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Neue Wege für psychisch Kranke GKV-Versorgungsstärkungsgesetz Mit dem Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Versorgung in der gesetz- lichen Krankenversicherung (GKV-VSG) hat die Bundespolitik bereits für viel Gesprächsstoff und zum Teil heftige Reaktionen in Thüringen gesorgt. Wäh- rend die Kassenärztliche Vereinigung in den Medien in übertriebener Weise den vermeintlichen Wegfall hunderter Arztzulassungen an die Wand malte und mit den geplanten Terminservice- stellen hadert, machen sich zum Bei- spiel die Krankenhäuser intensiv Gedanken über Details und mögliche Folgen des geplanten Zweitmeinungs- verfahrens vor planbaren operativen Eingriffen. Vor dem Hintergrund der Debatte um die zentralen Vorhaben des Gesetzge- bers sind einige beabsichtigte Detail- regelungen etwas in den Hintergrund getreten, die insbesondere die Ver- sorgung psychisch Kranker deutlich verbessern könnten. So erhält der Gemeinsame Bundesausschuss die Vorgabe, nunmehr bis zum 30.6.2016 die Psychotherapierichtlinien weiter- zuentwickeln. Sie regeln Näheres zu behandlungsbedürftigen Krankheiten, geeigneten Therapieverfahren sowie über Voraussetzungen, Inhalte und Durchführung der Behandlung. Für diese Überarbeitung gibt der Gesetz- geber konkrete Inhalte vor. Zentrales Anliegen ist auch hier die Vermeidung unnötig langer Wartezeiten durch das Angebot psychotherapeutischer Sprechstunden. Inhalt dieser Sprech- stunden soll ein Erstgespräch zur kurzfristigen Einschätzung des Be- handlungsbedarfs sowie eine indivi- duelle Beratung über mögliche Ver- sorgungsangebote sein. Die Förderung der bislang nur sehr selten praktizierten Gruppentherapie sowie eine Vereinfa- chung des Antrags- und Genehmi- gungsverfahrens für psychotherapeu- tische Leistungen sind weitere zentrale Elemente. Nach der in den Jahren 2013 und 2014 erfolgten massiven Ausweitung von Psychotherapeutenzulassungen in Thüringen wird mit diesen Regelungen nun auch inhaltlich die Voraussetzung für eine flexiblere und verbesserte ambulante Versorgung psychisch Kran- ker im Freistaat geschaffen. In Verbin- dung mit niederschwelligen Angeboten von Krankenkassen und anderen Trä- gern gibt es damit wieder realistische Aussichten, ambulante Versorgungslü- cken im Land zu schließen. Die Rolle des stationären Sektors würde auf tatsächliche Behandlungsnotwendig- keiten beschränkt. Eine solche „Reambulantisierung“ der Versorgungspraxis ist gerade in Thürin- gen notwendig. Unterstützung dafür kann auch durch Neuregelungen zur arztentlastenden Delegation von Leis- tungen auf qualifizierte medizinische Fachangestellte kommen. Hier ist beabsichtigt, das Angebot solcher Leistungen auch in formal normal ver- sorgten Regionen zu ermöglichen und die Abrechnungsfähigkeit auf den fachärztlichen Bereich auszudehnen. Perspektivisch kann so etwa die Palette psychosomatischer Angebote bei Hausärzten ebenso verstärkt wer- den wie erweiterte Behandlungsopti- onen in psychiatrischen Praxen. Beides weist in die richtige Richtung. Denn oft verhindert bei psychischen Problemen schon ein zeitnah mög- liches Gespräch eine spätere Odyssee durch die Versorgungslandschaft. Liebe Leserin, lieber Leser, Radio bildet. Gegenwärtig kann man in Thüringen lernen, dass eine große Krankenkasse offenbar mehr Geld aus dem Gesundheitsfonds erhält, als sie für die Versorgung ihrer Versicherten benötigt. Mit dem Überschuss mietet sie zum Beispiel Werbezeit ansässiger Radiosender und sponsert dort diverse Gewinn- spiele. Dass Teilnahmeinteressierte vorher der Nutzung ihrer Daten durch diese Krankenkasse zustim- men, ist gängige Praxis. Ein fragwürdiger Höhepunkt ist allerdings die Aktion „Machst du‘s billiger?“. Finanziert von der Ge- sundheitskasse, lassen sich dort schmerzfreie Zeitgenossen unter anderem Überraschungstattoos ste- chen oder sich mit fremden Haaren panieren. Nun lässt sich über Marke- ting ja durchaus streiten. Dass aber ein Körperschaftsstatus nicht grund- sätzlich vor schlechtem Geschmack schützt, scheint mir mit diesem Fall bewiesen. Wie gesagt: Radio bildet. Guido Dressel Leiter der TK-Landesvertretung Thüringen EDITORIAL Psychisch bedingte Fehlzeiten vorn in Diagnosestatistik Stress im Berufsleben – Arbeitspsychologe im Interview Bessere Versorgungssteuerung für psychisch Kranke spezial Nr. 4 2014 Informationsdienst der Techniker Krankenkasse THÜRINGEN

