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Autonomie am Lebensende

Steffen EychmüllerUniversitäres Zentrum für Palliative Care

Inselspital Bern

steffen.eychmueller@insel.ch

www.palliativzentrum.insel.ch

S.Eychmüller

Hypothese

Autonomie am Lebensende- Braucht Vorbereitung und Übung- Basiert auf Beziehungen und Vertrauen- Akzeptiert Abhängigkeit und Verletzlichkeit

S.Eychmüller

Themen

• Eine Geschichte: Medizin und Autonomie• Autonomie in Zeiten der Ökonomisierung• Gesellschaft und Autonomie: das Lebensendes als Gemeinschaftsprojekt

S.Eychmüller

Frau H, 64 J• Bankkauffrau, Mutter von 3 Kindern, Ehemann aktiv• Selbstbestimmt, Familienmanagerin, emotional eher

zurückgezogen, Haus, Garten, Velo, Wandern

S.Eychmüller

Frau H, 64 J – Medizinische Diagnosen• Adeno- Ca des Pankreas 2014, Operation und

Chemotherapie, Radiotherapie; 2015 V.a. Rezidiv (Colonmetastase), erneute Chemotherapie

• 2016 Tumormarkeranstieg, RF im Becken, V.a. Lebermetastase/ Abszess; erneute Chemotherapie, dann Hemicolektomie, Metastastenresektion Leber

• 2017: «Biliom» infiziert, Sepsis, Tumor? Im Spital seit 20.März 2017……..Phasen von Verwirrung, massive Fatigue, bettlägerig

• Die Enttäuschungen

S.Eychmüller

Frau H: Welche Ziele?• Möchte nur noch sterben……

• Hatte parenterale Ernährung bis vor 10 Tagen, aktuell keine akute medizinische Komplikation ausser Abszess-Drainage

Autonomie bezüglich welcher Entscheide, wann im Verlauf?Individuelle und/ oder «relationale» Autonomie?

Beziehungsabhängige Autonomie: gegenüber anderen Menschen (Vertrauen), gegenüber der Medizin?

S.Eychmüller

Die Hoffnung von Frau H: wir heilen Menschen

S.Eychmüller

Autonomie – und was wer darunter versteht

Maier B, Univ. Salzburg

S.Eychmüller

Autonomie am Lebensende braucht• Information- Aktuelle Problematik/ Herausforderungen (Verstehbarkeit)

- Prognose (wofür?)• Ziele und Planung (Handhabbarkeit) • Übung…..und einen klaren Kopf

S.Eychmüller

Information: die Realität

Am Lebensende entscheiden häufig diejenigen, die die Patienten am Wenigsten kennen

S.Eychmüller

Hoffnung: Weichenstellung kurativ oder palliativ?

- High tech- High resources- High value- High evidence

curative

palliative

prognosis - low tech- low resources- low value- low evidence

Ein Konstrukt ohne Evidence –Aber mit weitreichenden Folgen

S.Eychmüller

Frau H - Information• Tumorprogress? Ca 19-9: > 12.000 kU/l (n= < 40)• Infekte: rezidivierend Fieber bis 40°C trotz

Mehrfachantibiose• Leberwerte: alle stark erhöht Information: «wir schaffen das schon, Sie haben schon

soviel geschafft»

S.Eychmüller

Frau H: Prognose• Bettlägerig seit mind. 4 Wochen, ECOG 4, Karnofsky 30• Dyspnoe• Anorexie – parenterale Ernährung• Labor

S.Eychmüller

Welche Fragen interessieren ?(auch: Kommunizieren von Prognose)

Nach FRIES/ EHRLICH 1981: „5- D“

1. DEATH - Wieviel Zeit bleibt ?

2. DISEASE - Verlauf der Krankheit/ Komplikationen?

3. DISCOMFORT - mögliche Einschränkungen d. Autonomie

4. (DRUG)- TOXICITY - Mögliche Aus-/ Nebenwirkungen

5. DOLLARS - Mögliche „Kosten“ (auch: Ort)

S.Eychmüller

Prognose - Scores

Hilfen zur Standortbestimmung

Zur Überprüfung des eigenen «gut- feelings»

• PERFORMANCE STATUS• SYMPTOME• LABORWERTE• (QUALITY OF LIFE)• KOMBINATION ?

