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vhs Karlsruhe: vhs-Kolleg Allgemeinbildung, Semester III: Bahnbrechende Entdeckungen der Naturwissenschaften, Teil 2 Die Geschichten des Nobelpreises II Vom Atom zur Atombombe Referent: Jörg Hartmann 11.03.2009

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vhs Karlsruhe: vhs-Kolleg Allgemeinbildung, Semester III: Bahnbrechende Entdeckungen der Naturwissenschaften, Teil 2

Die Geschichten des Nobelpreises II Vom Atom zur Atombombe

Referent: Jörg Hartmann 11.03.2009

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Die Geschichten des Nobelpreises II: Inhaltsverzeichnis

6. Atommodelle Intro: Assoziationen zum Thema ‚Atom‘ Das Bild vom Aufbau der Materie I (Demokrit, griechische Antike) Das Bild vom Aufbau der Materie II (John Dalton, 19. Jh.) Das Bild vom Aufbau der Materie III (Joseph J. Thompson, 19. Jh.) Das Bild vom Aufbau der Materie IV (Ernest Rutherford I, 20. Jh.)

Bildbeschreibung: Streuversuch Das Bild vom Aufbau der Materie IV (Ernest Rutherford II, 20. Jh.) Das Bild vom Aufbau der Materie (Niels Bohr, 20. Jh.)

Das Atom: Das Schalenmodell Niels Bohrs Der Atomkern: Protonen und Neutronen Die Atomhülle: Elektronen

Das Periodensystem der Elemente Atom’familien‘: Die Isotope Instabile Elemente Alpha-Strahlen Beta-Strahlen Gamma-Strahlen Die Radium-Zerfallsreihe

Ein zauberhaftes (?) Picknick

7. Die Entdeckung der Radioaktivität Antoine Becquerels strahlende Steine Die Erforschung der Radioaktivität

Der piezoelektrische Effekt Der Nobelpreis in Physik 1903 Die Entdeckung neuer Elemente

8. Auf dem Weg zur Kernspaltung Die Entdeckung der künstlichen Radioaktivität Die Neutronenbestrahlung chemischer Elemente durch Fermi (1934) Die Neutronenbestrahlung von Uran in Berlin 1934–1938 Lise Meitner

Meitners Flucht Vertreibung und die Frage Otto Hahns Kernspaltung - Theoretische Überlegungen Energie und Massenänderung bei der Kernspaltung I Energie und Massenänderung bei der Kernspaltung II Kernenergie vs.fossile Energie; ein Vergleich

9. Ge- und Missbrauch der Kernkraft Die Kettenreaktion beim Uranisotop 235 Einsteins Brief an Roosevelt Vernichtung durch Atombomben Atomstrom – eine zweischneidige Sache Outro: Medaillen in Königswasser

Literaturhinweise

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Die Geschichten des Nobelpreises II: Vom Atom zur Atombombe

Folie 2

Die erste Atombombe

‚Trinity‘, 16.07.1945

Intro: Assoziationen zum Thema ‚Atom‘ Mit dem Bild einer Atombombenexplosion hatten wir die letzte Doppelstunde beendet. Zuvor sprachen wir über die Entschlüsselung der DNA-Struktur durch die Nobelpreisträger Francis Crick und James Watson so-wie Maurice Wilkins. In der Filmwissenschaft würde man diesen unerwarteten Wechsel vom ‚Geheimnis des Lebens‘ hin zur Möglichkeit der totalen Vernichtung einen ‚harten Schnitt‘ nennen. Aber Wilkins war eben nicht nur der Entdecker der Ästhetik der Doppelhelix sondern zuvor auch an der Entwicklung der ers-ten Atombombe beteiligt. Diese trug den scheinheiligen Namen ‚Trinity‘ und explodierte am 16.Juli 1945 um 5.29 Uhr in Los Alamos, New Mexiko, USA. Das obige Bild zeigt sowohl den damals entstandenen Atompilz als auch die dazu gehörige Höllenmaschine. Folie 3

Assoziationen

Wir trugen dann in relativ kurzer Zeit eine Menge Assoziationen zu Themen wie Radioaktivität oder Atom zusammen.

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Folie 4:

Die Geschichten des Nobelpreises II

6.:

Atommodelle

Was aber ist das überhaupt, ein ‚Atom‘, woher rührt unsere Vorstellung davon, welche historischen und wissenschaftlichen Entwicklungen sind geschehen, dass durch das Spalten von Atomkernen eine solchen Energie produziert werden konnte? Diese Fragen bildeten den Rahmen der zweiten Doppelstunde, die un-ter dem Motto ‚Vom Atom zum Atomkern‘ stand. Zunächst also zum Begriff des ‚Atoms‘. Folie 5

Das Bild vom Aufbau der Materie I (gr. Antike)

Materie aus unteilbaren Grundbausteinen aufgebaut

unteilbar = gr.: a-tomos

'atomos' schon wie Materie (glatte Gegenstände = runde, rauhe = eckige Atome

Lehre der Atomisten: „ In Wirklichkeit gibt es nur Atome und den leeren Raum. - alles andere ist Meinung.“ (Demokrit)

Das Bild vom Aufbau der Materie I (Demokrit, griechische Antike) Der griechische Philosoph Leukipp (um 450-370 v. Chr.) und sein Schüler Demokrit (460-371 v. Chr.) waren die ersten, die sich die Materie aus unteilbaren Grundbausteinen aufgebaut vorstellten. Unteilbar, das heißt auf Griechisch ‚a-tomos‘ (erinnern Sie sich bei der Gelegenheit auch an die Computertomographie und an deren Benennung. Dort wurde das Bild des menschlichen Körper durch das Zusammenfügen vieler Teile bzw. Bildteile erstellt). Demokrit entwarf seine Theorie durch das konsequente Nachdenken über die Frage, was passieren würde, wenn man große Gegenstände in immer kleinere Einheiten aufteile. Stellen Sie sich vor, sie haben ein Blatt Papier vor sich (Demokrit dachte an ein Holzstück). Aus der Normgröße DIN A4 erhalten Sie durch ein mitti-ges Zerreißen zwei DIN A5 Seiten. Aus einer DIN A5 Seite wieder zwei kleinere Einheiten. Wie oft ist dieser Prozess möglich? Kommt er an ein Ende? Sie hätten irgendwann einen Berg von winzig kleinen Papier-

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schnipseln, so winzig, dass es nur noch Körnchen sind. Die Materie, so spekulierte Demokrit, muss also im Endeffekt aus kleinsten, unteilbaren Dingen bestehen. Nach seiner Theorie weisen diese 'atomos' bereits Eigenschaften der Materie auf, die aus ihnen aufgebaut ist. Glatte Gegenstände sind also aus runden Atomen, raue eher aus eckigen Atomen aufgebaut. „ In Wirk-lichkeit gibt es nur Atome und den leeren Raum. - alles andere ist Meinung.“ (Demokrit), so lautete die zentrale Lehre der philosophischen Schule der Atomisten. Diese dachten auch darüber nach, ob denn die Seele auch aus diesen Atomen aufgebaut sein könnte. Wenn ja, und damals erschien das logisch, dann hät-te das direkte Folgen für Schlussfolgerungen über die Sterblichkeit der Seele. Wenn Sein und Werden und Vergehen als Umordnungen von Atomen betrachtet wird, so ist der Tod kein Ende. Daraus zogen die Ato-misten einen großen Teil ihrer Leichtigkeit gegenüber dem Leben. Das Modell setzte sich allerdings nicht durch. Eine gewichtigere Persönlichkeit der Philosophiegeschichte ist daran ‚schuld‘: Aristoteles. Er formulierte die Theorie, dass alles Sein aus den vier Elementen Feuer, Erde, Luft, Wasser zusammengesetzt sei. Diese Meinung wurde im Lauf der Geschichte zum Dogma und ver-schwand erst im Zuge der Renaissance im 15. Jahrhundert aus den Köpfen. Folie 6

Das Bild vom Aufbau der Materie II (19. Jh.)

John Dalton (1766-1844)

Elemente bestehen aus extrem kleinen Teilchen, den ‚Atomen‘, alle Atome eines Elementes sind gleich.

Chemischen Reaktionen = Verbindung/Trennung von Atomen. Keine Zerstörung/Umwandlung eines Elements!

Chemische Verbindung = Verknüpfung von zwei oder mehr Elementen. Festes Sorten-/Massenverhältnis!

Daltons ‚Atome‘, die er zur Veranschaulichung verwendete

Das Bild vom Aufbau der Materie II (John Dalton, 19. Jh.) Erste experimentelle Hinweise darauf, dass die Materie tatsächlich aus kleinen Bausteinen aufgebaut ist, fanden sich erst Anfang des 19. Jahrhunderts. Damals stieß der Chemiker John Dalton (1766-1844) darauf, dass sich die chemischen Elemente nur in bestimmten Verhältnissen miteinander zu Molekülen verbinden. So ergeben beispielsweise immer 2 Teile Wasserstoff und ein Teil Sauerstoff ‚Wasser‘, H2O. Aus diesen Ge-setzmäßigkeiten leitete er 1808 ab, dass die Elemente aus nicht mehr teilbaren, kleinsten Einheiten beste-hen und griff für diese Teile den alten griechischen Begriff des Atoms wieder auf. Daltons Hauptaussagen sind:

1. Elemente bestehen aus extrem kleinen Teilchen, den Atomen. Alle Atome eines Elementes sind gleich und die Atome verschiedener Elemente sind verschieden.

2. Bei chemischen Reaktionen werden Atome miteinander verbunden oder voneinander getrennt. Da-bei werden nie Atome zerstört oder neu gebildet und kein Atom eines Elementes wird in das eines anderen Elementes verwandelt.

