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Das österreichische
Nationalbewusstsein
Entwicklung, Faktoren und Einflüsse
Diplomarbeit
zur Erlangung des akademischen Grades
eines Magisters der Philosophie
an der Karl-Franzens-Universität Graz
vorgelegt von
Julian ZUSCHNEGG
am Institut für Geschichte
Begutachter: Univ.-Prof. i. R. Dr. Alois Ecker
Graz, 2020
1
Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis ................................................................................................................................. 1
1 Einleitung ........................................................................................................................................... 2
2 Theoretische Grundlagen: ,Nation‘ und ,Nationalismus‘ ............................................................... 3
2.1 Nation ........................................................................................................................................... 3
2.1.1 Die Nation – eine soziale, politische Gemeinschaft, eine „Wir-Gruppe“ ............................. 12
2.1.2 Der Nationsbegriff und seine Funktion ................................................................................ 14
2.2 Nationalismus ............................................................................................................................. 17
3 Nationalbewusstsein und kollektives Gedächtnis .......................................................................... 20
3.1 Erinnerungsorte .......................................................................................................................... 22
3.2 Nationalbewusstsein ................................................................................................................... 23
4 Das österreichische Nationalbewusstsein ....................................................................................... 29
4.1 Das Österreichbewusstsein nach dem Anschluss bis 1945 ......................................................... 34
4.2 Das Österreichbewusstsein nach 1945 – Bedingungen, Faktoren und Probleme ........................ 36
4.3 Die Opfer-These ......................................................................................................................... 44
4.4 Entnazifizierung ......................................................................................................................... 50
4.4.1 Das 4. Lager ........................................................................................................................ 66
4.4.2 Die Bedeutung der Entnazifizierung für das österreichisches Nationalbewusstsein ............ 69
4.5 Alliierter Einfluss auf das österreichische Nationalbewusstsein – ‚Re-orientation‘ durch Medien
......................................................................................................................................................... 73
4.6 Österreich (er-)findet sich selbst. Zum neuen Nationalbewusstsein nach 1945 .......................... 76
5 Das Wendejahr 1955 „Annus mirabilis“: Staatsvertrag, Neutralität und Freiheit .................... 81
5.1 Staatsvertrag ............................................................................................................................... 81
5.2 Neutralität ................................................................................................................................... 86
6 Das österreichische Nationalbewusstsein nach dem Staatsvertrag. ............................................. 93
6.1 Der Nationalstolz der 1980er und 1990er Jahre .......................................................................... 97
6.2 Das österreichische Nationalbewusstsein der 2000er ............................................................... 100
7 Elemente/Merkmale des österreichischen Nationalbewusstseins/ des österreichischen
Identitätsbildes ................................................................................................................................. 103
7.1 Typisch österreichisch! Selbst- und Fremdbilder...................................................................... 103
7.2 Das Österreichbild der Gegenwart / der Schülergeneration ...................................................... 108
8 Ausblick – österreichisches Nationalbewusstsein in der Covid-19 Krise .................................. 114
9 Conclusio ........................................................................................................................................ 116
10 Bibliografie .................................................................................................................................. 122
10.1 Literatur .................................................................................................................................. 122
10.2 Onlinequellen ......................................................................................................................... 124
10.3 Datensätze .............................................................................................................................. 124
11 Abbildungsverzeichnis ................................................................................................................ 125
2
1 Einleitung
Die vorliegende Arbeit geht der Frage nach, wodurch sich das österreichische
Nationalbewusstsein konstituiert, durch welche Faktoren es im Laufe der Geschichte geformt
wurde und ob sich diese im Lauf der Zeit verändert haben.
Hierbei ist es notwendig, die Begriffe der ‚Nation‘ und des ‚Nationalismus‘ zu beleuchten, um
Faktoren und Merkmale herauszuarbeiten, die speziell für ein Österreichbewusstsein
bezeichnend sind. Der Nationalismus, ein Phänomen der Moderne, gibt seit dem 19.
Jahrhundert durch dessen Komplexität und Vielschichtigkeit Anlass zu Diskussionen und
Abhandlungen. Es gibt ebenso viele Definitionen des Begriffes wie Diskussionen über die
Wertung desselben. Doch soll etwa die Frage, ob der Nationalismus positiv oder negativ ist,
oder ob es notwendig ist, generell zwischen einem positiven Nationalismus und negativen
Nationalismus zu unterscheiden, in dieser Arbeit nicht in den Vordergrund gestellt werden,
vielmehr wird versucht, das Fundament des Nationalismus zu definieren: die Nation. Was und
wer macht eine Nation aus? Wann ist oder fühlt man sich einer Nation zugehörig? Diese Fragen
stellen die zentrale Basis dieser Arbeit dar, da sie nicht nur für das Konzept des Nationalismus
bestimmend sind und sondern auch in weiterer Folge auch für das österreichische
Nationalbewusstsein. Eine Analyse des Nationenbegriffes ist demnach ohne die Betrachtung
des Phänomens Nationalismus unvollständig. Überdies kann eine Betrachtung des
Nationalismus auch einen Beitrag zur Untersuchung von Identitätsbildern leisten.
In einem einleitenden Kapitel werden die Begriffe ,Nation‘ und ,Nationalismus‘ gemäß der
Definitionen von Hobsbawn1, Gellner2 sowie Anderson3 besprochen und auf diesen
Definitionen basierend wird auf das österreichische Nationalbewusstsein im Speziellen
eingegangen. Hierbei sollen kurz die historischen Wurzeln des österreichischen
Nationalbewusstseins (Entnazifizierung, Staatsvertrag und Neutralität) beleuchtet werden, um
später zu untersuchen, ob die Merkmale des österreichischen Nationalbewusstseins einen
Wandel im Laufe der Geschichte durchliefen. Danach soll basierend auf diversen Umfragen
und Studien erörtert werden, auf welchen Kriterien ein österreichisches Nationalbewusstsein
fußt beziehungsweise durch welche spezifischen Merkmale sich die Menschen als
Österreich*in identifizieren und inwiefern die politische Gemengelage auf das Selbst- und
Fremdbild der Österreicher*innen Einfluss nimmt.
1 HOBSBAWM Eric J., Nationen und Nationalismus. Mythos und Realität seit 1780. Aus dem Englischen von
Udo Rennert. Campus Verlag, Frankfurt/New York. 1996. 2 GELLNER Ernest: Nationalismus und Moderne. Rotbuch Verlag, Berlin 1991. 3 ANDERSON Benedict, Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines erfolgreichen Konzepts. Aus dem
Englischen von Benedikt BURKARD. Campus Verlag, Frankfurt/New York. 1988.
3
2 Theoretische Grundlagen: ,Nation‘ und ,Nationalismus‘
Im folgenden Kapitel werden die Begriffe ,Nation‘ und ,Nationalismus‘ gemäß dem
Forschungsstand kritisch betrachtet. Es ist bemerkenswert, wie unterschiedlich der Zugang zu
den beiden Begriffen ist. Während Anderson davon ausgeht, dass aus der Nation der
Nationalismus entspringt, sind Hobsbawn und Hroch der Ansicht, dass zuerst der
Nationalismus Gegenstand einer Analyse sein muss, ehe man auf den Begriff der Nation
eingeht.4
2.1 Nation
Der Begriff ,Nation‘ hat seinen Ursprung im lateinischen Wort ,natio‘, was „Geburt“, „Volk“,
„Abstammung“ oder „Herkunft“ bedeutet. Im 14. Jahrhundert verwendete man den Begriff
„Nation“ erstmals als Bezeichnung für eine Verwandtschaftsgruppe innerhalb eines bestimmten
Territoriums. An den ersten Universitäten wurden auch Gruppen von Studenten aus bestimmten
Regionen als ,Nation‘ bezeichnet. In der frühen Neuzeit hatte der Terminus „Nation“ vielfältige
Bedeutungen, wie etwa Stand, Bevölkerung eines Herrschaftsgebietes oder Gemeinschaft. Seit
dem 18. Jahrhundert, spätestens seit der Französischen Revolution, wird er im gegenwärtigen
politischen Sinn definiert und gebraucht. Nach der französischen Revolution entstand der
Begriff der „Nationalität“. Dieser bezeichnet die Zugehörigkeit eines Menschen zu einer
Nation. Das Konzept der Nation dient der Vereinfachung und der Strukturierung des
menschlichen Zusammenlebens. Die Idee der Nation dient also als kognitives Hilfsmittel, die
Vielfalt von Menschen, denen sich die/der Einzelne gegenübersieht, zu strukturieren. Sie
ermöglicht es, in einer Masse von Menschen einen Teil als „wir“ und den Rest als „ihr“ zu
definieren und ist somit diesbezüglich ein Werkezeug zur Orientierung und Vereinfachung
einer komplexen Struktur. Die Komplexitätsreduktion durch das Konzept „Nation“ wird durch
Inklusion und Exklusion erreicht. Welche Kriterien die Inklusion und Exklusion bestimmen
beziehungsweise was eine Nation ist oder durch welche Faktoren sich die einen als „wir“
identifizieren und somit die anderen zu „ihr“ werden und wie straff oder fließend diese
Abgrenzung von „wir“ und „ihr“ ist, hängt von der jeweiligen theoretischen Definition einer
Nation ab. Hierbei haben sich im Laufe der Zeit vier unterschiedliche Ansätze für die Definition
der Nation durchgesetzt:5
4 Vgl. HOBSBAWM, Nationen und Nationalismus. 1996. S. 21. 5 Vgl. JANSEN Christian / BORGGRÄFE Henning, Nation – Nationalität – Nationalismus: Historische
Einführung. Band 1 von Historische Einführungen. Campus Verlag, Frankfurt. 2017. S. 10.
4
Die subjektivistische Definition
Nach den Definitionen eines subjektiven Nationsbegriffes sind Nationen große Kollektive, die
durch einen Konsens ihrer Mitglieder gebildet werden. Die Nation basiert demnach auf der
reinen Überzeugung ihrer Mitglieder, dass sie zusammengehören. Diese Auffassung des
Nationsbegriffes geht wiederum auf die Zeit der Französischen Revolution zurück. Emmanuel
Joseph Sieyès, ein französischer Priester und einer der Haupttheoretiker der Französischen
Revolution, hat in seiner Schrift Qu'est-ce que le Tiers État? (Was ist der Dritte Stand?) die
Nation definiert als „eine Gesamtheit von vereinigten Individuen, die unter einem gemeinsamen
Gesetz stehen und durch dieselbe gesetzgebende Versammlung vertreten sind“6. Der
französische Wissenschaftler Ernest Renan betrachtete die Nation als ein „täglicher Plebiszit“.
Dieser Ansicht nach beruht der nationale Zusammenhalt nicht auf objektiven Bedingungen,
sondern auf der immer wieder getroffenen Entscheidung des Volkes. Nach der subjektiven
Definition ist es einfach einer Nation anzugehören, da die Zugehörigkeit zu einer Nation alleine
auf den eigenen Willen und der Überzeugung des Individuums basiert.7
Die objektivistische Definition
Im Gegenzug zu den subjektivistischen Definitionen ist nach den objektiven Definitionen jede
Nation durch bestimmte objektive Realitäten definiert und von anderen durch diese klar
abgegrenzt. Die objektiven Realitäten sind dabei außerhalb des Einflussbereiches der
Individuen. Des Weiteren sollen alle Menschen eindeutig nur jeweils einer Nation angehören.
Als Zugehörigkeitskriterien werden in den objektivistischen Definitionen verschiedene
Merkmale wie gemeinsame Sprache, Geschichte, Tradition, Kultur oder gemeinsames
Territorium genannt.8
Die subjekivistische Definition als kognitives Konzept
In den 1980er Jahren wurde der subjektivistische Ansatz durch Theoretiker wie Benedict
Anderson, Ernest Gellner oder Eric Hobsbawn weiterentwickelt. Laut Anderson und Hobsbawn
sind Nationen lediglich vorgestellte Gemeinschaften oder imaginierte Konstrukte.9
6 SIEYES Emmanuel, Was ist der dritte Stand? Übersetzt und eingeleitet von Otto BRANDT. Verlag von Reimar
Hobbing, Berlin. 1924. S. 40. 7 Vgl. JANSEN / BORGGRÄFE, Nation – Nationalität – Nationalismus. 2017. S. 11 – S. 12. 8 Vgl. ebda. S. 13. 9 Vgl. ebda. S. 14.
5
Die Annäherung zwischen der subjektivistischen und objektivistischen Definition
Als vierte Position sind die Ansätze von Anthony Smith zu nennen. Dieser postuliert einen
ethnischen Ursprung der Nationen. Smith geht davon aus, dass gemeinsame Herkunft mehr als
eine ideologische Vorstellung oder ein Konstrukt sei und bindet die Sicht einer objektiven
Definition der Nation ein.10
Die obigen Ausführungen verdeutlichen, dass es keine einheitliche, allgemeinverbindliche
Definition des Begriffes Nation gibt, daher wird im Folgenden ein Konglomerat der
beschriebenen Ansätze von Definitionen verwendet.
Anderson weist in seinem Werk Die Erfindung der Nation bereits auf diese Problematik hin, er
stellt fest, dass Theoretiker*innen, die sich mit Nationalismus beschäftigen, oft mit drei
Schwierigkeiten, die mit dem Begriff der ,Nation‘ einhergehen, konfrontiert sind: Erstens steht
laut Anderson die aus der Sicht von Historikern objektiv jungen Neuheit des Nationsbegriffs,
ein subjektives Alter, welche Nationalisten der Nation zusprechen, gegenüber. Der Hinweis auf
diese Problematik ist für die vorliegende Arbeit insofern interessant, als man nach dem Zweiten
Weltkrieg versuchte, die Geschichtsträchtigkeit des Österreichischen über historische
Ereignisse zu evozieren, um somit das Nationalbewusstsein zu befördern und im eigentlichen
Sinne neu zu kultivieren. Das Österreichische war somit „älter“ als die Nation ,Österreich‘
selbst und als der Begriff der ,Nation‘ in seiner politischen Dimension, die er ab der
Französischen Revolution erhalten hat.11
Zweitens ist gemäß Anderson die universelle Bedeutung von Nationalität als soziokultureller
Begriff selbst oft ein Problem. Hierzu führt Anderson weiter aus, dass jeder Mensch „[…] in
der modernen Welt eine Nationalität ‚haben‘ […]“kann, „haben“ sollte oder haben wird, „[…]
so wie man ein Geschlecht ‚hat‘.“12 Dies steht der Eigenschaft der Nationalität, verschiedene
Ausprägungen zu haben, gegenüber.13 Eine Nationalität unterscheidet sich von einer anderen.
Das ist das bezeichnende Merkmal einer Nationalität und einer Nation und zugleich auch deren
Funktion als Begriffe. Anderson nennt hier als „Beispiel die definierte Einzigartigkeit der
Nationalität ‚Griechisch‘.“14 Es gibt nur eine Nationalität ,Griechisch‘ und diese unterscheidet
sich klar von anderen Nationalitäten.
Kaum eine Forschungsmeinung differiert zu Andersons Ansicht. Jedoch greift sein Ansatz für
das 21. Jahrhundert zu kurz. Seine Analogie zur Geschlechterzugehörigkeit könnte für viele in
10 Vgl. JANSEN / BORGGRÄFE, Nation – Nationalität – Nationalismus. 2017. S. 16. 11 Vgl. ANDERSON, Die Erfindung der Nation. 1988. S. 14. 12 Ebda. S. 14. 13 Vgl. ebda. 14 Ebda. S. 15.
6
der heutigen Zeit unzureichend sein und bedarf einer Anpassung oder Erweiterung, insofern als
einerseits das Merkmal ‚Geschlecht‘ nicht immer eindeutig ist, andererseits auch weil viele
Menschen sich nicht eindeutig einer Nationalität oder einer Nation zugehörig fühlen. Menschen
können zwei oder sogar drei Nationalitäten besitzen und sie können dies auch als Teil ihrer
Identität ansehen.
Als dritte Schwierigkeit oder Paradox, mit denen Nationalismustheoretiker*innen oft
konfrontiert sind, nennt Anderson das Ungleichgewicht der ‚politischen‘ Macht des
Nationalismus und dessen „philosophische[n]“ und „[…]den daraus resultierenden Widerstand
Widersprüchlichkeit[en] gegenüber“15. Der Nationalismus habe im Vergleich zu anderen Ismen
keine großen Denker, wie etwa Marx, Hobbes oder Weber hervorgebracht. Hier könnte man
aus aktueller Sicht widersprechen und Anderson selbst sowie auch Hobsbawm, Renan, Gellner
und Smith als prägend für den Nationalismus-Diskurs anführen.
Eine weitere Schwierigkeit, die Anderson sieht, ist, dass man dazu tendiert, Nationalismus zu
vergegenständlichen und „‚ihn‘ als eine Weltanschauung unter vielen einordnet.“16 Seiner
Auffassung nach diente es der Klarheit, verwendete man ihn begrifflich nicht wie
,Kommunismus‘, ,Liberalismus‘ oder ,Faschismus‘, „[...] sondern wie ‚Verwandtschaft‘ oder
‚Religion‘.“17 Als Vorschlag zur Lösung dieser Schwierigkeiten schlägt Anderson vor, die
Nation als „eine vorgestellte politische Gemeinschaft – vorgestellt als begrenzt und
souverän“18zu definieren. Diese Definition soll im Folgendem kurz erläutert werden:
Vorgestellt ist diese Gemeinschaft, weil sich die einzelnen Mitglieder untereinander niemals
alle kennen können, dennoch haben sie ein gemeinsames Bild einer vorgestellten Gemeinschaft,
welcher sie alle angehören, in ihren Köpfen. Anderson bezieht sich hierbei auf Renans
Definition der Nation als ,vorgestellte Gemeinschaft‘. Denn laut Renan ist „das Wesen einer
Nation […], daß alle einzelnen vieles gemeinsam und daß sie alle vieles vergessen haben.“19
Renan spielt mit diesem Satz auf das kollektive Vergessen der französischen Bürger*innen auf
die Bartholomäusnacht und die Massaker im Südfrankreich des 13. Jahrhunderts an.
Gellner geht mit Renans Begriff der ,vorgestellten Nation‘ noch einen Schritt weiter und hebt
die negative Wechselbeziehung von Nationalismus und Nation hervor: „Nationalismus ist
keineswegs das Erwachen von Nationen zu Selbstbewusstsein: man erfindet Nationen, wo es
15 ANDERSON Benedict, Die Erfindung der Nation. 1988. S. 15. 16 Ebda. S. 15. 17 Ebda. 18 Ebda. S. 15. 19 RENAN Ernest, „Qu’est-ce qu’une nation?“ IN: Cenvres [Sic!] Complètes, Bd. 1, Paris; Calmann-Lévy. 1947-
61, S. 887-906. IN: ANDERSON Benedict, Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines erfolgreichen
Konzepts. Aus dem Englischen von Benedikt BURKARD. Campus Verlag, Frankfurt/New York. 1988. S. 15.
7
sie vorher nicht gab.“20 Anderson sieht im direkten Vergleich zu Gellner mit Renans Begriff
der ,vorgestellten Nation‘ eher ein „Kreieren“21, welches nicht ausschließlich negativ
konnotiert ist und kritisiert Gellner, er assoziiere den Nationalismus und die ,vorgestellte
Nation‘ nur mit der „‘Herstellung‘ von ‚Falschem‘. Dies sei laut Anderson eine einseitige und
bewusst zum Negativen gerichtete Sicht. Des Weiteren suggeriere diese Sichtweise, dass es
neben den „falschen“ Nationen „wahre“ Gemeinschaften gebe, die sich durch ihren Status
„wahrhaftig“ zu sein von andren Nationen unterschieden. Anderson räumt hierbei ein, dass alle
Gemeinschaften, „die größer sind als die dörflichen Face-to-face-Kontakte, vorgestellte
Gemeinschaften“22 sind. Nicht die Authentizität der Gemeinschaften unterscheide sie laut
Anderson voneinander, sondern die Art und Weise, in der sie von den Mitgliedern imaginiert
werden.23
Mit dem „Vorstellen“ einer Nation betont Anderson zwei weitere Eigenschaften, die nach
seiner Definition für eine Nation bestimmend sind, nämlich, dass die Nation als „begrenzt“24
und „souverän“25 vorgestellt wird.