"TK spezial" für Thüringen 4-2014

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Neue Wege für psychisch KrankeGKV-Versorgungsstärkungsgesetz

Mit dem Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Versorgung in der gesetz-lichen Krankenversicherung (GKV-VSG) hat die Bundespolitik bereits für viel Gesprächsstoff und zum Teil heftige Reaktionen in Thüringen gesorgt. Wäh-rend die Kassenärztliche Vereinigung in den Medien in übertriebener Weise den vermeintlichen Wegfall hunderter Arztzulassungen an die Wand malte und mit den geplanten Terminservice-stellen hadert, machen sich zum Bei-spiel die Krankenhäuser intensiv Gedanken über Details und mögliche Folgen des geplanten Zweitmeinungs-verfahrens vor planbaren operativen Eingriffen.

Vor dem Hintergrund der Debatte um die zentralen Vorhaben des Gesetzge-bers sind einige beabsichtigte Detail-regelungen etwas in den Hintergrund getreten, die insbesondere die Ver-sorgung psychisch Kranker deutlich verbessern könnten. So erhält der Gemeinsame Bundesausschuss die Vorgabe, nunmehr bis zum 30.6.2016 die Psychotherapierichtlinien weiter-zuentwickeln. Sie regeln Näheres zu behandlungsbedürftigen Krankheiten, geeigneten Therapieverfahren sowie über Voraussetzungen, Inhalte und Durchführung der Behandlung. Für diese Überarbeitung gibt der Gesetz-geber konkrete Inhalte vor. Zentrales Anliegen ist auch hier die Vermeidung unnötig langer Wartezeiten durch das Angebot psychotherapeutischer Sprechstunden. Inhalt dieser Sprech-stunden soll ein Erstgespräch zur kurzfristigen Einschätzung des Be -handlungsbedarfs sowie eine indivi-duelle Beratung über mögliche Ver-sorgungsangebote sein. Die Förderung der bislang nur sehr selten praktizierten

Gruppentherapie sowie eine Vereinfa-chung des Antrags- und Genehmi-gungsverfahrens für psychotherapeu-tische Leistungen sind weitere zentrale Elemente.

Nach der in den Jahren 2013 und 2014 erfolgten massiven Ausweitung von Psychotherapeutenzulassungen in Thüringen wird mit diesen Regelungen nun auch inhaltlich die Voraussetzung für eine flexiblere und verbesserte ambulante Versorgung psychisch Kran-ker im Freistaat geschaffen. In Verbin-dung mit niederschwelligen Angeboten von Krankenkassen und anderen Trä-gern gibt es damit wieder realistische Aussichten, ambulante Versorgungslü-cken im Land zu schließen. Die Rolle des stationären Sektors würde auf tatsächliche Behandlungsnotwendig-keiten beschränkt.

Eine solche „Reambulantisierung“ der Versorgungspraxis ist gerade in Thürin-gen notwendig. Unterstützung dafür kann auch durch Neuregelungen zur arztentlastenden Delegation von Leis-tungen auf qualifizierte medizinische Fachangestellte kommen. Hier ist beabsichtigt, das Angebot solcher Leistungen auch in formal normal ver-sorgten Regionen zu ermöglichen und die Abrechnungsfähigkeit auf den fachärztlichen Bereich auszudehnen. Perspektivisch kann so etwa die Palette psychosomatischer Angebote bei Hausärzten ebenso verstärkt wer-den wie erweiterte Behandlungsopti-onen in psychiatrischen Praxen. Beides weist in die richtige Richtung. Denn oft verhindert bei psychischen Problemen schon ein zeitnah mög-liches Gespräch eine spätere Odyssee durch die Versorgungslandschaft.

Liebe Leserin,lieber Leser,

Radio bildet. Gegenwärtig kann man in Thüringen lernen, dass eine große Krankenkasse offenbar mehr Geld aus dem Gesundheitsfonds erhält, als sie für die Versorgung ihrer Versicherten benötigt. Mit dem Überschuss mietet sie zum Beispiel Werbezeit ansässiger Radiosender und sponsert dort diverse Gewinn-spiele. Dass Teilnahmeinteressierte vorher der Nutzung ihrer Daten durch diese Krankenkasse zustim-men, ist gängige Praxis.

