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14 BUSINESS EXCELLENCE M Q Management und Qualität 11/2015 Ein anderer Ansatz für Innovation Die Zukunft in die Gegenwart holen Von Michael Wyrsch Innovationsprozesse sind meistens abgeleitet von Abläufen, die man aus dem Projektmanagement kennt. Einen ganz anderen Ansatz bietet die «Theorie U» von Otto Scharmer, die hier kurz vorgestellt wird. D ie Abläufe in einem Projekt- management sind linear und unterteilt in einzelne Schrit- te. So findet man in der Literatur und der Praxis meist eine Abfolge wie: Initiierung, Ideengewin- nung, Ideenauswahl, Grobkon- zept, Umsetzungskonzept und Realisierung. Obwohl diese Ab- folge logisch ist, wird sie auch in der Praxis selten linear durchlau- fen. Es sind immer einige Itera- tionen oder Sprünge vorhanden. Ausserdem werden diese Vorga- ben und das Vorgehen an sich eher als hinderlich für die Kreati- vität empfunden, und so bleibt auch bei der vermehrten Anwen- dung dieser Struktur immer ein schaler Nachgeschmack, es fehlt die Zündung, das Feuer. Unterschiede zum linearen Ansatz Die «Theorie U» von Otto Schar- mer unterscheidet sich von ande- ren Methoden, indem sie nur ei- nen Rahmen vorgibt, der den ge- samten Veränderungsvorgang – hier eine Innovation – umfasst und bei dem die einzelnen Pha- sen sehr individuell ausgestaltet werden können. Sie unterschei- det sich von einem linearen An- satz, indem sie zusätzlich den Mensch und sein Wesen mehr berücksichtigt und ihm den nöti- gen Raum bereitstellt. Verwendet wird sie vor allem in Situationen, in denen das Ergebnis nicht ge- nau definiert werden kann. Sie lässt den benötigten Freiraum bewusst zu. Die «Theorie U» ist das Ergebnis einer Untersuchung der SoL – (Society for Organiza- tional Learning, MIT). Darin wur- den erfolgreiche Projekte oder Vorgehen analysiert, um heraus- zufinden, was sie so erfolgreich macht. Daher ist die «Theorie U» universell anwendbar, um irgend- ein Vorhaben zu gestalten und eignet sich gerade für Innovatio- nen sehr gut. Für die praktische Anwendung bei Innovationen wurde das U et- was erweitert, um die Anwend- barkeit zu verbessern, indem es den Einstieg und die Umsetzung mehr detailliert. Diese Vorge- hensweise lässt sich wie folgt ab- bilden: Will man eine Innovation mög- lich machen, beinhalten die ein- zelnen Schritte Folgendes: Schritt 1: Herausforderung. Man sieht einen Bereich in der Firma, der neue Produkte braucht oder gegenüber der Konkurrenz Marktanteile ver- liert. Doch es fehlt die richtige Einsicht und eine klare Defini- tion der Lage. Es ist aber nicht immer einfach, solche Situati- onen zu erkennen; daher ist es wichtig, sich regelmässig mit Kollegen oder Experten auszu- tauschen und über das Ver- kaufspersonal den Dialog mit dem Kunden aufrechtzuerhal- ten. Durch diesen Austausch wird das Anliegen konkreter und klarer. Man kann die hei- sse Stelle identifizieren. Schritt 2: Kernteam = Mikro- kosmos. Nachdem der Bereich des Problems, der Innovations- bereich oder das Suchfeld defi- niert ist, gilt es nun die richtigen Teilnehmer auszuwählen. Die Teilnehmer werden so ausge- wählt, dass sie das ganze Sys- tem, die betroffene Umgebung und mehr, repräsentieren und ihr Gebiet kompetent vertreten. Zusätzlich wird versucht, soge- nannte Lead-User (trendanfüh- render Nutzer) zu finden und sie in das Team zu integrieren. Es können aber auch noch un- abhängige Stimmen, also wei- tere Personen, in den Mikro- kosmos eingeladen werden. Dieses Kernteam hat die Aufga- be, in enger Zusammenarbeit das neue, innovative Produkt zu finden. Schritt 3: Erforschen des Prob- lems. Nun macht sich das Kern- team an die Arbeit und erforscht das definierte Suchfeld mit Randgebieten tiefer. Dabei ist es wichtig, breit und offen vorzu- gehen und folgende Begriffe umzusetzen: Entdecken, Aus- probieren, Plätze besuchen, Eintauchen, Lernen, Fühlen, Inspirieren etc. Durch regelmä- ssigen Austausch werden diese Erkenntnisse untereinander ge- teilt und dadurch erweitert. Da- bei sind nicht Lösungen gefragt, sondern es geht um eine reine Aufnahme der «Lage». Schritt 4: Synthetisieren. Die gesammelten Informationen und Erfahrungen werden zu- sammengesetzt, damit ein gan- zes Bild entsteht. Dazu kommt das Kernteam zusammen, er- stellt ein gemeinsames Bild, schält die Muster heraus und bestimmt die Schwerpunkte. Dabei zeigen sich die Zusam- menhänge und Leerstellen. Das Suchfeld wird nun sehr eng und hilft dem Kernteam, sich zu fo- kussieren. Schritt 5: Das Ganze sehen – Presencing. Das Handlungs- feld liegt nun offen da und alles ist klar ersichtlich. Jetzt ist es wichtig, nicht in Aktionismus zu verfallen und sofort eine Lö- sung zu präsentieren, wie man dies von Beratungsunterneh- men gewohnt ist. In diesem Michael Wyrsch, Dozent «Wissens- und Informationsmanagement» und «Innovation» im Studiengang Betriebsökonomie. MAS in Human Systems Engineering; Spezialisiert auf Wissensmanagement. Kontakt: [email protected] Die «Theorie U» lässt Freiraum bewusst zu.