Selbst wenn in einer großen Nation mit einer Vielzahl an Menschen, die sich ihr zugehörig
fühlen, die Grenzen variabel, aber dennoch bestimmbar sind, können sie sich eben von anderen
Nationen abgrenzen und unterscheiden. Er führt weiter aus, dass sich keine Nation, egal wie
groß sie auch sein mag, sich mit der gesamten Menschheit gleichsetzen würde und auch die
eifrigsten Nationalisten nicht davon träumen, dass jeder Mensch sich ihrer einen Nation
angehörig fühlt.
Als ‚souverän‘ wird die Nation deshalb vorgestellt, weil ihr Begriff in der Zeit der Aufklärung
entstanden ist. In dieser Zeit verloren die Gott gewollte Ordnung und die Hierarchie von
dynastischen Reichen stetig an Legitimität. Frei zu sein, auch unter Gottes Gnaden, das war und
ist das Ziel von Nationalisten und Nationen.26 Die Säkularisierung, die mit dem Humanismus
und der Aufklärung einherging, war ein bedeutender Motor für die Entstehung von
‚souveränen‘ Nationen. Die Religion an sich kann man ebenso wie die Sprache oder die
Herkunftsgeschichte als ein Merkmal in einem Katalog von Merkmalen sehen, die das
Zugehörigkeitsgefühl zu einer bestimmten Nation maßgeblich beeinflussen. Jedoch ist die
20 GELLNER, Ernest, Thought and Change. Weidenfeld and Nicholson, London. 1964. S. 16. IN: ANDERSON
Benedict, Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines erfolgreichen Konzepts. Aus dem Englischen von
Benedikt BURKARD. Campus Verlag, Frankfurt/New York. 1988. S. 16. 21 ANDERSON, Die Erfindung der Nation. 1988. S. 16. 22 Ebda. 23 Vgl. ebda. 24 Ebda. S. 16. 25 Ebda. 26 Vgl. ebda. S. 16. – S. 17.
8
Religion, wie auch die Sprache, alleine oft nicht ausreichend, um sich klar als ein Mitglied einer
Nation zu identifizieren oder sich von Mitgliedern anderer Nation klar abgrenzen zu können,
da es in sehr vielen Nationen mehrere anerkannte Religionen gibt sowie auch zwei oder mehrere
verschiedene gesprochene Sprachen.27
Der letzte entscheidende Terminus in Andersons Definition einer Nation ist ,Gemeinschaft‘.
Nach Anderson wird die Nation trotz sozialer und gesellschaftlicher Ungleichheiten und auch
Ausbeutung als „‘kameradschaftlicher‘ Verbund von Gleichen verstanden […]“28. In diesem
brüderlichen Gedanken sieht Anderson sowohl etwas Positives als auch Negatives. Er betont
etwa, die hohe Bereitwilligkeit von sehr vielen Menschen eher für die gemeinsame Nation zu
sterben als zu töten, gleichzeitig und zurecht weißt er damit aber auch auf die Schattenseiten
des Nationalismus hin: „Wie kommt es, daß die kümmerlichen Einbildungen der jüngeren
Geschichte (von kaum mehr als zwei Jahrhunderten) so ungeheure Blutopfer gefordert
haben?“29 Anderson geht in weiterer Folge auf die Geschichte des Nationalismus ein, da er in
ihr die Antwort, oder besser eine Erklärung, für die für den Nationalismus erbrachten Blutopfer
der letzten zwei vergangen Jahrhunderten vermutet.30
Anderson weist auf die wie Verstrickung der Termini ,Nation‘ und ,Nationalismus‘ hin. Auf
diese Beziehung soll auch im Kapitel 2.2 dieser Arbeit eingegangen werden.
Andersons „praktikable Definition“31, eine Nation sei „eine vorgestellte politische
Gemeinschaft – vorgestellt als begrenzt und souverän“32, welche an die folgende Definition von
anknüpft:
“Eine Nation ist ein geistiges Prinzip, das aus tiefen Verwicklungen der Geschichte resultiert, eine
spirituelle Familie, […]eine Seele, ein geistiges Prinzip […]. Eine Nation ist also eine große
Solidargemeinschaft […]“,33
ist m.E. nicht ganz zufriedenstellend, da nach dieser Definition nur der eigene Wille zählt, um
sich als Mitglied einer Nation zu fühlen. Eine Person kann demnach selbst entscheiden, ob und
welche Nation sie sich zugehörig fühlt. Dieser eigene Wille verliert aber an Authentizität oder
freiwilligen Charakter, wenn man bedenkt, dass jede Person in eine Nation geboren wird und
somit auch die Nationalität annimmt beziehungsweise von der Umwelt und den Menschen mit
denen man aufwächst, in eine Nation und eine Nationalität hineinerzogen wird. Man ist bereits
27 Vgl. ANDERSON, Die Erfindung der Nation. 1988. S. 16. – S. 17. 28 Ebda. S. 17. 29 Ebda. 30 Vgl. ebda. 31 Ebda. 32 Ebda. S. 15. 33 Renan, Ernest: Was ist eine Nation. Aus dem Französischen von Henning Ritter. Veröffentlicht in:
JEISMANN, Michael / RITTER, Henning: Grenzfälle – Über neuen und alten Nationalismus, Leipzig 1993.
https://www.zeit.de/reden/die_historische_rede/200109_historisch_renan/komplettansicht [26.04.2019]
9
Mitglied einer Nation, ehe man sich des Konzepts der Nation überhaupt bewusst ist. Des
Weiteren macht die Zugehörigkeit aufgrund des bloßen Willens, dieser und nicht jener Nation
anzugehören, einen zu unzureichenden Eindruck, der nach objektiver Abgrenzung langt, da
man sich nach dieser Definition theoretisch tagtäglich für eine andere Nation beziehungsweise
Nationalität „entscheiden“ könnte. Immerhin fühlen sich Menschen auch gerade wegen
objektiver Faktoren, sei es die gemeinsame Sprache, geografische Gegebenheiten, Brauchtum
oder gemeinsame geschichtliche Herkunft als ein Mitglied einer Nation. Diese objektiven
Faktoren erleichtern den Mitglieder der einen Nation sich von der anderen zu unterscheiden.
Aber wie bereits oben angemerkt, sind wiederum auch rein objektive Faktoren allein
unzureichend, da eine Nation sich nicht ohne subjektive Faktoren zur Genüge erklären lässt.
Hobsbawm weist auf diese Problematik hin: „Weder subjektive noch objektive Definitionen
sind demnach befriedigend, und beide führen in die Irre.“34 Hobsbawm formuliert daher eine
„vorläufige Arbeitshypothese“35: Eine Nation ist eine „ausreichend große Gemeinschaft von
Menschen […], deren Mitglieder sich als Angehörige einer Nation betrachten.“36 Diese
„Arbeitshypothese“ von Hobsbawm schafft einen Kompromiss zu den Definitionen von Renan
und Anderson. Sie ist schwer zu verneinen und lässt kaum Platz für Gegenargumente durch ihre
Allgemeingültigkeit. Nichtsdestotrotz ist sie dadurch auch nicht sehr aussagekräftig und lässt
viel Raum, was nun eine Nation wirklich ist beziehungsweise ausmacht. Mit dieser Definition
ist auch fraglich, ab wann eine Gemeinschaft als „ausreichend groß“ gelten kann. Muss die Zahl
der Personen, die diese Gemeinschaft bildet, eine Mindestgröße aufweisen? Sind kleinere
Gemeinschaften, die das gleiche, oder vielleicht sogar ein größeres Bedürfnis haben, eine
Nation zu sein, weniger oder gar nicht berechtigt, als Nation angesehen zu werden, weil sie
schlicht zu klein sind? Wenn es um einen quantitativen Faktor geht, wer oder was entscheidet,
ab wann die Größe der Gemeinschaft ausreichend ist, um eine Nation zu sein? Entscheiden
andere bereits bestehende Nationen, ab wann eine Gemeinschaft eine Nation ist oder genügt,
wie zuvor erwähnt, das Bewusstsein der Gemeinschaft, auch wenn sie eine kleine ist, sich als
Nation zu legitimieren. Man könnte annehmen, dass Hobsbawm bei seiner Definition die
„ausreichend große“ Gemeinschaft bewusst nicht näher ausführt, da er hier wieder einen Schritt
zur Ursprungsproblematik der objektiven und subjektiven Merkmalsdiskussion zurückgehen
würde, auf die er ja mit seiner Definition eine Lösung und zugleich eine Grundlage für eine
weitere Analyse der Begriffe ,Nation‘ und ,Nationalismus‘ gefunden zu haben meint.
34 HOBSBAWM, Nationen und Nationalismus. 1996. S. 19. 35 Ebda. 36 Ebda.
10
Bei aller möglichen Kritik ist sein Lösungsansatz trotzdem praktikabel. Denn trotz der
unspezifizierten Formulierung Hobsbawms, bleibt der Kern und die Essenz seiner Definition
wesentlich und erklären sich von selbst. Eine Gemeinschaft muss eine gewisse Größe besitzen,
um sich als Nation legitimieren zu können. Es erscheint nicht sinnvoll, dass sich eine Handvoll
von Personen zusammenschließen und sich als Nation deklarieren kann. So gesehen, ergibt
Hobsbawms Formulierung „ausreichend große Gemeinschaft“ Sinn. Denn wie im zuvor
genannten Beispiel wäre diese Handvoll Menschen, die sich als Nation bekennt von einer
geringen Anzahl – nehmen wir beispielsweise an, es handelte sich um sieben Personen – nicht
eher ‚nur‘ eine Gruppe als eine Nation? Rein unser Sprachgebrauch des Wortes ,Nation‘ lässt
nicht zu, dass sich nur sieben Personen zu einer Nation zusammenschließen. Selbst wenn man
andere objektive Merkmale, wie Sprache, Religion, Herkunftsgeschichte und territoriale
Gegebenheiten außer Acht ließe, so bleibt das Kriterium einer relativen großen Größe oder
Mindestgröße, die eine Gemeinschaft, sprich eine Nation besitzen muss, als Mindestkriterium
erhalten. Dies scheint bei aller möglichen Kritik unabdingbar.
Das Kriterium der Größe findet sich auch in der Definition von Renan wieder:
„Der Mensch ist weder der Sklave seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Religion noch des Laufs der Flüsse
oder der Richtung der Gebirgsketten. Eine große Ansammlung von Menschen, gesunden Geistes und
warmen Herzens, erschafft ein Moralbewußtsein, welches sich eine Nation nennt. In dem Maße, wie
dieses Moralbewußtsein seine Kraft beweist durch die Opfer, die der Verzicht des einzelnen zugunsten
der Gemeinschaft fordert, ist die Nation legitim, hat sie ein Recht zu existieren.“37
Renan spricht hier nicht nur das Kriterium der Größe an, sondern auch wie sich eine Nation als
solche legitimiert. Um aber noch bei dem Kriterium der Größe zu bleiben: Die ausreichende
Größe muss a priori vorhanden sein, damit aus einer Gemeinschaft eine Nation werden kann,
und das vor und unabhängig von der Betrachtung anderer Kriterien. Die Größe der
Gemeinschaft stellt also das Basiskriterium, den Kern einer Nation dar.
Hierbei bleibt jedoch immer noch die Frage, wie groß die „ausreichende Größe“ sein muss. Die
mögliche Antwort zu dieser Frage könnte sein: Die Gemeinschaft muss eine solche Größe
besitzen, die ausreicht, etwas als Gemeinschaft bewirken zu können, mit dem Ziel und dem
Bewusstsein eine Nation sein zu wollen.
Doch wann kann eine ausreichend große Gemeinschaft etwas bewirken? Auf diese Fragen
können sehr wohl die vorhergenannten sogenannten objektiven Kriterien eine Antwort geben.
Eine gemeinsame Sprache und Verständigungsmöglichkeit zum Beispiel erleichtert nicht nur
das gemeinsame Wirken, sondern stellt auch eine Grundvoraussetzung dar. Zusätzlich zum
37 Was ist eine Nation? Von Ernest Renan . Aus dem Französischen von Henning Ritter. Veröffentlicht in:
Jeismann, Michael / Ritter, Henning: Grenzfälle - Über neuen und alten Nationalismus, Leipzig. 1993.
https://www.zeit.de/reden/die_historische_rede/200109_historisch_renan/seite-4 [25.11.2019]
11
Kriterium der Sprache und der gemeinsamen Kommunikation sind Gemeinsamkeiten wie
dieselbe Religion, Bräuche und Herkunftsgeschichte etc. bedeutende Einflussfaktoren, die das
Wir-Gefühl und das Moralbewusstsein in der Gemeinschaft stärken. Somit wird auch die
Bereitschaft jeden einzelnen Mitgliedes beeinflusst, Opfer zum Wohl der Gemeinschaft in Kauf
zu nehmen, auch wenn diese einen persönlichen Verzicht nach sich ziehen würden. Die
Einzelperson stuft das Wohl der Gemeinschaft und den Wert einer Mitgliedschaft als bedeutsam
und essenziell ein und rechtfertigt somit ihre Opferbereitschaft zu Gunsten der Gemeinschaft.
Insofern spielen objektive Kriterien keine notwendige, aber eine wichtige Rolle, die den
Zusammenhalt in einer Gemeinschaft maßgeblich beeinflussen können.
An dieser Stelle ist wichtig zu erwähnen, dass diese Kriterien und deren Einflussgröße sich im
Wandel der Zeit, durch politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklungen sowie
neuen technologischen Errungenschaften verändern. Durch die Kolonialisierung und die
Globalisierung wurde Englisch zum Beispiel zur Weltsprache, die Erfindung des Internets
revolutionierte die Kommunikation und unser Zusammenleben maßgeblich. Solche
Entwicklungen wirken sich auf Kriterien, wie etwa eine gemeinsame Sprache oder gemeinsame
Religion massiv aus und können deren Wert und Bedeutung als Kriterien einer Nation
beeinflussen. Deren Einfluss und Relevanz wird in den Kapiteln 2.2, 4 und 9 dieser Arbeit noch
genauer behandelt.
Abschließend sei noch einmal auf die Legitimation einer Nation durch das Kriterium der Größe
hingewiesen: Neben der „ausreichenden“38 Größe kann die Frage nach der Legitimation einer
Nation mit dem von Renan geprägten Merkmal des „Moralbewusstsein[s]“39 und der
Opferbereitschaft einer Nation beantwortet werden.
Auch wenn sich eine Nation nicht durch subjektive und objektive Merkmale alleine
zufriedenstellend definieren lässt, so ist das bedeutendste Merkmal einer Nation, und da sind
sich die meisten Historiker*innen und Begriffsforscher*innen einig, dass sich die Menschen
einer Nation als Mitglieder einer Gruppe betrachten, und sich als „Wir“ identifizieren können.
Die Nation als solche existierte vor den Staaten und dem Nationalismus. Diese sind Kinder der
Moderne und prägten die Bedeutung des Begriffes ,Nation‘. Die Grundfunktion der Nation –
nämlich ihren Mitgliedern einen Rahmen zu geben – bleibt aber bestehen, in denen sie sich
38 HOBSBAWM, Nationen und Nationalismus. 1996. S. 19. 39 RENAN, Was ist eine Nation? Aus dem Französischen von Henning Ritter. Veröffentlicht in: JEISMANN,
Michael / RITTER, Henning: Grenzfälle – Über neuen und alten Nationalismus, Leipzig 1993.
https://www.zeit.de/reden/die_historische_rede/200109_historisch_renan/komplettansicht [05.05.2020]
12
ihrer Gruppe oder Gemeinschaft zuordnen können. Hier ist anzumerken, dass diese
Identifikation durch die im 18. Jahrhundert entstandenen Phänomene des Nationalismus und
Patriotismus einen ideologisierten Schwung erhielt, der drastische Folgen mit sich brachte.
Nach dem verheerenden Zweiten Weltkrieg, der die zerstörerische Kraft des Nationalismus der
Welt offenbarte, wurde auch die Diskussion in der Nations- und Nationalismusforschung neu
entfacht. Obwohl es in der Forschung diesbezüglich divergierende Ansichten gibt, ist man sich
laut Hroch nach den vergangenen einschneidenden Geschehnissen jedoch in einem Punkt einig:
Die politische, historische und soziologische Bedeutung der Nation und des Nationalismus ist
hervorzuheben und bedarf einer genaueren Betrachtung. Die Forscher*innen distanzierten sich
nun gänzlich von der Idee der Nation als Urkategorie, und auch gänzlich von rassistischen
Theorien. Des Weiteren kam man zu einem Konsens, dass sich die Nationen nicht nur durch
rein ethnische Merkmale, wie Kultur und Sprache definieren lassen.40 Zunehmend wurde die
Nation als eine „eigenständische politische oder soziale Gemeinschaft anerkannt“41, sofern
erkenntlich war, „dass sich ihre Angehörigen ihrer Zusammengehörigkeit bewusst waren und
sie als Wert betrachteten“42. Aus diesen Erkenntnissen folgert Hroch, dass sich eine „stärkere
Akzentuierung der Erforschung des Nationalismus als subjektive Voraussetzung,
Ausdrucksform oder gar Bedingung der Existenz der Nation“ ergeben hat.43
Hrochs Ausführungen folgend wird die Bedeutung der sozialen, politischen Gemeinschaft als
wichtigstes Merkmal des Nationsbegriffes der Forschungsgemeinschaft nach 1945 deutlich.
2.1.1 Die Nation – eine soziale, politische Gemeinschaft, eine „Wir-Gruppe“
Aufgrund der Ausführungen im vorangegangenen Kapitel lässt sich auf folgende konsensuale
Definition schließen: Eine Nation ist eine soziale, politische Gemeinschaft, eine „Wir-Gruppe“,
deren Mitglieder sich bewusst als solche anerkennen und dieser Mitgliedschaft auch einen Wert
zuschreiben.
Wenn aber die gemeinsame Gruppe das zentrale Merkmal einer Nation ist, ist es notwendig,
sich mit den Mechanismen und Ursachen der Gruppendefinition auseinanderzusetzen.
Schulze beschreibt in seinem Werk Staat und Nation in der europäischen Geschichte Gruppen
und macht mit seiner Darlegung deutlich, wie wichtig Gruppen, Gruppenprozesse und deren
Wechselwirkung für Nationen sind.
40 Vgl. HROCH Miroslav, Das Europa der Nationen: Die moderne Nationsbildung im europäischen Vergleich.
Vandenhoeck & Ruprecht, Wien. 2005. S. 16. 41 Ebda. S. 17. 42 Ebda. 43 Ebda.