3. Eine chemische Verbindung resultiert aus der Verknüpfung der Atome von zwei oder mehr Elemen-ten. Eine gegebene Verbindung enthält immer die gleichen Atomsorten, die in einem festen Men-genverhältnis miteinander verknüpft sind.

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Folie 7

Joseph J. Thomson (1856-1940)

‚Rosinenkuchen‘-Modell

Atome: winzige, elastische Kügelchen

Entdecker des Elektrons (1897)

Masse, + elektrische Ladung und - geladene Elektronen gleichmäßig verteilt.

1906 NP Physik für „Arbeiten über den Durchgang der Elektrizität durch Gase.“

Das Bild vom Aufbau der Materie III (19. Jh.)

Das Bild vom Aufbau der Materie III (Joseph J. Thompson, 19. Jh.) Dass Atome jedoch keineswegs unteilbar sind, bewies 1897 der britische Physiker Joseph J. Thomson (1856-1940). In seinen Experimenten mit einer Glühkathode konnte er zeigen, dass sich aus den Atomen kleinere, elektrisch geladene Teilchen herausschlagen lassen - die Elektronen(Kurze Frage zur letzten Stunde: Wissen Sie noch wie Elektronen und Röntgenstrahlung zusammenhängen?). Thomson stellte sich Atome als winzige, elastische Kügelchen vor, in denen Masse und positive elektrische Ladung gleichmäßig verteilt sind. Eingebettet in diese Masse sind, wie Rosinen in einem Kuchenteig, die punktförmigen, elektrisch negativen Elektronen. Die Entdeckung dieser Elektronen wird ihm zugeschrieben. Das von ihm entwickelte Atommodell war das zu seiner Zeit bedeutendste, welches die elektrischen Eigen-schaften der Materie berücksichtigte. 1906 erhielt er für seine Arbeiten über den in diesem Zusammen-hang stehenden „Durchgang der Elektrizität durch Gase“ den Nobelpreis für Physik. Folie 8

Ernest Rutherford (1871-1937 )

Das Bild vom Aufbau der Materie IV (20. Jh.)

‚Streuversuch‘: Beschuss von Goldfolie mit Alphateilchen

je 1 von 10.000 trifft auf Goldatomkern = Rückprall

Das Bild vom Aufbau der Materie IV (Ernest Rutherford I, 20. Jh.) Doch schon 1911 zerstörte Ernest Rutherford (1871-1937) dieses Bild seines Lehrers mit einem prinzipiell einfachen Versuch. Wahrscheinlich ist einer unserer Vorfahren schon in der Steinzeit auf die Idee gekom-

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men, zwei Dinge gegeneinander zu schlagen und nachzusehen, was die Bruchstücke ihm über deren Innen-leben verraten. Inzwischen sind Jahrtausende vergangen. Die Technologien sind komplexer geworden, die Objekte immer kleiner, der Aufwand entsprechend größer. Doch das Prinzip bleibt gleich: Wollen wir he-rausfinden, was sich im Innersten der Materie abspielt, ob die kleinsten Bausteine unserer Welt womöglich aus noch kleineren zusammengesetzt sind, so lassen wir zwei Teilchen zusammenprallen und sehen uns an, was bei der Kollision passiert. Im Fachjargon klingt der Prozess gehobener: Man spricht von ‚Streuversu-chen‘. Bildbeschreibung: Streuversuch Ein solcher ‚Streuversuch‘ war es, der Anfang des 20. Jahrhunderts das Weltbild der Physik revolutionierte. Damals lenkten Rutherfords Mitarbeiter Hans W. Geiger (nach ihm ist der Geigerzähler benannt) und Ernest Marsden, Alphateilchen auf eine hauchdünne Goldfolie. Wenn Atome so ähnlich aufgebaut sind, wie die Rosinenkuchenmodelle vorhersagen, dann müssten kleinste Teilchen, wenn man sie mit hoher Geschwin-digkeit auf eine Schicht solcher Atome schießt, zum größten Teil geradlinig hindurch fliegen. Denn die posi-tive Grundmasse ist nach Thomson relativ locker und leicht durchdringbar, während die Elektronen sehr klein sind und die hindurchfließenden Teilchen so gut wie nicht beeinflussen dürften. Zu ihrer großen Überraschung stellten sie aber fest, dass einige Teilchen mit großer Wucht zurückgeworfen wurden. "Ich hatte den Eindruck, mit einem Gewehr auf ein Stück Seidenpapier zu schießen und dass auf einmal eine der Kugeln nach hinten abprallte", soll Rutherford das Geschehen kommentiert haben. Erst Wochen später, im Jahr 1911, kam Rutherford auf die Erklärung des erstaunlichen Phänomens. Die Häufig-keit, mit der die Alphateilchen um einen bestimmten Winkel gestreut wurden, lieferte ihm den entschei-denden Hinweis: Dass die meisten Teilchen einfach durch die Folie hindurch flogen, ohne abgelenkt zu wer-den, ließ darauf schließen, dass die Goldatome im Wesentlichen leer sind. Diejenigen Teilchen, die mit Wucht zurückgestreut wurden, also große Abprallwinkel aufwiesen, mussten dagegen auf einen kleinen, schweren Kern gestoßen sein, der fast die gesamte Masse der Goldatome in sich konzentriert. Damit war das damals vorherrschende Bild des Atoms - eine positiv geladene Kugel mit eingebetteten negativen Elekt-ronen - passé: Der Atomkern war entdeckt. Folie 9

Ernest Rutherford (1871-1937 )

Das Bild vom Aufbau der Materie IV (20. Jh.)

Atom größtenteils leer

Masse im Kern, Elektronen auf Bahnen drumherum

‚Kern-Hülle‘-Modell

Das Bild vom Aufbau der Materie IV (Ernest Rutherford II, 20. Jh.) Genauere Messungen ergaben dann, dass der Atomkern mit einem Durchmesser von 10-14 m 10.000 mal kleiner ist als das gesamte Atom, dessen Durchmesser 10-10 m beträgt. Das muss man sich mal vorstellen: Wenn der Atomkern durch einen Kirschkern mit dem Durchmesser 1cm dargestellt würde, so müsste das

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entsprechende Atom 100 Meter Durchmesser haben! Der größte Teil eines Atoms ist also leer, besteht aus Nichts, auch keine Luft, denn die besteht ja selbst aus einer Mischung von Stickstoff-, Sauerstoff- und Argo-natomen. Rutherfords Modell wird gelegentlich auch als ‚Planetenmodell‘ bezeichnet, er nahm an, dass die Elektronen auf Bahnen um den Kern fliegen. Nur konnte er noch keine konkreten Bahnen angeben und so keine Aussagen über mögliche Elektronenenergien machen. Dieser Schritt wurde zwei Jahre später ge-schafft. Folie 10

Niels Bohr (1885-1962)

Das Bild vom Aufbau der Materie (20. Jh.)

1922 NP Physik für „Arbeiten über den Aufbau von Atomen“.

Das Bild vom Aufbau der Materie (Niels Bohr, 20. Jh.) 1913 präzisierte und verbesserte der dänische Physiker Niels Bohr das Atommodell Rutherfords. Mit Ru-therford stimmte er überein, dass Atome aus Kern und Hülle bestehen. Aber: die Elektronen kreisen nicht willkürlich um den Kern, sondern auf mehreren, festgelegten Bahnen, auch Schalen genannt. Daher rührt die Bezeichnung ‚Schalenmodell‘. Bohrs Theorie zur atomaren Struktur, für die er 1922 den Nobelpreis für Physik erhielt, erschien zwischen 1913 und 1915 in verschiedenen Fachzeitschriften. Seine Arbeit war vom Rutherfordschen Atommodell abgeleitet, nach dem das Atom aus einem dichten Kern besteht, der von einem Schwarm viel leichterer Elektronen umgeben ist. Bohrs Atommodell stützte sich auf die Quantentheorie und das Plancksche Wirkungsquantum, also das Verhältnis zwischen der Energie des Quants und der Strahlungsfrequenz, schade, dass wir diese Thematik nicht ausbreiten können… Zeit reicht nicht. Aber soviel sei gesagt, nach dem Modell emittiert ein Atom nur dann elektromagnetische Strahlung, wenn ein Elektron im Atom von einem höheren Quantenniveau zu einem niederen übergeht. Das Bohrsche Atommodell war ein entscheidender Beitrag für weitere Entwicklungen in der theoretischen Atomphysik. Es gibt im Verlauf der Wissenschaftsgeschichte noch weitere Modelle, wie das ‚Tröpfchenmodell‘, das Lise Meitner bei ihren Überlegungen zur Kernspaltung anwandte. Wichtig dabei ist, dass es sich um Modelle handelt, die bestimmte Vorstellungen über den Aufbau der Materie erlauben. ‚Gesehen‘ hat noch kein For-scher ein Atom, geschweige denn einen Atomkern. Dazu sind sie einfach viel zu klein. Es gibt seit den 80er Jahren jedoch die Möglichkeit, mit einem Raster-Elektronen-Mikroskop Bilder atomarer Strukturen zu er-zeugen. Im Folgenden soll uns das Bohrsche Modell ausreichen. Das Atom: Das Schalenmodell Niels Bohrs Der Atomkern: Protonen und Neutronen Protonen und Neutronen bilden den Atomkern im Zentrum des Atoms. Er ist aufgrund der Protonen positiv geladen und enthält fast die gesamte Masse des Atoms. Neutronen sind elektrisch neutrale Teilchen des