S.Eychmüller

Palliative Prognostic (PaP) Score

Kombination aus

• Klinischem Eindruck =„Clinical Estimation ofSurvival CES“ = Gut feeling!

• Symptome

• Allgemeinzustand/ Performance Status

• Labor

Maltoni et al. JPSM 1999, Oncologist 2012; Glare, Eychmüller JCO 2004

• Validiert in verschiedenen Settings und Disziplinen• Hohe Accuracy und Reliabilität

S.Eychmüller

PaP Score Frau H

Wahrscheinlichkeit Überleben 30 Tage:

Group A 0-5.5: >70%,

Group B 5.6-11: 30-70%,

Group C 11.1-17 : <30%

1

1,50

6,0

1,5

2,5

12,5

S.Eychmüller

Ziele und Pläne Frau HZiele:- Wieder nach Hause- Leben mit der Familie Realisierbarkeit?

Ziele Chirurgie- Bisher überraschend positiver Verlauf:

StabilisierenRealisierbarkeit?

Der gemeinsame Tanz um den Abgrund, kein Plan B

S.Eychmüller

Frau H.• Individuelle Autonomie: wollte immer kämpfen• Im Verlauf: immer mehr Zweifel an den eigenen

Entscheiden bzgl. medizinischer Optionen• Zuletzt: Medizin entscheidet, möchte Komplikationen

ausmerzen, aber….• Medizin verliert Beziehung und Vertrauen, «kämpft» um

«ihre» Patientin, keine Diskussion der PV/ «roter Linie»• Frau H verliert Beziehung und Vertrauen, «kämpft» für ihr

Sterben, verliert aber allmählich die Kontrolle (Delir), verliert den «klaren Kopf»

S.Eychmüller

Frau H auf der PalliativstationUnsere Versuche• «konzeptionelle Erweiterung» für Autonomieausübung• Individuelle Vorausplanung incl. «PLAN B»• Anpassung der Erwartungen an sich und die eigene

Autonomie: Integration von Abhängigkeit und Vulnerabilität durch Vertrauen

S.Eychmüller

Autonomie und Medizinkonzept IGeorge Engel, Rochester USA• The «continuity of natural

systems»- Physical exhaustion: die

Erschöpfung von Molekülen und Zellen

- Heilendes: nicht nur Moleküle und «Messer»Energie- Lieferanten am

Lebensende meist oberhalb der Personenebene

Engel, George L. (1977). "The need for a new medical model; Science

S.Eychmüller

Autonomie und Medizinkonzept II: Salutogenese

Balance von «generalisiertem Defizit an Ressourcen und generalisierter Widerstandskraft» (heute: Resilienz -Konzept)

Sinnstiftung und Grundlage für Autonomie als Ziel:«sense of coherence»• Verstehbarkeit, • Handhabbarkeit, • Sinnhaftigkeit

Antonovsky, Aaron 1979 Health, Stress and Coping,

S.Eychmüller

Vorausplanungs- StrukturProblem- und ressourcen-orientiertes Assessment nach SENS

S ymptombehandlung

E ntscheidungsfindung

N etzwerk- Organisation

S upport der Angehörigen.

Eychmüller, 2012, BAG 2015

Nicht erst in letzter Minute – die Übung…..

