Autonomie im Alter Prof. Dr. Susanne Kümpers 10.01 · • Autonomie als kulturgebundenes...

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Autonomie im Alter

Prof. Dr. Susanne Kümpers

10.01.2018

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Inhalt

• Autonomie, Selbstbestimmung – und Pflegebedürftigkeit?

• Altersbilder und Fragen von Normativität

• Ungleichheit im Alter

• Autonomie, Teilhabe – und was es braucht, sie zu ermöglichen

• [Ressourcen für Autonomie im Sozialraum – 3 Gebiete im Vergleich]

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Autonomie – Begriffs- und Sinnwelten I

• Etymologisch: αυτονομια (altgriechisch) = Eigengesetzlichkeit

• Autonomie als Begriff der Aufklärung: Gegen- entwurf zu Herrschaft und illegitimen Herr- schaftsverhältnissen, als Emanzipation

• Autonomie als Subjektkonzeption der Moderne – Subjekt als Souverän seiner Selbst, Individualisierung

– Voraussetzungen:

o Individuell – intern: Einsichts-, Denk- und Entscheidungsfähigkeit

o Situativ – extern: Vorhandensein von / Verfügung über echte Wahlalternativen

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Autonomie – Begriffs- und Sinnwelten II

• Autonomie als kulturgebundenes (westliches) Konstrukt

• Autonomie als neoliberale Verführung (Pichler 2007)

• Autonomie als Zwang

• Gegenstandsbereiche von Autonomie – gefährdete Bereiche für benachteiligte und hilfsbedürftige ältere Menschen: Alltagsgestaltung, soziale Teilhabe, Ausübung von Bürgerschaft

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Autonomieverständnis im Spannungsfeld zwischen Selbstbestimmung und Selbständigkeit

• Alltagsverständnis: Entscheidungs- und Handlungsfreiheit (Selbstbestimmung), aber auch: Selbständigkeit, Unabhängigkeit

• Entscheidungsautonomie – Durchführungsautonomie (Collopy 1995) – „Autonomy is the perceived ability to control, cope with and make personal

decisions about how one lives on a day-to-day basis, according to one’s own rules and preferences.” (WHO 2002)

– “Independence is commonly understood as the ability to perform functions related to daily living – i.e. the capacity of living independently in the community with no or little help from others.“ (WHO 2002)

• Unabhängigkeit/ Durchführungsautonomie keine Voraussetzung für Entscheidungsautonomie!

• Relationale Autonomie: Anerkennung von Interdependenz

Seite 5

Aktivierung als neues

Wohlfahrts-staatsprinzip

Subsidiarität als Konzept von Bürger-gesellschaft

Ältere Menschen

Autonomie als Selbst-

bestimmung

? ?

? Komplementär?

Diskursiver Kontext

?

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Altersleitbilder zu Gesundheit und Autonomie

• Baltes (1989): ‚Erfolgreiches Altern‘ – Selbstwirksamkeit angesichts von Behinderungen und Einschränkungen

• WHO (2002): ‚Aktives Altern‘ – ganzheitlicher Gesundheitsbegriff, vielfältige auch soziale Determinanten Zentral: Erhalt von Teilhabe, Autonomie und Selbständigkeit

• Tews (1996): ‚Produktives Altern‘ – Wiederverpflichtung, Nützlichkeit

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Junges Alter – altes Alter? (aus dem 3. Altenbericht, 2001)

• Drittes ‚junges‘ Alter:

– … gekennzeichnet durch eine allgemein gute Ausstattung mit gesundheitlichen, materiellen, sozialen und kulturellen Ressourcen, noch kaum spürbaren altersbedingten Einschränkungen

– und verbunden mit neuen Möglichkeiten einer aktiven, selbstbestimmten und mitverantwortlichen Lebensgestaltung

• Viertes ‚altes Alter‘:

– Zunahme gesundheitlicher Probleme: insbesondere chronische Krankheiten, Multimorbidität, psychische Veränderungen und Pflegebedürftigkeit

– Schutzbedürftigkeit von Menschen wächst

Problematik des vierten Alters für sozial Benachteiligte im Durchschnitt früher und härter

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BMFSFJ - Zitatesammlung

• „bis ins hohe Alter aktiv und mobil“

• „Fähigkeiten, Potenziale, Stärken und Erfahrungen der älteren Generation“

• „Alter nicht in ausreichendem Maße als Chance begriffen“

• „aktive und selbst bestimmte Lebensführung älterer Menschen“

• „Politik des Aktiven Alterns“

(aus: Den demografischen Wandel gestalten - Alter als Chance begreifen, 2006)

