Arbeitsfelder der Komparatistik - Heinrich Detering · l Wir wollen die Liebe zur Gefahr singen,...

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Arbeitsfelder der Komparatistik

Wertung und Kanon

23.11.2017

Wertung und Kanon

1. Zur Begriffsgeschichte

2. Zwei Beispiele für einen essentialistisch begründeten Umgang mit

Kanon

a) klassikorientierter Kanon: Wolfgang Kayser, Georg Lukács, Harold

Bloom

b) Avantgarde-Kanon: Literatur und Kunst des russischen und

italienischen Futurismus

3. Zur Geschichte und Theorie der Kanonforschung

Kanon

1. griech. κανών ‚Maßstab‘ (wörtlich), ‚Stange‘

2. die Regel(zusammenfassung), z.B. Regeln der Menschendarstellung in

der bildenden Kunst

3. Textkorpus (Textauswahl)

4. heute: das Textkorpus und die werttheoretischen Überlegungen, die zu

dieser Auswahl geführt haben; Pluralform: ja oder nein?

Kanon als

ikonographische

Konvention

„Traditioneller“ Umgang mit Wertung und Kanon

-bis in die 1950er Jahre ist die Wertung ein selbstverständlicher Teil

literaturwissenschaftlicher Forschung

-Vorstellung, dass die Aufnahme in den Kanon mit bestimmten

Textmerkmalen zusammenhängt (essentialistische Denkweise)

-überwiegend klassikorientierte, modernefeindliche Einstellung der

Literaturwissenschaft in der Nachkriegszeit

„Traditioneller“ Umgang mit Wertung und Kanon

-Wolfgang Kayser über Franz Kafka in ‚Literarische Wertung und

Interpretation‘ (1952): „Ein Violinkonzert, meisterhaft gespielt, aber nur auf

der tiefen G-Saite.“

-W. Kayser über Gothic Novels in Das Groteske (1957): „Gute Bücher ohne

Frage, in denen alles ausgezeichnet zusammenwirkt. Und doch eben flach.

Und trifft nicht das gleiche auf Kafka zu?“; „kalte Grotesken“; „Dichter des

Grauens“

-Georg Lukács im Essay „Franz Kafka oder Thomas Mann“ (1957): Kafkas

Texte vermitteln „eine unüberwindliche Angst vor dem Nichts“; „Reich der

abstrakten Angst“

=> klassikorientierte Kanones ähneln einander oft in ihrer Textauswahl und

ihrer Rhetorik

David Damrosch (Hg.): The Longman Anthology of World Literature, • Volume C: The Early Modern Period • Volume D: The Seventeenth and Eighteenth Centuries • Volume E: The Nineteenth Century David Damrosch (Hg.): The Longman Anthology of British Literature • Volume 1c: The Restoration and the Eighteenth Century

Klassikorientierter Kanon: axiologische Werte Harold Bloom: The Western Canon. The Books and School of the Ages (1994)

• elegisch rückwärtsgewandt, kulturpessimistisch, werteerhaltend

• ethnozentrisch

• Ausblendung von „Minderheitenkulturen“

• Ausblendung von Populärkultur

• politisch konservativ

• überzeitlich und übernational gültige Werte

• breite Wirkung

• „greatness“, „sublimity“

• „permanence“

• „universality“

• Repräsentativität

• Autonomie

• Vorstellung einer gemeinsamen Entwicklung

• Shakespeare als Maßstab

Edward Sorel: Harold Bloom

delivers the chosen ones

unto the multitudes

(from left: Willa Cather, Edith

Wharton, Edgar Allan Poe,

Philip Roth, Ernest

Hemingway, and James

Baldwin)

Sandra M. Gilbert, Susan Gubar: The Madwoman in the Attic: The

Woman Writer and the Nineteenth-Century Literary Imagination,

1979, 2000.

Franz Josef Worstbrock: ‚Zum ersten Kapitel einer

Begriffsgeschichte des Klassischen‘, in: Anne Bohnenkamp, Matias

Martinez (Hg.): Geistiger Handelsverkehr. Komparatistische Aspekte

der Goethezeit, Göttingen 2008, S. 431-452.

Manifest des italienischen Futurismus (1909) von Filippo Tommaso Marinetti

l Wir wollen die Liebe zur Gefahr singen, die gewohnheitsmäßige Energie und die Tollkühnheit.

2 Die Hauptelemente unserer Poesie werden der Mut, die Kühnheit und die Empörung sein.

3 Wie die Literatur bisher die nachdenkliche Unbeweglichkeit, die Ekstase, den Schlummer gepriesen hat, so wollen wir die aggressive Bewegung, die fiebrige Schlaflosigkeit, den gymnastischen Schritt, den gefahrvollen Sprung, die Ohrfeige und den Faustschlag preisen.