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Kerns. Elemente, die eine gleiche Anzahl von Elektronen, aber unterschiedlich vielen Neutronen, nennt man ‚Isotope‘. Die Protonen und Neutronen werden von einer Art ‚Leim‘ zusammengehalten - der Kern-kraft. Die Atomhülle: Elektronen: Die Atomhülle wird von den Elektronen - negativ geladene Teilchen, die um den Atomkern kreisen- gebil-det. Die Elektronenanzahl entscheidet über die chemischen Eigenschaften eines Elements. Die Elektronen auf dem äußersten Ring des Atoms werden Valenzelektronen genannt. Wenn sie das nächste Mal einen Wasserkocher bedienen, können Sie den Anwesen auch sagen: „Ich lass jetzt mal ein paar Valenzelektronen fließen“, denn das Fließen des elektrischen Stroms in leitendem Material entspricht der Bewegung von Va-lenzelektronen. Übrigens: die Bewegung der Elektronen um den Kern kann nicht exakt beschrieben werden, es sind nicht wirklich runde Bahnen. Es kann nur eine Wahrscheinlichkeit angegeben werden, ein Elektron in einem be-stimmten Teil des Raumes anzutreffen. Eine Erklärung für dieses Verhalten liefert die Heisenbergsche Un-schärferelation. Am 9.November 1933 erreichte ihn ein Telegramm: Er hatte den Nobelpreis für Physik des Jahres 1932 „für die Aufstellung der Quantenmechanik” erhalten. Folie 11

Wasserstoff: 1 Proton

Ordnungszahl = Protonenzahl

= Elektronenzahl

Das Periodensystem der Elemente

Sauerstoff: 8 Protonen

Gold: 79 ProtonenUran: 92 Protonen

Dmitri Mendelejew (1834-1907)

Das Periodensystem der Elemente In der Natur gibt es 92 Elemente, aus denen ist alle Materie aufgebaut ist. Geordnet werden sie nach der Anzahl ihrer Protonen im Kern, diese entspricht auch immer den, den Kern umkreisenden Elektronen. Einen systematischen Überblick hierfür bot erstmals das Periodensystem der Elemente. Entwickelt wurde es 1869, es geht zurück auf den Russen Dmitri Mendelejew (1834-1907). Die Elemente sind hier mit ihrer Ordnungszahl und ihrer Kurzbenennung aufgeführt. Radium beispielsweise wird mit Ra abgekürzt und steht an 88. Stelle. Mendelejew ordnete die chemischen Elemente nach steigenden Atommassen, wobei Elemente mit ähnli-chen Eigenschaften untereinander stehen. Heute werden die Elemente nach der Anzahl ihrer Protonen im Kern geordnet. Mendelejews System war gewagt: er setzte sich mutig über allerlei Ungereimtheiten hinweg und forderte noch mutiger, es müsse noch unentdeckte Elemente (Germanium, Gallium und Scandium) geben. Er nahm dies an, weil er in seinem System Lücken ausmachte.

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Er könne auch ungefähr sagen, welche Eigenschaften die elementaren Stoffe und welche Formeln entspre-chender Verbindungen dieser Elemente haben würden. Als tatsächlich Elemente hergestellt wurden, die ziemlich genau auf seine Voraussagen von 1869 passten, war der Ruhm für Mendelejew gesichert. Rückbli-ckend ist diese Ordnungsstruktur unter den Atomen der erste Hinweis darauf, dass diese Ihrerseits aus Bausteinen zusammengesetzt sind. Die Berechnung des Atomgewichts Woher kannte Mendelejew aber nun die Gewichte der verschiedenen Atome? Die Chemiker des neunzehnten Jahr-hunderts konnten die Atome nicht einzeln nehmen und auf eine Waage legen. Sie konnten nur chemische Reaktio-nen studieren, bei denen eine gewaltige Zahl von Atomen gleichzeitig beteiligt war.Am Anfang des neunzehnten Jahrhunderts hatten Wissenschaftler wie John Dalton entdeckt, dass die Gewichte der Elemente, die an gewissen chemischen Reaktionen teilnahmen, immer in bestimmten Proportionen zueinander standen. Als Beispiel: Wassers-toff und Sauerstoff verbinden sich, um Wasser, H2O, zu bilden. Wenn man will, dass nach der Reaktion weder Was-serstoff noch Sauerstoff übrigbleibt, dann muss das Gewicht des Sauerstoffs vor der Reaktion das achtfache desjeni-gen von Wasserstoff sein. Mendeleev und seine Zeitgenosssen wussten nicht, wieviel ein gegebenes Atom in Kilo-gramm oder Gramm wog, aber durch die Untersuchung von chemischen Reaktionen konnten sie herausfinden, in welchem Verhältnis die Massen der Atome zueinander standen. Daher gelang es Mendelejew, die Elemente in der Reihenfolge ihrer Gewichte, vom leichtesten bis zum schwersten, anzuordnen.

Ein Gang durch die Elemente Wasserstoff mit nur einem Proton bildet den Anfang des Periodensystems, es ist das leichteste Element. Sauerstoff ist schon etwas schwerer, es hat acht Protonen und steht deshalb an achter Stelle. Gold ist etwas reicher, es kann ganze 79 Protonen sein eigen nennen. Das schwerste in der Natur vorkommende Element ist das Uran, es hat 92 Protonen. Im März des Jahres 2009 sind insgesamt 118 Elemente bekannt. Folie 12

Entdeckung der IsotopeNP Chemie 1921 Frederick Soddy

Entdeckung vieler weiterer Isotope

NP Chemie 1922 Francis Aston

Atom‘familien‘: Die Isotope

Atom’familien‘: Die Isotope Erinnern Sie sich noch an die Familie der elektromagnetischen Strahlung – Radiowellen, Mikrowellen, sich-tbares Licht und Röntgenstrahlung? Auch bei den Atomen gibt es solche ‚Familien‘. Da gib es beispielsweise die Uranfamilie. Sie besteht aus drei Akteuren, die sich zwar nicht in der Anzahl ihrer Protonen, wohl aber in der Anzahl ihrer Neutronen unterscheiden. Die Summe aus Protonen, in der Uranfamilie sind es immer 92, und Neutronen, diese Anzahl kann unterschiedlich sein, gibt unter dem Strich die ‚Massenzahl‘ eines Atoms. Im Fall des Urans gibt es U-234, U-235 und U-238. Diese verschiedenen Mitglieder einer Atomfami-lie werden ‚Isotope‘ genannt.

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Entdeckt wurde diese Vielfalt von Frederick Soddy, er bekam den Nobelpreis für Physik 1921 „für seine Bei-träge zur Kenntnis der Chemie der radioaktiven Stoffe und seine Untersuchungen über das Vorkommen und die Natur der Isotopen“. Viele weitere Isotope wurden von Francis Aston (1877-1945) entdeckt, der 1922 den Nobelpreis in Chemie erhielt „für seine Entdeckung von Isotopen, darunter weitgehend die nicht-radioaktiver Elemente unter Zuhilfenahme seines Massenspektrographen und für seine Formulierung der ‚Regel der Ganzzahligkeit‘“. Folie 13

Instabile Elemente

Dieses Radium! Immer am Feiern!

Instabile Elemente Die meisten Atome sind in gewisser Weise ruhige Zeitgenossen, sie senden keine Energie aus. Der wissen-schaftliche Ausdruck hierfür ist ‚stabil‘. Doch neben den stabilen Atomen gibt es auch solche, die quasi im-mer etwas zu tun haben, die also nur schwer zur Ruhe kommen. Radium zum Beispiel ist ein solches Ele-ment. Es sendet ständig Strahlung in Form von alpha-Teilchen, beta-Teilchen und Gammawellen aus - es ist ‚radioaktiv‘.

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Folie 14

Radioaktive Strahlung besteht aus drei

Phänomenen

1. ALPHA-Strahlen sind beschleunigte, positiv geladene Helium-Kerne.

Geringe Durchschlagskraft, Metallfolie/Papier stoppt.

2. BETA-Strahlen sind beschleunigte, negativ geladene Elektronen.

Gestoppt von ca. 15 Blatt Papier.

3. GAMMA-Strahlung ist eine extrem kurzwellige elektromagnetische Strahlung.

Kann nur durch dicke Bleiplatten aufgehalten werden.

Identifizierung der α-, β- und γ−Strahlung (1897, Rutherford)

Alpha-Strahlen Als Alpha-Strahlen hat man Helium-Atomkerne identifiziert, die aus zwei Protonen und zwei Neutronen bestehen und positiv geladen sind. Ein Beispiel für einen Alphastrahler ist das Element Radium. Der Kern Radium-226 hat 88 Protonen und 138 Neutronen. Dieser Kern ist nicht stabil, d. h., dass die Kernkräfte die Abstoßungskräfte der Protonen nicht vollständig kompensieren. Der Kern versucht also, einen stabileren Zustand zu erreichen, indem er ein Helium-Atomkern ausstößt. Diese alpha-Teilchen haben nur geringe Durchschlagskraft, bereits eine Papierseite kann sie stoppen. Beta-Strahlen Beim Beta-Zerfall wird aus dem Kern eines radioaktiven Atoms ein Elektron ausgestoßen. Es handelt sich also um beschleunigte, negative Elektronen. Deren Geschwindigkeit kann zwischen fast Null und fast Licht-geschwindigkeit variieren. Um sich vor ihnen zu schützen, müsste man schon etwas mehr Aufwand betrei-ben. Sie sind aufzuhalten durch ca. 15 Blatt Papier oder einer dünnen Metallfolie. Gamma-Strahlen Gamma-Strahlung ist elektromagnetische Strahlung. Sie ist damit gleicher Natur wie Radiowellen, Mikro-wellen oder das sichtbare Licht. Sie ist jedoch wesentlich energiereicher. Abgesehen von der Art der Ent-stehung ähnelt sie damit der kurzwelligen Röntgenstrahlung. Aufgehalten werden kann sie nur durch dicke Bleiplatten.