Ein fragwürdiger Höhepunkt ist allerdings die Aktion „Machst du‘s billiger?“. Finanziert von der Ge -sundheitskasse, lassen sich dort schmerzfreie Zeitgenossen unter anderem Überraschungstattoos ste-chen oder sich mit fremden Haaren panieren. Nun lässt sich über Marke-ting ja durchaus streiten. Dass aber ein Körperschaftsstatus nicht grund-sätzlich vor schlechtem Geschmack schützt, scheint mir mit diesem Fall bewiesen. Wie gesagt: Radio bildet.

Guido DresselLeiter der TK-Landesvertretung Thüringen

EDITORIAL

Psychisch bedingte Fehlzeiten vorn in Diagnosestatistik • Stress im Berufsleben – Arbeitspsychologe im Interview • Bessere Versorgungssteuerung für psychisch Kranke

spezialNr. 4 2014Informationsdienst der Techniker Krankenkasse

T H Ü R I N G E N

TK spezial Thüringen · 4/2014 | 2

Im Durchschnitt 16,7 Tage war jede bei der TK versicherte Erwerbsperson in Thüringen im Vorjahr arbeitsunfä-hig. Davon rund 2,2 Tage aufgrund von Depressionen, Neurosen oder Belastungsstörungen. Das ist Platz drei hinter Muskel-Skelett-Erkran-kungen (3,2 Tage) und Atemwegser-krankungen (3,1 Tage).

Bei der großen bundesweiten Lang-zeitstudie zu Volkskrankheiten, für die Bundesforschungsministerin Johanna Wanka am 10. November dieses Jahres den Startschuss gab, wird Depression ganz selbstverständ-lich neben Diabetes, Demenz und Herz-Kreislauf-Erkrankungen genannt.

Gleichzeitig rufen psychische Erkran-kungen immer noch Ängste und Vorur-teile hervor – sowohl im betrieblichen als auch im privaten Umfeld. Erkran-kungen, die mit dem Fühlen und Den-ken zu tun haben, sind weniger greif-bar als organische Leiden. Über Krank-heitsbilder und Therapiemöglichkeiten wissen die meisten Menschen kaum etwas. Das wird vor allem dann gefähr-lich, wenn belastender Stress ein Aus-löser der Probleme ist. Denn gesteht man sich die Überbelastung nicht ein, werden auch keine Maßnahmen zum Ausgleich ergriffen.

Thüringer leiden am stärksten unter Jobstress

Gesundheitsschädlich wird eine Bean-spruchung erst dann, wenn sie die Ressourcen des Einzelnen übersteigt. Das gilt für Körper und Geist. Wer lange in einer einseitigen Haltung arbeitet, läuft Gefahr, Rückenschmerzen zu bekommen. Unsere Psyche reagiert ebenfalls auf Überbelastung. Nur sind Ursache und Wirkung da nicht immer so leicht erkennbar.

Für die Menschen in Thüringen ist der Job der größte Stressfaktor. Das zeigt die Studie „Bleib locker, Deutschland!“, die Forsa Ende 2013 im Auftrag der TK durchgeführt hat. Von den Befragten aus Thüringen, Sachsen und Sachsen-Anhalt fühlen sich 61 Prozent haupt-sächlich durch Beruf, Studium und Schule gestresst. Im Bundesvergleich nehmen die mitteldeutschen Länder damit den Spitzenplatz ein.

Gleichzeitig ist die Arbeit für die große Mehrheit der berufstätigen Thüringer ein überaus wichtiger Teil des Lebens, der auch Spaß macht (80 Prozent). Nur für jeden Fünften aus den drei mittel-deutschen Ländern ist Arbeit reiner Broterwerb.

Psychisch bedingte Fehlzeiten: seit Jahren vorn in Diagnosestatistik

Bewusster und offener mit belastendem Stress umgehen

Fehlbeanspruchung entgegenwirken

Ein bewusster, möglichst wertfreier Umgang mit den individuellen Ressour-cen hilft, psychische Erkrankungen zu vermeiden. Wer Belastung wahrnimmt, kann intervenieren, bevor sie Krank-heiten hervorruft. Ein beanspruchter Rücken schmerzt zuerst vielleicht nur hin und wieder leicht. Wenn die Haltung aber nicht angepasst wird und man zum Beispiel durch gezielte Übungen entgegenwirkt, kann sich ein langfris-tiges Leiden entwickeln. Stress wirkt ähnlich auf die Psyche. Die kleinen Vor-boten lassen sich noch leichter ignorie-ren als ein Ziehen im Rücken.