13
„Die Eigengruppe wird von einem ‚Wir-Gefühl‘ zusammengehalten […], die Fremdgruppe sind die
Anderen, und die Tendenz ist stark, alle Gruppengenossen als gleichwertig, die Mitglieder von
Fremdgruppen dagegen als minderwertig anzusehen. Innerhalb der Gruppe herrschen Friede und
Ordnung, nach außen Spannung, wenn nicht Kampf. Die ‚Wir-Gruppe‘ vermittelt dem Einzelnen
Zugehörigkeit, Geborgenheit und das Gefühl, daß sein Handeln in dieser Gruppe und für dieser Gruppe
seiner Existenz Sinn verleiht. Die Sinnhaftigkeit der ‚Wir-gruppe’ wird nicht nur durch die Normen und
Verhaltensweisen hergestellt, mit denen sich die Gruppenmitglieder im Wir zusammenschließen, sondern
auch durch die Identifikation mit Symbolen: Wappen, Fahnen, Embleme. Eine Gruppe bedarf der
Kontinuität, um ihre Normen und Symbole entwickeln, und um sich über die Existenz der einzelnen
Mitglieder hinaus als dauerhaft und damit als legitimiert zu empfinden – daher die Neigung, die
Geschichte der Gruppe bis auf ihre Gründung zurückzuverfolgen, sie für die Zwecke der
Gruppenintegration zu vereinfachen oder notfalls auch zu erfinden. Niemand gehört jedoch ausschließlich
einer einzigen Gruppe an; von der Zweier-Gruppe, also Freundschaft oder Ehe, über die Familie, Sippe,
die Gemeinde, den Verein bis zu Großgruppen, der Nation oder der Kirche, gibt es viele Gruppen zu
denen jemand gleichzeitig gehören kann, die jeweils Loyalität von ihm fordern, in unterschiedlichen
Situation auf verschiedene Weise Geborgenheit versprechen, die aber auch Loyalitätskonflikt hervorrufen
können, wenn in der gegebenen Situation unterschiedliche Gruppenzugehörigkeiten unterschiedliche
Verhaltensweise fordern. Unter all diesen Gruppen hat sich die integrierende Kraft der Nation als politisch
besonders mächtig erwiesen. [] Zwar gab es den Begriff ‚Nation‘ schon lange, viel Länger als den des
‚Staates‘, aber in der heutigen Bedeutung, die die gesamte Bevölkerung umfaßt und Nation kaum noch
ohne Staat definieren kann – in dieser Bedeutung sind Nation noch sehr jung.“44
Schulze hebt die hohe Bedeutung von Gruppen und dem damit verbundenen „Wir-Gefühl“ klar
hervor. Dabei geht er nicht nur auf die Nation als Wir-Gruppe ein, sondern nennt auch andere
Wir-Gruppen, wie Familie und Religion etc. Gleichzeitig bringt er diese unterschiedlichen
Gruppen miteinander in Beziehung und verbindet sie mit dem gemeinsamen Merkmal der
„Gruppenloyalität“. Die Loyalität, die Menschen für eine Gruppe aufbringen, verbindet, kann
aber ebenso gut ein trennender Faktor sein. „Loyalitätskonflikte“ können innerhalb und
außerhalb einer Gruppe zu einer oder mehrerer koexistenten Gruppen entstehen. Diese
Loyalitätskonflikte entstehen laut Schulze, wenn eine Gruppe eine verstärkte Hingabe oder
Verhaltensweise seiner Mitglieder fordert, die nicht konform mit den Zielen einer anderen
Gruppe sind. Anders ausgedrückt: Durch eine verstärkte Inklusion ihrer Mitglieder durch eine
Gruppe A erfolgt eine Exklusion dieser Mitglieder aus einer anderen Gruppe B. Durch die
passive Mehreinbeziehung oder auch aktives Selbsteinbringen der Mitglieder bleibt kein Platz
für eine koexistente gleichwertige Mitgliedschaft in einer anderen Gruppe. Die In- und
Exklusion hängt mit dem Grad der Mehreinbeziehung und den persönlichen Ressourcen, die
eine Personen der jeweiligen Gruppe widmet, zusammen. Es ist zum Beispiel möglich, der
Nation Österreich anzugehören und gleichzeitig der Gruppe seiner Familie oder einer
Religionsgruppe.
Schulzes Beschreibung eröffnet durch die von ihm beschriebenen möglichen
Loyalitätskonflikte zwischen Gruppen weitere wichtige Fragen: Welchen Wert hat es für eine
44 SCHULZE Hagen, Staat und Nation in der europäischen Geschichte. C.H. Beck, München. 2004. S. 111.
14
Person, einer Gruppe oder einer Nation anzugehören? Wie loyal muss eine Person gegenüber
dieser Nation sein? Was muss eine Person aufbringen oder leisten, um einer Nation
anzugehören? Kann eine Person zwei oder mehreren Nationen gleichzeitig angehören? Wie und
wann entstehen „Loyalitätskonflikte“ zwischen Gruppen oder Nationen? Welchen Wert haben
die von Schulz genannten anderen Gruppen wie Familie, Vereine, Religionsgemeinschaften
etc. für eine Nation und wie beeinflussen sie sich gegenseitig?
Die Antwort auf diese Fragen kann eine Analyse des „Wir-Gefühls“ geben. Hierbei stellt sich
weiters die Frage, ob sich dieses „Wir-Gefühl“ im Sinne eines Nationalbewusstseins
gleichsetzen lässt oder das „Wir-Gefühl“ nur eine notwendige Voraussetzung für ein
Nationalbewusstsein darstellt. Benötigen Menschen, die zuvor erwähnten gemeinsamen
Merkmale oder Kriterien, um ein „Wir-Gefühl“ im Sinne eines Nationalbewusstseins zu
entwickeln? Inwiefern konstituieren Faktoren wie Landschaft, Kultur, Sport, gemeinsame
Geschichte, Bräuche und Sitten das „Wir-Gefühl“?
In Bezug auf das „Wir-Gefühl“ und die Identifikation der Menschen mit der Nation sieht
Hobsbawm bereits in seinem im Jahre 1990 erschienen Werk Nationen und Nationalismus
jenen Bereich der Forschung über Nation und Nationalismus, in dem es einen dringenden
Forschungsbedarf gibt.45 Denn laut Hobsbawm kann man nicht davon ausgehen, dass die
Identifikation mit der Nation, sofern sie überhaupt existiert, für die Menschen über andere
Identifikationen, die in einer Gesellschaft vorkommen, steht. Sie verschmelze immer mit
„Identifikationen andere Art“46, selbst dann, wenn sie als primär empfunden werden. Eine
weitere Schwierigkeit sieht Hobsbawm in der Wandelbarkeit dieser nationalen Identifikation.
Denn das Wir-Gefühl der Mitglieder einer Nation kann sich nicht nur über lange Zeitabschnitte
grundlegend verändern, sondern auch bereits in kurzen Perioden.47
2.1.2 Der Nationsbegriff und seine Funktion
Der Nationsbegriff ist ein Kriterium der Mitgliedschaft, der Inklusion bzw. der Exklusion von
Mitgliedern einer Gruppe. Folglich hat er eine unterscheidende Funktion zwischen Mitgliedern
und Nicht-Mitgliedern.48 Dieser Funktion ist es nach Nassehi auch zu verdanken, dass der
Begriff der Nation aufgekommen ist und die heutige Bedeutung hat. Die Begründung eines
Nationsbegriffes geht mit der „[…] Säkularisierung des Weltbegriffes und des Zurücktretens
45 Vgl. HOBSBAWM, Nationen und Nationalismus. 1996. S. 22. 46 Ebda. 47 Vgl. ebda. 48 Vgl. KITTEL Bernhard, Moderner Nationalismus. Zur Theorie politischer Integration. WUV-
Universitätsverlag, Wien. 1995. S. 95.
15
der Religion als ‚überwölbende Sinninstanz‘“49 einher. Der Nationsbegriff hat laut Nassehi eine
Stabilisationswirkung innerhalb einer Gesellschaft. In einer funktional differenzierten
Gesellschaft könne die Nation mit ihrer Funktion zu einer Kommunikation zwischen
Mitgliedern beitragen, die eine stabilisierende Wirkung auf jene Gesellschaft haben kann.
In diesem Zusammenhang führt Nassehi den Begriff der ‚Selbststabilisation‘ an und meint in
diesem Kontext die „gesamtgesellschaftliche Koordination von Kommunikation“.50
Diese Koordination zwischen den Mitgliedern einer Nation passiert über einen „unterstellten
Wertkonsens, der in nahezu alle kommunikativen Bereiche eindringen kann“51. Daraus
entspringt Nassehis zentrale These:
Ethnische und nationale Semantiken lassen sich exakt auf dieser Ebene des Wertkonsens wiederfinden.
Ihre spezifische Funktion ist es, dem einzelnen eine Inklusion in gesellschaftliche Kommunikation zu
ermöglichen, weil er seine Identität kaum noch durch einfache Zugehörigkeit zu sozialen Aggregaten
bestimmen kann. Oder kürzer formuliert: Ethnizität/Nationalität wird zu einem wesentlichen
Identitätsmerkmal.52
Kittel setzt die These von Nassehi fort: „Nation ist […] die Selbstbeschreibung einer
Gesellschaft.“53 Er ist der Auffassung, dass der Nationsbegriff unterstützend auf das
Kommunikationssystem eines Staates wirken kann, in welchem politische Normen, die etwa in
der Verfassung einer Nation festgelegt sind, herrschen. Gleichzeitig wird der Nationsbegriff
zum Spiegel der Kommunikation innerhalb eines Staates mit einer differenzierten Gesellschaft,
mit unterschiedlichen Machthierarchien einen kommunikativen Konsens stiften und ein
gemeinsames Wertesystem erzeugen, auf das alle Mitglieder der Nation zurückgreifen
können.54
Demnach ist es laut Kittel für die Funktion der Nation charakteristisch, Mitglieder und Nicht-
Mitgliedern, über die Kenntnis und richtige Anwendung der sozialen, politischen und
kulturellen Werte, die in der Kommunikation einer Gesellschaft mittransportiert werden, zu
unterscheiden. Nur Mitglieder der Gesellschaft können diese richtig deuten und anwenden und
unterscheiden sich dadurch von Außenstehenden.
Neben dieser Hauptfunktion bergründet Kittel noch eine ‚Nebenfunktion’ des Nationsbegriffes:
49 Vgl. KITTEL, Moderner Nationalismus. 1995. S. 95. 50 Vgl. NASSEHI Armin, Zum Funktionswandel Ethnizität im Prozeß gesellschaftlicher Modernisierung. Soziale
Welt, 41, 3. S. 265. IN: KITTEL Bernhard, Moderner Nationalismus. Zur Theorie politischer Integration. WUV-
Universitätsverlag, Wien. 1995. S. 95. 51 Ebda. 52 Ebda. 53 KITTEL, Moderner Nationalismus. 1995. S. 95. 54 Vgl. ebda. S. 95. – S. 96.
16
Die Nationstheorie kann „als Reflexionstheorie einer politisch abgegrenzten Gesellschaft
gesehen werden.“55 Denn die Nationstheorie bildet eine Deskription des Selbstbildes einer
Gesellschaft, einen Katalog für die Unterscheidung von ihrer äußeren Umwelt und Leitlinien
für die Kommunikation innerhalb dieser Gesellschaft.56
Darüber hinaus sieht Nassehi die Nation nicht nur als Rahmen der die Inklusion/Exklusion
vorgibt, sondern auch als eine Plattform, die Integration ermöglicht:
Die Funktion der Entstehung ethnischer und nationaler Semantiken, also Selbstidentifikationsfolien als
Grundlage für Identitätsbildungen, die sich an der ethnischen Zugehörigkeiten ausrichten, besteht in der
Möglichkeit der Vollinklusion von Personen in gesellschaftliche Kommunikation trotz ihrer neuen
Stellung als Menschen, deren sozialstrukturelle Außenstellung dazu führt, daß Identitätsbildung wegen
Mangels an alternativloser Zugehörigkeit zu sozialen Aggregaten prekär wird. Ethnizität und Nationalität
bilden also Brücken zur Integration trotz struktureller Desintegration.57
Nassehis Theorie ist insofern bemerkenswert, als in der Forschungsliteratur meist von
Nationalismus und weitergehend von einem negativen Nationalismus gesprochen wird. Dies
hängt mit der Grundfunktion der Nation, die den Definierungsrahmen einer „Wir-Gruppe“
widerspiegelt, zusammen. Das macht Nassehis Ansicht umso so spannender, insofern er der
Nation jene Grundfunktion nicht abspricht, sondern auf diese begründend darauf hinweist, dass
sie durch ihre Funktionsweise eine zweite eigentlich gegengerichtete, positive Wirkung
beinhaltet. Kurz gesagt: Der Rahmen, den die Nation für eine Inklusion und Exklusion
beinhaltet, ermöglicht gleichzeitig eine „Brücke zur Integration“58.
Bei der Analyse des Nationsbegriffs stellt sich die Frage, ob der Nationalismus zuerst da war
und die Nation nur das Produkt des Nationalismus ist, oder umkehrt, ob die Nation den
Nationalismus geprägt hat. Dazu ist wichtig zu erkennen, wie diese zwei Begriffe in Beziehung
stehen und einander beeinflussen. Hobsbawm stimmt mit Gellner überein, wenn dieser die
künstliche Erschaffung und das „Social engineering“59, welches das Entstehen von Nationen
beeinflusst, betont.
„Daß Nationen als eine natürliche, gottgegebene Art der Klassifizierung von Menschen gelten – als ein
[…] politisches Geschick – ist ein Mythos. Der Nationalismus, der manchmal bereits Kulturen in
Nationen umwandelt, erfindet manchmal Kulturen und vernichtet häufig tatsächlich bestehende Kulturen:
Das ist eine Realität.“60
55 KITTEL, Moderner Nationalismus. 1995. S. 96. 56 Vgl. ebda. S. 96. 57 NASSEHI Armin, Zum Funktionswandel Ethnizität im Prozeß gesellschaftlicher Modernisierung. Soziale
Welt, 41, 3. S. 268- S.289. IN: KITTEL Bernhard, Moderner Nationalismus. Zur Theorie politischer Integration.
WUV-Universitätsverlag, Wien. 1995. S. 97 58 Ebda. 59 HOBSBAWM, Nationen und Nationalismus. 1996. S. 21 60 GELLNER Ernest: Nationalismus und Moderne. Berlin 1991, S. 77. IN: HOBSBAWM Eric, Nationen und
Nationalismus. Mythos und Realität seit 1780. Campus Verlag, Frankfurt/M. 1996. S. 21.
17
2.2 Nationalismus
Eine Analyse der Nation ist ohne eine Betrachtung oder Erwähnung des Phänomens
Nationalismus unvollständig. Dies lässt sich am derzeitigen Forschungsstand und den
bedeutenden Werken zu dieser Thematik immer wieder festmachen. Eine Beschäftigung mit
Nationalismus kann wertvolle Beiträge zu Nationsbewusstsein und Nationalstolz liefern. Daher
soll nun auf den Begriff ,Nationalismus‘ eingegangen werden. Wie auch bei den vorgestellten
Definitionen der Nation gibt es auch bei dem Phänomen des Nationalismus verschiedene
Ansätze, jedoch scheint in der Forschung ein größerer Konsens als in der Diskussion um den
Begriff und den Kriterien der Nation zu herrschen.
Laut Eugen Lemberg ist der Nationalismus
[…] ein System von Vorstellungen, Wertungen, Normen, ein Welt- und Gesellschaftsbild […], das einer
sozialen Großgruppe ihre Zusammengehörigkeit bewusst macht und dieser Zusammengehörigkeit einen
besonderen Wert zuschreibt, mit anderen Worten: diese Großgruppe integriert und gegen ihre Umwelt
abgrenzt.61
Dem ist der Ansatz des Historikers Otto Dann hinzuzufügen, der den Nationalismus als
[…] ein politisches Verhalten, das nicht von der Überzeugung einer Gleichwertigkeit aller Menschen und
Nationen getragen ist, das fremde Völker und Nationen als minderwertig einschätzt und behandelt62
bezeichnet. Ähnlich, jedoch konkreter, ist die Nationalismus-Definition von Weiss, die
Nationalismus als Überschätzung und Idealisierung der eigenen Nation, Kultur und Geschichte,
zusammen mit nationalem Egoismus bestimmt.63 Dieser Ansatz der Definition wird auch von
Blank geteilt, der Kriterien nennt, die er für den Nationalismus als grundlegend erachtet. Diese
seien die Idealisierung der eigenen Nation, das Bewerten der eigenen Nation als überlegen
gegenüber anderen Nationen sowie eine stets positive Bewertung der eigenen gegenüber der
Fremdnation. Dazu zählt er ein nationsgebundenes Geschichtsverständnis, welches die
Leugnung, Uminterpretation historischer Gegebenheiten sowie die Ablehnung, historische
Schuld auf sich zu nehmen, beinhaltet, zu den bestimmenden Merkmalen. Des Weiteren nennt
Blank noch den Hang, die Zugehörigkeit zu einer Nation von objektiven Merkmalen wie Rasse
oder Herkunft abhängig zu machen als ein Kriterium.64
61 LEMBERG Eugen, Nationalismus. Band 2. Rowohlt Verlag, Reinbek. 1964. S. 52. 62 DANN Otto, Nation und Nationalismus in Deutschland 1770 – 1990. C.H. Beck, München. 1993. S. 17. 63 Vgl. ebd. S. 388 64 Vgl. SCHALLER Jan, Fußball und Nationalismus. Eine soziologische Untersuchung. Grin Verlag, München.
2013. S. 3.
18
In der Geschichtswissenschaft wird der Nationalismus als zweifaches Phänomen gefasst:
Einerseits als „ein Konglomerat politischer Ideen, Gefühle und damit verbundener Symbole,
das sich zu einer geschlossenen Ideologie fügen kann“65; andererseits als die politischen
Bewegungen, die diese Ideen tragen.66 Generell wird dem Nationalismus eine Janusköpfigkeit
zugeschrieben, da die Einschließung der Mitglieder aufgrund spezifischer Kriterien gleichzeitig
die Ausschließung aller anderen bedeutet. Mit dem Mechanismus der Inklusion und Exklusion
geht nicht nur eine klare Trennung zwischen „wir“ und „ihr“ einher, sondern auch eine
Abwertung jener, die nicht Mitglieder der „Wir-Gruppe“ sind.67 Allgemeinsprachlich und im
wissenschaftlichen Diskurs wird der Nationalismus oft vom Patriotismus oder
„Vaterlandsliebe“ abgegrenzt. Der Patriotismus bezeichnet ebenso wie der Nationalismus ein
mit Stolz verbundenes Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Nation, jedoch wertet der Patriotismus
andere Nationen nicht ab. Im Gegensatz zum Nationalismus geht er weder von einer
Überlegenheit der eigenen Nation aus, noch fordert er dessen Ausdehnung auf Kosten anderer
Nationen und er behauptet auch keinen Gegensatz zwischen den Nationen.68
Im Folgenden sollen vor allem die Nationalismus-Definitionen von Blank und Weiss die
Grundlage bilden.
Ursprünge und Motoren des europäischen Nationalismus
Anderson markiert den Buchdruck als einen der bedeutendsten Meilensteine in der
Ursprungsgeschichte des Nationalismus. Der Buchdruck ermöglichte es, die Idee einer
vorgestellten Gemeinschaft zu verbreiten und ihr Gewicht zu verleihen. Außerdem war das
zuvor von Geistlichen meist handgeschriebene Wissen nur für eine kleine privilegierte Schicht
zugänglich. Dies änderte sich schlagartig mit der gedruckten Information, die auf einmal in
reproduzierbar und verbreitbar geworden war.69 Durch den Buchdruck wurde die Entstehung
von säkularisierten Gemeinschaften gefördert. Diese Gemeinschaften bildeten sich aus einer
dünnen, dennoch gut vernetzten Schicht in Europa, welche die in Latein geschriebenen Werke
lesen konnte. Durch das Massenmedium Buch und das Aufkeimen des Kapitalismus kam es zu
einer Verdrängung der lateinischen Sprache durch die Landessprachen. Denn die Drucker
begannen aufgrund der Geldknappheit in Europa, den Vertrieb von günstigeren Ausgaben in
den jeweiligen Landessprachen zu forcieren. Somit stellt der frühe Kapitalismus einen
65 JANSEN / BORGGRÄFE, Nation – Nationalität – Nationalismus. 2017. S. 18. 66 Vgl. ebda. 67 Vgl. LANGEWIESCHE Dieter, Nationalismus im 19. Und 20. Jahrhundert. Zwischen Partizipation und
Aggression. Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn. 1994. S. 12 – S. 13. 68 Vgl. JANSEN / BORGGRÄFE, Nation – Nationalität – Nationalismus. 2017. S. 17. 69 Vgl. ebda. S. 39.
19
Einflussfaktor zur Entstehung des Nationalbewusstseins dar. Ein weiterer maßgeblicher Faktor
war der Einfluss der Reformation, die wiederum ihren Durchbruch den Buchdruck zu
verdanken hatte. Die dünne Leserschicht in Europa wuchs durch die Konföderation von
Protestantismus und Druckgewerbe, die auf billige Volksausgaben fußte, und neue große
Lesekreise ins Leben rief.70 Hinzu kommen Veränderungen linguistischer Natur, wie etwa die
langsame und regional unterschiedliche Einführung einer Landesprache. Dies wurde von frühen
absolutistischen Herrschern vorangetrieben, denn sie diente ihnen als Werkzeug der
Zentralisierung ihrer Herrschaftsgebiete. Anderson merkt an, dass die Entstehung der
nationalen Gemeinschaft auch ohne diese drei Faktoren denkbar gewesen wäre.