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Folie 15

Die Radium-Zerfallsreihe

Radium (instabil) sendet Alphateilchen aus

=> Radon, sendet Alphateilchen aus

=> Polonium => (…) => (…)

= > Blei (stabil) beendet die Reihe

Ernest Rutherford (1871-1937)

NP Chemie 1908

Die Radium-Zerfallsreihe Wenn der Kern beim radioaktiven Zerfall einen stabileren Zustand zu erreicht, geschieht dies, indem er ein Helium-Atomkern ausstößt. Er sendet also Teile seines Inneren aus. Dadurch ändert sich aber die Anzahl seiner Protonen, und daher kann dann aus einem Element tatsächlich ein anderes Element werden. Wieder waren es Ernest Rutherford und Frederick Soddy, die diese ‚Transmutation‘ 1902 entdeckt haben. ‚Transmutation‘ ist eigentlich ein Begriff, der nicht aus der modernen Chemie, sondern aus der mittelalterli-chen, magisch fundierten Alchemie stammt. In der Alchemie wurde unter anderem versucht, ein Element, das häufig vorkommt und eher preiswert ist, das Blei beispielsweise, in ein als wertvoller erachtetes Ele-ment umzuwandeln, Gold zum Beispiel. Als Rutherford klar wurde, dass dieser Prozess tatsächlich möglich ist, sagte er zu seinem Kollegen, dass alle sie „für verrückt halten“ würden, doch: für seine Erkenntnisse bekam er den Nobelpreis für Chemie im Jahr 1908. Jene mittelalterlichen Alchemisten, die aus Quecksilber Gold machen wollten, hatten also die richtige Ah-nung: Offenbar braucht man nur dem Quecksilber mit der Ordnungszahl 80 ein Proton zu entreißen, und es ist — Gold. Tatsächlich haben die ‚Alchemisten von heute‘ bereits Gold aus Quecksilber gemacht. Wirt-schaftlich ist diese Umwandlung aber wertlos, da unter großem Aufwand nur mikroskopische Mengen um-gesetzt werden. Solche Reaktionen zwischen Atomkernen sind nämlich sehr selten — auf etwa .500 000 Schuss kommt ein Treffer. Der Physiker Ernest O. Lawrence (1901-1958) hat zwar ein ‚Maschinengewehr‘ für Atome gebaut, das viel dichtere Geschoßgarben liefert, doch die Umwandlung von Elementen gelingt nur in unwägbaren Mengen. Der Erfinder dieses ‚Maschinengewehrs‘, des so genannten ‚Zyklotron‘ erhielt 1939 dafür den Nobelpreis für Physik. Was beim radioaktiven Zerfall passiert lässt sich anhand von Früchten gut beschreiben. Stellen Sie sich vor, es ist Sommer und sie haben eine Radtour gemacht. Nun halten Sie an und packen ein Picknick aus. Es be-steht aus einer saftigen Wassermelone. Lecker, denken Sie und wollen gerade das Messer ansetzen, da se-hen Sie, wie mehrere Samenkörner aus der Frucht hinausfliegen, gleichzeitig verwandelt sich die Wasser-melone vor ihren Augen in eine etwas kleinere Honigmelone. Als sie verdutzt auf diese neue Melone schauen, fliegen schon wieder einige Samenkörner aus deren Innern. Bevor Sie realisieren können, was da eigentlich passiert, ist aus der Honigmelone unter Abstrahlung weiterer Samenkörner ein Apfel geworden! Was ist denn hier los, denken Sie, wupps, ist aus dem Apfel eine Orange, und kurz danach eine Zitrone ge-worden. Na toll, sie wollten doch ihren Durst an einer Wassermelone stillen, was können Sie jetzt mit einer

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Zitronen anfangen?? Sie warten also ab. Ihr Hintergedanke: vielleicht wird die Zitrone ja wenigstens ein Henkel Trauben. Sie warten und warten, aber nichts passiert. Die Zitrone bleibt eine Zitrone. Ts. Sie schauen sich um… steht da irgendein Zauberer und treibt seinen Ulk mit mir? Aber: niemand zu sehen. Leicht ge-nervt versuchen Sie den Saft der Zitrone lecker zu finden… . Dankenswerterweise wandeln sich Früchte abseits dieser Geschichte nicht so um. Doch den Prozess des radioaktiven Zerfalls kann man sich mit dieser Analogie durchaus verbildlichen. Oben im Bild ist die Zerfalls-reihe von Radium aufgezeichnet. Sie beginnt bei Radium, das dann zu Polonium wird, weitere Zwischen-formen durchlebt, bis es schließlich als Blei mit der Massezahl 206 ‚zur Ruhe kommt‘. Wie schnell zerfallen denn die radioaktiven Elemente? Das ist unterschiedlich. Viele zerfallen sehr schnell, insbesondere die mit dem Zyklotron oder Teilchenbeschleuniger hergestellten - deswegen gibt es sie auch nicht mehr, sie sind schon alle zerfallen. Aber nicht alle haben es so eilig. Der Zerfall von Uran 238 hat bei-spielsweise eine Halbwertzeit von etwa 4,5 Milliarden Jahren. Er läuft über 17 Zwischenschritte ab. Hierbei beträgt die Halbwertszeit des am schnellsten zerfallenden Elements (Polonium 218) nur ca. eine tausend-stel Sekunde und die des am langsamsten zerfallenden Elements (Uran 234) ca. 25000 Jahre. Folie 16

Die Geschichten des Nobelpreises

7.:

Die Entdeckung der Radioaktivität

Jetzt haben wir doch schon einiges über den Aufbau der Materie und auch über Radioaktivität erfahren. Aber, wer hat die Radioaktivität denn eigentlich entdeckt? Darum geht’s in der nächsten Geschichte, die uns der Nobelpreis zu erzählen hat. Um sie von Anfang an zu hören, müssen wir die Zeit noch einmal etwas zurückdrehen, und zwar bis ins Paris des Jahres 1896… .

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Folie 17

Antoine Becquerels strahlende Steine

Ähnelt Luminiszenz der Röntgenstrahlung?

Versuch mit Uranerz auf verhüllter Fotoplatte

Zufallsentdeckung: auch unbestrahlte Brocken schwärzen Film

Antoine Becquerels strahlende Steine Im Paris des ausgehenden 19. Jahrhunderts forschte Antoine Henry Becquerel. Sicher haben sie den Namen schon einmal gehört. Seit dem ‚Super-GAU‘ von Tschernobyl 1986 kennen ihn fast alle. Damals gab es plötz-lich ‚Becquerel‘ im Regen, in Pilzen und in der Milch - in ‚Becquerel‘ misst man die Strahlung radioaktiver Stoffe - benannt nach ihrem Entdecker, Antoine Henri Becquerel. Antoine Henri war schon der dritte Becquerel, der sich mit Physik befasst. Sein Großvater Antoine César begründete die Wissenschaftler-Dynastie: Er forschte Anfang des 19. Jahrhunderts am Museum für Natur-geschichte in Paris und gilt als erster Elektrochemiker. Unter anderem entdeckte er den Piezo-Effekt, der bis heute den Funken in Feuerzeugen zündet. Antoine César machte seinen Sohn Alexandre Edmond zu seinem Assistenten und schlug ihn später auch als seinen Nachfolger am Physik-Lehrstuhl des Pariser Museums vor. Später wurde dieser Becquerel-Spross auch Präsident der französischen Akademie der Wissenschaften und führte die Elektro-Experimente des Vaters fort, indem er sie mit der Erforschung der Sonnenstrahlung verbindet. So entdeckte Alexandre Ed-mond die unsichtbare ultraviolette Strahlung. Er arbeitetete mit den ersten Batterien und beobachtet, dass sich ihr Stromfluss unter Sonneneinstrahlung steigern lässt. Deshalb gilt er heute auch als einer der Väter der Photovoltaik, der Herstellung von Strom aus Sonnenenergie. Der Sohn von Antoine César, jener Antoine Henri, von dem wir sprechen wollen, wurde wieder Assistent des väterlichen Lehrstuhls - und damit später der bereits dritte Becquerel auf demselben Lehrstuhl. Und er macht den Familiennamen unsterblich - der Strahlung wegen. Die Geschichte verlief so: 1895 hatte Conrad Röntgen die Materie durchdringende Strahlung entdeckt, die er selbst X-Strahlen nannte. Die Aufnahmen der gespenstisch durchleuchteten Hand seiner Frau Bertha schickte er an Kollegen quer durch Europa. Henri Poincaré stellte Röntgens Ergebnisse 1896 auf einer Sit-zung der Französischen Akademie der Wissenschaften vor, auch Antoine Becquerel ist da unter den Anwe-senden. Er war sofort fasziniert von den Bildern und der mysteriösen Strahlung, durch die sie erzeugt wurden. Er erkannte Parallelen zu seinem Forschungsgebiet, den Phänomenen der Lumineszenz. Kurz zum Begriff ‚Lu-mineszenz‘: Das ist der Überbegriff für ‚Fluoreszenz‘, das heißt, das Leuchten von Gegenständen bei Be-