Um bei der Analogie zu bleiben: Man-che Menschen tendieren eher zu Rückenleiden als andere. Das ist eine Binsenweisheit und gemeinhin aner-kannt. Wer verhältnismäßig schnell geis-tig erschöpft ist, schämt sich allerdings häufig. Das führt dazu, dass Betrof-fene zögern, sich jemandem anzuver-trauen oder einen Arzt aufsuchen. Ein Entgegenwirken, gegebenenfalls eine Behandlung, beginnt erst spät. Das hat nicht nur gesundheitliche Folgen für den Einzelnen, sondern auch volks-wirtschaftliche: Psychisch Erkrankte fal-len in der Regel für eine lange Zeit aus.

Ein nachhaltiger Ansatz wäre deswe-gen, von vornherein die psychischen Ressourcen im Gleichgewicht zu halten. Dabei sind alle Akteure des Gesund-heitswesens gefragt. Durch einen offe-nen Umgang und bewusste Maßnah-men können sie dazu beitragen, dass aus belastendem Stress keine schwer-wiegenden Erkrankungen werden.

Stress mit Online-Coach begegnen

Der TK-Antistress-Coach kann dazu beitragen, eine gute Balance zwischen Be- und Entlastung zu finden. Der virtu-elle Trainer hilft, Stressmomente im Alltag zu erkennen und zu bewerten. In einem nächsten Schritt bietet er Hinweise und Übungen, Stressmo-menten im Alltag zu begegnen.

Der Coach steht unter www.tk.de, Webcode 038636, zur Verfügung.

Relative Veränderung der Arbeitsunfähigkeitstage nach ICD-10-Diagnosekapiteln, standardisiert.

150 %

125 %

100 %

75 % 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013

Psychische u. Verhaltensstörungen

Krankh. d. Atmungssystems

Krankh. d. Muskel-Skelett-Systems u. d. Bindege-webes

Verletzungen, Vergiftungen u. Folgen äußerer Ursachen

Erstmals überhaupt sind psychisch bedingte Fehlzeiten in Thüringen von 2012 zu 2013 gesunken. Das Minus betrug 5,6 Prozent.

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Quelle / Grafik: Techniker Krankenkasse

TK spezial Thüringen · 4/2014 | 3

Interview mit Prof. Dr. Rüdiger Trimpop, Arbeits- und Organisationspsychologe

„Gesundheitsförderungsprogramme sind wichtig, um Schäden zu vermeiden“Burnout, Stress im Beruf, Antistress-gesetz – es vergeht kaum ein Tag, an dem wir keine neuen Meldungen dazu lesen können. Die Fehlbeanspruchung unserer psychischen Ressourcen ist immer öfter Thema in unserem Alltag. Und die Auswirkungen der Fehlbean-spruchung sind eine relevante volks-wirtschaftliche Größe. Leider sind aber nicht alle Beiträge, Kommentare und Vorschläge zum Thema fundiert. Hin und wieder neigen Diskussionen zu Populismus, vielleicht, um das schwierige Thema greifbarer zu machen. In Thüringen haben wir mit Prof. Dr. Rüdiger Trimpop einen Experten, der sich schon seit Jahren mit den Themen Gesundheitsförderung und Gesunderhaltung im Berufs-leben beschäftigt. TK spezial stellte dem Arbeits- und Orga-nisationspsychologen ein paar Fragen:

TK spezial | Stress im Berufsleben und negative gesundheitliche Folgen sind seit einigen Jahren verstärkt Thema in der öffentlichen Diskussion. Welche Rolle spielen Stress und Erschöpfung in der heutigen Arbeitswelt?

Trimpop | Stress und Erschöpfung sowie psychische Fehlbeanspruchung en bedingen inzwischen nahezu 40 Pro-zent der Fehlzeiten mit, die die Berufs-genossenschaften und Unfallkassen in ihren jährlichen Statistiken aus-weisen. Sie sind somit ein sehr bedeutsamer Gesundheits- und Kostenfaktor geworden.

TK spezial | Was hat sich im Laufe der Jahre verändert?

Trimpop | Durch die ständige Erreich-barkeit gibt es kaum noch Ruhepausen. Fahrten zwischen Arbeitsorten oder in Einsätzen werden mit Mobilgeräten zu Arbeitszeit. Arbeitsplatzsicherheit ist in vielen Berufen nicht mehr gegeben, im Gegenteil: Die Arbeitgeber machen Employability [Anm. d. Red.: Beschäfti-gungsfähigkeit] zum Unternehmens-ansatz in der Beschäftigungspolitik, ohne jedoch den Förderungsteil umzusetzen.

