft in der Gemeinschaftspraxis Radiologie Mainzer Landstraße in Frankfurt.

Professor Müller-Schimpfle ist Mitglied im Wissen-schaftlichen Beirat der Kooperationsgemeinschaft Mammographie sowie Mitglied in den Mammogra-phie-Kommissionen der Kassenärztlichen Bundes-vereinigung und der Kassenärztlichen Vereinigung Hessen. Darüber hinaus ist er Vorsitzender der AG Mammadiagnostik der Deutschen Röntgengesellschaft.

ZUR PERSON

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Müller-Schimpfl e | Eines möchte ich an dieser Stelle klar voranstellen, um Missverständnisse zu vermeiden: Bei jeder gesicherten Brustkrebsdiagno-se im Mammographie-Screening liegt auch tatsächlich eine Brustkrebser-krankung vor. Man gerät schnell auf eine falsche Fährte, weil der Begriff falsch-positiv in die Irre führen kann. Deshalb müssen wir zunächst verste-hen, was der Begriff falsch-positiv aussagt. Wird eine Frau im Screening untersucht und zeigt sich bei ihr eine Auffälligkeit im geröntgten Brustgewebe, erhält sie inner-halb von wenigen Tagen eine Einladung zu einer weiteren Untersuchung. Die Auffälligkeit in der Mammographie muss aus medizinischer Sicht abgeklärt werden, denn das Risiko besteht, dass es sich dabei um eine bösartige Veränderung handelt. Also wird diese Frau noch einmal zu einer Untersuchung mit Tastuntersuchung, Mammographie und Ultraschall ein-geladen. In einigen Fällen wird darü-ber hinaus eine Gewebeentnahme typischerweise mittels einer Nadelbi-opsie erforderlich. Kann dann eine Brustkrebserkrankung sicher ausge-schlossen werden, ist das Ergebnis für die Frau natürlich günstig. Der Mediziner aber nennt das bereits falsch-positiv in Bezug auf die Mam-mographie, die ja zunächst einen fal-schen Alarm ausgelöst hat. Zu keinem Zeitpunkt aber erhielt die Frau schon die Diagnose Brustkrebs.

Diese falsch-positiven Befunde wer-den im deutschen Mammographie-Screening jedes Jahr erfasst und aus-gewertet. Aktuell werden von 1.000 untersuchten Frauen 49 Frauen zu einer weiteren bildgebenden Untersu-chung eingeladen, bei 13 Frauen wird eine Gewebeentnahme gemacht. 7 von 1.000 Frauen erhalten nach der Gewebeentnahme die Diagnose Brust-krebs. Anders gesprochen: Von den 1.000 untersuchten Frauen erhalten 42 Frauen einen falsch-positiven Befund.

Etwas ganz anderes ist die sogenannte Überdiagnose. Dabei handelt es sich um Karzinome oder Brustkrebsvor-stufen, die behandelt werden, aber bis zum Todeszeitpunkt der Frau mut-maßlich keine lebensbedrohliche Ent-wicklung genommen hätten. Ein Bei-

spiel: Frau Müller ist 68 Jahre alt, hat Brustkrebs und wird behandelt. Was zu diesem Zeitpunkt aber niemand weiß: Frau Müller wird mit 71 Jahren an einem Herzinfarkt sterben. Bis zu ihrem Todestag hätte sich der Brust-krebs von Frau Müller aber nicht so aggressiv entwickelt, dass er ihr Leben bedroht hätte. Die Behandlung bei Frau Müller war also unnötig. Die Wissen-schaft spricht in diesem Fall von einer Überdiagnose beziehungsweise Übertherapie.

Medizinisch gibt es heute noch keine Möglichkeit, sicher vorauszusagen, wie sich der Krebs bei jeder einzel-nen Frau tatsächlich entwickeln wird. Und natürlich können wir auch nicht in die Zukunft schauen und wissen, ob diese Frau ohne eine Behandlung nicht doch in absehbarer Zeit an einer anderen Ursache verstirbt.

Wir können also Überdiagnosen nicht vermeiden. Wie häufi g Überdiagnosen vorkommen, wird über mathematische Modellrechnungen ermittelt. Die Wis-senschaft kommt hier zu unterschied-lichen Ergebnissen, je nachdem, wel-che Annahmen getroffen werden. Man muss sagen: Präzise wissen wir leider

nicht, wie hoch der Anteil der Überdia-gnosen tatsächlich ist. Damit wird der ärztliche Plausibilitäts-Check aber wie-der wichtig: Möglichst kleine Tumorgrö-ße und – künftig immer wichtiger wer-dend – eine Kombination von günstigen Faktoren der Tumorbiologie ermögli-chen uns schon heute, schonender zu behandeln als in der Vergangenheit, sodass auch an dieser Stelle „Über-therapie“ durch verbesserte Erkennt-nisse abgebaut wird. Erkenntnisse, die gerade durch ein qualitätsgesi-

chertes Screening-Programm erst gewonnen werden. Das bedeutet, das Programm selbst muss sich und wird sich selbst immer wieder überprüfen. Das spricht sehr für die Güte des Programms.