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6. Altersbericht – Altersbilder in der Gesellschaft: Stellungnahme der Bundesregierung 2010

• Ältere sollen „ihren Beitrag in Wirtschaft und Gesellschaft leisten“ (S. V), und…

• … haben „eine Verpflichtung zum Lebenslangen Lernen“ (S.VI)

• „Eine selbstverantwortliche Lebensführung beinhaltet den Verzicht auf Risikofaktoren, eine gesunde Ernährung und ein ausreichendes Maß an körperlicher und geistiger Aktivität“ (S.VI)

• „Indem ältere Menschen ihrer Verantwortung für sich selbst, für andere, für das Gemeinwohl gerecht werden, tragen sie … zur Entlastung nachfolgender Generationen bei…“ (S.VII)

Erinnert sich noch jemand an den ‚wohlverdienten Ruhestand‘??

Soziales Pflichtjahr für RentnerInnen? Diskurse zur Wiederverpflichtung

• 2011: Richard David Precht fordert ein soziales Pflichtjahr für alle Rentner, 15 Stunden pro Woche sollen sie zum Wohle der Allgemeinheit arbeiten.

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„Eigentlich schade, aber die Oma ist weg. Sie strickt keine Strümpfe mehr, kocht nicht mehr kiloweise Obst aus dem Garten ein und nimmt in den Sommerferien auch nicht mehr für sechs Wochen ihre Enkelkinder bei sich auf. Stattdessen reist sie auf dem Kreuzfahrtschiff um die Welt, bucht Aquarellkurse in der Provence und teilt sich ihre knappe Zeit im Alltag zwischen Yoga und Arztbesuchen auf.“ (Aus: Prange A., Christ & Welt Ausgabe 51/2011)

„Widerständigkeit in Zeiten aktivgesell-schaftlicher Mobilisierung und … De- Legitimierung des ‘verdienten Ruhestands’: … Möglicherweise steht Kreuzfahrt-Käthe, die den Dritte-Welt-Arbeitskreis und die Betreuung der Enkelkinder gegen die karibische Sonne eingetauscht hat, schon jetzt in der ersten Reihe.“ (van Dyk, 2007, 98)

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Autonomie vs. Abhängigkeit?

Autonomie – Aktivität, Produktivität, Erfolg

(Aufwertung des Alters)

versus

Abhängigkeit – Passivität, Unproduktivität, Nichterfolg

(Abwertung, Ausschluss)

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Alternative Konzeptionen von Autonomie

• Aus Perspektiven der disability studies, feministischer Theorie und Kritischer Gerontologie (Sherwin 1998, Waldschmidt 2003, Pichler 2007 u.a.):

‚Assisted living‘: Assistenz, um selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen und kulturelle und Umweltbarrieren zu überbrücken

‚Relational autonomy‘: Gleichzeitigkeit von statt Dichotomie zwischen Abhängigkeit und Autonomie > Autonomie ein Prozess im Spannungsfeld von Bezogenheit und Abtrennung

‚Abhängige Autonomie‘, oder ‚kontextualisierte Autonomie‘

Kritik an neoliberaler Instrumentalisierung des ‚aktiven‘ und ‚erfolgreichen‘ Alterns

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Konzeptionelle Aspekte ‚relationaler Autonomie‘ … in Kontexten von Benachteiligung

• ‚relational‘ – umfasst die Gesamtheit wesentlicher menschlicher Beziehungen, persönlicher wie gesellschaftlich-politischer

• Gesellschaftliche Verhältnisse beeinflussen die individuellen Kapazitäten für Autonomieentwicklung

• Autonomie wird als Kapazität oder Fähigkeit verstanden, die durch soziale Bedingungen entwickelt (oder behindert) wird

• Jeder Beziehungsvollzug unterstützt – ‚empowert‘ – oder behindert den Prozess der Autonomieentwicklung

• Gegenerfahrungen vollzogener Autonomie sind oft relevanter als Zugang zu Information

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‚Relationale Autonomie‘, Aktivität und Empowerment Partizipation in Kontexten von Benachteiligung

• Autonomie ist als Prozess zu verstehen, bei Menschen aus benachteiligten Gruppen z.T. als Prozess zur Überwindung internalisierter und faktischer Exklusion (empowerment)