Theorie U als Innovationsframework

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MQ Management und Qualität 11/2015

Ein anderer Ansatz für Innovation

Die Zukunft in die Gegenwart holenVon Michael Wyrsch

Innovationsprozesse sind meistens abgeleitet von

Abläufen, die man aus dem Projektmanagement

kennt. Einen ganz anderen Ansatz bietet die «Theorie U»

von Otto Scharmer, die hier kurz vorgestellt wird.

Die Abläufe in einem Projekt­management sind linear und unterteilt in einzelne Schrit­

te. So findet man in der Literatur und der Praxis meist eine Abfolge wie: Initiierung, Ideengewin­nung, Ideenauswahl, Grobkon­zept, Umsetzungskonzept und Realisierung. Obwohl diese Ab­folge logisch ist, wird sie auch in der Praxis selten linear durchlau­fen. Es sind immer einige Itera­tionen oder Sprünge vorhanden. Ausserdem werden diese Vorga­ben und das Vorgehen an sich eher als hinderlich für die Kreati­vität empfunden, und so bleibt auch bei der vermehrten Anwen­dung dieser Struktur immer ein schaler Nachgeschmack, es fehlt die Zündung, das Feuer.

Unterschiede zum linearen AnsatzDie «Theorie U» von Otto Schar­mer unterscheidet sich von ande­

ren Methoden, indem sie nur ei­nen Rahmen vorgibt, der den ge­samten Veränderungsvorgang – hier eine Innovation – umfasst und bei dem die einzelnen Pha­sen sehr individuell ausgestaltet werden können. Sie unterschei­det sich von einem linearen An­satz, indem sie zusätzlich den Mensch und sein Wesen mehr berücksichtigt und ihm den nöti­gen Raum bereitstellt. Verwendet wird sie vor allem in Situationen, in denen das Ergebnis nicht ge­nau definiert werden kann. Sie lässt den benötigten Freiraum bewusst zu. Die «Theorie U» ist das Ergebnis einer Untersuchung der SoL – (Society for Organiza­tional Learning, MIT). Darin wur­den erfolgreiche Projekte oder Vorgehen analysiert, um heraus­zufinden, was sie so erfolgreich macht. Daher ist die «Theorie U» universell anwendbar, um irgend­ein Vorhaben zu gestalten und eignet sich gerade für Innovatio­nen sehr gut.

Für die praktische Anwendung bei Innovationen wurde das U et­was erweitert, um die Anwend­barkeit zu verbessern, indem es

den Einstieg und die Umsetzung mehr detailliert. Diese Vorge­hensweise lässt sich wie folgt ab­bilden:

Will man eine Innovation mög­lich machen, beinhalten die ein­zelnen Schritte Folgendes:– Schritt 1: Herausforderung.

Man sieht einen Bereich in der Firma, der neue Produkte braucht oder gegenüber der Konkurrenz Marktanteile ver­liert. Doch es fehlt die richtige Einsicht und eine klare Defini­tion der Lage. Es ist aber nicht immer einfach, solche Situati­onen zu erkennen; daher ist es wichtig, sich regelmässig mit Kollegen oder Experten auszu­tauschen und über das Ver­kaufspersonal den Dialog mit dem Kunden aufrechtzuerhal­ten. Durch diesen Austausch wird das Anliegen konkreter und klarer. Man kann die hei­sse Stelle identifizieren.