Nichtsdestotrotz trugen der Buchdruck, die Reformation und die administrative Landessprache
massiv zur Verdrängung der lateinischen Sprache und zum Zusammenfall der heiligen
Gemeinschaft des Christentums bei, was wiederum den Weg für die neuen nationalistischen
Gemeinschaften ebnete.71
Der Nationalismus, der eine „Wir-Gruppe“ durch spezifische Merkmale, wie politische,
ideologische Ideen und deren Symbole definiert, und andere durch solche Kriterien und meist
negativer Wertzuschreibungen von dieser „Wir-Gruppe“ ausschließt, hatte im ausgehenden 19.
und 20. Jahrhundert verheerende Konsequenzen. Gerade durch die Herabsetzung der
„Anderen“ und der damit einhergehenden Stärkung des Selbstbildes und Zugehörigkeitsgefühl
der eigenen „Wir-Gruppe“, macht den Nationalismus gefährlich und birgt ein schädliches
Potenzial, welches sich bei Nationsbildungsprozessen der Vergangenheit immer wieder
offenbarte. Als solches hat diese negative Form der Abgrenzung und Stärkung des kollektiven
Bewusstseins auch Einfluss auf die Entwicklung des österreichischen Nationalbewusstseins.
Wenn also Nationen durch ein kollektives Bewusstsein von einem Zugehörigkeitsgefühl der
Menschen zu einer jeweiligen Nation konstituiert werden und sich über In- und
Exklusionsprozesse beziehungsweise durch Selbst- und Fremdbilder und deren Bewertung
weiter formen und abgrenzen, so ist es notwendig, jene Prozesse zu beleuchten, die dieses
kollektive Bewusstsein bilden. Dies soll im anschließenden geschehen.
70 Vgl. JANSEN / BORGGRÄFE, Nation – Nationalität – Nationalismus. 2017. S. 40 – S. 41. 71 Vgl. ebda. S. 42 – S. 43.
20
3 Nationalbewusstsein und kollektives Gedächtnis
Um das Nationalbewusstsein einer Nation beschreiben zu können, sind die Prozesse, die dieses
Bewusstsein bilden und ein kollektives Gedächtnis formen, zu beleuchten. Die Grundpfeiler
des kollektiven Bewusstseins sind Erinnerung, Identität und kulturelle Tradierung.
Laut Assmann sind diese drei Teile essenziell für jede Kultur und dessen Ausbildung eines
kulturellen Gedächtnisses. Jede Kultur, so Assmann, bildet eine konnektive Struktur, die in
sozialen und zeitlichen Dimensionen verbindend ist. Sie erzeugt eine gefühlte Verbundenheit
von Menschen zu ihren Mitmenschen, indem sie eine „symbolische Sinnwelt“ erschafft, in der
ein gemeinsamer Erfahrungs-, Handlungs- und Erwartungsrahmen herrscht. Dadurch, dass
dieser Rahmen für alle, die sich gemeinsam in diesem bewegen, gleich ist, schafft er Vertrauen
und ist eine Orientierungshilfe, um komplexe Strukturen zu vereinfachen. Der Rahmen wird
durch das Erinnern an das Gestern und die Einbindung der Erfahrungen aus der Vergangenheit
geschaffen und gefestigt. Vergangene Erfahrungen, Bilder und Geschichten werden in der
Gegenwart verankert, um Hoffnung und Erinnerung zu stiften. Diese Aspekte der Kultur
werden über historische und mythische Erzählungen überliefert und schaffen ein
Zugehörigkeitsgefühl und eine Identität, die es dem einzelnen Individuum ermöglicht, sich zu
einem „Wir“ verbunden zu fühlen. Das „Wir-Gefühl“, sprich die gefühlte Verbundenheit des
„Ich“ zum „Wir“, wird durch gemeinsames Wissen und ein vertrautes Selbstbild konstituiert
und durch ein gemeinsames Werte- und Regelsystem und Erinnern einer gemeinsamen
Vergangenheit verstärkt. Der Motor konnektiver Strukturen ist die Wiederholung bzw. die
Tradierung und Adaption von Bekanntem. Durch das Wiederholen werden Handlungslinien zu
wiedererkennbaren Schemata und eindeutigen Elementen der eigenen und gemeinsamen Kultur
– zum Beispiel Folklore und Traditionen – die sich von den Handlungslinien anderer Kulturen
unterscheiden. Die Wiederholung trägt also einen wesentlichen Beitrag zur Vergegenwärtigung
der konnektiven Strukturen bei. Dabei passiert der Übergang von alten konnektiven Strukturen
zu neuen nicht über die bloße Übernahme, sondern durch Erinnerung und Auslegung.72
Das kulturelle Gedächtnis deckt die Dimensionen des Gedächtnisses ab, die nicht nur den
Zweck von Dingen, sondern auch ihren Sinn erfassen. Dazu gehören Riten, Symbole,
Denkmäler und Ikonen usw. Also all jenes, was über den Rahmen eines bloßen
Dinggedächtnisses hinausgeht und mit einem identitätsstiftenden Sinn besetzt ist.
Nach Halbwachs kann ein kulturelles Gedächtnis nur in einer sozialen Struktur entstehen.73
Würde also angenommen ein Mensch vollkommen alleine und isoliert von jeglicher
72 Vgl. ASSMANN Jan, Das kulturelle Gedächtnis: Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen
Hochkulturen. C.H. Beck, München. 2007 S.16. – S. 21. 73 Vgl. ebda. S. 35
21
Sozialisation aufwachsen, so könne er nie ein kulturelles Gedächtnis entwickeln. Laut
Halbwachs bildet sich das Gedächtnis eines Individuums erst mit dem Prozess der Sozialisation.
Zwar besitzt jede*r ein eigenes Gedächtnis, aber dieses ist immer kollektiv geprägt und deshalb
verwendet Halbwachs den Begriff des ‚kollektiven Gedächtnis‘. Kollektive haben zwar kein
Gedächtnis, jedoch bestimmen sie den Rahmen des Gedächtnis seiner Angehörigen. Die
Erinnerungen der einzelnen Individuen entstehen durch die Kommunikation und Interaktion
innerhalb einer Gruppe. Menschen erinnern sich nicht nur an das, was sie von anderen vermittelt
bekommen, sondern auch an das, was von den anderen als bedeutend bewertet wird und können
so zu einer Bestätigung ihrer Wertvorstellungen gelangen. Erinnern ist also auch immer ein
Wahrnehmen. Was vom Individuum erinnert und wahrgenommen wird, wird von der Gruppe
vorgegeben. Das Gedächtnis eines Individuums entsteht also durch die Kommunikation mit
dessen Peers einer sozialen Gruppen, sei es die Familie, Religions- oder
Nationsgemeinschaften. Nur das, was innerhalb dieser Gruppe kommuniziert wird und im
Rahmen des Gruppengedächtnisses liegt, wird von der Einzelperson erinnert. Erinnerungen
entstehen, indem Vorstellungen und Ideen mit einem Sinn versetzt werden, damit sie in ein
Gedächtnis kategorisierbar werden. Dabei verschmelzen Bilder und Begriffe miteinander.74
Um Erinnerungen fortsetzen bzw. innerhalb einer Gruppe weiter tradieren zu können, ist es
notwendig, Vorstellungen in eine konkrete Form zu bringen, sei dies in Formen eines Festes,
Feiertags, einer Person oder eines bestimmten Ortes.75 Als Beispiel sei das alljährlich
stattfindende Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker genannt, das der Welt die Bedeutung
des musikalischen Erbes Österreichs zeigen soll.
Umgekehrt müssen Ereignisse, um im kollektiven Gedächtnis Bestand haben zu können, eine
bedeutende Wahrheit aufweisen: „Jede Persönlichkeit und jedes historische Faktum wird schon
bei seinem Eintritt in dieses Gedächtnis in eine Lehre, einen Begriff, ein Symbol transportiert;
es erhält einen Sinn, es wird zu einem Element des Ideensystems der Gesellschaft.“76 Demnach
kann man Andreas Hofer als bedeutende Persönlichkeit nennen, die mit dem Freiheitskampf
gegen die napoleonischen Truppen assoziiert wird und als Projektionsfläche für die
Weitertradierung der Erinnerung dient.
Aus dieser wechselseitigen Beziehung von Bildern und Begriffen konstituieren sich
Erinnerungsfiguren.77
74 Vgl. ASSMANN, Das kulturelle Gedächtnis.2007 S. 35. – S. 38. 75 Vgl. HALBWACHS Maurice, La Topographie légendaire des Évangiles en Terre Sainte. Étude de mémoire
collective. Presses universitaires de France, Paris.1941. S.157. IN: ASSMANN Jan, Das kulturelle
Gedächtnis.2007. S. 38. 76 HALBWACHS Maurice, Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen. Suhrkamp, Berlin. 1985. S. 389. –
S. 390. IN: ASSMANN Jan, Das kulturelle Gedächtnis.2007. S. 38. 77 Vgl. ASSMANN, Das kulturelle Gedächtnis. 2007. S. 38.
22
3.1 Erinnerungsorte
Der Begriff „Erinnerungsort“ und dessen heutige Bedeutung ist aus sprachphilosophischer
Sicht insofern problematisch, als er auf keinen konkreten Ort verweist, so wie es der Begriff im
Eigentlichen impliziert.78
Nora definiert erstmals den Begriff ‚Erinnerungsort‘. Gemäß seiner Auffassung verweisen
‚Erinnerungsorte‘ nicht bloß auf geographische Gedächtnisorte, sondern auch auf kulturelle
Ereignisse, Gedenkfeiern, historische Persönlichkeiten sowie Texte verschiedenster Gattungen.
Nora beschreibt in seinem Werk Les lieux de mémoire die wichtigsten Meilensteine des
französischen kollektiven Gedächtnisses, wie etwa Paris, Versailles und die französische
Flagge. In diesen Erinnerungsorten hat sich nach Nora das Gedächtnis der Nation Frankreichs
in besonderem Maße kondensiert.79 Diese Theorie lässt sich auf Österreich übertragen. Als
wichtigste Meilensteine des österreichischen kollektiven Gedächtnisses gelten unter anderem
etwa Wien, Salzburg, die Unterzeichnung des Staatsvertrags oder das musikalische Erbe.
Statt des Begriffs ‚Erinnerungsort‘ könnte in diesem Zusammenhang auch der Begriff
,Erinnerungssymbol‘ verwendet werden, da dieser eher den Wortbeschreibungen näherkommt.
Erinnerungsorte symbolisieren einzelne Facetten der erinnerten nationalen Biografie eines
Landes sowie auch andere nationale Repräsentationsmittel, wie etwa Fahnen oder Hymnen, die
das ideologische Bewusstsein einer Nation innerhalb deren Gesellschaft formen. Im Fall von
Noras Werk Les lieux de mémoire lassen sich Erinnerungsorte respektive Erinnerungssymbole
außerdem durch zwei übergeordnete historische Analysekategorien einordnen und bestimmen;
nämlich Republik und Nation.80
Einen spannenden Beitrag zu diesem Thema liefert Foucault in seinem Text Andere Räume. Er
definiert anders als Nora einen gewissen ‚Ortungsraum‘. Diese Ortungsräume beschreiben
bedeutsame Orte, die sich durch wichtige geschichtliche Ereignisse, wie etwa eine gewaltsame
Entnahme von bedeutsamen Dingen aus Ort A zu Ort B, klar von anderen Orten durch ihre
Wichtigkeit hervorheben. Als Beispiel gelten hier aber auch nicht nur topografisch
festzumachende Orte, da Foucault beispielsweise die Arbeit von Galilei als Gründung eines
solchen Ortungsraumes nennt. Denn mit Galileis Erkenntnis, dass sich die Erde um die Sonne
78 Vgl. Was ist ein Erinnerungsort?
https://www.uni-oldenburg.de/geschichte/studium-und-lehre/lehre/projektlehre/regionale-erinnerungsorte/was-
ist-ein-erinnerungsort/ [03.05.2020] 79 Vgl. ebda. 80 Vgl. NEUMANN Birgit, Erinnerung - Identität - Narration: Gattungstypologie und Funktionen kanadischer
"Fictions of Memory" Band 3 von Media and Cultural Memory/Medien Und Kulturelle Erinnerung, Walter de
Gruyter, 2005. S. 81.
23
dreht, sei ein neuer Ortungsraum entstanden und ändere den zuvor herrschenden Ortungsraumes
des Mittelalters sowie dessen Ausdehnung.81
Im Kontext der österreichischen Geschichte ließen sich hier etwa die Etablierung des
Habsburger Reiches, der Anschluss an Hitler-Deutschland, die Unterzeichnung des
österreichischen Staatsvertrages oder der EU-Beitritt nennen.
3.2 Nationalbewusstsein
Eine gute Anknüpfung an das Kapitel ‚Nationalismus‘ und Brücke zum Nationalbewusstsein
stellt eine Bemerkung des Historikers Wilhelm Bauer da:
Weder Rassen-, noch Abstammungsmerkmale, nicht einmal immer Gemeinsamkeiten der Sprache geben
den Ausschlag. Kinder derselben Eltern gehören unter Umständen verschiedenen Nationen an. Der
moderne nationale Gedanke ruht nämlich eingebettet fast einzig und allein im Gemütsleben und im letzten
Grunde entscheidend wird demnach bloß die Tatsache, welcher Nation der einzelne sich zugehörig fühlt,
nicht welcher körperlich oder sprachlich oder sonstwie [sic!] zuzuzählen ist. Daraus erklärt sich auch,
wieso der heutige Nationalismus in seinen Ausdrucksformen bisweilen so nahe an religiöse
Empfindungen grenzt. In ihrer irrationalen Herkunft sich ähnelnd, treffen sich Religion und Volkstum
auch in der Art, wie man sie und ihren Besitz kämpft.82
Bauer konstituiert damit ein weiteres Verständnis für das Phänomen des Nationalismus und
dessen „affektgeladene Sprache, sein öffentliches Auftreten als Liturgie, wie etwa auf den
Nürnberger Reichsparteitagen, für die Opfermystik, die die oft jungen Nationalisten begeistert
[…]“.83 Die Menschen schöpfen ihr Heil nicht mehr aus dem Glauben eines jenseitigen Gottes,
sondern aus der profanen Nation.84 Bruckmüller nennt zwei Gründe für dieses, auch von
Gellner festgestellte Phänomen: Die ‚Reinheit‘ des Blutes in der postulierten
Abstammungsgesellschaft spielte eine große Rolle in der Vorstellungswelt des Nationalismus.
Der Nationalismus übernahm „nicht selten die Rolle der klassischen Erlösungsreligionen“85.
Die Analogie des göttlichen Ursprungs und der ‚Blutreinheit‘ als Begründung für die
Vorstellung, dass nur ‚reine‘ Abstammung Heil über die Gemeinschaft bringt. Diese dem
modernen Rassismus nährende Haltung taucht in der Geschichte immer wieder auf.86 Die
zweite Begründung für den religiösen Aspekt des Nationalismus wird in der Ablösung des
christlichen traditionellen Geschichtsverständnis gesehen, welches mit dem Untergang des
81 Vgl. FOUCAULT Michel, Andere Räume. In: BARCK, Karlheinz u.a. (Hg.), Aisthesis. Wahrnehmung heute
oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig 1992. S. 36. 82 BAUER Wilhelm, Österreich, IN: Österreich, Zeitschrift für Geschichte, Jahrgang 1918/19, S.6. IN:
BRUCKMÜLLER Ernst, Österreichbewußtsein im Wandel: Identität und Selbstverständnis in den 90er Jahren.
Signum Verlag, Wien. 1994. S. 62. 83 Vgl. ebda. 84 Vgl. GELLNER, Nationalismus und Moderne. Berlin 1991, S. 88. 85 BRUCKMÜLLER, Österreichbewußtsein im Wandel. 1994. S. 63. 86 Vgl. ebda.
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Heiligen Römischen Reiches das Ende der Geschichte annahm. Das Geschichtsbewusstsein
konzentriert sich nunmehr auf die Nation, der „überzeitliche Funktionen zugeschrieben werden,
die jene aber nur erfüllen kann wenn sich jedes Mitglied der Nation voll in ihren Dienst stellt.“87
Auch das Nationalbewusstsein wird nicht durch objektive, sondern subjektive Kriterien, welche
religiöse Empfindungen ähneln, bestimmt. Diese bestärkten – im historischen Kontext
betrachtet – eine säkularisierte Emanzipierung religiöser Vorstellungen. Bruckmüller betont
daher die Dringlichkeit einer Analyse dieser mystischen Seite des Nationalbewusstseins.
Modernen Nationen diente diese Mystik – wie etwa ihre Abstammungsgeschichte von alten
‚Stämmen‘ – als Legitimationsgrund ihres Bestehens. Hierfür berufen sie sich oft auf eine
göttliche Herkunftsgeschichte und betonen stets das Alter ihrer Nation.88 „Je älter, desto
sicherer ist das Volk von göttlicher Herkunft.“89
Alte und neue Orte mit religiöser Bedeutung werden zu Erinnerungsorten der Nation erhoben.
Wie zum Bespiel Paris oder Reims für Frankreich und die Franzosen und Prag für die
Tschechen. Das Erheben von alten ‚heiligen‘ Orten zu nationalen Erinnerungsorten bedeutet
aber nicht, dass es sich bei modernen Nationen nicht auch häufig um Neuerfindungen
beziehungsweise um säkularisiertes Adaptieren von bedeutenden, alten religiösen
Erinnerungsorten handelt. Solche Erinnerungsorte können Orte sein, die an Niederlagen
bedeutende Siege oder Krönungen erinnern sollen. Wie bereits im Kapitel 2.2 erwähnt, dienen
vor allem die Sprache und die Kultur als weitere wichtige Identifikationsfaktoren. Die
gebildeten Schichten verständigen sich über die Dichtung, Kunst, Architektur, Malerei und
Musik über ihre nationale Identität.90 Im selben Sprachgebiet herrschte die gleiche Kultur. Die
nationalen Gemeinschaften grenzten sich daher überwiegend durch ihre jeweiligen
Hochsprachen und Symbole ab. Diese stellten auch die Basis und das wichtigsten Merkmal der
nationalen Identifikation dar. Den nationalen Gemeinschaften, die sich zuerst nur aus einer
dünnen gebildeten Schicht zusammensetzten, gelang es dadurch, ihre Ideen von ethnischer
Solidarität, Werten, und Loyalität an die breite Masse zu verbreiten.91 Mit der Vorstellung und
der Postulierung einer sozusagen vorgegebenen Zusammenhörigkeit, sprich mit der Erzeugung
einer „Wir-Gruppe“, die es vermag, sich durch bloßes Hineingeborenwerden in ein
Sprachgebiet von anderen Gruppen bewusst abzugrenzen, wurde im Vergleich zu früheren
Gesellschaften ein deutlich größerer Anspruch erreicht. Daher stellt das Merkmal der Sprache
ein besonders wichtiges Merkmal der nationalen Identifikation dar. Die alte ‚heilige‘
87 BRUCKMÜLLER, Österreichbewußtsein im Wandel. 1994. S. 63. 88 Vgl. ebda. S. 64. 89 Ebda. 90 Vgl. ebda. S. 64. – S. 65. 91 Vgl. ebda. S. 65.
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Muttersprache setzte sich in der Entwicklung zunehmend als Hochsprache durch. Dialekte
werden in diesem Prozess zunächst integriert und Mehrsprachigkeit wird demontiert. Daher
kommt den Sprachrohren der Kultur dieser Zeit, den Dichtern und Musikern eine besondere
Rolle für die moderne Nationsbildung zu.92
Erinnerungsorte und nationale Symbole, wie Flaggen, Hymnen und Nationalfeiertage werden
als Mobilisierungs- und Identifikationsinstrumente für die breiten Menschenmassen erschaffen.