TK spezial | Wie bedeutsam schätzen Sie die psychische Belastung für diejenigen Frauen ein, deren Krebs-verdacht sich nachträglich als „falsch-er Alarm“ oder als unnötig erwiesen hat?

Müller-Schimpfl e | In der Tat zeigen Untersuchungen, dass ein falscher Alarm starke und durchaus über Monate und Jahre nachhaltig beein-trächtigende Effekte erzielen kann. Die Befragungen haben auch gezeigt, dass das Stressmoment in dem Fall eines falsch-positiven Befundes am höchsten in der Wartezeit zwischen der Untersuchung und der Mitteilung des Untersuchungsergebnisses ist. Deshalb sind die Fristen zwischen Untersuchung und Befundmitteilung

Das Programm selbst muss und wird sich selbst immer wieder überprüfen.“

Das Programm selbst muss und wird sich selbst

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Impressum

Herausgeber | Techniker Krankenkasse, Landesvertretung Hessen

Verantwortlich | Dr. Barbara Voß Redaktion | Denise JacobyTelefon | 069 - 96 21 91-14 Telefax | 069 - 96 21 91-11E-Mail | [email protected] Twitter | www.twitter.com/TKinHEInternet | www.tk.de/lv-hessen

Frauen haben das Recht auf eine informierte, freie Entscheidung.“

Frauen haben das Recht auf eine informierte,

im Screening sehr kurzfristig ange-legt. Der Stress nimmt übrigens größ-tenteils nach der Entwarnung schnell wieder ab.

Etwas allgemeiner kann man sagen, dass jeder, der eine Früherkennungsun-tersuchung durchführen lässt, das Risi-ko einer unnötigen Beunruhigung trägt. Denn diese falsch-positiven Befunde haben wir in allen Bereichen der Medi-zin, nicht nur im Mammographie-Scree-ning. Wir müssen uns immer wieder der Abwägung des Risikos eines unnö-tig zu spät entdeckten Befundes mit dem Risiko eines unnötig falschen Alarmes bewusst werden und können dann auch entscheiden, welches Risiko wir eher in Kauf zu nehmen bereit sind.

TK spezial | Sehen Sie Chancen, dass das Mammographie-Screening so wei-terentwickelt und verbessert werden

kann, dass den Frauen in der Zukunft eine positive Empfehlung für das systematische Screening gegeben könnte?

Müller-Schimpfl e | Ihre Frage besteht aus zwei Aspekten. Was die Empfeh-lung für das Mammographie-Screening anbelangt, gibt es eine ganz klare gesetzliche Regelung. Frauen haben das Recht auf eine infor-mierte, freie Entschei-dung, entwe-der für oder gegen eine Teilnahme am Programm. Derzeit – wie übrigens auch zu Beginn der Einführung des Pro-grammes – kann ich formulieren: Der Gesellschaft kann das Programm emp-fohlen werden, denn die Statistik

spricht im Großen und Ganzen dafür; die einzelne Frau wird ihre eigenen Sicherheitserwägungen, Risikokonstel-lationen und -empfi ndungen sowie grundsätzlichen Untersuchungs- und Beratungsvorlieben einfl ießen lassen in ihre Entscheidung für oder gegen das derzeitige Mammographie-Screening.

Ein anderes Feld ist die Weiterent-wicklung des Mammogra-phie-Scree-nings. Aspekte unterschied-

licher Früherkennungsprogramme gibt es bereits heute. So sollten Frauen aus Hochrisikofamilien nach einer qua-lifi zierten Beratung primär mittels der MRT der Brust untersucht werden, ergänzt durch Mammographie und Ultraschall. Frauen unter 50 Jahren, die sich aus welchen Gründen auch immer für eine Früherkennung entscheiden, können den Brustultraschall im Rah-men einer sogenannten individuellen Gesundheitsleistung (IGeL) als Mög-lichkeit nutzen, Brustkrebs in höherem Maße als nur durch Tastuntersu-chungen zu erkennen. Aber selbst bei Teilnehmer innen des Mammographie-Screenings kann bei Vorliegen einer dichten Brust der Ultraschall eine deutlich höhere Entdeckungsrate lie-fern – bei allerdings auch deutlich höherer Rate falsch-positiver Befunde! Dennoch kann in Österreich seit Anfang des Jahres der Ultraschall als ergänzendes Verfahren unmittelbar nach Durchführung der Screening-Mammographie bei Vorliegen einer dichten Brust durchgeführt werden.

Insgesamt wird man sich zukünftig risi-kobasierten und damit individualisier-ten Früherkennungsverfahren sicherlich sehr viel stärker widmen als in der Ver-gangenheit.