Zudem nimmt der Anteil an Berufs-wechseln deutlich zu, die Beschäfti-gungsdauer deutlich ab. Nicht zu unterschätzen ist auch der immer höhere Mobilitätsgrad. Das heißt, die Entfernungen, die man zum Arbeits-platz oder dazwischen zurücklegen muss, werden immer größer.

Relativ gesehen sind die anderen Ausfallzeiten durch Unfälle etc. zurückgegangen.

TK spezial | Wie wirkt sich die erhöhte Aufmerksamkeit auf Ihre Arbeit aus? Wird mehr Expertise zum Thema angefragt?

Trimpop | Es werden mehrmals wöchentlich Anfragen aus Unterneh-men zu psychischen Belastungsana-lysen, Gefährdungsbeurteilungen, Bera-tungen zur Gesundheitsförderung etc. gestellt. Wir haben auch zunehmend mehr Abschlussarbeiten in Betrieben, die sich mit diesen Themen befassen.

Außerdem gibt es keine betrieblichen Akteure, die dafür gut ausgebildet sind. Unsere Daten zu 2000 Sicherheitsfach-kräften und Betriebsärzten zeigen, dass sich beide Gruppen deutlich zu schlecht ausgebildet fühlen, um diese Aufgaben zu erfüllen. Wir entwickeln daher auch ständig Weiterbildungscurricula, und die Firmen fordern immer mehr arbeitspsy-chologische Sachkompetenz ein.

TK spezial | Eine bundesweite Befra-gung im Auftrag der TK im vergangenen Jahr ergab, dass in Thüringen, Sachsen und Sachsen-Anhalt überdurchschnitt-lich viele Berufstätige ihre Arbeit als größten Stressfaktor sehen. Woran könnte das Ihrer Meinung nach liegen?

Trimpop | In den neuen Bundesländern besteht nach wie vor ein großer struk-tureller Nachteil dahin gehend, dass viele Beschäftigte in Zeitarbeitsstruk-turen, im Niedriglohnsektor, in kurzfris-tigen Beschäftigungen und nicht in ihren Wunschberufen arbeiten. Das ist in vielen anderen Bundesländern anders. Auch die Thüringer, die in ihrem Wunschberuf tätig sind, dürften ihre Arbeit als Stressfaktor einstufen.

Darüber hinaus ist Stress als Über- oder Unterforderung defi-niert, und das geschieht natür-lich in der Arbeit häufiger als daheim, außer vielleicht in der Kindererziehung.

TK spezial | Was sind Warnsi-gnale für eine zu hohe Beanspru-chung?

Trimpop | Das Interessante bei dem sogenannten Burnout-Syn-drom ist, dass viele der Bedingungen für gute Arbeit ab einem bestimmten Niveau ins Gegenteil umschlagen, also beispielsweise hohe Einsatzbe-reitschaft, Wichtigkeit, Verantwortung oder viele verschiedene Aufgaben. Psychische Belastungen sind bis zu einem persönlich optimalen Niveau wichtig und gut, danach werden sie gesundheitsschädigend. Dieses Niveau ist aber individuell unter-schiedlich.

Erste Warnsignale sind: Man empfin-det auch positive Ereignisse bei der Arbeit nur noch als Last, zum Beispiel neue Aufgaben. Man sieht seine Kunden oder Klienten nur noch als unpersönlichen Fall – „Die heute auf Zimmer 7“ – oder wird sehr zynisch. Und man fühlt sich selbst nicht mehr leistungsstark.

Große Warnzeichen sind, wenn man sich selbst nur noch als Arbeitsfunkti-on wahrnimmt, also zwischen Arbeit und Freizeit nicht mehr trennen kann oder gar will. In diesen Verleugnungen von Warnungen sind unterstützende Führungskräfte, Kollegen und Freunde sehr hilfreich, oft ist aber auch profes-sionelle Unterstützung nötig.

Das Interessante bei dem sogenannten Burnout-Syn-drom ist, dass viele der Be-dingungen für gute Arbeit ab einem bestimmten Niveau ins Gegenteil umschlagen.“

Das Interessante bei dem sogenannten Burnout-Syn-

TK spezial Thüringen · 4/2014 | 4

TK spezial | Was kann im Unterneh-men getan werden, um Über- und Fehlbeanspruchung entgegenzuwirken bzw. vorzubeugen?