Die erste Nationalhymne, die Marseillaise, wird von französischen Soldaten gesungen,
woraufhin auch bald andere Staaten dies kopierten und eine Nationalhymne für ihren Staat
etablierten. Fünf Jahre später, im Jahr 1797, erteilte Kaiser Franz II. Joseph Haydn den Auftrag,
die österreichische Kaiserhymne, auch Volkshymne genannt, zu komponieren.
Darüber hinaus suchen moderne Nationalisten auch nach ‚heiligen Spitzenahnen‘, wie den
‚heiligen Königen‘ Karl der Große, Heinrich der II., Ludwig der Heilige und Stephan von
Ungarn. Dieses Prozedere ist bereits seit dem Mittelalter beobachtbar, jedoch geschieht es ab
dem 19. Jahrhundert in säkularisierter Form. Des Weiteren berufen sich moderne Nationalisten
oft auf eine vorgestellte Abstammung bestimmter ethnischer Gruppen. Zur Zeit der
Französischen Revolution herrschte der Glaube, dass der Großteil der französischen
Bevölkerung von den antiken Römern abstammte, während dem Adel eine fränkische
Abstammung zugesprochen wurde. Die Rumänen berufen sich auf eine Abstammung der
romanisierten Bevölkerung von Dakien, den Dakern, die Bulgaren auf Thraker und die
Griechen auf Altgriechen und auf Mazedonier des Reiches von Alexander des Großen.
Auffallend ist, dass mit fortschreitender Säkularisierung die Ahnen und Gründungsmythen über
bedeutende christliche Persönlichkeiten weiter zurück ins Heidnische erweitert oder ersetzt
werden. Die Nibelungen verdrängten Karl den Großen bei den Deutschen, bei den Ungarn
ersetzte Arpárd den Hl. Stephan und die Tschechen verschoben ihre Gründungslegende von
Wenzel von Böhmen auf Přemysl und Libuše.93
Auch große Reformatoren wurde die Funktion als nationale Symbolfigur zugeschrieben, wie
zum Bespiel Martin Luther für die deutsche Nation und Jan Hus als Nationalheiliger der
Tschechen. Ebenso konnten, wie bereits erwähnt, Dichter zu wichtigen nationalen
Symbolfiguren werden, wie etwa Walter von der Vogelweide, Friedrich Schiller und Dante
Alighieri. Ebenso können Vorreiter*innen und Kämpfer*innen für Freiheit, Einheit und
nationale Gleichberechtigung wie Garibaldi, Kossuth, Atatürk und Széchenyi die Funktion als
nationale Identifikationsfigur erhalten.94 All diese Persönlichkeiten wurden nicht von alleine,
92 Vgl. BRUCKMÜLLER, Österreichbewußtsein im Wandel. 1994. S. 65. 93 Vgl. ebda. S. 65 – S. 66. 94 Vgl. ebda. S. 66.
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sondern durch Veranlassungen, Institutionen und Aufarbeitung der Erinnerung zu nationalen
Erinnerungssymbolen. Dies geschieht durch die Konservierung und Tradierung über
Denkmäler, Museen, Feiern, historische Aufzeichnungen und Lehrpläne; die die Funktion
hatten und weiterhin haben, nationale Identifikationssymbole der Bevölkerung bewusst zu
machen. Im Verlauf der Zeit lässt sich ein deutlicher Wandel der Priorisierung und
Aufbereitung von nationalen Erinnerungssymbolen erkennen. Von den Heiligen des
Spätmittelalters zu den Herrschern und den Heroen, die große militärische, politische oder
kulturelle Leistungen erbrachten. Auch wie diese Symbole der Bevölkerung dargestellt werden,
ist einem Wandel unterworfen. So fungierten früher hauptsächlich Bücher, Gemälde,
Denkmäler und Lieder als Medien. Heutzutage haben größtenteils das Radio, Fernsehen und
das Internet diese Funktion übernommen.95
Durch das Fernsehen etwa lässt sich nicht nur eine sehr breite Masse erreichen, sondern auch
stärker die emotionale Bewusstseinsebene der Menschen ansprechen, in welcher wiederum
Selbst- und Fremdbilder geformt werden.96
Die Nation wird ständig rekonstruiert durch die gemeinsame Erinnerung an bestimmte Daten, Personen,
Ereignisse, durch die gemeinsame Hochschätzung gewisser Symbole, kurz – die nationale Mythologie.97
Das bewusstseinsbildende Ziel, auf dem diese nationale Mythologie wurzelt, war historisch
sehr oft von kriegerischer Natur und wurde später von politischen Motiven abgelöst. Laut
Bruckmüller war die ‚Nation‘ der frühen Neuzeit „ als Versammlung der Stände identisch mit
politischer Öffentlichkeit und Berechtigung.“98 Daher korrelieren die fortschreitende
Demokratisierung der politischen Systeme und die Zunahme und Ausbreitung des
Nationalbewusstseins oft miteinander.99 Demokratie und Nation wurden schon vor 1848 dort
gefordert, wo alte, starre Systeme die Konstituierung von sich selbsterfindenden Nationen
unterdrückten, wie es zum Beispiel im Vielvölkerstaat der Habsburger der Fall war. Die
Symbiose von Demokratisierung und nationalbildenden Prozessen lässt sich auch heute noch
beobachten.100 Sie bringt eine Nationsbildung mit sich, die durch einen Ausbau von
Bürgerrechten innerhalb der gesamten Gesellschaft erfolgt. Bleibt dieses Zusammenspiel
aufrecht, so kommt es zu einer besonderen Art von nationaler Integration.101 Die Loyalität, die
die Bürger gegenüber dem Staat entgegenbringen, beruht folglich nicht nur auf die
95 Vgl. BRUCKMÜLLER, Österreichbewußtsein im Wandel. 1994. S. 66. 96 Vgl. ebda. S. 67. 97 Ebda. 98 Ebda. 99 Vgl. ebda. 100 Vgl. ebda. S. 70 – S.71. 101 Vgl. ebda. S. 71.
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Selbstwahrnehmung, Teil der Nation zu sein, sondern auch auf den exklusiven Rechten, die
ihnen der Staat gewährt. Diese sind exklusiv, da nur sie als Staatsbürger Anspruch auf diese
Rechte haben. Die Beziehung zwischen Demokratie und Nation bringt jedoch wegen dieser
Exklusivität ein potenzielles Problem mit: Wem stehen die Bürgerrechte wirklich zu? Wer ist
Mitglied der Nation und hat somit Anspruch auf deren exklusive Rechte?102 „Alle Staatsbürger,
alle Bewohner eines Staates oder aber ethnisch-sprachlich aufgefaßte [sic!] Dominanzgruppen
innerhalb des Staates?“,103 fragt Bruckmüller und hebt an dieser Stelle hervor, dass moderne
Nationsbildungsprozesse mit einer verstärkten Loyalitätsaufforderung verbunden sind.104
Moderne Nationen konzentrieren und zentralisieren die Loyalitätsforderung in erster Linie auf
sich selbst. Dies stellt einen wesentlichen Unterschied dar, da die Hierarchie der Loyalitäten
seit dem 19. Jahrhundert nicht mehr von unten nach oben, sondern von oben nach unten erfolgt;
sprich eine Person ist an erster Stelle ein*e Österrecher*in, zweitens ein*e Katholik*in, drittens
ein*e Steier*n, viertens ein Mitglied eines Vereins und so fort. Im Spätmittelalter war die
Loyalitätshierarchie genau umgekehrt. Die Zentralisierung der Loyalitätsforderung spiegelte
auch die Errungenschaften der französischen Revolution ‚Freiheit, Gleichheit und
Brüderlichkeit‘ wider. Diese bedeuteten gleichzeitig das Ende des Feudalismus und Gleichheit
vor dem Gesetzt, also ein Ende der rechtlichen Vorteile und ein starkes Streben nach
Demokratie. Solch ein erhöhtes Loyalitätsaufgebot ermöglicht auf der Kehrseite auch eine
höhere Opferbereitschaft der Bevölkerung, Massenkriege und Terror in einer nie zuvor
dagewesenen Form, anderseits stellt es auch die Grundlage für politische Partizipation und
Demokratie dar.105
Auf die Geschichte der Nationsbildung beziehungsweise auf die Prozesse, die diese fördern,
soll im Rahmen dieser Arbeit nicht weiter eingegangen werden. Dennoch ist ein kurzer Blick
darauf notwendig, denn eine Nationsbildung und weitergehend die Konstruktion eines
Nationalbewusstseins baut auf Selbstbilder, Vorstellungen und darauf begründenden
Mythologien auf. Diese werden durch Feiern, Hymnen, Symbole, Denkmäler und Bilder im
Besonderen in der Schule vermittelt. Als Endprodukt dieser Wertevermittlung wird ein
höchstmöglicher Grad an Loyalität angestrebt. Interessant ist, wie sich diese Vorstellungen auf
das Selbstbild auswirken und wie sehr sie auch handlungsleitend sind.106
102 Vgl. BRUCKMÜLLER, Österreichbewußtsein im Wandel. 1994. S. 71. 103 BAUBÖCK, Rainer, Nationalismus versus Demokratie. IN: ÖZP 20, 1991, Heft 1, S. 73 – S. 90, S. 82. IN:
BRUCKMÜLLER Ernst, Österreichbewußtsein im Wandel: Identität und Selbstverständnis in den 90er Jahren.
Signum Verlag, Wien. 1994. S. 71. 104 Vgl. BRUCKMÜLLER, Österreichbewußtsein im Wandel. 1994. S. 71. 105 Vgl. ebda. S. 72 – S.73. 106 Vgl. ebda. S. 73.
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Phasen des Nationalbewusstseins
In Anlehnung an Hroch und dessen Studien zur europäischen Nationalbewegung hebt
Hobsbawm hervor, dass sich ein Nationalbewusstsein abhängig von der gesellschaftlichen
Gruppenzugehörigkeit und Region eines Landes unregelmäßig entwickelt. Die meisten
Forscher*innen stimmen darin überein, dass sich das Nationalbewusstsein selbst innerhalb der
Bevölkerung ungleich ausprägt. Im Europa des 19. Jahrhunderts wird die breite Masse der
Bevölkerung, sprich Arbeiter*innen und Bäuer*innen, oft als letzte von einem
Nationalbewusstsein erfasst – ganz gleich, welche anderen gesellschaftlichen Gruppen als Erste
von ihm ergriffen wurden. Aufgrund dieser Problematik teilte Horch die Geschichte nationaler
Entwicklungen in drei Phasen auf.
Die erste Phase erfolgt rein literarisch, kulturell und volkskundlich. Aus ihr ergeben sich laut
Hobsbawm noch keine wesentlichen politischen oder nationalen Folgen. In der zweiten Phase
bekommt die nationale Idee durch militärische Kräfte ein Sprachrohr, wird verbreitet und
erlangt somit auch eine politische Macht. Phase zwei stellt auch den Anfang, ab dem mit der
nationalen Idee geworben wird, dar. Zur dritten und letzten Phase schreibt Hobsbawm:107
„[E]rst hier – und nicht schon vorher – gewinnen nationalistische Programme die Unterstützung der
Massen oder zumindest eines Teiles jener Massen, deren Repräsentanten zu sein sie immer wieder
behaupten.“108
Besonders entscheidend in der Entstehung und Entwicklung nationaler Bewegungen ist
demnach der Übergang von Phase zwei auf Phase drei. Dieser kann in einzelnen Fällen, wie
zum Beispiel in Irland, vor der Entstehung eines Nationalstaates erfolgen oder wie Hobsbawm
anmerkt, in manchen Entwicklungsländern gar nicht.109
107 Vgl. HOBSBAWM, Nationen und Nationalismus. 1996. S. 22. 108 Ebda. 109 Vgl. Ebda. S.24.
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4 Das österreichische Nationalbewusstsein
Die Habsburger Monarchie wurde spätestens wegen ihres revolutionären Gegenspielers
Frankreich mit dem Gegenstand der modernen Nationsbildung konfrontiert. Im Vergleich zu
Frankreich stand sie jedoch anderen Problemen gegenüber, die bei einer Etablierung einer
‚Nation Österreich‘ die gesamte Population des Reiches einschließt. Die zwei Hauptprobleme
waren einerseits das Desinteresse der habsburgischen Herrscher an einer Nationsbildung,
welche zu einer ungewollten Emanzipation ihrer Untertanen führen hätte können und somit ihre
Autorität als zentrale Herrscherfigur geschwächt hätte.110 Andererseits handelte es sich im
Gegensatz zu Frankreich um einen Vielvölkerstaat, in dem es eine Vielzahl von Interessen
einzelner Nationalitäten zu berücksichtigen galt.
In diesem Vielvölkerstaat wurden mehr als zehn Sprachen gesprochen und zahlreiche
unterschiedliche Religionen praktiziert.111 Dies machte es außerhalb des Habsburgerhauses und
der katholischen Kirche schwierig, gemeinsame Symbole für die ganze Bevölkerung zu finden
und zu institutionalisieren. Als gemeinsamer Heiliger wurde zum Beispiel Johannes von
Nepomuk betrachtet. Heroische Figuren oder gemeinsame bedeutsame Taten und
Errungenschaften gab es nur wenige. Hier zählen etwa Prinz Eugen, die Türkenkriege und das
Jahr 1809 als mögliche gemeinsame Erinnerungssymbole. Was der Erzeugung von
gemeinsamen Symbolen noch weiter entgegensteuernd wirkte, war der ungarische Heroismus,
der sich oft gegen die Habsburger Obrigkeit richtete. Generell stand einer
Gesamtnationsbildung ein stark ausgeprägtes ungarisches Selbstbewusstsein im Weg. Auch die
veraltete Formel der Habsburger, sich in Bezug auf Identifikationsfiguren nur auf den Kaiser
zu stützen, wirkte in die entgegengesetzte Richtung, denn so wurde der Entwicklung von neuen
alleinstehenden Nationsbewusstseinsinhalten ein Nährboden gegeben. Neben dem
gesamtstaatlichen habsburgischen Patriotismus entstand daher ein Landespatriotismus. Wie
bereits im Kapitel 2.2 ausgeführt, wurde dieser Landespatriotismus von einer dünnen, aber
immer weiter wachsenden Bildungsschicht getragen, welche die unterschiedlichen
Volkskulturen nährte, auf denen diese Entwicklung zurückzuführen war. Infolgedessen
entstanden seit dem Vormärz zahlreiche Sprachnationen: Rumänen, Tschechen, Kroaten,
Serben, Slowenen und auch allmählich Ungarn. Auch bei den deutschsprachigen Österreichern
kam es zu analogen Entwicklungen.112 Der deutschsprachige Teil des Habsburgerreiches hatte
das Problem, dass er von dem Nationsbildungsprozess der deutschen Bildungsschicht nicht
110 Vgl. BRUCKMÜLLER, Österreichbewußtsein im Wandel. 1994. S. 73. 111Vgl. MUTSCHLECHNER Martin, Probleme und Potenziale eines Vielvölkerstaates.
https://www.habsburger.net/de/kapitel/probleme-und-potenziale-eines-vielvoelkerstaates [09.04.2020] 112 Vgl. BRUCKMÜLLER, Österreichbewußtsein im Wandel. 1994. S. 74.
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einbezogen worden war, da sich dieser hauptsächlich an Preußen orientiert hatte und man sich
von den deutschsprachigen Österreichern abgrenzen wollte.113
Ein weiteres Problem für eine Nationsbildung und ein Aufkommen eines
Gesamtnationalbewusstseins des Habsburger Reiches stellte der wachsende Glaube der
deutschsprachigen Bevölkerung der Monarchie, die eigentliche Staatsnation zu sein, dar. Diese
Vorstellung war bereits vor dem Vormärz präsent und war auch später noch weit verbreitet. Die
deutschsprachigen Österreicher waren also bei der Konstituierung ihres Nationalbewusstseins
mit zwei Einflüssen beziehungsweise zwei Identifikationsvorlagen konfrontiert: Zum einen
orientierte man sich an die Habsburgermonarchie und dem Kaiser und man sah sich als
,deutsch-österreichisch‘. Zum anderen bot auch das sich gerade stark entwickelte ,Deutschtum‘
der sogenannten ,Reichsdeutschen‘ ein Identifikationspotential.114 Diese schlossen zwar
anfänglich andere differenziertere Identifikationsoptionen, etwa für Ungarn, Tschechen,
Slowenen, etc. nicht per se aus, allerdings wurden sie mit zunehmender Zeit der
ausschlaggebende Faktor für den Differenzierungswunsch der im habsburgerischen
Herrschaftsgebiet lebenden Völker. In weiterer Folge wurde so das Aufkommen einer
gesamthabsburgerischen Bewusstseinsbildung verhindert.
Tschechen, Ungarn und Slowenen bezeichneten die Deutschösterreicher als ‚Deutsche‘, denn
diese waren in ihrem unmittelbaren Umfeld und somit auch eine im Alltag ständig präsente
konkurrierende Nationalität im Prozess der Nationsbildung. Die weiter entfernten ‚Preußen‘
waren hier nicht mit einbezogen. Dies spiegelt sich auch in der Bezeichnung ‚Reichsdeutsche‘,
die die Österreicher als Abgrenzung gegenüber der Deutschen auch noch im 20. Jahrhundert
gebrauchten, wider.115
Neben den aufstrebenden Sprachgruppen der Monarchie, die sich immer mehr zu modernen
Nationen entwickelten, gab es seit dem Bestand der Doppelmonarchie noch ein weiteres
tiefgreifendes Problem.116 Die Bewohner der kaiserlich und königlichen Monarchie waren
gespalten in ihrer Identität, denn sie sollten sich als kaiserlich und königlich österreichisch-
ungarische Bürger sehen, gleichzeitig aber auch als kaiserlich, königlich österreichische oder
königlich ungarische. Auch der Wahlspruch viribus unitis (‚mit vereinten Kräfte‘) Kaiser Franz
Josephs I. konnte die Bewohner der Doppelmonarchie nicht aus ihrer Identitätskrise führen.117
113 Vgl. BRUCKMÜLLER, Österreichbewußtsein im Wandel. 1994. S. 74. 114 Ebda. S. 75. 115 Vgl. ebda S. 75. 116 Vgl. BRUCKMÜLLER Ernst, Symbole österreichischer Identität zwischen „Kakanien“ und „Europa“.
Wiener Vorlesungen im Rathaus, Band 59. Picus Verlag, Wien. 1997. S. 27. 117 Vgl. MUSIL Robert, Der Mann ohne Eigenschaften, Aus einem Staat, der an einem Sprachfehler
zugrundegegangen ist. S. 445 – S.447. IN: BRUCKMÜLLER Ernst, Symbole österreichischer Identität zwischen
„Kakanien“ und „Europa“. Wiener Vorlesungen im Rathaus, Band 59. Picus Verlag, Wien. 1997. S. 27 – S. 28.
31
Laut Robert Musil taten sich die Ungarn hier leichter da sie schon vorher Ungarn waren und
Ungarn blieben. Die Österreicher hingegen hatten zuvor und danach nicht dieses Bewusstsein,
zumal es Österreich in solcher Form nicht gab, sondern nur dessen amtliche Bezeichnung ‚Die
im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder‘. Diese hatte wiederum wenig Bedeutung
für das den Alltag der Menschen. Somit konnten sie sich auch auf Wunsch der Obrigkeit nicht
als Österreich-Ungarn oder Österreicher-Ungarn identifizieren. Des Weiteren fehlte es an
einem passenden Begriff. Österreicher zu sein, hieß Slowene, Tscheche Pole, Friauler, Serbe
Kroate, Ruthene oder Wallache zu sein.118 So bringt Musil das begriffliche Dilemma, das die
Identitätskrise eines Bewohners der Doppelmonarchie, folgendermaßen auf den Punkt:
Man stelle sich ein Eichhörnchen vor, das [sic!] nicht weiß, ob es ein Eichhorn oder eine Eichkatze ist,
ein Wesen, das keinen Begriff von sich hat, so wird man verstehen, daß [sic!] es unter Umständen vor
seinem eigenen Schwanz eine heillose Angst bekommen kann; in einem solchen Verhältnis zueinander
befanden sich aber die Kakanier und betrachteten sich mit dem panischen Blick von Gliedern, die
einander mit vereinten Kräften hindern, etwas zu sein. […] der österreichischen und ungarischen
österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie wiederfuhr es […] daß [sic!] sie an ihrer
Unaussprachlichkeit zugrunde gegangen ist…119
Die bröckelnde Entwicklung dieses kollektiven Bewusstseins und die entgegensteuernden
Nationalbewegungen bis zum Ersten Weltkrieg, waren das Fundament und der Grund für die
nach dem Krieg aufkommende Identitätskrise der Österreicher.120 Als das Ende des Krieges
und der Untergang der Habsburger Monarchie bereits im Oktober 1918 absehbar war, traten
die Reichsabgeordneten zusammen und hielten eine provisorische Nationalversammlung ab.