4 Wir erklären, daß der Glanz der Welt sich um eine neue Schönheit bereichert hat: um die Schönheit der Schnelligkeit. Ein Rennautomobil, dessen Wagenkasten mit großen Rohren bepackt sind, die Schlangen mit explosivem Atem gleichen, ein heulendes Automobil, das auf Kartätschen zu laufen scheint, ist schöner als die Nike von Samothrake.

Marinetti: An das Rennautomobil (1905)

Feuriger Gott aus stählernem Geschlecht, Automobil, das fernensüchtig geängstigt stampft, in scharfen Zähnen das Gebiss! Japanisch-fürchterliches Untier, schmiederfeueräugig, mit Flammen und mit Ölen aufgenährt, nach Horizonten gierig und nach Sternenbeute. Ich lasse den metallenen Zügel los und du Stürmst trunken in befreiende Unendlichkeit.

Italienischer Futurismus

• Affinität zu Geschwindigkeit und Technik

• Jugend- und Gesundheitskult

• Provokation, Tabubruch

• Ablehnung des künstlerischen Erbes

• Antipsychlologismus; Spracherneuerung

• Gewaltverherrlichung; Affinität zum Krieg

• Ablehnung christlicher Moral

• Misogynie

• Nähe zum französischen und russischen Anarchismus

„Wir werfen Puschkin

vom Dampfer der Gegenwart“

Russischer Futurismus:

Vladimir Majakowski, Velimir Chlebnikow, David Burljuk und Alexej Krutschonych:

Eine Ohrfeige dem öffentlichen Geschmack (1912)

Velimir Chlebnikov David Burljuk

Zaumʼ-Gedicht von Aleksej Krutschonych

о е а

и е е и

а е е ѣ

Transliterierte russ. Version

o e a

i e e i

a e e e.

Dte. Übersetzung:

a e u e

e u i i

i e

о е а

и е е и

а е е ѣ

Dte. Übersetzung:

a e u e e u i i i e

Aleksej Krutschonych

О́тче наш,

И́же еси́

на небесѣ́х!

Dte. Übersetzung:

Vater unser

Der Du bist im

Himmel.

Vasilij Kamenskij: Tango mit Kühen. Eisenbetongedichte, Illustrationen von David und Vlad Burljuk, Moskau 1914.

Kasimir Malewitsch: Schwarzes Quadrat (1915)

Futuristische Ausstellung „0,10“, Moskau 1915

Klassikorientierter Kanon im Kontext moderner Dichtung T.S. Eliot: „What is a Classic?“ (1958) axiologische Werte • Objektivität

• sprachliche Normativität

• Reife

• Sittlichkeit

• Europäisch-Sein (vs. „provinziell“)

• Lesbarkeit

• Dichter als Sprachrohr der Nation

• Virgil als Maßstab

Kanonforschung

-Entstehung der modernen Kanonforschung in den 1980er und 1990er Jahren

-Bewusstsein für die Konstruiertheit des Kanons: Kanones werden durch Wertungshandlungen konstituiert

-Bewusstsein für die Kontingenz von Kanonisierungsprozessen

-Wertungshandlungen werden vollzogen durch Literaturkritiker, Literaturhistoriker, Autoren, Leser, in Literaturwettbewerben, Literatursendungen, Literaturhäusern, Verlagen, Schulen, Universitäten…

-es gibt verbale und nonverbale, professionelle und nichtprofessionelle Wertungshandlungen

-„Axiologie“ = „Wertlehre“ (von griech. ἀξία ‚Wert‘)

Renate von Heydebrand, Simone Winko: Einführung in die Wertung von Literatur: Systematik - Geschichte – Legitimation (1996) R. von Heydebrand (Hg.): Kanon - Macht - Kultur. Theoretische, historische und soziale Aspekte ästhetischer Kanonbildungen (1998) Simone Winko: ‚Literatur-Kanon als ,invisible hand‘-Phänomen‘, in: Hermann Korte (Hg.): Literarische Kanonbildung. Sonderband Text + Kritik, München 2002. Promotionskolleg der VW-Stiftung „Wertung und Kanon“ (2006-2010) Ringvorlesung der Komparatistik „Wertung und Kanon“ (2009)

Beispiele für ästhetische und nicht-ästhetische axiologische Werte

Beispiel 1: Ein axiologischer Wert für ein Epigramm ist – gattungsgemäß – seine ‚Pointiertheit‘ (ästh.).

Beispiel 2: Der zentrale axiologische Wert der textimmanenten Ästhetik der Nachkriegszeit (Emil Staiger, Wolfgang Kayser) ist die „Stimmigkeit“ (ästh.).