Trimpop | Oftmals ist die Arbeit unge-recht verteilt, einige haben zu viel, andere zu wenig. Da helfen Arbeits-analysen. Weiterhin helfen sehr gute Personalentwicklungskonzepte, um den Mitarbeitern die Kompetenzen zu vermitteln, die Arbeit auch dann erledi-gen zu können, wenn sie etwas vom Standard abweicht oder sich verändert. Und schließlich sind Work-Life-Balance und Gesund-heitsförderungsprogramme sehr wichtig, um Schäden zu vermei-den, aber auch um präventiv die notwendigen Denk-, Erholungs- und Regenerationspausen zu integrieren.

TK spezial | Wie sollte ein Arbeitsplatz gestaltet sein, um gesundheitsschäd-lichem Stress entgegenzuwirken?

Trimpop | Dazu gibt es seit vielen Jahren zwei Kernmodelle: die Zwei-Faktoren-Theorie und das Job-Cha-racteristics-Modell, auf denen zum Beispiel das Prinzip „Fertigungsinsel statt Fließband“ beruht.

Die Arbeit selbst sollte verschiedene Faktoren vermeiden, wie schlechtes Kollegen- und Vorgesetztenklima, schlechte Arbeitsbedingungen und ein so niedriges Gehalt, dass es zum durchschnittlichen Leben nicht reicht.

Will man die Arbeit gesundheitsförder-lich oder motivierend und befriedigend machen, muss sie so gestaltet sein, dass sie interessant ist und einen Sinn hat. Man muss eine wichtige Arbeit oder Funktion darin haben, man braucht Entscheidungs- und Hand-lungsfreiräume. Und man sollte aus der Arbeit heraus etwas lernen kön-nen, also Rückmeldungen bekommen. Wenn dann noch eine Wertschätzung dazu kommt, reden wir von einer Salu-togenese, also den Bestandteilen einer Arbeit, die gesund halten oder machen.

TK spezial | Was halten Sie von den Diskussionen um ein Anti-Stress-Gesetz?

Trimpop | Das Problem ist, die meis-ten nutzen den Begriff falsch! In der Arbeitspsychologie und den Unfallver-sicherungen ist Stress als FEHLBE-ANSPRUCHUNG definiert, also wenn man einen Motor dauerhaft in den roten Drehzahlbereich treibt oder gar nicht fährt (Monotonie). Das zu ver-meiden ist sehr wichtig, und dazu gibt es ja auch eine gemeinsame Erklärung der Arbeitgeber, Arbeitnehmer und Politik. Die Unfallverhütungsvorschriften sehen das ebenfalls vor.

Viele Menschen verstehen aber unter Stress die alltäglichen Anforderungen, die Mühe machen und müde machen. Das ist aber kein Stress, sondern eine notwendige Beanspruchung, um per-sönlichkeits- und gesundheitsförder-liche Arbeit zu leisten. Dagegen sollte Stress als dauerhafte Fehlbeanspru-chung vermieden werden.

TK spezial | Was kann jeder Einzelne tun, damit sich Fehlbeanspruchung bei der Arbeit nicht negativ auswirkt?

Trimpop | Wir unterscheiden zwi-schen der Verhältnisprävention, wo also die Bedingungen so gestaltet werden, dass Stress gar nicht auf-taucht, und der Verhaltensprävention, wo man lernt, den Stress zu bewälti-gen und besser auszuhalten.

Man kann als Person beides tun. Die Ursachen des Stresses genau erkennen und Vorschläge zur Verände-rung der Bedingungen machen oder sie selbst ändern. Mögliche Maß-nahmen sind besseres Zeitmanagement oder weniger hohe Ansprü-

che an sich selbst, jede noch so kleine Störung auch noch zu beseitigen.

Und man kann durch körperliches Trai-ning, Ernährung, Fitness, geistige Ent-spannung, Umdenken und Lernen von Bewältigungsfähigkeit dafür sorgen, dass man resilienter, also widerstands-fähiger, wird. Auf Dauer hilft jedoch nur die Beseitigung der Stressursachen.

Wenn dann noch eine Wertschät-zung dazu kommt, reden wir von den Bestandteilen einer Arbeit, die gesund halten oder machen.“

Wenn dann noch eine Wertschät-zung dazu kommt, reden wir von

Prof. Dr. Rüdiger Trimpop

Prof. Dr. Rüdiger Trimpop ist Lehrstuhlinhaber für Arbeits-, Betriebs- und Organisationspsychologie am Institut für Psychologie der Friedrich-Schiller-Universi-tät Jena. Bis heute hat er etwa 150 Fachbeiträge und sechs Bücher geschrieben und rund 300 Vorträge gehalten. Derzeit betreut Trimpop elf Forschungspro-jekte der Wirtschaft und öffentlichen Hand. Deren Schwerpunkte sind Arbeits- und Verkehrssicherheit, Gesundheitsförderung sowie Risikoverhalten. Zusätz-lich zu dieser Arbeit ist er Vorsitzender verschiedener Fachgesellschaften, Gutachter für Gütesiegelkommis-sionen, Zeitschriften und Forschungsorganisationen.