Daraufhin wurde vom Staatsrat am 30. Oktober 1918 die erste Regierung der Republik
„Deutsch-Österreich“ ernannt. Deutschösterreich sollte eine demokratische Republik und Teil
der Deutschen Republik sein.121 Dies war jedoch mit dem Friedensvertrag von Saint-Germain,
in dem die Unabhängigkeit Österreichs festgelegt worden war, sowie auch im Versailler
Vertrag, der die Anerkennung der Österreichischen Unabhängigkeit durch Deutschland
verankert, verboten worden. Zudem wurde im Vertrag von Saint-Germain der Staatsname
„Republik Österreich“ bestimmt.122 Darüber hinaus waren vor allem die führenden
Sozialdemokraten verärgert, die sich von dem Namen Österreich trennen wollten, da er an die
Habsburger Monarchie erinnern würde, mit der sie keine Verbindung mehr haben wollten.123
118 Vgl. MUSIL Robert, Der Mann ohne Eigenschaften, Aus einem Staat, der an einem Sprachfehler
zugrundegegangen ist. S. 445 – S.447. IN: BRUCKMÜLLER Ernst, Symbole österreichischer Identität zwischen
„Kakanien“ und „Europa“. Wiener Vorlesungen im Rathaus, Band 59. Picus Verlag, Wien. 1997. S. 27 – S. 29. 119 Ebda. S. 29. 120 Vgl. BRUCKMÜLLER, Österreichbewußtsein im Wandel. 1994. S. 75. Et. BRUCKMÜLLER, Symbole
österreichischer Identität zwischen „Kakanien“ und „Europa“. 1997. S. 30 121 Vgl. VOCELKA Karl, Geschichte Österreichs. Kultur – Gesellschaft – Politik. Wilhelm Heyne Verlag,
München. 2009. S. 271. - S. 272. 122 Vgl. ebda. S. 275. 123 Vgl. BRUCKMÜLLER, Symbole österreichischer Identität zwischen „Kakanien“ und „Europa“. 1997. S. 33.
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Nicht wenige Österreicher empfanden diesen Namen damals als auferlegte Geisel der
Siegermächte.124 Sogar Otto Bauer und Ignaz Seipel, die politischen Antagonisten dieser Zeit,
waren sich über den neu entstandenen Kleinstaat Österreich einig. Bauer schrieb:125
[Er] ist kein organisch gewachsenes Gebilde […] nichts als der Rest, der vom alten Reich übriggeblieben
ist, als die andern Nationen von ihm abfielen. Es blieb zurück als ein loses Bündel auseinanderstrebender
Völker, deren politisches Zusammengehörigkeitsgefühl und deren ökonomische Existenzgrundlagen
durch den Zerfall des alten Reiches und des alten Wirtschaftsgebietes zerstört worden waren.126
Auch Seipel sah im Kleinstaat Österreich keine Zukunft und meinte, die Vorstellung, Österreich
könne zu einer Art Schweiz oder Belgien werden und sich zudem ein Nationalbewusstsein
künstlich bilden, sei ein „Irrweg“127:
Dies ist keine deutsche und keine österreichische Konzeption, sondern eine weltfremde französische oder
tschechische Vorstellung. Das heutige Österreich hat niemals für sich allein gelebt; die Österreicher sind
ihrer ganzen Geschichte und Art nach Großstaatmenschen. Gerade weil sie eine starke kulturelle Eigenart
haben, können sie anderen Schicksalsgenossen in einer großen staatlichen Einheit viel geben… Unser
eigenes Gärtchen zu bebauen und gegen Entree den Fremden zu zeigen ist keine Aufgabe für die
Bewohner der karolingischen Ostmark und die Erben der Türkenbesieger.128
Den Weg aus der Identitätskrise und Unbedeutendheit als Kleinstaat sahen viele Österreicher
in der Annäherung und schrittweisen Adaptierung des Deutschtums, die vor allem durch den
Unterricht in den Fächern Deutsch und Geschichte passieren sollte. „Entösterreichern […]wir
die Schule.“129, forderte der Sozialdemokrat Karl Leuthner. Bereits im September 1919 hatte
Otto Glöckel, ebenfalls ein Sozialdemokrat, in einem Erlass für die Fächer Deutsch und
Geschichte betont,130
[…] daß […] wir in Zukunft die Geschichte unserer Heimat wieder mehr als bisher einen Teil der
Geschichte Deutschlands überhaupt darstellen. Die heranwachsende Jugend soll ihre Heimat als ein
deutsches Land auch geschichtlich kennen und schätzen, sie soll auch aufgrund der Geschichte ihr Volk
und Gebiet als untrennbar verknüpft empfinden mit dem gesamten Deutschtum […].131
124 Vgl. BRUCKMÜLLER, Symbole österreichischer Identität zwischen „Kakanien“ und „Europa“. 1997. S. 33
– S. 34. 125Vgl. GEHMACHER Ernst, Das österreichische Nationalbewusstsein. In der öffentlichen Meinung und im
Urteil der Experten. Eine Studie der Paul Lazarsfeld Gesellschaft für Sozialforschung. Paul-Lazarsfeld
Gesellschaft für Sozialforschung. Wien. 1982. S. 107. – S. 108. 126 BAUER Otto, Die österreichische Revolution (1923), Neuausgabe, Wien. 1965. S. 127. IN: GEHMACHER
Ernst, Das österreichische Nationalbewusstsein. 1982 S. 107. 127 Brief Seipels an Dr. W. Bauer, 31. Juli 1928, u. a. zit. Bei REIMANN Viktor, Zug groß für Österreich. Seipel
und Bauer im Kampf um die Erste Republik. Molden, Wien. 1968. S. 191. – S. 192. IN: GEHMACHER Ernst,
Das österreichische Nationalbewusstsein. 1982 S. 108. 128 Ebda. 129LEUTHNER Karl, Zit. nach HEER Friedrich, Der Kampf um die österreichische Identität, Wien/Köln/Graz.
1981. S. 341. IN: BRUCKMÜLLER Ernst, Symbole österreichischer Identität zwischen „Kakanien“ und
„Europa“. Wien. 1997. S. 34. 130 Vgl. BRUCKMÜLLER, Symbole österreichischer Identität zwischen „Kakanien“ und „Europa“. 1997. S. 34. 131 Zit. Nach DACHS Herbert, Schule und Politik. Die politische Erziehung an den österreichischen Schulen
1918 bis 1938. Wien/München 1982. S. 62 IN: BRUCKMÜLLER Ernst, Symbole österreichischer Identität
zwischen „Kakanien“ und „Europa“. Wien. 1997. S. 34. – S.35.
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Die verstärkte Hinwendung zum Deutschtum in der politischen Bildung zeigte Wirkung, da die
Grundsätze, die durch Glöckel kultiviert wurden, weiterhin in den Lehrplänen verankert
blieben. Somit wurden die Fächer Deutsch und Geschichte zu effektiven Medien, um der
breiten Masse der österreichischen Bevölkerung ein deutschnationales Gedankengut und
Bewusstsein einzupflanzen.132
Richard Schaukal liefert einen wertvollen Beitrag, der das Gefühlsbefinden der Österreicher in
der Identitätskrise nach 1918 porträtiert:
[W]enn sich der Österreicher die Frage stellt, was bin ich?, wird ihm, nicht erst seitdem er, von seinem
‚befreiten Brüdern‘ verlassen, auf sogenanntem innerösterreichischem Boden, dem Bundesstaat
Österreich, mit sich allein geblieben ist, in der einfachsten, der zunächstliegenden, die beste Antwort
bereitliegen. Ich bin Österreicher. Aber was heißt das? Was ist ein Österreicher? Vor kurzem sind es
neben mir, mit mir, gleich mir andere gewesen, die es nicht haben bleiben wollen. Das Österreichertum
ist also etwas, was man aufgeben kann, ohne es einzubüßen, etwas Äußerliches, was man einbüßt? Ist das
wahr? Kann ich mein Österreichertum ausziehen wie ein Kleid und in ein anderes schlüpfen? Ich weiß,
daß [sic!] ich das nicht kann. Und die andern, jene Österreicher von damals, die es nicht mehr sind, haben
sie ein anders Kleid angelegt? Nein, sie sind geblieben, was sie als Österreicher gewesen waren,
Tschechen, Polen, Italiener, Serben, Ruthenen, Rumänen. Das österreichische Kleid ist ihnen abgefallen.
Ich aber, wenn ich mein Österreichertum ablegte: käme da der Deutsche zum Vorschein, der ich gewesen
bin und bleibe? Mitnichten… Der Tscheche, der Pole, der Italiener, wenn er sich auch noch so sehr als
Österreicher empfand, fühlte doch, sei es nun zutiefst oder zuerst – der Unterschied liegt im Bewußtsein
[sic!], nicht im Gefühl – sich als Tschechen, Polen, Italiener. Ich fühle mich zuerst nicht als Deutscher.
[…] Gewiß [sic!], ich sprach nicht nur die deutsche Sprache, in der mir alles deutlich geworden war, …
ich liebte sie auch, als die mir angeborene, die ‚Muttersprache‘ … Aber war und blieb so die deutsche
Sprache meine geistige wie meine leibliche Heimat – die innerste, die Heimat meiner Seele, dessen, was
mich ‚moralisch‘ ausmacht, als was ich mich empfinde, war nicht Deutschland, sondern Österreich…133
Es gab aber auch nicht wenige deutsche Österreicher, die sich, nachdem sie das österreichische
Kleid abgelegt hatten, als Deutsche identifizierten.134 Viele Österreicher hofften, durch eine
Hinwendung zum Deutschtum und dem aufstrebenden Deutschland, der österreichischen
Identitätskrise entfliehen zu können.135 Ab 1933 änderten sich aber die Rahmenbedingungen
im Vergleich zu 1919. Österreich wurde jetzt als ‚deutsches‘ Land gesehen, welches seine
eigenen Leistungen und Traditionen betont, um für das gesamte Deutschtum einen Beitrag zu
leisten. Die Österreicher hängten sozusagen ihr österreichisches Kleid in den deutschen
Kleiderschrank. Zugleich wurde wieder stärker auf die Geschichte und die Kultur Österreichs
verwiesen und das ‚Vaterländische‘ in das Zentrum der Bewusstseinsbildung gerückt.136
132 Vgl. BRUCKMÜLLER, Symbole österreichischer Identität zwischen „Kakanien“ und „Europa“. 1997. S. 35. 133 SCHAUKAL Richard, Bekenntnis zum Österreichertum (1932), nach Viktor Suchy, Ein Dichter kämpft für
Österreich. Richard v. Schaukal zum Gedächtnis. IN: Furche Jahrbuch 1947, S.303 – S.320, S. 311. IN:
BRUCKMÜLLER, Symbole österreichischer Identität zwischen „Kakanien“ und „Europa“. Wien. 1997. S. 36. –
S.37. 134 Vgl. ebda. S. 37 135 Vgl. BRUCKMÜLLER, Österreichbewußtsein im Wandel. 1994. S. 75. 136 Vgl. BRUCKMÜLLER, Symbole österreichischer Identität zwischen „Kakanien“ und „Europa“. 1997. S. 37.
– S. 38.
34
Ebendies lässt sich etwa aus einem Auszug einer offiziellen Publikation ‚Österreich –
Grundlegung der vaterländischen Erziehung‘ von 1936 entnehmen:
Österreich wird leben und gedeihen, als die Lebensgrundlage seines Volkes und jedes einzelnen, als
alpenländisch-donauländische [sic!] Heimat mit ihrer tausendjährigen Religion und der darin
verwurzelten tausendjährigen deutschen Kultur; als der Staat der gesamtdeutschen christlichen Sendung
im Donauraum, der Erbe des Ersten Reiches (wie es Großösterreich war): als das Herzstück friedlicher
Völkergemeinschaft in Europa; als christlicher Staat, volkstreu und sozial, bei ständischer
Selbstverwaltung unter autoritärer Führung.137
Den Autoren war eine Neukonzeption des Geschichtsunterrichts sowie eine Rückbesinnung auf
das Österreichische und Vaterländische ein besonderes Anliegen. Denn ihrer Ansicht nach
wurde der Unterricht bereits am Ende der Monarchie und vor allem im Laufe der Ersten
Republik ‚verdeutscht‘. Die Interpretation der Geschichte, die das Deutschtum als Zentrum und
Maßstab setzte, stellte ein Problem dar, jedoch war die Einfärbung der Lehrpläne und die
Bewusstseinsbildung einer deutschen Identität von 1918 bis 1933 so fortgeschritten, dass eine
Neuinterpretation der historischen Geschehnisse nicht sehr erfolgreich sein konnte und keinen
großen Anklang fand. Dazu kam auch der schnelle, wellenschlagende Aufstieg Deutschlands
unter den Nationalsozialisten, der die ‚deutsche‘ Interpretation wiederum bekräftigte und als
die erfolgreiche erschienen ließ.138
4.1 Das Österreichbewusstsein nach dem Anschluss bis 1945
Wie bereits erwähnt, wurde bei der Ausrufung von „Deutschösterreich“ am 12. November
1918, Österreich als Teil Deutschlands gesehen. Dieser Anschlusswunsch und der Gedanke an
ein gesamtdeutsches Reich, der für viele Österreicher der allgegenwärtige Hoffnungsschimmer
aus der kleinstaatlichen Identitätskrise war, wurde in der Zeit des Austrofaschismus 1934 bis
1938 ein Riegel vorgeschoben. Der Austrofaschismus setzte sich dem nationalsozialistischen
Deutschland ideologisch entgegen. Die österreichischen Machthaber pochten auf die
Unabhängigkeit von Österreich und stilisierten die Österreicher als die besseren Deutschen –
freundlicher, umgänglicher, gläubiger und kultureller. Besonders der Katholizismus wurde als
die Grundlage gesehen, weshalb Österreich der eigentliche „bessere deutsche Staat“ sei.139
Diesbezüglich wurde im Vergleich zu den Jahren nach 1918 Österreichbewusstsein propagiert.
Doch auch der Austrofaschismus konnte den wachsenden Druck von Hitlerdeutschland nicht
mehr standhalten. Im Jahr 1938 kam es zum Anschluss an Deutschland, und er kam unter völlig
137 Vereinigung christlich-deutscher Mittelschullehrer Österreichs (Hrsg.), „Österreich“, Grundlegung der
vaterländischen Erziehung. Wien/Leipzig. 1936. IN: BRUCKMÜLLER Ernst, Symbole österreichischer Identität
zwischen „Kakanien“ und „Europa“. Wien. 1997. S. 38. 138 Vgl. BRUCKMÜLLER, Symbole österreichischer Identität zwischen „Kakanien“ und „Europa“. 1997. S. 38.
– S. 39. 139 Vgl. VOCELKA, Geschichte Österreichs. 2009. S. 14. – S. 16.
35
anderen politischen Vorzeichen und Gegebenheiten als er vor 20 Jahren vorgestellt, erhofft,
und geplant worden war. Ab dem Zeitpunktes des Anschluss an Deutschland gab es Österreich
als solches nicht mehr.140 Der Name Österreich wurde durch den Begriff Ostmark ersetzt.
Dieser wurde 1940 schließlich durch die Bezeichnung „Alpen- und Donau-Reichsgaue“
abgelöst.141
Als die deutsche Wehrmacht über die Grenze Österreichs marschierte und der Anschluss wie
eine Lawine über Österreich fegte, so schien auch das österreichische Bewusstsein wie
weggeweht. Bis auf die wenigen emigrierten und diejenigen, die der Monarchie noch immer
nachtrauerten, sowie der beharrenden ‚Vaterländischen‘, die zwangspensioniert oder von der
Gestapo vermerkt, eingesperrt oder ins KZ gebracht wurden, blieb nicht viel übrig.142„1938
schien Österreich ein historischer Begriff geworden zu sein“143, so Bruckmüller.
Das Feuer des österreichischen Bewusstseins war aber nicht völlig erloschen und flammte
immer wieder leicht auf. Laut Bruckmüller vermerkten die Autoritäten ‚Österreich-Tendenzen‘,
die sie als nicht besonders gefährlich einstuften, aber sie auch nicht unbeobachtet lassen
wollten. Solche ‚Tendenzen‘ kamen zum Beispiel bei Fußballspielen auf. Zwei berühmte Spiele
waren jene von Schalke 04 gegen Austria am 17. November 1940 und Rapid gegen Schalke 04
am 22. Juni 1941. Im Zuge der aufgebrachten Stimmung während der Fußballspiele offenbarte
sich ein144
[…] Grad an Nichtübereinstimmung zwischen dem offiziellen gemeinsamen Deutschtum und dem
tatsächlichen Differenzempfinden, das man gegenüber den neuen Herren fühlte, der es methodisch
zulässig erscheinen läßt [sic!], hier eine Art von anonymen Österreich-Bewußtsein [sic!] am Werk zu
sehen, das sich literarisch, politisch und kulturell kaum bis gar nicht äußern konnte. Dieses anonyme
Österreichbewusstsein reichte bis in die große Schar der nationalsozialistischen Österreicher hinein.145
Dies zeigt auch ein Zitat des Sicherheitsdienstes des Reichsführers SS vom 21. Oktober 1940:146
Es ist bemerkenswert, daß [sic!] sich anscheinend alle Gegnergruppen in einer Parole einig sind und dabei
sogar bis in die Parteikreise hinein nicht unerhebliche Zustimmung finden, nämlich in der Vertiefung des
Gegensatzes zwischen Ostmärkern und Altreichsdeutschen […] Der Parteiapparat scheint in dieser
Beziehung durchaus nicht einsatzfähig, da die Parteigenossenschaft […] bis in die höchste Stellen hinauf
eine Wut gegen alles Altreichsdeutsche in sich tragen […]147
140 Vgl. VOCELKA, Geschichte Österreichs. 2009. S. 14. – S. 16. 141 Vgl. ebda. S. 300. 142 Vgl. BRUCKMÜLLER, Symbole österreichischer Identität zwischen „Kakanien“ und „Europa“. 1997. S. 39. 143 Ebda. 144 Vgl. ebda. S. 39. – S.40. 145 Ebda. S. 40. 146 Vgl. Ebda. 147 KREISSLER Felix, Der Österreich und seine Nation. Ein Lernprozess mit Hindernissen. Böhlau, Wien. 1984.
S. 11. IN: BRUCKMÜLLER Ernst, Symbole österreichischer Identität zwischen „Kakanien“ und „Europa“.
1997. S. 40.
36
Diese ‚Österreich-Tendenzen‘, die sich in einer abneigenden Haltung gegenüber den deutschen
Machthabern manifestierten, zeigten durchaus ein noch vorhandenes Österreichbewusstsein
während der Anschlusszeit.