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strahlung und der ‚Phosphoreszenz‘, einem Nachleuchten, wie man es beispielsweise aus dem Wecker kennt, dessen Ziffern noch einige Zeit leuchten, wenn sie von der Nachttischlampe bestrahlt wurden. Mit dem Expertenwissen über die Lumeniszenzforschung und der passenden fotografischen Ausrüstung im Labor machte sich Becquerel sogleich an die Arbeit. Sein Ziel war es, die X-Strahlung fluoreszierender Stoffe nachzuweisen. Becquerels Experiment war eigentlich simpel: Er wickelte eine fotografische Platte in mehrere Lagen un-durchsichtigen Papiers, platzierte darauf eine unter Einstrahlung von Licht fluoreszierende Probe Uransalz und legte das Paket in die Sonne. Tatsächlich zeichnete sich auf der anschließend entwickelten Fotoplatte der Umriss der Probe ab. Das Ergebnis ließ Becquerel an eine durchdringende Strahlung - ähnlich den X-Strahlen - in Folge von Fluoreszenz glauben. Ein Irrtum. Ende Februar 1896 hatte Henri Becquerel ein weiteres Experiment mit einem Uransalz vorbereitet. Doch die Sonne hatte sich verzogen. So blieb das Paket aus Probe und verpackter Fotoplatte zwei Tage lang in einer dunklen Schublade liegen. Am 2. März berichtet er dann der Akademie der Wissenschaften: "Da sich die Sonne tagelang nicht zeigte, entwickelte ich die fotografischen Platten am 1. März in der Erwartung, nur ganz schwache Bilder vorzufinden. Ganz im Gegenteil, die Umrisse erschienen mit großer Intensität. Sofort drängte sich mir der Gedanke auf, dass der Prozess demnach auch im Dunkeln weitergehen könnte." Richtig. Es handelte sich nämlich nicht um Fluoreszenz, sondern um eine spontane, von der Beleuchtung unabhängige Strahlung des Uransalzes. Die meisten Wissenschaftler verloren an dieser Entdeckung jedoch schnell das Interesse. Eine kaum begrenzte Zahl verschiedener Strahlen, von Kathoden- über Kanal- zu Glühwürmchenstrahlung beschäftigten damals die Forscher, und in der Öffentlichkeit waren Röntgens X-Strahlen an Unterhaltungswert ohnehin nicht zu überbieten. Becquerel selbst forschte weiter mit Uran. Es gelang ihm nachzuweisen, dass sich die emittierte Strahlung durch magnetische Felder ablenken lässt und Gase ionisiert, das heißt elektrisch auflädt. Die Strahlung be-steht demnach aus den kurz zuvor von Joseph J. Thomson identifizierten Elektronen, folgerte er. Außerdem konnten die Strahlen auch die Haut verbrennen, wie Becquerel am eigenen Leib erfuhr. Da Becquerel sich jedoch von anderen Forschungsgebieten mehr versprach, überließ er die Untersuchung der Becquerel-Strahlen weitgehend seiner Assistentin Marie Curie und deren Mann Pierre.

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Folie 18

Marie Curie (1867-1934 ) und Pierre Curie (1859-1906)

Freunde von Antoine Becquerel

Forschungsthema ‚Uranstrahlung‘

Die Erforschung der Radioaktivität

Pechblende U2O3

Piezoelektrische Apparatur zurMessung der Strahlungsstärke

Die Erforschung der Radioaktivität Marie Skłodowska-Curie (1867-1934) widmete ihren Forscherehrgeiz dem Phänomen, dem der Physiker Henri Becquerel auf die Spur gekommen ist. In einem feuchten, unbeheizten Schuppen richteten sich Marie und Pierre Curie ein Labor ein, um die Ursache jener Strahlung zu klären. Der deutsche Chemiker Wilhelm Ostwald, der den Ort der Forschung besucht hatte, erklärte danach „Dieses Laboratorium diente als Lager-raum für Brennholz und Kartoffeln. Wenn ich nicht die chemischen Apparaturen darin gesehen hätte, hätte ich gedacht, man wolle sich über mich lustig machen.“ Der piezoelektrische Effekt Bei Maries Forschungen kam ihr zugute, dass ihr Mann Pierre einige Jahre zuvor für seine Forschungen ein hochempfindliches Elektrometer entwickelt hatte, das auf dem piezoelektrischen Effekt beruhte. Schneidet man einen Quarzkristall entlang der optischen Achse in eine dünne Scheibe, dann entsteht bei Zug oder Druck senkrecht zur optischen Achse eine elektrische Spannung, die der mechanischen Belastung propor-tional ist und umgekehrt. Mit diesem piezoelektrischen Effekt ließen sich erstmals exakt reproduzierbare Spannungen erzeugen. Da Becquerelstrahlen (so wurde diese Strahlung damals genannt) ionisierend wirken, stellte sich das Prob-lem einer exakten Messung ihrer Stärke. Genau dafür eignete sich der piezoelektrische Effekt. Marie und Pierre Curie entwickelten eine Apparatur, die aus drei Teilen bestand. Auf der rechten Seite der Apparatur war ein piezoelektrisches Element, mit dem eine Spannung erzeugt wurde. Damit wurde ein Kondensator geladen, der sich in der Mitte der Apparatur befand. Wenn man eine definierte Menge strahlenden Mate-rials zwischen die Kondensatorplatten brachte, wurde die umgebende Luft ionisiert. Diese entlud langsam den Kondensator. Links war ein Elektrometer angebracht, mit dem sich dieser Vorgang verfolgen ließ. Ge-messen wurde die Zeit, in der sich der Kondensator entlud. Die Zeitdauer ist ein Maß für die Stärke der io-nisierenden Strahlung. Nach der Untersuchung aller bis dahin bekannten Elemente kamen Maire und Pierre zu dem Schluss, dass nur Uran und Thorium strahlen. Außerdem gab es keinen Einfluss von Licht und Temperatur auf die Strah-lenintensität.

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Folie 19

Nobelpreis in Physik 1903

NP in Physik 1903:Pierre und Marie Curie und Antoine Henre Becquerel „für die Entwicklung und Pionierleistung

auf dem Gebiet der spontanen Radioaktivität und der Strahlungsphänomene“

Der Nobelpreis in Physik 1903 Zusammen mit ihrem Ehemann Pierre Curie und dem Physiker Antoine Henri Becquerel erhielt Mme Curie 1903 den Nobelpreis für Physik „als Anerkennung des außerordentlichen Verdienstes, das sie sich durch ihre gemeinsamen Arbeiten über die von Antoine Henri Becquerel entdeckten Strahlungsphänomene er-worben haben.“ Folie 20

Marie Curie (1867-1934 )

Pechblende strahlt stärker als erwartet

Entdeckung neuer Elemente

1. ‚Polonium‘ (nach ihrem Heimatland)

2. ‚Radium‘ (das Strahlende)

-1911 Nobelpreis für Chemie (2.NP, andere Disziplin!)

- prägte den Begriff ‚Radioaktivität‘

Die Entdeckung neuer Elemente

Die Entdeckung neuer Elemente Marie Curie gelangte außerdem zu der wichtigen Feststellung, dass manche Uranerze eine wesentlich hö-here Strahlenintensität besitzen als reines Uranmetall. Dies trat besonders deutlich bei der untersuchten Pechblende auf. Daraus schloss sie, dass mindestens ein weiteres radioaktives Element in der Pechblende vorhanden sein musste. Tonnenweise wurde es aus Bergwerken im böhmischen St. Joachimsthal nach Paris geschafft und dort von ihr in jahrelanger Schwerstarbeit zerkleinert, erhitzt und mit Flüssigkeit versetzt zu werden. So gelang es Marie Curie, winzige Spuren eines Elementes zu isolieren, von dem jene geheimnisvolle Strahlung ausging.

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1898 schließlich wagt sie es, der gegenüber einer Frau äußerst misstrauischen Fachwelt die Entdeckung eines neuen Elementes in Aussicht zu stellen: "Zwei Uranverbindungen [ ...] sind weit aktiver als das Uran selbst. Diese Tatsache ist sehr bedeutungsvoll und führt zu der Annahme, dass diese Mineralien mögli-cherweise ein Element enthalten können, das weit aktiver ist als das Uran.“ Nach dem ersten strahlenden Element, das Madame Curie auf den Namen Radium taufte (lat. Radius= der Strahl), entdeckte das Forscher- Ehepaar noch ein zweites. Es erhielt, nach Maries Heimatland, den Namen Polonium. Allerdings vergingen noch weitere vier Jahre, bis Marie Curie endlich ein Zehntel Gramm Radium gewonnen hat und sein Atomgewicht bestimmen konnte. Durch diese Entdeckung wurden zahlreiche Wis-senschaftler angeregt, radioaktive Elemente chemisch zu analysieren. Dadurch war bereits 1904 über ein Dutzend radioaktiver Elemente bekannt. Bis 1913 war die Zahl der ‚Radioelemente‘ auf fast 40 angestiegen. 1911 wurde Marie Curie für die Entdeckung und Isolierung von Radium und Polonium mit dem Nobelpreis für Chemie ausgezeichnet. Marie Curie war damit die erste Wissenschaftlerin, die in diesen Fachgebieten einen Nobelpreis erhielt, und ist bisher gleichzeitig die einzige Frau, der mehr als ein Nobelpreis verliehen wurde. Außerdem sind Marie Curie und Linus Pauling (Physik- und Friedensnobelpreis) bis heute die beiden einzigen Menschen, die einen Nobelpreis auf mehreren Gebieten erhielten. Curie die Einzige überhaupt, die ihn in zwei Disziplinen der Forschung verliehen bekam Ihr jahrelanges permanent ungeschütztes Hantieren mit den radioaktiven Substanzen bezahlte die Strahlen-Pionierin mit dem Leben. Am 4. Juli 1934 stirbt Marie Curie nach jahrzehntelangem Leiden an Leukämie. Heute ruht Marie Curie an der Seite ihres Mannes im Pariser Pantheon. Folie 21

Die Geschichten des Nobelpreises

8.:

Auf dem Weg zur Kernspaltung

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Folie 22

Beschuss von Alumiumatomenmit alpha-Teilchen

Nobelpreis für Chemie 1935 „für die Synthese neuer radioaktiver Elemente“

Entdeckung der künstlichen Radioaktivität

Die Entdeckung der künstlichen Radioaktivität Marie Curie hatte die ersten beiden radioaktiven Elemente Polonium und Radium entdeckt. Irène und Fré-déric Joliot-Curie fanden nun in mehreren Etappen heraus, dass sich radioaktive Isotope von chemischen Elementen auch künstlich herstellen lassen. Die Elementumwandlung beschränkte sich allerdings auf die leichteren chemischen Elemente, da bei schwereren Elementen deren hohe positive Kernladung das Ein-dringen des ebenfalls positiv geladenen α-Teilchens in den Atomkern verhinderte. Für die Entdeckung die-ser künstlichen Radioaktivität erhielten Joliot-Curie 1935 den Nobelpreis für Chemie. Folie 23

Neutronenbestrahlung chemischer Elemente (E. Fermi, 1934)

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Enrico Fermi (1901 - 1954)James Chadwick (1891 - 1974)

Entdeckung der Neutronen: James Chadwick, NP Physik 1935

Enrico Fermi: Suche nach ‚Transuranen‘ (Ordnungszahl 92+x)

Neutronen statt alpha-Teilchen (Joliot-Curie) NP Physik 1938

Die Neutronenbestrahlung chemischer Elemente durch Fermi (1934) Angeregt durch die Entdeckung des Neutrons durch James Chadwick im Jahr 1932, der für seine Leistung 1935 den Nobelpreis für Physik erhielt, sowie durch den Nachweis von Kernumwandlungen nach Bestrah-lung mit Alphateilchen durch Irène und Frederic Joliot-Curie wandte sich der Italiener Enrico Fermi 1934 der Experimentalphysik zu.