Trimpop ist verheiratet und hat zwei Kinder. Zu seinen Hobbys zählen Motorradfahren, Fallschirmspringen, Schmieden und historischer Schwertkampf.

ZUR PERSON

TK spezial Thüringen · 4/2014 | 5

Nach einer Geburt erkranken etwa 10 bis 20 Prozent der Mütter an einer Depression. Diagnostiziert und doku-mentiert wird diese sogenannte post-partale Depression jedoch viel seltener. Die Gründe dafür sind vielfältig. Geringe Aufklärung sowohl unter den möglichen Betroffenen als auch in ihrem Umfeld und bei Fachkräften spielt eine zen-trale Rolle.

Laut Diagnosezahlen der bei der TK versicherten Mütter traten Depressi-onen nach der Geburt 2012 in Thüringen im Vergleich der Bundesländer am zweitseltensten auf. Statistik und Realität liegen hier Fachleuten zufolge allerdings weit auseinander.

Statistik: weniger Fälle in den neuen Bundesländern, Praxis: keine Unterschiede

Insgesamt 2.277 Fälle postpartaler Depressionen wurden bei der TK 2012 registriert. In Bezug auf die Zahl der Geburten bei TK-versicherten Frauen entspricht das einem Anteil von knapp drei Prozent. In Thüringen liegt der Wert bei zwei Prozent. Weniger Fälle wurden mit 1,5 Prozent nur in Mecklenburg-Vorpommern registriert. In allen fünf neuen Bundesländern liegt der Diagnoseanteil unter dem Bundesdurchschnitt. Sie bilden gleich-zeitig die fünf hinteren Plätze.

„Die niedrigere Diagnosezahl ist wahr-scheinlich darauf zurückzuführen, dass die Erkrankung unter Fachleuten in den neuen Bundesländern weniger bekannt ist“, sagt Sabine Surholt, die im Verein „Schatten & Licht e. V.“ Mütter mit einer postpartalen Depression betreut. „Da es aber bundesweit keine Unterschiede bezüglich Anfragen betroffener Mütter bei uns gibt, gehe ich davon aus, dass auch in Thüringen die Rate bei 10 bis 20 Prozent aller Mütter liegt.“

Depressionen nach der Geburt werden kaum erkannt

Postpartale Depressionen: besonderer Aufklärungsbedarf in Thüringen

Hohe Dunkelziffer macht Aufklärung besonders nötig

Betroffene, Angehörige und Fachleute sollen stärker auf das Thema aufmerk-sam gemacht werden, um die Situation der Mütter zu verbessern. „Viel zu häu-fig vertrauen sich die Frauen nieman-dem an, weil sie sich schämen. Wer versteht schon, dass man sich nicht über sein Mutterglück freut, sondern sich überlastet fühlt“, sagt Surholt. „Die Mütter sollten allerdings so schnell wie möglich psychologische und gegebe-nenfalls medikamentöse Hilfe bekom-men.“ Wird die Krankheit schon in ihren ersten Anzeichen erkannt, kann eine Verschlimmerung, die zum Beispiel einen Klinikaufenthalt zur Folge hat, in vielen Fällen verhindert werden.

Die statistischen Zahlen auf der einen und die Erfahrungen aus der Praxis auf der anderen Seite legen nahe, dass die Dunkelziffer betroffener Frauen in Thü-ringen überdurchschnittlich hoch ist.

Surholt schlägt vor, werdende Mütter bereits in Geburtsvorbereitungskursen ausführlicher auch über ein mögliches schwarzes Loch nach der Geburt zu informieren. „Außerdem könnte man über eine einfache Abfrage im Mutter-pass oder im Rahmen der Geburts-nachsorge herausfinden, wer von einer Depression betroffen ist und schnell Hilfe benötigt.“

Gemeinsam mit dem Verein „Schatten & Licht e. V.“ hat die TK einen Ratgeber für Betroffene und Angehörige entwi-ckelt und die Broschüre unter anderem an alle Hebammenschulen in Deutsch-land verschickt. Darin zu finden sind medizinische Fakten, Berichte von Betroffenen sowie Unterstützungs- und Präventionsmöglichkeiten bei postpartaler Depression.