Beispiel 3: Ein axiologischer Wert zur Bezeichnung eines literarischen Texts kann ‚Emanzipation der Frau‘ sein (polit.).

Beispiel 4: Ein zentraler axiologischer Wert bei Michail Bachtin ist die „Polyphonie“ eines literarischen Texts (ästh. u. polit.).

Renate von Heydebrand, Simone Winko: Einführung in die

Wertung von Literatur: Systematik - Geschichte – Legitimation (1996)

Goethe-Schiller-Denkmal (1857)

Konsolidierung einer Nationalliteratur

Autoren-Selbstinszenierung

„Bei diesem Umgange wurde ich durch Gespräche, durch Beispiele

und durch eignes Nachdenken gewahr, daß der erste Schritt, um aus

der wässerigen, weitschweifigen, nullen Epoche sich herauszuretten,

nur durch Bestimmtheit, Präzision und Kürze getan werden könne

J.W. von Goethe über die Literatur der Aufklärung im 7. Buch von

Dichtung und Wahrheit“

Autoren-Selbstinszenierung

"Ihr könnt's mein Hirn haben. Ich schneide ein Loch in meinen Kopf, in

die Stirne schneide ich das Loch. Mit meinem Blut soll mir mein Hirn auslaufen.“ Rainald Götz, 1983

„Literarische“ Kontroversen der letzten Jahre

• Martin Walsers Friedenspreisrede (1998)

• Maxim Billers Roman Esra (2003)

• Helene Hegemanns Roman Axolotl Roadkill (2010)

• Günter Grass' Gedicht „Was gesagt werden muss“ (2012)

• Sibylle Lewitscharoffs Dresdner Rede (2014)

Stefan Neuhaus, Johann Holzner (Hg.): Literatur als Skandal. Fälle – Funktionen – Folgen (2. Auflage 2007)

Christoph Jürgensen, Gerhard Kaiser (Hg.): Schriftstellerische Inszenierungspraktiken – Typologie und Geschichte (2011)

Explizite professionelle Wertungshandlung

„Also vertrauen Sie mir, ich weiß was ich tue, und lesen Sie Julian

Barnes Lebensstufen, erschienen in der deutschen Übersetzung von

Gertraude Krüger bei Kiepenheuer & Witsch.“ Denis Scheck, druckfrisch

Sledge Hammer: “Trust me. I know what I’m doing.”

„Literary heritage“

"1911. Silbergabel von Franz Kafka (?)“

Deutsches Literaturarchiv Marbach

Neubewertung der Populärkultur

• Kinderliteratur

• Comics

• TV-Serien

• Pop-Musik

• Popkultur

• Untersuchungen zur Rezeption von

„Trivialkultur“ durch kanonische Autoren

Cthulhu-Skizze von Lovecraft (1934)

Forschung zu Kanonisierungsprozessen im Bereich der Populärkultur

• Frank Kelleter: ‚Populärkultur und Kanonisierung: Wie(so) erinnern wir uns an Tony Soprano?‘, in: Matthias Freise, Claudia Stockinger (Hg.): Wertung und Kanon, Heidelberg 2010, S. 55-76.

• DFG-Forschergruppe „Ästhetik und Praxis populärer Serialität“ in Göttingen

• Komparatistik-Ringvorlesungen zu Comics (SoSe 2008), Popmusik (WiSe 2015/16), 1967/1968 als Schaltjahre der Popkultur (2017/2018)

• MA-Arbeit zur Rezeption von H.P. Lovecraft bei Arno Schmidt und H.C. Artmann

• Tagung The American Weird, organisiert von Florian Zappe und Julius Greve:

12.-14.4.2018 in Göttingen

Zusammenfassung

-Kanones werden durch (verbale und nonverbale, professionelle und nichtprofessionelle) Wertungshandlungen konstituiert, sie unterliegen aber auch einer gewissen Kontingenz

-klassikorientierte Kanones berufen sich auf verwandte axiologische Werte, auch wenn sie politisch unterschiedlich begründet sein können (Kayser/Lukács); klassikorientierte Kanones können auch im Umfeld moderner Dichtung entstehen (Eliot)

-die Kanones der Avantgarde ignorieren den klassikorientierten Kanon in der Regel nicht, sie berufen sich vielmehr explizit auf ihn

-es gibt ästhetische und nicht-ästhetische axiologische Werte sowie Werte, die

gleichzeitig auf beide Bereiche verweisen (Bachtin)

-zwei gegensätzliche theoretische Positionen: Kanon wird gemacht

(konstruktivistisch) vs. Kanon beruht auf bestimmten Textmerkmalen

(essentialistisch); Theorie der „invisible hand“ (Winko)

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