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Seine bahnbrechende Entdeckung war, dass Kernumwandlungsprozesse durch Neutronenstrahlung wesent-lich effektiver ablaufen. In Rom setzte Fermi in den Jahren 1934/35 die Versuche von Joliot-Curie zur Hers-tellung künstlich radioaktiver Elemente fort. Zur Bestrahlung verwendete er das elektrisch ungeladene Neutron, das also im Gegensatz zu den von Curie verwendeten alpha-Teilchen auch in Atomkerne mit ho-her Kernladungszahl ungehindert eindringen kann. An 68 der damals bekannten 89 chemischen Elemente wurden die Bestrahlungen durchgeführt, bei 47 Elementen wurde eine Umwandlung beobachtet. Das auf den Atomkern auftreffende Neutron wurde dabei in den Kern aufgenommen, es entstand ein Isotop des bestrahlten Elements mit einer um eine Einheit hö-heren Massenzahl. Was würde passieren, wenn auf einen Urankern, das schwerste in der Natur vorkom-mende Element, geschossen würde? Diese Überlegung war einen Versuch wert. Gesucht wurden soge-nannte ‚Transurane‘, also Elemente, die im Periodensystem hinter der Zahl 92 einzuordnen wären. Durch Neutronenbestrahlung des damals schwersten bekannten Elementes Uran erzielten Fermi und seine Mitarbeiter tatsächlich Veränderungen im Ausgangsmaterial: anderes chemisches Verhalten und geänderte Halbwertzeiten der austretenden Strahlung. Sie interpretierten diese irrtümlich als Kernumwandlung zu Transuranen. Doch eigentlich war es die unerkannte Kernspaltung des Urans, die sich bei der Suche nach Transuranen ereignete. Uran-238 reagierte mit Neutronen zwar nach gedachtem Schema, aber diese Reak-tion wurde völlig überlagert von der Spaltung des damals noch unbeachteten Isotops Uran-235, dessen zahlreichen Spaltprodukte für Transurane gehalten und als solche beschrieben wurden. (Die Uranfamilie besteht aus den Isotopen 238U (99,28 %), 235U (0,715 %) und 234U (0,005 %). Weil Uran mit Neutronen überwiegend anders reagiert als angenommen und die vermuteten Verwandtschaftsbeziehungen gar nicht gelten, war der Weg zur Aufklärung der Sachverhalte langwierig und mühsam. Weitere Versuche zur Aufklärung des Reaktionsablaufs und zur chemischen Identifizierung der Umwand-lungsprodukte wurden von dem Physiker Fermi nicht vorgenommen. Den Nobelpreis für Physik erhielt er 1938 aber ausgerechnet für diesen Irrtum in seiner Karriere: Durch den Beschuss von Uran mit langsamen Neutronen glaubte Fermi Transurane erzeugt zu haben. Nach der Verleihung kehrte er nicht in das faschisti-sche Italien zurück, sondern emigrierte mit seiner Frau in die USA. Folie 24

Otto Hahn (1879-1968) Fritz Strassmann (1902-1980)Lise Meitner (1878-1968)

Neutronenbestrahlung von Uran, Berlin 1934–38

Die Neutronenbestrahlung von Uran in Berlin 1934–1938 Das einzige Institut in Deutschland, das sich in dieser Zeit mit radiochemischen und zugleich auch kernphy-sikalischen Fragen befasste, war das Kaiser-Wilhelm-Institut für Chemie in Berlin. Der damalige Direktor des

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Instituts, dem gleichzeitig auch die chemisch-radioaktive Abteilung unterstand, war der Radiochemiker Otto Hahn, die Leiterin der physikalisch-radioaktiven Abteilung war die Physikerin Lise Meitner. Beide kannten sich seit 1907, beide hatten sich an der Universität in Berlin habilitiert. In der Hahnschen Abteilung arbeite-te weiterhin der Chemiker Fritz Straßmann. Fermis Beobachtungen bei der Neutronenbestrahlung von Uran wurden gegen Ende des Jahres 1934 am KWI in Berlin von diesem Team aufgegriffen. So begann in Berlin eine Suche nach Transuranen, die volle vier Jahre andauerte und zur tatsächlichen Entdeckung der Kernspaltung führte. Die damals verwendete chemi-sche und physikalische Ausrüstung befindet sich heute im Deutschen Museum in München. Verglichen mit den heute zur Verfügung stehenden Messgeräten waren die damaligen Einrichtungen äußerst einfach, wenn nicht gar primitiv. Bis 1938 glaubten alle Wissenschaftler, dass die Elemente mit Ordnungszahlen 92+X entstehen, wenn man Uranatome mit Neutronen beschießt. Das Zerfallen schwerer Atomkerne in leichtere Elemente galt als völ-lig unzulässige Theorie. Bis zum Sommer 1938 verlief die Arbeit am KWI in Berlin unbeeinflusst von den politischen Ereignissen in Deutschland. Die Kernphysikerin Meitner, der Radiochemiker Hahn und der Ana-lytiker Straßmann ergänzten sich auf das Beste. Lise Meitner Lise, eigentlich Elise, Meitner hatte sich bereits in den ersten Jahren ihres Studiums mit Fragestellungen der Radioaktivität beschäftigt. Sie promovierte 1906 als zweite Frau an der Wiener Universität im Hauptfach Physik und bewarb sich anschließend bei Marie Curie in Paris, allerdings erfolglos. Lise Meitners Wirkungs-stätte wurde dann ab 1907 Das Kaiser-Wilhelm-Institut für Chemie in Berlin, das heutige Institut für Bio-chemie der Freien Universität Berlin. Dort wollte sie vor allem Vorlesungen bei Max Planck hören. Sie traf aber auch erstmalig auf den jungen Chemiker Otto Hahn, mit dem sie die folgenden 30 Jahre zusammenar-beiten würde. Sie arbeitete mit Hahn in dessen Arbeitsraum, einer ehemaligen „Holzwerkstatt“, im Chemi-schen Institut der Berliner Universität. Von 1912 bis 1915 war sie inoffizielle Assistentin bei Max Planck. 1912 verbesserten sich die Arbeitsbedin-gungen von Hahn und Meitner deutlich, als sie ihre Forschungen in der von Hahn aufgebauten radioaktiven Abteilung des neu gegründeten Instituts für Chemie der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft in Berlin-Dahlem fort-setzen konnten. Habilitieren kann sie sich erst in der Weimarer Republik; ihre Antrittsvorlesung über „Prob-leme der kosmischen Physik“ wird von der ungläubigen Tagespresse als „Probleme der kosmetischen Phy-sik“ angekündigt. Während des Ersten Weltkriegs diente Lise Meitner als Röntgenschwester der österreichischen Armee in einem Lazarett an der Ostfront, während Otto Hahn von Fritz Haber an Projekten zur Herstellung von Gift-gas beteiligt wurde. Von 1917 an arbeitete Lise Meitner erneut gemeinsam mit Otto Hahn. Meitners Flucht Vertreibung und die Frage Otto Hahns 1933 wurde Lise Meitner die Lehrbefugnis aufgrund ihrer jüdischen Abstammung entzogen, sie konnte aber ihre Arbeit am nicht staatlichen Kaiser-Wilhelm-Institut mit Otto Hahn an Bestrahlungsexperimenten mit Neutronen fortsetzen. 1938, als Deutschland Österreich annektierte, wurde Lise Meitner deutsche Staats-bürgerin und war dadurch als gebürtige Jüdin in besonderer Weise gefährdet. Otto Hahn hatte große Sorge um ihre Sicherheit und bereitete daher ihre illegale Emigration vor, die am 13. Juli gelang. Über Holland und Dänemark kam sie anschließend nach Schweden, wo sie ihre Forschungen bis 1946 am Nobel-Institut fort-setzte. Hahn und Meitner korrespondierten weiter miteinander. Ende Dezember 1938 schrieb ihr Otto Hahn von einem Vorgang, den er, zusammen mit seinem Assistenten Fritz Straßmann, aufgrund äußerst sorgfältiger chemischer Methoden entdeckt hatte, er bezeichnete den Vorgang als ein mögliches „Zerplat-

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zen“ des Urankerns. Er fragte sie in dem Brief: „Wäre es möglich, dass das Uran 239 zerplatzt in ein Ba und ein Ma? Es würde mich natürlich sehr interessieren, Dein Urteil zu hören. Eventuell könntest du etwas aus-rechnen und publizieren.“ Sie antwortet ihm auf seinen ersten Brief am 21. Dezember 1938: „Mir scheint die Annahme eines so weitgehenden Zerplatzens sehr schwierig, aber wir haben in der Kern-physik so viele Überraschungen erlebt, dass man auf nichts ohne weiteres sagen kann: es ist unmöglich.“ Folie 25

Kernspaltung - Theoretische Überlegungen

Otto Frisch (1904-1979)

Kernspaltung - Theoretische Überlegungen Lise Meitner verbrachte die Weihnachtstage des Jahres 1938 bei schwedischen Freunden in der Nähe von Göteborg und hatte ihren Neffen Otto Frisch gebeten, sie dort zu besuchen. Frisch ist zu dieser Zeit Physiker bei Niels Bohr am Institut für Theoretische Physik in Kopenhagen. Es wurde nach seinen eigenen Worten der bedeutungsvollste Besuch seines Lebens, denn innerhalb weniger Tage fanden sie gemeinsam die Lö-sung des Problems. Bereits im Februar 1939 konnten sie in dem Aufsatz „Disintegration of Uranium by Neutrons: a New Type of Nuclear Reaction“ eine erste physikalisch-theoretische Deutung für das von Otto Hahn formulierte „Zerplatzen“ des Uran-Atomkerns geben. Meitner und Frisch greifen dabei auf eine Mo-dellvorstellung zurück, bei der Atomkerne mit elektrisch geladenen Wassertröpfchen verglichen werden. In diesem Konzept ist der große Urankern ein schon ziemlich labiles Gebilde, das – so ihr Schluss – durch das Einfangen eines Neutrons so heftig in Schwingungen geraten kann, dass er sich in zwei kleinere, etwa gleichgroße Kerne teilt. Otto Frisch prägte dabei den Begriff „nuclear fission“ (Kernspaltung), der in der Fol-gezeit international anerkannt wurde.