S.Eychmüller

Gemeinsamer Plan: das Arbeitspapier

VerstehbarkeitHandhabbarkeit

Ggf. Sinnhaftigkeit

S.Eychmüller

Frau H. - Versuch Zusammenfassung SENS

S: Müdigkeit, zunehmende Schwäche; Ungeduld

E: «Friede»: Bleiben können; wenn möglich nach Hause/

Garten; kein «unfinished business»; Sterben = Option

N: die Töchter in der Nähe, der Ehemann; das Haus

S: Support für die Töchter

Platzhalterfotos

S.Eychmüller

Beispiel Frau G – Behandlungsplan nach SENS

Bereich Probleme Massnahme Profess. Spezialdisz.Kommunikation, Empowerment, Ressourcensuche

S ymptome -Infekt/ Sepsis

-Schmerzen

-Tumorwachstum

-Ernährung/ Schwäche

- Angst

Antibiotika

IV/ PCA Fentanyl/ MethadonBeratung

GesprächeUmgang mit Erwartungen;TrainingGespräche, Netz

Medizin

Med./ PflegeTochterMedizin

Pflege,Ernährungs-beratung,Physiotherap.Psychologie MusiktherapSeelsorgeFamilie

Infektiologie

Med.OnkChirurgieS

S.Eychmüller

Beispiel Frau G – Behandlungsplan nach SENSEntscheide Ziele: solange wie möglich zuhause, wenig Leiden, klarer Kopf

Keine REA; keine Tumortherapie

PatientenverfügungOrganisation Netzwerk («Plan B»)

Netzwerk Kleines Netz Variante zuhause mit SEOP

Variante PflegeheimVariante DiaconisVariante Spital

MedizinPflegeSozialberatung

Familie, Freunde

Support für Angehörige

Für Tochter Gespräche Pflege, Soz.; Med., Psych.

Familie/ Freunde

N

E

S

S.Eychmüller

SOLL

Leiden

IST

Calman K C. Journal of medical ethics 1984; 10: 124-127.

Erwartungen – auch an Autonomiefähigkeit – als Regulator für Stress und Lebensqualität

Beispiel: der CALMAN - Gap

S.Eychmüller

Themen

• Eine Geschichte: Medizin und Autonomie• Autonomie in Zeiten der Ökonomisierung• Gesellschaft und Autonomie: das Lebensendes als Gemeinschaftsprojekt

S.Eychmüller

Frau H auf der Palliativstation• Möchte hierbleiben• Die Sorge vor der Zeit: wielange kann ich bleiben?• Entscheiden kann sie schon, aber hierbleiben kann sie –

aus ökonomischen Gründen – nicht: über Monate wurden alle Interventionen bezahlt, doch nun?

• Die Gesetzgebung (KVG) als Begrenzung der individuellen Autonomie

Respekt vor der individuellen Autonomie?Oder eine neue «relative» Autonomie, in der der Patientenwille doch nur wenig Wert hatAutonomie im Zeitalter der Ökonomisierung?

S.Eychmüller

Die Kosten am Lebensende

Auf die Wünsche der Patienten hören ?

Die teuren letzten Lebensmonate

Höhere Kosten –schlechtere «Quality of Death»

Lynn J. Rand Health White Paper 2003; Zhang B et al Arch Int Med 2009

S.Eychmüller

• 627 Patienten mit fortgeschrittenem Ca• Longitudinale Studie „baseline“ bis Tod• In 31% Assessment zum Thema Lebensende Kosten 35% niedriger als bei Patienten OHNE Assessment

„The multimillion dollar- conversation“

Vorausplanung ist kosteneffizient

Zhang et al, Arch Intern Med. 2009;169(5):480-488

S.Eychmüller

- Die Demenz- Die Baby- Boomers am Lebensende- Der Mangel an qualifiziertem Pflegepersonal- Der Markt: der «Wert» am Lebensende -

teuerste Medikamente und Therapien- Die unrealistischen Ansprüche an «Heilung»

Kommende «Tsunamis»

S.Eychmüller

Indikationsqualität von Interventionen am Lebensende

- Meist schlechte Evidenz; keine Studien, wenig Evaluation der Outcomes (und welcher?)

- Medizinische Diagnosen als Bemessungsgrundlage für Leistung am Lebensende:

• ein Stent, eine Chemotherapie oder eine Radiotherapie werden bezahlt

• Home Care und Palliative Care ? Spiritual Care?

Wofür setzen wir finanzielle Mittel am Lebensende prioritär ein?

Aktuell orientiert an medizinischen Diagnosen = sinnvoll?