Bruckmüller betont, dass Äußerungen wie „Wir sind ja Österreicher; wir hätten die deutschen
Gauner nicht gebraucht“148 bereits in der Zeit um 1940 keine Seltenheit waren und spätestens
nach dem Russlandfeldzug immer häufiger und nachdrücklicher wurden. Hier kam ein
Österreichbewusstsein zum Vorschein, welches vor allem durch den Unmut, der während des
Kriegsverlaufes wuchs, bekräftigt wurde. Dies ist jedoch in eine völlig andere Kategorie zu
setzen als etwa konkrete Widerstandsbewegungen/-bemühungen, welche durch einen
österreichischen Patriotismus motiviert waren. Solche Widerstandsgruppen gab es, doch
wurden die meisten Mitglieder ausgeforscht, eingesperrt oder getötet. Als Symbol verwendeten
sie nicht selten die Farbkombination rot-weiß-rot.149
4.2 Das Österreichbewusstsein nach 1945 – Bedingungen, Faktoren und Probleme
In und nach dieser Zeit, in der es Österreich nicht gab,
entwickelte sich ein neues Identitätsbewusstsein. Nach 1945
stand vor allem eine Abgrenzung zu Deutschland und zu den
„den Deutschen“ im Vordergrund.150
Sobald der Krieg zu Ende war, wandten die Österreicher dem Weg der ‚deutschen‘
Identifikation, den sie seit 1918 beschritten hatten, den Rücken zu. Nun war es Priorität, sich
von den Deutschen abzugrenzen. Das ‚Österreichische‘ wurde wieder hervorgehoben und dies
geschah laut Bruckmüller nicht nur aus Opportunitätsgründen: Die im Zuge des Anschlusses
vollzogene Löschung des Namens ‚Österreich‘, der Abbruch der als ‚eigen‘ wahrgenommenen
Traditionen, die Herabsetzung durch die deutschen Herren, hatte bei vielen Österreichern nach
1938 eine Lücke hinterlassen.151 Die Re-etablierung des Namens und der österreichischen
Symbole und Bräuche konnte von diesen Menschen als positiv bewertet werden, da sie einen
Teil ihrer entrissenen Identität wiedergewonnen hatten.152 Die vom Krieg gebeutelte
Bevölkerung sehnte sich nach Sicherheit und Ruhe. Das begrenzte Österreich mit seinen
Landschaften und Bergen wurde als Heimat wiedergefunden und akzeptiert.153
148BRUCKMÜLLER, Symbole österreichischer Identität zwischen „Kakanien“ und „Europa“. 1997. S. 41. 149 Vgl. BRUCKMÜLLER, Symbole österreichischer Identität zwischen „Kakanien“ und „Europa“. 1997. S. 41. 150 VOCELKA, Geschichte Österreichs. 2009. S. 16. 151 Vgl. BRUCKMÜLLER, Österreichbewußtsein im Wandel. 1994. S. 75. – S. 76. 152 Vgl. STOURZH Gerald, Vom Reich zur Republik. Studien zum Österreichbewusstsein im 20 Jahrhundert.
Wiener Journal Zeitschriftenverlag, Wien .1990. S. 49. – S. 50. IN: BRUCKMÜLLER Ernst,
Österreichbewußtsein im Wandel. 1994. S. 76. 153 Vgl. BRUCKMÜLLER, Symbole österreichischer Identität zwischen „Kakanien“ und „Europa“. 1997. S. 37.
37
Um den Menschen eine solche Heimat zu geben, wurden bewusst altösterreichische Stereotype
bedient und als typisch erachtete österreichische Werte neu wiederbelebt. Dies geschah im
Vergleich zu 1919 unter anderen Gegebenheiten. Der Name „Österreich“, der 1918/1919 von
der Mehrheit abgelehnt und als Schmach empfunden wurde, wurde jetzt akzeptiert. Auch die
Grenzbestimmungen von 1918, die die ehemalige Donaumonarchie zu einem Kleinstaat
gemacht hatten und den Österreicher*innen das Gefühl der Unbedeutendheit gegeben hatte,
wurde von der österreichischen Bevölkerung nun auch akzeptiert. Diese Akzeptanz spiegelte
auch die Geschichtswissenschaft wider, die in der historischen Darlegung von Österreich von
Großraumkonzepten zurückwich.154 Erstaunlich ist auch die Wiederinkraftsetzung der
Verfassung von 1920 in der Fassung von 1929, da die Verfassungsreform im Jahr 1929 noch
Spannungen im Land verursacht hatte. Auch die Antwort auf die Frage nach den neuen
repräsentativen Staatsymbolen wurde schnell gefunden: Bereits in einem am 8. Mai
verabschiedeten Gesetz war man sich einig, dass das neue Staatswappen basierend auf dem
alten der Ersten Republik, nur mit dem Unterschied gefertigt wurde, dass nun gesprengte Ketten
an den Fängen des Adlers als Zeichen der staatlichen Unabhängigkeit hinzugefügt wurden.155
Die Suche nach einem Nationalbewusstsein, die 1918 begonnen hatte, war mit Ende des
Zweiten Weltkrieges zum Erliegen gekommen. Die Folgen des Krieges, die bewusste
Abgrenzung zu den Deutschen und das Einnehmen der Opferrolle spielten dabei eine
wesentliche Rolle. Die Österreicher*innen waren müde geworden, nach der zweimaligen
Destruktion ihrer vorherringen Nationalidentitätsvorstellungen, „[…] der
‚deutschösterreichischen‘ monarchiebezogenen (sic!) 1918 und der ‚deutschen‘ 1945 […]“156.
Diese Einschnitte brachten einen neuen Konsens über das österreichische Nationalbewusstsein
hervor. Dieser Konsens war kaum geprägt von einem übertriebenen Patriotismus oder von
gemeinsamen Erinnerungen an mystische Heldentaten oder Opferbereitschaft.157
Den Ausführungen Bruckmüllers folgend ist dieser Konsens
[…] realistisch, wenig überschwenglich, zeigt Zufriedenheit mit der Gegenwart, schöpft aus dem
alltäglichen Zusammenleben, kennt aber auch keinen ‚Verfassungspatriotismus‘, kaum so etwas wie
zentrale Identifikationsbilder.158
Stourzh beschreibt in seinem Werk Vom Reich zur Republik. Studien zum
Österreichbewusstsein im 20. Jahrhundert den Wandel des Österreichbewusstseins vom Ende
154 Vgl. BRUCKMÜLLER, Österreichbewußtsein im Wandel. 1994. S. 76. 155 Vgl. BRUCKMÜLLER, Symbole österreichischer Identität zwischen „Kakanien“ und „Europa“. 1997. S. 49. 156 BRUCKMÜLLER, Österreichbewußtsein im Wandel. 1994. S. 76. 157 Vgl. ebda. 158 Ebda.
38
der Monarchie bis zum Ende des 20. Jahrhunderts. Als repräsentativen Begriff für den
Übergang von der Monarchie bis zur Zweiten Republik und der Entwicklung eines
Österreichischen Nationalbewusstsein verwendete er die Vorsilbe „Reichs-“. Als Anstoß
dienten Stourzh Erinnerungen Bruno Kreiskys an dessen Aufstieg zum Vorsitzenden des
„Reichsbildungsausschusses“ der Sozialistischen Arbeiterjugend. Für Kreisky und ältere
Österreicher*innen seien diese Benennungen so vertraut gewesen, wie sie den jüngeren
Generationen fremd waren. Laut Stourzh handelt es sich dabei um ein altösterreichisches Erbe.
Er verweist darauf, dass auch im konservativen Lager der Zwischenkriegszeit einige „Reichs“-
Institutionen, wie etwa den „Reichsbund der Österreicher“ oder die „Reichspost“ gegeben hat.
Neben den politischen Institutionen in der Ersten Republik gab es aber auch zahlreiche
unpolitische Organisationen, die „Reichs-“ als Vorsilbe in ihrer Benennung hatten:159 Sie
reichen „[…] von der Reichsanstalt für Mutter- und Säuglingsfürsorge über den Reichsverband
der Hebammen Österreichs bis zum Reichsverein der österreichischen Buchdruckerei- und
Zeitungsarbeiter.“160
Eine bekannte Organisation war die „Reichsorga“, die Reichsorganisation der Kaufleute
Österreichs. Die Vorsilbe „Reichs-“ fungierte in der Ersten Republik als Kennzeichnung und
wies auf das „Gesamtösterreichische“ hin. Diese Bedeutung änderte sich 1938 mit dem
Anschluss.161
Nun gab es einen „Reichskommissar für die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen
Reiche“ und ab 1939 gab es „Reichstatthalter“ für die „Reichsgaue“ der Ostmark. Doch obwohl
die Vorsilbe „Reich-“ in der Zeit, in der Österreich ein Teil des Dritten Reiches war, eine völlig
andere Bedeutung hatte, war laut Stourzh die Erinnerung an die von Altösterreich stammenden
und bis 1938 üblichen „Reich-“ Institutionen noch sehr präsent. So präsent, dass die Vorsilbe
auch noch in den ersten Monaten der Zweiten Republik verwendet wurde. Dies führte laut eines
Aktenverweises vom 25. September 1945 in den Akten des Amtes für auswertige
Angelegenheiten der Staatskanzlei zu einer Intervention des Vertreters der französischen
Besatzungsmacht. Norbert Bischoff vermerkte darin, dass der zuständige Vertreter der
französischen Besatzung, de Monicault, sich bei ihm erkundigte, wieso es bei der
„Österreichischen Volkspartei“ eine „Reichsparteiabteilung“ und sonstige „Reichsorgane“
geben könne. Daraufhin antworte ihm Bischoff, dass er selbst keine näheren Informationen
darüber habe, sich aber daran erinnern könne, dass diese Organe diese Bezeichnungen bereits
159 Vgl. STOURZH, Vom Reich zur Republik. 1990. S. 25. 160 Ebda. S. 25. 161 Vgl. Ebda. S. 25 – S. 26.
39
in der Ersten Republik gehabt hätten und diese Beifügung noch ein Überbleibsel aus der Zeit
der Monarchie sei. Der französische Gesandte antwortete Folgendermaßen darauf:162
[...] Dies möge wohl sein, heute habe der Terminus „Reichs“- einen anderen sehr unangenehmen Klang
gewonnen und es wäre doch sehr gut, wenn dieses Wort fallen gelassen würde, [andernfalls könnten]
möglicherweise imperative [diplomatische Einsprüche erfolgen,] was zu vermeiden gewiß [sic!] alle
Beteiligten wünschen würden […]163
Bischoff merkte an, dass in dieser Antwort „[der] außerordentliche Argwohn, mit dem selbst
die geringsten Manifestationen verfolgt werden, hinter denen noch ein Rest einer Bindung an
Deutschland vermutet werden könnte“164 ersichtlich war. Bereits am 26. September, also dem
darauffolgenden Tag, wurde folgende Meldung vom Generalsekretär des Außenamtes,
Heinrich Wildner aktenkundig gemacht:165 „Landesobmann Figl teilt mit, daß[sic!] die
beanstandete Titulatur abgeschafft wurde.“166
Aus dieser Anekdote lassen sich zwei nicht unwichtige Dinge feststellen: Erstens ist aus den
Aktenaufzeichnungen ersichtlich, wie schnell von Seiten der österreichischen politischen
Instanzen auf die Einwände des französischen Vertreters reagiert wurde. Zweitens lässt sich
hier ein Bruch beziehungsweise eine Neuinterpretation und Akzeptanz des
Österreichverständnisses und Österreichbewusstseins, symbolisch widergespiegelt durch die
Abschaffung der Vorsilbe „Reichs-“, festmachen.
Stourzh geht sogar noch weiter, indem er diesen Zeitpunkt als Wendepunkt der österreichischen
Geschichte bezeichnet, indem sie
[…] endgültig von einer „Reichsgeschichte“ („Österreichische Reichsgeschichte“ lautete ein Pflichtfach
für Jus-Studenten bis Mitte der dreißiger Jahre!) zur Republikgeschichte geworden [war], nicht schon im
November 1918.167
Er stellt die These zur Diskussion, dass sich das Österreichbewusstsein erst zu dieser Zeit von
der „Reichs-“ Mentalität völlig losgelöst hatte und dies ein Österreichbewusstsein ermöglichte,
welches den Kleinstaat und die demokratische Republik als feste Bestandteile auch über die
politischen Parteigrenzen hinweg nicht nur akzeptieren, sondern vielmehr positiv integrieren
konnte.168
162 Vgl. STOURZH, Vom Reich zur Republik. 1990. S. 26. 163 Österreichisches Staatsarchiv, Archiv der Republik, Staatskanzlei/Amt für Auswärtige Angelegenheiten 1945,
Zl. 1368-pol/45. IN: STOURZH, Vom Reich zur Republik. 1990. S. 26. 164 Österreichisches Staatsarchiv, Archiv der Republik, Staatskanzlei/Amt für Auswärtige Angelegenheiten 1945,
Zl. 1368-pol/45. IN: STOURZH, Vom Reich zur Republik. 1990. S. 26. 165 Vgl. STOURZH, Vom Reich zur Republik. 1990. S. 26. 166 Österreichisches Staatsarchiv, Archiv der Republik, Staatskanzlei/Amt für Auswärtige Angelegenheiten 1945,
Zl. 1368-pol/45. IN: STOURZH, Vom Reich zur Republik. 1990. S. 26. 167 STOURZH, Vom Reich zur Republik. 1990. S. 27. 168 Vgl. ebda.
40
Dieser Wendepunkt, der das Ende der von der Monarchie geprägten Mentalität und
Großstaatlichkeitsvorstellung markiert, stellt einen wichtigen Aspekt im Wandel des
Österreichbewusstseins dar. Für Reichsromantik gab es nach dem erschütternden Krieg keinen
Platz. Jene Menschen, die nicht im Krieg gefallen, in Konzentrations- und Arbeitslagern
ermordet worden waren, in Gefangenschaft lebten oder verschollen waren, kämpften in den
Trümmern um ihr Leben.
Die Bombardierungen der Städte, die zusätzlich enorme Opfer gefordert und die Infrastruktur
katastrophal zerstört hatten, trugen zur bereits schwierigen Situation der Österreicher*innen
noch bei. Allein über Wien wurden 80 Bombenangriffe geflogen und
[…] 8000 Menschen getötet, 6000 Gebäude vernichtet, 13.000 schwer, 27.000 leicht beschädigt. Andere
Städte wie Wiener Neustadt wurden noch stärker zerstört. Auch Graz, Klagenfurt, Villach, Innsbruck,
Linz und die Orte der Mur-Mürz-Furche wurden schwer beschädigt.169
Der Name Trümmerjahre ist bezeichnet für die damalige kritische Lage, in dem sich das Land
nach Kriegsende befand.
Es gab mehr als 1,6 Millionen Flüchtlinge, Vertriebene oder umgesiedelte Personen, von denen
die Mehrheit nicht deutschsprachig waren. 247 000 Österreicher, die in der Wehrmacht gedient
hatten, waren gefallen oder galten als vermisst und wurden später für tot erklärt.170 Über 500
000 waren in alliierter Gefangenschaft. Gefangene in Lagern von den westlichen Mächten
kamen im Herbst 1945 größtenteils frei, jene, die von der Roten Armee in Gefangenschaft
genommen wurden, wurden erst zwischen 1947 und 1949 freigelassen. Einige durften sogar
erst nach 1955 zurückkehren. Die Not der Bevölkerung war erschütternd: Industrieanlagen
waren zerstört, Lebensmittel und andere Konsumgüter, die bereits während der Kriegszeit nur
begrenzt vorhanden waren, waren rar. Besonders schwer traf es Wien, das im Mai 1945 kurz
vor einer Hungerskataststrophe stand.171
Die tägliche zur Verfügung stehende Kalorienmenge lag bei etwa 500 Kalorien pro Person. Durch die
Maispende der Roten Armee (8000 Tonnen Mehl, 7000 Tonnen Getreide, 1000 Tonnen Bohne, 1000
Tonnen Erbsen, 200 Tonnen Fleisch, 200 Tonnen Zucker etc.) verbesserte sich die Lage zwar, aber nur
geringfügig und kurzzeitig. Lebensmittelkarten wurden eingeführt, die Kalorienmenge pro Tag erreichte
erst Ende 1946 1550 Kalorien und 1948 2100 Kalorien für Normalverbraucher.(Schwerarbeiter,
werdende und stillende Mütter bekamen Zuschläge). Erst nach der Rekordernte im Jahr 1949 trat langsam
eine Normalisierung ein, 1953 konnten die Lebensmittelkarten abgeschafft werden.172
169 Vgl. VOCELKA, Geschichte Österreichs. 2009. S. 316. 170 Vgl. ebda. S. 317. – S. 318. 171 Vgl. ebda. S. 318. 172 Ebda.
41
Die Besatzung durch die alliierten Mächte stellte einen weiteren enorm belastenden Faktor für
die Bevölkerung dar.
Ende 1945 hielten sich 200.000 Russen, 65.000 Briten, 47.000 Amerikaner und 40.000 Franzosen in
Österreich auf, 1955 waren es immerhin noch 40.000 Sowjets und 20.000 Westalliierte. Renners oft
zitierter Spruch von den „vier Elefanten in einem zu kleinen Boot“ charakterisiert die Situation
trefflich.173
Das ohnedem wirtschaftlich in einem desaströsen Zustand befindliche Österreich hatte für die
Kosten der Besatzung selbst aufzukommen.174
Diese Rahmenbedingungen nach Kriegsende verdeutlichen, dass die Menschen keinen
überschwänglichen Nationalismus oder Patriotismus verspürten, ja verspüren konnten. Die
österreichische Bevölkerung sehnte sich nach Sicherheit und nach einer Heimat.
Die Selbstfindung und Identitätssuche der österreichischen Bevölkerung vor, während und nach
den Erfahrungen des Dritten Reiches mündete in den Vierzigerjahren daher zu einer neuen
Beurteilung des Kleinstaatenkonzeptes.175
Im Unterschied zu 1918/19 wurde der Kleinstaat nun akzeptiert. Dabei spielen die zuvor kurz
skizzierten Bedingungen des Nachkriegsösterreichs eine wesentliche Rolle. Die Folgen des
Krieges, die Verschiebungen der Machtverhältnisse, die Besatzung durch die alliierten Mächte
und der seit der Moskauer Deklaration von 1943 deklarierte Status Österreichs als erstes Opfer
des nationalsozialistischen Deutschlands waren enorme Einschnitte und zugleich jene
Hauptfaktoren, die die Suche und Konstituierung des österreichischen Nationalbewusstseins
maßgeblich beeinflussten.
Auch die Wiedererstarkung des föderalistischen Bewusstseins, die durch die
Länderkonferenzen im September 1945 und dem Begehren nach der Rekonstruktion der
Länderstrukturen der Ersten Republik aufkam, ist erwähnenswert.176 Die staatliche Einheit
Österreichs nahm neben den zuvor genannten Problemen der Nachkriegszeit und der Besatzung
politisch eine vorrangige Stellung ein.177
Ein weiterer wichtiger Punkt und bis heute noch oft genanntes Merkmal des
Österreichbewusstseins ist der Status der Neutralität. Vor 1945 standen der Entwicklung eines
Neutralitätsgedankens noch weitgehend hinderliche Faktoren im Weg. Im Wesentlichen war es
der Wunschgedanke nach dem Anschluss und die Großraumsehnsucht, die in der
173 VOCELKA, Geschichte Österreichs. 2009. S. 318. 174 Ebda. 175 Vgl. STOURZH, Vom Reich zur Republik. 1990. S. 86. 176 Vgl. ebda. 177 Vgl. VOCELKA, Geschichte Österreichs. 2009. S. 318.
42
Zwischenkriegszeit eine wesentliche Rolle gespielt hatten. Nach dem verheerenden Zweiten
Weltkrieg waren diese hinderlichen Faktoren weggefallen und Österreich befand sich in einer
völlig neuen Position, in der es zu einer Aufwertung der Neutralität kam.178 Führende Politiker,
wie auch internationale Stimmen sprachen sich zunehmend für ein Österreich aus, welches sich
das Modell der Schweiz als benachbarter und landschaftlich ähnlicher Kleinstaat als Vorbild
nehmen sollte.179
Karl Renner, der damalige Bundespräsident, gab in einem Vortrag im April 1946 einen
Ausblick darauf, wie sich Österreich neu konstituieren könnte und zog folgenden Schluss:
Die zweimaligen bitteren Erfahrungen haben uns gewitzigt. Wir wollen nimmermehr in ein
großmächtiges Reich, in irgendein Imperium eingebaut werden, um über Nacht wieder herausgerissen zu
werden. Wir wollen frei für uns bleiben und es allein in der Welt versuchen. Es gibt Staatswesen, die
weniger als sechs Millionen Einwohner zählen und doch für sich bestehen und gedeihen. Warum soll es
uns nicht gelingen? Wir grenzen im Westen an die Schweiz, die Ostalpenländer haben eine ähnliche
Struktur wie das Zentralalpenland der Eidgenossenschaft, unsere autonomen Länder sind
verfassungsmäßig und in ihrer Denkweise den Schweizer Kantonen verwandt, unsere Bevölkerung ist
noch dazu sprachlich eine Einheit. Freilich: Die Schweiz ist durch einen mehrhundertjährigen Frieden
reich und wir sind durch zwei Weltkriege arm geworden! Die Schweiz hat zu allen Völkern der Erde
freundschaftliche Beziehungen, und wir haben manchen Nachbarn, der uns nicht gut gesinnt scheint. Die
zweimalige chirurgische Operation der beiden Weltkriege hat Wunden hüben und drüben hinterlassen –
wir haben es schwer, unendlich schwerer als die Schweiz.180
Die Entwicklung des Neutralitätsgedankens wurde durch die „neue politisch-strategische
Situation, die Österreich an einer Nahtstelle zweier Machtblöcke placierte [sic!]“181, gestärkt.