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Folie 26

Bindungsenergie wächst mit der Zahl der Nukleonen

Spaltprodukte benötigen weniger ‚Kleber‘ (Massendefekt)

Energie und Massenänderung bei der Kernspaltung I

Energie und Massenänderung bei der Kernspaltung I Erinnern Sie sich noch an den ‚Kleber‘, der notwendig ist, um die Protonen und Neutronen das Atomkerns Kern zusammenzuhalten? Diese Bindungsenergie wächst mit der Zahl der Nukleonen (Überbegriff für Pro-tonen und Neutronen), jedoch nicht gleichmäßig. Für die zwei neu entstandenen Elemente, die Spaltpro-dukte, wird davon weniger gebraucht, als für das ursprüngliche Uran-Atom. Die beiden Bruchstücke haben zusammen eine geringere Masse als der ursprüngliche Uranatomkern, ein winziger Teil bleibt übrig. Dieser Massendefekt ist also die „Bindungsenergie“ des Atomkerns. Folie 27

Energie und Massenänderung bei der Kernspaltung II Nach dem von Einstein 1905 formulierten Gesetz sind Masse und Energie einander äquivalent. Sie sind zwei Formen ein und desselben Phänomens. Masse lässt sich in Energie und Energie in Masse überführen. Das Gesetz lautet: E = m · c2 Wobei E für Energie, m für Masse und c für Lichtgeschwindigkeit steht. Bei einer vollständigen Spaltung von 1 kg Uran-235 tritt ein Massenverlust von 1 g auf. Die Spaltprodukte und sekun-dären Neutronen haben also nur noch eine Masse von 999 g. Das ‚fehlende‘ 1 g wird in Energie umgewan-delt. Lise Meitner und Otto Frisch errechneten mit Einsteins Formel die freiwerdende Energie. Sie schätzten

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sie auf sagenhafte 200 Millionen Elektronenvolt pro gespaltenem Atomkern. Das ist weit mehr, als ein an-derer Prozess irgendwelcher Art liefern könnte. Kernenergie vs.fossile Energie; ein Vergleich Unterstellt man, dass die bei beiden Reaktionen freiwerdende Energie mit einem Wirkungsgrad von 100 % in Wärme umgesetzt und zum Erwärmen von Wasser bis zu dessen Siedepunkt genutzt werden könnte, so kann man durch die Verbrennung von 12 Gramm Kohlenstoff etwa 1 Liter Wasser zum Kochen bringen, bei der Kernspaltung von 235 Gramm Uran-235 sind es 5 • 107 Liter Wasser (= 50.000 Kubikmeter)! Zum Ver-gleich: 50.000 Kubikmeter Wasser entspricht dem Inhalt von 250.000 Badewannen. Diese Menge passt in einen Tank, der 30 Meter hoch ist und einen Durchmesser von 50 Metern hat. Im Gegensatz zu den 235 Gramm Uran stünden 600.000 Tonnen Kohle. Für die blitzschnelle Berechnung, die mir nach der Doppel-stunde mitgeteilt wurde, möchte ich mich beim Auditorium bedanken.

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Folie 28

Die Geschichten des Nobelpreises

9.:

Ge- und Missbrauch der Kernkraft

Folie 29

Kettenreaktion beim Uranisotop 235

Niels Bohr (1885-1962) und Albert Einstein (1879-1955)

Bohr: gespalten wird U235

Joliot: freigesetzte Neutronen können weitere Kerne spalten

Möglichkeit der Kettenreaktion

Die Kettenreaktion beim Uranisotop 235 Niels Bohr entwickelte das von Meitner und Frisch vorgeschlagene Konzept weiter und kam dabei zu der Erkenntnis, dass die Spaltung des Urans nicht am Hauptisotop 238U, sondern am seltenen Uranisotop 235U erfolgt, das im natürlichen Uran nur zu 0,7 % vorhanden ist. Eine Arbeitsgruppe um Frédéric Joliot fand heraus, dass bei der Uranspaltung zwei bis drei Neutronen pro Spaltung freigesetzt werden. Ist genug wei-teres spaltbares Material da, hierfür wurde der Begriff der ‚kritischen Masse‘ geprägt, verursachen diese Neutronen weitere Kernspaltungen, die wiederum weitere verursachen und so weiter. Eine Kettenreaktion entsteht, in der in kürzester Zeit eine unglaubliche Menge an Energie freigesetzt wird. Dadurch erhält die Kernspaltung Konsequenzen, die weit über die Wissenschaften hinaus reichen. Diese Energie resultiert nicht durch eine chemische Reaktion, wie es beim Dynamit beispielsweise der Fall ist, sondern aus dem Freiwerden der Kernkräfte. Die Größenordnungen sind hier völlig unterschiedlich. Man bräuchte ein ganzes Fußballstadion bis oben hin gefüllt mit Sprengstoff, um die gleiche Kraft freizusetzen, die in einer tennisballgroßen Menge an Uran steckt. Schnell kam die Idee auf, diese Energiequelle technisch

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nutzbar zu machen – kontrolliert als Energielieferant für Turbinen oder, unkontrolliert, in Form einer Bom-be, mir einer Sprengkraft, die die Welt noch nicht gesehen hat. Folie 30

Einsteins Brief an Roosevelt 1939

Szillard bittet Einstein, Brief zu unterschreiben

Warnung vor Gefahr einer „Bombe neuen Typs“

Sorge: Hitlerdeutschland arbeitet an Waffe

Folge: Start des ‚Manhattan Projects‘ (USA)

Ziel: erste Atombombe. (‚Trinity‘, 16.07.45)

Einsteins Brief an Roosevelt Die Entdeckung der Kernspaltung beschwor in der Wissenschaftsgemeinde das Gefühl einer bevorstehen-den nuklearen Bedrohung herauf. Im August 1939, kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs, unterzeichnete der damals schon in den USA emigrierte Albert Einstein einen von Leo Szilard verfassten Brief an den ame-rikanischen Präsidenten Franklin D. Roosevelt, der vor der Gefahr einer Bombe neuen Typs warnte, die Deutschland möglicherweise entwickle und gar bald besitze. Dieser Brief wird als ein entscheidendes Do-kument für das In-Gang-Kommen des ‚Manhattan-Projectes‘ zur Konstruktion der ersten Nuklearwaffen gesehen. An den Arbeiten war Einstein jedoch gänzlich unbeteiligt: Seine wissenschaftlichen Prioritäten setzte er auf anderen Gebieten, nicht zuletzt war er ein langjähriger Zweifler an der die Nukleartechnik erst ermögli-chenden Quantentheorie und wurde obendrein wegen seiner unverhüllten Sympathien für den Kommu-nismus als Sicherheitsrisiko eingestuft und von den US-amerikanischen Geheimdiensten beobachtet.

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Folie 31

Plutoniumbombe auf Nagasaki9. August 1945

Vernichtung durch Atombomben

Uranbombe auf Hiroshima6. August 1945.

Vernichtung durch Atombomben Im Jahre 1939 überzeugte Bohr, nachdem er die Kernspaltungsexperimente der deutschen Wissenschaftler Otto Hahn und Fritz Straßmann in ihrer Tragweite erfasst hatte, die Physiker auf einer wissenschaftlichen Konferenz in den USA von der Bedeutung dieser Experimente. Er wies später nach, daß Uran 235 dasjenige Uranisotop ist, das gespalten wird. Bohr kehrte nach Dänemark zurück und wurde nach der deutschen Ok-kupation im Jahr 1940 zum Bleiben gezwungen. Schließlich gelang es ihm und seiner Familie, unter Lebens-gefahr nach Schweden zu fliehen. Von dort reiste er nach England und in die USA weiter, wo sich Bohr in Los Alamos (New Mexico) an der Entwicklung der Atombombe beteiligte. Nach der Explosion der Bombe 1945 widersetzte er sich jedoch der Geheimhaltungspflicht über das Projekt, weil er die Folgen dieser ver-hängnisvollen neuen Entwicklung fürchtete. Bohr setzte sich für eine internationale Kontrolle ein. Gemeinsam mit Enrico Fermi erzeugte Szilárd am 2. Dezember 1942 die erste Kettenreaktion in einem Reaktor und damit den ersten funktionierenden Atomreaktor. Die wichtigsten Ergebnisse wurden trotz Szilárds Drängen auf Geheimhaltung erst von Joliot und schließlich doch von allen Wissenschaftlern veröf-fentlicht. Derweil liefen die Arbeiten in Los Alamos auf Hochtouren. Die Atombombenabwürfe auf Hiroshi-ma und Nagasaki vom 6. und 9. August 1945 wurden von US-Präsident Harry S. Truman am 16. Juli 1945 – unmittelbar nach Bekanntwerden des erfolgreichen Trinity-Tests – beschlossen und am 25. Juli angeordnet. Die Atombombenexplosionen töteten insgesamt etwa 155.000 Menschen sofort. Weitere 110.000 Men-schen starben innerhalb weniger Wochen an den Folgen der radioaktiven Verstrahlung, zahlreiche weitere an Folgeschäden in den Jahren danach. Darauf folgte am 16. August 1945 die Kapitulation Japans, mit der der Zweite Weltkrieg endete. Die Abwür-fe sollten dieses Ende offiziell beschleunigen und damit vielen US-Soldaten das Leben retten. Ob diese Be-gründung zutraf und ob die Abwürfe völkerrechtlich, ethisch und politisch verantwortbar waren, ist stark umstritten.