– Schritt 2: Kernteam = Mikro-kosmos. Nachdem der Bereich des Problems, der Innovations­bereich oder das Suchfeld defi­niert ist, gilt es nun die richtigen Teilnehmer auszuwählen. Die Teilnehmer werden so ausge­wählt, dass sie das ganze Sys­tem, die betroffene Umgebung und mehr, repräsentieren und ihr Gebiet kompetent vertreten. Zusätzlich wird versucht, soge­nannte Lead­User (trendanfüh­

render Nutzer) zu finden und sie in das Team zu integrieren. Es können aber auch noch un­abhängige Stimmen, also wei­tere Personen, in den Mikro­kosmos eingeladen werden. Dieses Kernteam hat die Aufga­be, in enger Zusammenarbeit das neue, innovative Produkt zu finden.

– Schritt 3: Erforschen des Prob-lems. Nun macht sich das Kern­team an die Arbeit und erforscht das definierte Suchfeld mit Randgebieten tiefer. Dabei ist es wichtig, breit und offen vorzu­gehen und folgende Begriffe umzusetzen: Entdecken, Aus­probieren, Plätze besuchen, Eintauchen, Lernen, Fühlen, Inspirieren etc. Durch regelmä­ssigen Austausch werden diese Erkenntnisse untereinander ge­teilt und dadurch erweitert. Da­bei sind nicht Lösungen gefragt, sondern es geht um eine reine Aufnahme der «Lage».

– Schritt 4: Synthetisieren. Die gesammelten Informationen und Erfahrungen werden zu­sammengesetzt, damit ein gan­zes Bild entsteht. Dazu kommt das Kernteam zusammen, er­stellt ein gemeinsames Bild, schält die Muster heraus und bestimmt die Schwerpunkte. Dabei zeigen sich die Zusam­menhänge und Leerstellen. Das Suchfeld wird nun sehr eng und hilft dem Kernteam, sich zu fo­kussieren.

– Schritt 5: Das Ganze sehen – Presencing. Das Handlungs­feld liegt nun offen da und alles ist klar ersichtlich. Jetzt ist es wichtig, nicht in Aktionismus zu verfallen und sofort eine Lö­sung zu präsentieren, wie man dies von Beratungsunterneh­men gewohnt ist. In diesem

Michael Wyrsch, Dozent «Wissens- und Informationsmanagement» und «Innovation» im Studiengang Betriebsökonomie. MAS in Human Systems Engineering; Spezialisiert auf Wissensmanagement. Kontakt: [email protected]

Die «Theorie U» lässt Freiraum bewusst zu.

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Schritt wird zuerst versucht tiefer zu blicken und zu fühlen, um den Kern klar erfassen zu können. Jeder einzelne Teil­nehmer versucht, sich mit der Quelle1 zu verbinden und voll anwesend zu sein. Dadurch wird das «Feld»2 klar sichtbar. Das Bestehende, auch Denk­zwänge, können losgelassen werden, und die zukünftigen Möglichkeiten zeichnen sich ab. Meist ist dies eine sehr ru­hige Phase, man geht in die Stille, macht Meditation oder ist in tiefem Dialog.

– Schritt 6: Herauskristallisie-ren. Die Erfahrungen und Ge­danken des vorhergehenden Schrittes werden zusammen­getragen und durch kreative Prozesse und Methoden wer­den mögliche Lösungen und Initiativen skizziert. Diese wer­den weiter verdichtet und kon­kretisiert, so dass man eine Lis­te von konkreten Innovations­ideen hat.

– Schritt 7: Rapid Prototyping. Die Ideen aus dem vorherge­henden Schritt werden mittels eines Rapid Prototyping aus­probiert. Dabei werden diese Lösungs­ und Konzeptansätze vereinfacht durchgespielt und auf ihre Machbarkeit und ihren Nutzen überprüft. Das Ziel die­ses Schrittes ist, die optimale Lösung zu finden, die in die Re­alität übertragen werden kann. Zusätzlich werden die Randbe­dingungen überprüft und ein Grobkonzept erstellt.

– Schritt 8: Test-Piloten. Die besten Innovation­Ideen wer­den in die reale Umgebung ge­bracht und in einem Pilotbe­trieb getestet. Diese Tests die­nen zur Verifikation der gefun­denen Innovation und verfei­nern sie so, dass sie grösstmög­lichen Nutzen bringen und gut in die reale Umgebung passen. Die strategischen Akteure und Nutzer, das Kernteam, sind die Botschafter der Innovation in der Firma und nach aussen. Sie

begleiten den Vorgang und ma­chen aufgrund der bisher ge­sammelten Erfahrung die nöti­gen Korrekturen.

– Schritt 9: Ausbreitung. Aus dem Pilotbetrieb entsteht das Produkt, die Innovation, das auf den Markt gebracht werden kann. Bei der Anwendung der Innovation, sei es ein Produkt oder eine Dienstleistung, bleibt man mit dem Abnehmer lau­fend im Dialog und kann das Produkt so in einem kontinu­ierlichen Verbesserungsprozess weiter entwickeln.