• Beschädigte Autonomie berechtigt Andere nicht, stellvertretend zu entscheiden

• Unterstützung für Autonomieentwicklung kann als Mentorenbeziehung realisiert werden

• Unterstützung von Autonomieentwicklung bedeutet, (mehr) Zeit für Entscheidungsprozesse zur Verfügung zu stellen

AUTONOMIEERHALT IM SOZIALRAUM

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Physische Wohnumgebung

Infrastruktur für Mobilität

Infrastruktur für Alltagsversorgung

Infrastruktur für Beratung / Zugang zu Information

Infrastruktur für Medizin und Pflege

Nachbarschaft – soziale Netzwerke, Sicherheit

Soziokulturelle Infrastruktur

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Determinanten für Autonomieerhalt: Sozialräumliche Ressourcen I

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Determinanten für Autonomieerhalt: Sozialräumliche Ressourcen II

Entwicklung und Passung

Unterscheiden sich:

nach Vorhandensein, Bedarfsgerechtigkeit, Qualität, Zugänglichkeit, Zielgruppenpassung

Kooperation und Vernetzung (Information, Wissenstransfer, Aufgabenteilung, Identifikation mit Nachbarschaft)

sind dadurch für verschiedene Gruppen unterschiedlich zugänglich und unterschiedlich unterstützend 17

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Determinanten für Autonomieerhalt: Sozialräumliche Ressourcen III:

Bedingungen und Faktoren ihrer Entwicklung

Gesetzliche Voraussetzungen, ihre Interpretation und Ausgestaltung

Human- und wirtschaftsgeografische Bedingungen

Kommunalpolitisches Profil, lokale Governance- und zivilgesellschaftliche Strukturen

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Moabit

Marzahn

Ld.-Kr. Oder-Spree

Verschiedene Lebenswelten: Die drei Quartiere

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MOABIT LK ODER-SPREE MARZAHN Materielle Um-welt u. Infrastruktur

- Mobilität: fehl. Aufzüge u. Roll.-Stellpl., unsichere Orte + Infrastruktur im Nahbereich, belebter öffentl. Raum

- Mobilität: weite We-ge, Transport + Grüne Umgebung, Gestaltbarkeit (Gär-ten)

- Mobilität: Barrieren im Plattenbau, unsichere Orte + Infrastruktur im Nah-bereich

Steuerung u. Vernetzung der Altenhilfe

- Kinder- u. Jugendh. vorrangig - Löchrige Netzwerke, wenig Verbindung zw. Pflege, Mobi-Dienste, Freizeit

+ hoher Stellenwert der Altenhilfeplanung + Starke u. integrierte Seniorenbeiräte

+ hoher Stellenwert der Altenhilfeplanung + sehr aktive Koordinie-rungsstelle

Besondere Res-sourcen

+ Engagierte Einzelpersonen + Familiäre u nachbar-schaftliche Netzwerke

+ aktive WoBauGe (F-Clubs u. Wohnungs-anpassung)

Eigenschaften / Ressourcen hins. sozialer Be-nacht.

+ preisgünstige Treffpunkte + Toleranz im öffentl. Raum + PD auf Benachteiligte spezia-lis.

+ Wohneigentum u. Gärten als materielle Ressource

+ milieuangepaßte F-Angebote + kult. Offenheit für kol-lektive Angebote

Auswirkungen auf Autonomie-erhalt

- problematischer Zugang zu Pflege u. Unterstützung - soziale Teilhabe erschwert

+ Teilhabe durch in-formelle Netzwerke - Spannungsfeld Ab-hängigkeit

+ Teilhabe u. Zugang zu Hilfe z.T. leichter mög-lich

Befunde aus dem Quartiersvergleich

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Ungleichheit, Gesundheit, Autonomie

• Gesundheitliche Ungleichheit bis ins hohe Alter

– Niedriger SES: Stärker und früher betroffen von Morbidität, Behinderung, Mortalität

• Krankheit erschwert autonome Lebensgestaltung

• Armut erschwert autonome Lebensgestaltung

• Autonomie bedeutet Selbstbestimmung

– auch und gerade bei Krankheit

– wird im Austausch zwischen Person und räumlicher und sozialer Umwelt realisiert

– braucht Wahlmöglichkeiten

– erfordert Ressourcen

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Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!

Kontakt: Susanne.Kuempers@pg.hs-fulda.de

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