S.Eychmüller

Autonomie und Kosten am Lebensende• Die teuersten 5% der PatientInnen: nur 11% betreffen die

letzten 12 Monate; 50% = «kurzzeit- teuer» bspw. Unfälle, Notfälle (Meier D, Dying in America 2015)

• Im Durchschnitt: 40% aller Gesundheitskosten in letzten 6 Lebensmonaten; nur 17% der Patienten mit fortgeschrittenen Leiden möchten «alles» (May P, J Pall Med 2014)

• Home- based care: Kostenreduktion von mind. 20% über 2 Jahre (De Jonge J Am Ger Soc 2014)

Vorausplanung und gut koordinierte Netzwerke sind kostengünstig und fördern die Autonomie am

Lebensende

S.Eychmüller

Themen

• Eine Geschichte: Medizin und Autonomie• Autonomie in Zeiten der Ökonomisierung• Gesellschaft und Autonomie: das Lebensendes als Gemeinschaftsprojekt

S.Eychmüller

Good death (Hans Küng)«Glücklich sterben heisst selbstbestimmt sterben»

"Der Mensch hat ein Recht zu sterben, wenn er keine Hoffnung mehr sieht auf ein nach seinem ureigenen Verständnis humanes Weiterleben."

Wovon hängt «humanes Weiterleben» ab?

S.Eychmüller

Werte und LebensendeKonsum und Autonomie

und/ oderBeziehungsabhängigkeit und Verletzlichkeit/ Gebrechlichkeit

Prinzipienethics meets Care ethicsLeben = Autonomie

Lebensende = Vulnerabilität?Beauchamp 1984; Gilligan 1992

S.Eychmüller

Autonomie am Lebensende - hinterfragt• Zwischen individuellen Ansprüchen und gesellschaftlichen

Rahmenbedingungen• Zwischen medizinischer Fallführung, Wert/ Vergütung und

lebensgeschichtlicher Priorisierung• Zwischen Wunsch nach Unabhängigkeit und erlebter

AbhängigkeitWieviel steuern ist möglich, wieviel nötig?

S.Eychmüller

Autonomie – und Vertrauen am Lebensende«relationale» Autonomie• Selbstachtung und Selbstvertrauen als Basis für

Autonomie• Entsteht beides «in intimen Beziehungen der Liebe und

Freundschaft» - braucht lebenslängliches Training• Selbstbestimmung ist «relational», da abhängig von der

Wertschätzung anderer Autonomie basiert auf Respekt

Steinfath H, Wiesemann C (Hrsg): Autonomie und Vertrauen, Springer 2016

Autonomie

UND Abhängigkeit

S.Eychmüller

Vorausplanen auf AugenhöhePartnerschaftlich – interprofessionell – pragmatischDie Selbsteffizienz steigern (Salutogenese)

S ymptombehandlung

E ntscheidungsfindung

N etzwerk- Organisation

S upport der Angehörigen.

Rollenwechsel: die Fachwelt als Coach/ Facilitator

S.Eychmüller

Beziehungen und Vertrauen als Grundlage für Autonomie

S.Eychmüller

Die Vorausplanung als «Bürgerpflicht» ?Wie am Anfang, so am Ende

• Wollen und können wir das Lebensende vorausplanen?• Welches Wissen, welche Fertigkeiten brauchen wir?• Welche Menschen brauchen wir dazu?

• Will ich dem Lebensende ins Auge sehen, oder nicht?• ….eine gesellschaftliche Reifeprüfung

Was wäre, wenn wir alle keine Angst vor Abhängigkeit und Vulnerabilität hätten?

S.Eychmüller

Der Rahmen für Autonomie durch Beziehung

«Compassionate communities»https://www.charterforcompassion.org/communities

S.Eychmüller

Vision: Das Lebensende in unserer Gesellschaft

Ästhetik, menschliche Wärme und beste Kompetenz

Autonomie durch Vorausplanung und Beziehung

S.Eychmüller

Kommt alle nach BernDie Welt kommt zu uns !

www.eapcnet.eu/research2018

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