Broschüre klärt über Tabuthema auf

INFORMATION

Um Betroffene, Angehörige und Fachleute auf das Thema aufmerk-sam zu machen, gibt es bei der TK den Ratgeber „Depressionen nach der Geburt“. Die Broschüre ist unter www.tk.de, Webcode 617580, abrufbar.

Impressum

Herausgeber | Techniker Krankenkasse, Landesvertretung Thüringen

Verantwortlich | Guido Dressel Redaktion | Christiane Haun-Anderle Telefon | 03 61 - 54 21 - 400 Telefax | 03 61 - 54 21 - 430E-Mail | [email protected] Twitter | www.twitter.com/TKinTHInternet | www.tk.de/lv-thueringen

Immer wieder erleben Menschen mit psychischen Erkrankungen, dass sie bei akuten Problemen keine schnelle ärztliche oder therapeutische Hilfe bekommen. Die häufige Folge sind Krankenhauseinweisungen bei Krisen – auch in Fällen, die grundsätzlich ambulant zu behandeln wären.

Die TK und die IVPNetworks GmbH haben deshalb Anfang des Jahres 2013 in Thüringen ein Netzwerk aufge-baut, bei dem psychisch kranke Men-schen umfangreiche Hilfe erhalten. Das Angebot „NetzWerk psychische Gesundheit“ stand zunächst in Erfurt, Jena und Weimar zur Verfügung und wurde sukzessive ausgeweitet. Aktu-ell ist es auch in Mühlhausen, Gotha, dem Altenburger Land und dem Saale-Orla-Kreis verfügbar.

Betroffene wohnortnah versorgen

Nach dem Prinzip „ambulant statt stationär“ werden Betroffene wohn-ortnah medizinisch und sozialthera-peutisch versorgt. Ein sogenannter Bezugsbegleiter betreut sie individuell und ist zum Beispiel bei Arztbesuchen

Bessere Versorgungssteuerung für psychisch Kranke„NetzWerk psychische Gesundheit“: erste positive Effekte

oder Treffen von Selbsthilfegruppen dabei. Er koordiniert alle erforderlichen Leistungen und ist für die Patienten ein wichtiger Ansprechpartner.

Diese kontinuierliche professionelle Nähe verleiht den Betroffenen Sicher-heit. Gleichzeitig verlieren sie ihr sozi-ales und häusliches Umfeld nicht aus den Augen. Im Krisenfall reicht das Angebot des NetzWerks von telefo-nischer Beratung bis hin zu sofortigen Hausbesuchen. Ist ein Aufenthalt im Krankenhaus unvermeidbar, bleibt auch dort der Kontakt zum Bezugs-begleiter des NetzWerks bestehen.

Positive Entwicklung in Erfurt, Jena und Weimar

Aktuell sind in Thüringen 230 TK-Versi-cherte im „NetzWerk psychische Gesundheit“ eingeschrieben (Stand 04.11.2014). Davon leben über die Hälfte in Erfurt, Jena oder Weimar.

An allen drei Klinikstandorten, in denen das „NetzWerk psychische Gesundheit“ seit seinem Start ange-boten wird, sind nach ersten Auswer-tungen sowohl die Fallkosten für

Krankenhausaufenthalte von TK-Versi-cherten wegen psychischer und Ver-haltensstörungen als auch die Verweil-dauer von 2012 zu 2013 gesunken.

Während 2012 jeder stationär behan-delte, psychisch erkrankte TK-Versicher-te in den Regionen des „NetzWerks psychische Gesundheit“ statistisch gesehen 1,8-mal im Krankenhaus behandelt wurden, ging die Quote 2013 auf 1,4-mal zurück.

Das Angebot aus dem „NetzWerk psychische Gesundheit“ scheint erste Wirkung zu zeigen. Valide Zahlen aus der Auswertung liegen im Moment allerdings noch nicht vor. Deswegen kann noch nicht von einem kausalen Zusammenhang zwischen der erfreuli-chen Entwicklung und dem TK-Ange-bot gesprochen werden. Dafür wer-den in den kommenden Jahren Lang-zeitzahlen ausgewertet.

Dass sich nach der Initiative der TK weitere in Thüringen agierende Kas-sen entschlossen haben, dem Netz-werk beizutreten, ist ebenfalls ein Beleg für dessen Sinnhaftigkeit.

TK-ServiceTeamWir freuen uns auf Ihren Anruf.Tel. 0800 - 285 85 85 (gebührenfrei)24 Stunden an 365 Tagen im Jahr

TK-ÄrzteZentrumTel. 040 - 85 50 60 60 6024 Stunden täglich an365 Tagen im Jahr

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