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Folie 32

Super-GAU, Tschernobyl 1986

‚Strahlendes Erbe‘: Atommüll

Ca. 30 % des Stroms in D werden durch Kernkraft erzeugt.

Atomstrom – eine zweischneidige Sache

Atomstrom – eine zweischneidige Sache Stellen Sie sich vor, es ist Winter, es ist um die Abendzeit und schon dunkel geworden draußen. Achja, kalt ist es draußen auch. In ihrer Wohnung aber liegt der wohlig warme Schein von Glühbirnen, und es ist gut geheizt. Schalten Sie nun die Heizung ein Drittel runter, und schrauben Sie jede dritte Glühbirne raus -so sähe es momentan in Deutschland aus, gäbe es keinen Strom aus Kernkraftwerken. Über 26 Prozent des Stroms in Deutschland wird durch Kernenergie produziert. Zurzeit gibt es in Deutschland 17 aktive Atom-kraftwerke. Wer auf der A 92 von München Richtung Deggendorf fährt, kann das Kernkraftwerk Isar 2 nahe Landshut kaum übersehen. Es ist das leistungsstärkste der Welt: Der Reaktor von Isar 2 kann so viel Strom liefern, dass es für acht Millionen Haushalte reichen würde! Diese enorme Leistung, vergleichbar mit allen 4.000 bayerischen Wasserkraftwerken zusammen, ist der Radioaktivität zu verdanken: Neutronen spalten im was-sergefüllten Reaktorkessel Atomkerne, wodurch sich wieder zwei bis drei neue Neutronen bilden. Bei dieser Kettenreaktion entsteht Kernenergie. Ihre Wärme verdampft das Wasser im Reaktor, der Wasserdampf treibt eine Turbine zur Stromerzeugung an. Der Brennstoff für viele Atomkraftwerke ist das chemische Element Uran, mit dem die ‚Brennstäbe‘ herges-tellt werden. Das gefährlichste Spaltprodukt bei der Kernenergie ist das Element Plutonium. Besorgnis erre-gend ist es deshalb, wenn es in Atomkraftwerken zu Störungen kommt. Insgesamt hat es innerhalb der letz-ten sechs Jahre fast tausend Störfälle in deutschen Atomkraftwerken gegeben. Neben den Risiken der Stromproduktion gibt es bei der Atomkraft noch ein weiteres erhebliches Problem: das ‚strahlende Erbe‘, den radioaktiven Atommüll. Ähnlich wie bei einer Batterie ist auch jeder Uran-Brennstab irgendwann einmal ‚am Ende‘. Allerdings kann er danach nicht weggeworfen werden, da er we-gen seiner Strahlung extrem gefährlich ist. Deshalb werden diese zunächst in eine "Wiederaufbereitungsan-lage" gebracht, wo sie zerlegt und wodurch einige chemische Bestandteile zurück gewonnen werden. Der restliche Atommüll wird in Behältern verstaut. Diese ‚Castoren‘ dienen zur Lagerung und zum Transport von radioaktivem Müll. Es gibt allerdings „noch“ kein wirklich geeignetes Lager für die verbrauchten Brenn-stäbe, aufgrund der langen Halbwertszeit bestimmter Zerfallsprodukte bleiben die Brennstäbe gefährlich. Die Anti-Atomkraftbewegung verwendet zur Illustration dieser Problematik das Bild eines Urmenschen,

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dazu wird getitelt: „Stellen Sie sich vor, sie hätten mit seinem Atommüll zu leben“. Eine nicht von der Hand zu weisende Analogie. Die kurzlebigen Spaltprodukte entsorgen sich zwar sozusagen von selbst, sie haben sich nach einigen Tagen, Wochen oder Monaten bis auf winzige Reste in stabile ungefährliche Elemente umgewandelt, aber andere radioaktive Isotope von Strontium oder Cäsium, die vom Organismus leicht aufgenommen werden und Krebs verursachen, haben Halbwertszeiten von einigen Jahrzehnten. Unter den besonders langlebigen Spaltprodukten ist Tellur128, von dem die Hälfte erst in 7 Quadrillionen Jahre zerfallen sein wird. Das Tech-netium99 benötigt dafür ‚nur‘ 200.000 Jahre. In den Reaktoren in aller Welt entstehen zurzeit pro Jahr etwa 6 t dieses Isotops. Es ist in Wasser löslich und kann in die Nahrungskette gelangen. Neben diesen Spaltprodukten entstehen in jedem Uranreaktor auch beträchtliche Mengen von Plutonium. Die Halbwertszeit des häufigsten Plutonium-Isotops beträgt 24.000 Jahre. Plutonium - sinnigerweise be-nannt nach Pluto, dem griechischen Gott des Totenreiches - ist der giftigste Stoff, den es gibt. Seine kurzrei-chende Alpha-Strahlung zerstört lebendes Gewebe, sobald es sich im Inneren des Körpers befindet. Dabei kann es nur schwer oder gar nicht ausgeschieden werden, es setzt sich fest. Bereits wenige Millionstel Gramm können sofort, Milliardstel Gramm langfristig tödlich wirken. Folie 33

Für heute:

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit!

Vorbeugen und Heilen -Nobelpreisträger im Kampf gegen Krankheiten

Nächste Sitzung:

Atombombe und SuperGAU, zwei grauenerregende Folgen der Entdeckung der Radioaktivität und der Kernspaltung. Gottseidank gibt es aber auch gute Seiten an dieser Thematik. Erinnern Sie sich beispielswei-se an den Ungarn George de Hevesy. 1943 wurde ihm der Nobelpreis für Chemie „für seine Arbeiten über die Anwendung der Isotope als Indikatoren bei der Erforschung chemischer Prozesse“. Die von ihm entwi-ckelte Die Szintigrafie ist ein bildgebendes Verfahren der nuklearmedizinischen Diagnostik. Dabei werden radioaktiv markierte Stoffe in den Körper eingebracht, die sich im zu untersuchenden Zielorgan anreichern und anschließend mit einer speziellen Kamera, von der die abgegebene Strahlung aufgefangen wird, sich-tbar gemacht werden kann. Da auch der zeitliche Ablauf von Aufnahme und Ausscheidung der strahlenden Substanz aufgezeichnet werden kann, lassen sich auch Informationen über die Funktion von Organen bei-spielsweise in der Nierenfunktionsszintigrafie gewinnen. Die Strahlenbelastung ist bei diesen Untersuchun-gen meist geringer als bei den vergleichbaren Röntgenuntersuchungen. In Deutschland werden wöchentlich etwa 60.000 Szintigrafien durchgeführt.

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Outro: Medaillen in Königswasser Eine Anekdote soll für heute den Abschluss bilden: Hevesy studierte Chemie, Mathematik und Physik in Budapest, Berlin und Freiburg. Anschließend arbeitete er unter anderem über die Diffusion in Kristallen und bei Ernest Rutherford. Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten floh er nach Kopenhagen und 1943 weiter nach Stockholm. Bis 1961 arbeitete Hevesy in dort und wandte sich physiologischen und klinischen Fragestellungen auf dem Gebiet der Radiobiologie zu. Als während des Zweiten Weltkriegs deutsche Truppen die dänische Hauptstadt Kopenhagen im April 1940 besetzten, löste George de Hevesy die goldenen Nobelpreis-Medaillen der deutschen Physiker Max von Laue und James Franck in Königswasser, einem Säuregemisch aus Salpeter- und Schwefelsäure auf, um sie so vor dem Zugriff durch die deutschen Besatzer zu schützen. Von Laue und Franck waren in Opposition zum Nationalsozialismus in Deutschland und hatten deshalb ihre Medaillen Niels Bohr anvertraut, um so eine Konfiszierung in Deutschland zu verhindern. Deutschen war das Annehmen oder Tragen des Nobel-preises verboten, nachdem der Nationalsozialismusgegner Carl von Ossietzky im Jahr 1935 den Friedens-nobelpreis erhalten hatte. Nach Kriegsende extrahierte de Hevesy das im Königswasser versteckte Gold und übergab es der Königlichen Schwedischen Akademie der Wissenschaften, die daraus neue Medaillen hers-tellte und wieder an von Laue und Franck übergab. Das Thema ‚Vorbeugung und Heilung – Nobelpreisträger im Kampf gegen Krankheiten‘ besprechen wir in der nächsten, der letzten Doppelstunde für diese Einheit des vhs-Kollegs Allgemeinbildung. Literaturhinweise Interessante Einblicke in die Welt von Atomforschern wie Robert Oppenheimer, Werner Heisenberg oder Niels Bohr kann man hier nachlesen: Robert Jungk: Heller als tausend Sonnen. Das Schicksal der Atomforscher. Eine sehr gut gemachte, 1953 entstandene Animation zum Thema Kernkraft finden Sie hier: http://www.archive.org/details/isforAto1953