In verschiedene Dimensionen eintauchenWie aus der Abbildung zu erse­hen ist, taucht der Teilnehmer beim Durchlaufen des Us in ver­schiedene menschliche Dimensi­onen ein. Dieses Eintauchen ge­schieht fast automatisch, wenn beim Design des Vorgehens darauf Rücksicht genommen wird und im jeweiligen Schritt darauf geach­tet wird. Diese 3 Ebenen sind:– Öffnung des Denkens: Die Fä­

higkeit, Beurteilung aussetzen und sich zu informieren und er­kundigen, um etwas mit neuen Augen zu sehen, das heisst, auf unsere Quellen von IQ (Intellek­tueller Intelligenz) zuzugreifen.

– Öffnung des Fühlens: Die Fä­higkeit, die Aufmerksamkeit umzuleiten und das Herz als Or­gan der Wahrnehmung zu ver­wenden («Sehen mit dem Her­zen»). Wir verschieben den Ort, wo die Wahrnehmung passiert, zu etwas Anderem oder dem Feld bzw. dem Ganzen, um auf unsere Quellen von EQ (Emotio­nale Intelligenz) zuzugreifen.

– Öffnung des Willens: Die Fä­higkeit, sich von alten Identitä­ten und Absichten zu verab­schieden und die Melodie der Zukunft, die bestrebt ist, durch mich oder uns aufzutauchen, erklingen zu lassen. Unser altes Selbst gehen zu lassen und un­ser neues, authentisches Selbst kommen zu lassen, den Zugang

zu unseren Quellen von SQ (Spi­rituelle Intelligenz) zu finden.

Erst durch das bewusste Durch­laufen dieser Ebenen mittels der geeigneten Methoden kann Neu­es entstehen. Darauf ist zu ach­ten, indem das Interventionsde­sign basierend auf dem beschrie­benen Vorgehen sorgfältig ent­worfen wird. Im Design wird festgelegt, welche konkreten Um­setzungsmethoden in den einzel­nen Schritten angewandt werden und wie sie aufeinander abge­stimmt sind. Denn dadurch ent­steht in diesem Innovationspro­zess ein automatisches Fliessen, das wirklich Neues entstehen lässt. Also ein beglückend erleb­tes Gefühl eines mentalen Zu­standes völliger Vertiefung und restlosen Aufgehens in einer Tä­tigkeit, die wie von selbst vor sich geht. Und das ist der Moment, indem die Zukunft in die Gegen­wart geholt wird.

Emotionen als Treiber des NeuenDie Anwendung der Theorie U be­wirkt einen guten, nachhaltigen Innovationsprozess und integriert die stattfindenden Emotionen. Lassen Sie diese Vorgehensweise zu, werden Sie einen vollkommen neuen und qualitativ hochwerti­geren Innovationsprozess erleben, als Sie ihn bisher gekannt haben. Die Innovation wird besser, ja so­gar eher eine Durchbruch­Innova­tion sein. Die Stimmen der Ab­wehr, die es in jeder Phase der Ver­änderung, hier Innovation, gibt, werden nicht unterdrückt oder

weggewischt, sondern integriert und als wertvoll erachtet. Es sind emotionale Beiträge, die zeigen, dass sich der jeweilige Beteiligte sehr weit in diesen Innovations­prozess eingebracht hat und ande­ren schon voraus ist. Der sachlich Argumentierende hat möglicher­weise noch einen längeren Weg vor sich. Daher entstehen hier die häufigsten Missverständnisse im Innovationsprozess: Die Beteilig­ten, die am stärksten emotional reagieren, werden ausgetauscht, dabei sind sie die Träger und spä­ter auch Treiber des Neuen. Das setzt voraus, dass die Führungs­kraft dieses Potenzial erkennt und diese Menschen entsprechend führt. Diese Art der Führung und der Wahrnehmung der Beteiligten ist ein zentrales Element bei der Durchführung erfolgreicher Inno­vationen und kann mit dem Hilfs­mittel «Theorie U» optimal umge­setzt werden. ■

Fussnoten1 Die U-Theorie, der U-Prozess will

die tieferen Quellen der gemein-samen Wahrnehmung und Wil-lensbildung erschliessen – die Intelligenz «des offenen Den-kens, offenen Herzens und des offenen Willens.»

2 Mit «Feld» ist hier der gesamte Bereich (Wissen, Menschen, Abläufe, Technologie) gemeint, aus dem die Erkenntnisse stam-men und auf den die Wirkung des Neuen abzielt.