Die in Etappen entstehende Beziehung zwischen den aus dem Zweiten Weltkrieg resultierenden
Supermächten UdSSR und USA hatte ihre Anfangsphase bereits im Verlauf des Jahres 1945.
Die Differenzen und der Kampf um die Vormachtstellung des jeweiligen Weltbildes zeichneten
sich schon in den Diskrepanzen und dem Misstrauen während der Zonen- und
Sektoreneinteilung für Österreich und Wien sowie auch durch die Spannungen um die
Anerkennung der provisorischen Regierung durch die Westalliierten, ab.182 Die Frage, durch
welche Orientierung – West- oder Ostmächte – sich Österreich neu ordnen würde, stand sehr
schnell im Raum. Bis zum Staatsvertrag bewegte sich die österreichische Politik auf einem
schmalen Grad, der zwischen der Versicherung von Zugeständnissen, positiver Gesinnung und
friedlichen Beziehungen und Zusammenarbeit zu beiden Großmächten und der Betonung der
Wichtigkeit eines neutralen Österreichs als Schnitt- und Vermittlungspunkt zwischen West und
Ost verlief.
178 Vgl. STOURZH Gerald, Geschichte des Staatsvertrages. 1945 – 1955. Österreichs Weg zur Neutralität.
Studienausgabe. 3. Auflage, Verlag Styria, Graz, Wien, Köln. 1985. S. 98. 179 Vgl. STOURZH, Vom Reich zur Republik. 1990. S. 86. 180 RENNER Karl, Österreich, Saint-Germain und der kommende Friede, Wien. 1946. S. 19. IN: STOURZH
Gerald, Vom Reich zur Republik. 1990. S. 87. 181 STOURZH, Geschichte des Staatsvertrages. 1985. S. 98. 182 Vgl. ebda.
43
Stellungnahmen aus der österreichischen Politik reflektieren recht bald die neue Position
Österreichs. Der Unterstaatssekretär für Außenangelegenheit der Übergangsregierung hielt im
Oktober 1945 in einem Leitartikel der Zeitung ‚Neues Österreich‘ fest, dass allen Mächten
versichert werden sollte, dass „Österreich weder nach der einen noch der anderen Seite“, rücken
werde; Österreich sei „weder Vorposten für die eine noch für die andere Macht.“183 Etwas
zurückhaltender und allgemeiner sprach Leopold Figl bei der Regierungserklärung am 21.
Dezember 1945 über die Zusammenarbeit Österreichs „mit allen friedlichen Nationen der Welt,
besonders mit den alliierten Großmächten“184. Etwas deutlicher nahm Abgeordneter Ernst
Koref Bezug auf die Debatte, indem er sich für eine „wohlüberlegte und klug dirigierte
außenpolitische Orientierung, „[die nicht] von weltanschaulichen Momenten und Motiven
maßgebend gelenkt sein“185 könne. „Wir sollten weder von einer einseitigen West- noch einer
einseitigen Ostorientierung reden.“186 Die Formulierung ,Weder West- noch Ostorientierung‘
avancierte zu einem der populärsten außenpolitischen Schlagworten in den Anfangsjahren der
Zweiten Republik.187
Die sehr allgemeine offene Formel ,Weder West- noch Ostorientierung‘ war der Überbau für
ein bereits zuvor genanntes und konkreteres Leitbild, nämlich das Schweizer Modell. Heinrich
Raab, der 1945 davon ausging, dass Sowjetrussland die bestimmende Großmacht für Österreich
werden würde, plädierte bereits sehr früh darauf, die Schweiz als Vorbildmodell für das
Österreich der Zweiten Republik anzusehen. Die Österreicher, so Raab, müssten lernen, ihre
Eigenart zu erkennen, um sich auf ihr eine stabile Sicherheit aufzubauen.188
Hier sei ihm [dem Österreicher] der fest in seinem eigenen Wesen ruhende Schweizer ein Vorbild. Jedes
Schielen über die Grenze zum gleichsprachigen deutschen Nachbarn wird unterbleiben, wenn der
Österreicher ein gesundes, eigenes kulturelles und wirtschaftliches Leben entwickeln kann.189
183 STOURZH, Geschichte des Staatsvertrages. 1985. S. 98. 184 Sten. Prot. NR, 5 GP., 2. Sitzg., 21. Dezember 1945, 25 und 30; weitere Beispiele: Abg. Brachmann (SPÖ)
am 22. Mai 1946 – „Wir wollen uns weder westlich noch östlich orientieren“; in der gleichen Sitzung Abg.
Frisch (ÖVP) – wir dürfen „weder Westpolitik noch Ostpolitik betreiben“, ebd., 17. Sitzg., 255, 264;
Außenminister Gruber auf einer Pressekonferenz am 13. Juni 1946, Österreich habe kein Interesse, sich einem
sogenannten Block einzugliedern (WZ), 14. Juni 1946, 1); auch Innenminister Helmer, später einer der
„westorientiertesten“ österreichischen Politiker, erklärte 1947, wir wollen uns weder dem Osten noch dem
Westen anschließen (WZ), 27. August 1947, 1, und 29. Oktober 1947,1). IN: STOURZH Gerald, Geschichte des
Staatsvertrages. 1985. S. 98. 185 Ebda. 186 Ebda. 187 Vgl. STOURZH, Geschichte des Staatsvertrages. 1985. S. 97 – S. 98. 188 Vgl. Ebda. S. 99. – S. 100. 189 RAAB Heinrich, „Die integrale Neutralität der Schweiz – Das anzustrebende Vorbild eines freien
Österreichs“ (mit einer Vorbemerkung von Gerald Stourzh), IN: Zeitgeschichte, 2 (Mai 1975), S. 192 -S: 194.
IN: STOURZH Gerald, Geschichte des Staatsvertrages. 1985. S. 100.
44
Heinrich Raab versuchte auf Reisen nach Wien stets, Leopold Figl und seinem Bruder Julius
die Schweizer Politik „ins rechte Licht zu rücken“190, wobei er sich nach eigenen Angaben
anfangs schwer tat, da beide seinen Ausführungen nach „noch Altösterreicher [waren], die den
Glanz der Donaumonarchie erlebt hatten“191. Die Schweiz als Vorbild setzte sich aber langsam
als politische Leitbild durch. Dies lässt sich spätestens mit dem bereits genannten Vortrag von
Bundespräsidenten Karl Renner vom April 1946 bestätigen, in dem nicht nur das Schweizer
Modell positiv bewertet wird, sondern mit ihm auch der Übergang vom Großraumdenken zur
Akzeptanz des Kleinstaates. Auch Renners Nachfolger, Theodor Körner, griff das
Vorbildbeispiel Schweiz immer wieder auf. Gerade in der Zeit, als die West-Ostspannung und
die Westorientierung Österreichs ihren Höhenpunkt erreicht hatte, schrieb Körner im Dezember
1951 den folgenden Kommentar, der im Februar 1952 veröffentlicht wurde:192
Die Schweiz, deren Wirtschaft uns das Beispiel gibt, wie man starke Initiative mit kluger Solidarität
verbinden kann, wird einem endgültig befreiten Österreich auch ein Vorbild der politischen Weisheit sei,
überall gute Freunde haben, aber sich nach keiner Seite hin einseitig zu binden.193
Diese neue Position Österreichs inmitten der beginnenden West-Ostspannungen und die
Rollenannahme des Kleinstaates am Beispiel des Schweizer Modells sowie das Bestreben, ein
neutraler Staat zu sein, hatten ihre Geburtsstunde in der Moskauer Deklaration von 1943:
The Governments of the United Kingdom, the Soviet Union and the United States of America are agreed that
Austria, the first free country to fall a victim to Hitlerelite aggression, shall be liberated from German
domination. They regard the annexion imposed on Austria by Germany on March 15, 1938 as null and void.
They consider themselves as in no way bound by any changes effected in Austria since that date. They declare
that they wish to see reestablished a free and independent Austria, […]194
4.3 Die Opfer-These
In der Moskauer Deklaration ist neben der Aufhebung des Anschlusses und dem Bestreben der
Wiederherstellung eines freien, unabhängigen Österreichs mit den Grenzen von vor 1938 durch
die alliierten Siegermächte eine Formulierung für den weiteren Verlauf der österreichischesn
Nationalgeschichte von besonderer Bedeutung, nämlich: „Österreich als erstes Opfer des
Nationalsozialismus“.
190 RAAB Heinrich, „Die integrale Neutralität der Schweiz – Das anzustrebende Vorbild eines freien
Österreichs“ (mit einer Vorbemerkung von Gerald Stourzh), IN: Zeitgeschichte, 2 (Mai 1975), S. 192 -S: 194.
IN: STOURZH Gerald, Geschichte des Staatsvertrages. 1985. S. 100. 191 Ebda. 192 Vgl. STOURZH, Geschichte des Staatsvertrages. 1985. S. 100 – S. 101. 193 Vgl. Präsidentschaftskanzlei, Zl. 17.129/51. Veröffentlicht in der Österreich-Sondernummer des Journal de
Genève, 23. Februar 1952, 1.zitiert nach Stourzh . IN: STOURZH Gerald, Geschichte des Staatsvertrages. 1985.
S. 101. 194 Moskauer Deklaration über Österreich, 1. November 1943. Englischer Text zitiert nach: Historical Office des
Department of State Washington D.C. (Hrsg.), Foreign Relations oft the United States. Band 1943/I, 1963. S.
761. IN: STOURZH Gerald, Geschichte des Staatsvertrages. 1985. S. 214.
45
Diese „offizielle Sprachregelung von Österreich als ‚erstem Opfer‘ der nationalsozialistischen
Aggressionspolitik“195 blieb bis 1986 unbestritten. Erst die Waldheim-Affäre verdeutlichte,
dass dieses Erklärungsmodell, das seit der Moskauer Deklaration ohne tiefere Reflexion und
Aufarbeitung konsequent weitergeführt wurde, mit der Meinung eines großen Teils der
Bevölkerung nicht konform ging oder nur teilweise mit dieser übereinstimmte.
Die Opfer-These bildete den Unterbau des Geschichts- und Selbstbildes der Zweiten Republik.
Die Grundlage der These ist, dass Österreich als Opfer einer militärischen Übernahme zu
betrachten sei, und das Österreich ab den Zeitpunkt der Besetzung durch deutsche Soldaten
nicht mehr existierte und erst 1945 wiederhergestellt wurde.196 So hebt Uhl hervor, dass die
„[w]ichtigste Implikation dieser These ist, daß [sic!] der Staat Österreich für alles, was in den
sieben Jahren seiner Auslöschung geschah, keine Verantwortung zu tragen hat.“197 Diese
Argumentation wurde vor allem auch in der Frühzeit der wiederbegründeten Republik aufgrund
des Notstandes der Nation als ein wichtiger staatspolitischer Faktor genutzt. Sie avancierte als
Grundlage für die außenpolitische Haltung in den Verhandlungen mit den Besatzungsmächten
und für die Stabilisierung der Spannungen innerhalb des Landes. So wurde gemäß Uhl die
Opfer-These zum maßgeblichen Narrativ der Zweiten Republik und Grundlage des
österreichischen Selbstbildes.198 So wurde dem demokratisch-republikanischen Staatswappen,
welches ebenso von der Ersten Republik übernommen wurde wie die Verfassung, gebrochene
Ketten als Symbol für die Befreiung vom Faschismus hinzugefügt, um die Opfer-Rolle bzw.
die Befreiung symbolisch festzuhalten.
Die nach der Moskauer Außenministerkonferenz am 30. Oktober 1943 entschiedene
Formulierung, Österreich als erstes Opfer von Hitlerdeutschland, unterstützte einerseits das
Bestreben österreichischer Emigranten, die sich für die Propagierung des Österreichgedanken
einsetzten. Andererseits war sie in ihrem Motiv primär gegen Deutschland gerichtet zu
verstehen, um dieses zu schwächen.199 Dieses Ziel verdeutlicht sich auch in der Beifügung
„Bedachtnahme darauf, wieviel es selbst zu seiner Befreiung beigetragen haben wird“200. Hier
spiegelt sich laut Portisch auch ein Aspekt der psychologischen Kriegsführung wider: Nach
dem für die Bevölkerung immer realer werdenden Sieg der Alliierten, sollte das Wachsen einer
deutschabneigenden Haltung, die ohnehin mit den häufenden militärischen Rückschlägen
195 UHL Heidemarie, Zwischen Versöhnung und Verstörung. Eine Kontroverse um Österreichs historische
Identität fünfzig Jahre nach dem „Anschluß“. Böhlau Verlag, Wien, Köln, Weimar. 1992. S. 81. 196 Vgl. UHL, Zwischen Versöhnung und Verstörung. 1992. S. 82. 197 Ebda. 198 Vgl. UHL, Zwischen Versöhnung und Verstörung. 1992. S. 82. 199 Vgl. ebda. 200 Moskauer Deklaration über Österreich, 1. November 1943. IN: STOURZH Gerald, Geschichte des
Staatsvertrages. 1985. S. 214.
46
merklich stieg, noch weiter bestärkt werden. Dies führte zum Gedanken einer Möglichkeit auf
mildere Konsequenzen, als sie dem deutschen Volk bevorstanden.201
Uhl betont, dass die Moskauer Deklaration somit […] aus dem historischen Kontext des Jahres 1943 zu verstehen [sei]: als Impuls für den Österreichischen
Widerstand, nicht aber als konkrete Nachkriegsplanung. Das heißt auch, daß [sic!] ihre Intentionen mit
der österreichischen Nachkriegs-Auslegung in wesentlichen Punkten nicht übereinstimmen.202
Der erklärte Opferstatus über Österreich, so Johnson, war eine rechtliche Feststellung für die
alliierten Mächte und mit der Beitragsklausel sollte sie vor allem auf psychologischer Ebene
den Widerstand gegen das Naziregime vorantreiben. Sie war,
[…] aber kaum eine Absolution für die Republik Österreich oder die österreichische Bevölkerung.
(obwohl diese Deutung am ehesten dem Interesse der Republik und der Gefühlslage der Bevölkerung in
der Nachkriegszeit entsprach).203
Mit Kriegsende deckte sich die Entscheidung der Siegermächte, Österreich als einen
unabhängigen Staat wiederherzustellen, um Deutschland zu schwächen, mit dem Bemühen der
politischen Entscheidungsträger*innen Österreichs, um einen bestmöglichen Ausweg aus der
miserablen politischen Lage zu finden.
Darüber hinaus gaben die alliierten Mächte mit dem Wortlaut der Moskauer Deklaration
Österreich die Chance, eine neue Position einzunehmen. Diese war entscheidend für den
Verlauf der Verhandlungen um den Staatsvertrag, die Voraussetzung eines freien
österreichischen Staates, dessen Wiederaufbaues und der Rehabilitierung der österreichischen
Bevölkerung. Sie spielte darüber hinaus eine maßgebende Rolle für die Entwicklung eines
österreichischen Nationalbewusstseins, welches nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ein
erneutes Mal gefunden werden musste. Gleichzeitig hatte das österreichische
Nationalbewusstsein eine Basis gefunden, die eine Kontinuität nach den gravierenden
Einschnitten der jüngsten Vergangenheit in Aussicht stellte.
Für die provisorische Regierung war es „ein Gebot der politischen Vernunft […], den in der
Moskauer Deklaration angebotenen Opfer-Status aufzugreifen und als Ausgangspunkt seiner
Selbstdarstellung anzuwenden.“204
So wurde die Moskauer Deklaration ein erster bedeutender Grundstein der Zweiten Republik,
der Unabhängigkeitserklärung vom 27. April 1945 und zum „interpretatorischen Rahmen […],
201 Vgl. UHL, Zwischen Versöhnung und Verstörung. 1992. S. 83. 202 Ebda. 203 JOHNSON R. Lonnie, Die österreichische Nation, die Moskauer Deklaration und die völkerrechtliche
Argumentation. Bemerkungen zur Problematik der Interpretation der NS-Zeit in Österreich. IN: DÖW (Hg.),
Jahrbuch 1988, a.a.O., S. 40- S. 54; S. 48f. Der Autor ist Dean und Associate Director des Institute of European
Studies, Wien Vgl. Ebda. S. 177. IN: UHL Heidemarie, Zwischen Versöhnung und Verstörung. 1992. S. 83. 204 JOHNSON R. LONNIE, Die österreichische Nation, die Moskauer Deklaration und die völkerrechtliche
Argumentation. 1988. S. 47. IN: UHL Heidemarie, Zwischen Versöhnung und Verstörung. 1992. S. 83.
47
durch den Österreich seine jüngste Geschichte zu interpretieren hat“205. In der Erklärung wird
das Bestreben aus österreichischer Perspektive sichtbar, sich gegen die der staatlichen
Wiederherstellung hinderlichen Klauseln von der ‚Verantwortung Österreichs‘ „für die
Teilnahme am Kriege an der Seite Hitler-Deutschlands“ zu stellen.206 Dieses Bestreben war
durchaus erfolgreich, was letztlich durch die Streichung jenes Absatzes aus der Präambel der
letzten Fassung des Staatsvertrages ersichtlich ist, in dem eine Verantwortlichkeit Österreichs
für die Kriegsteilnahme festgehalten war. Die Auslassung der Verantwortlichkeitsklausel geht
zu einem großen Teil auf die Bemühungen von Leopold Figl zurück, der sie bei der
Außenminister Konferenz vom 14. Mai. 1955 beantragte.207
Uhl hebt hervor, dass die später geführte Diskussion um den Opferstatus, die erst durch den
Waldheim-Skandal entfacht wurde, „keine historische, noch weniger eine ethisch-moralische,
sondern primär eine völkerrechtliche [war]“208. Die Verantwortung Österreichs
zurückzuziehen, war demnach aus rein juristischer Sicht vertretbar. Hier kommt das
sogenannte: „Österreicher-aber-kein-Österreich-Argument“209 als Grundlage zu tragen. Inhalt
dieses Argumentes ist, dass „seit März 1938 kein österreichischer Staat und keine
österreichische Regierung bestanden“210 habe. Dadurch müsse zwischen der Verantwortung des
Staates und der einzelnen, individuellen Verantwortung unterschieden werden. Auch was die
Frage der individuellen Teilnahmen am Krieg betraf, stützte sich die Regierung auf das
Argument, „daß[sic!]die Österreicher zum Dienst in der deutschen Kriegsorganisation ebenso
wie die Angehörigen anderer besetzter Gebiete gezwungen wurden“211.
Auf den Punkt gebracht, stand hinter dem „Österreicher-aber-kein-Österreich-Argument“ die
Haltung, dass der Staat Österreich keine Verantwortung für jene sieben Jahre zu tragen hat, da
es einem Staat Österreich nach dem Anschluss nicht gab, denn die Regierung war entmachtet
und die österreichische Zivilbevölkerung war gezwungen worden, der Kriegsmaschinerie von
Hitlerdeutschland zu dienen.212 Diese Interpretation wurde in der Unabhängigkeitserklärung
weitergeführt und folgendermaßen verankert:
205 JOHNSON R. LONNIE, Die österreichische Nation, die Moskauer Deklaration und die völkerrechtliche
Argumentation. 1988. S. 43. IN: UHL Heidemarie, Zwischen Versöhnung und Verstörung. 1992. S. 83. 206 Vgl. UHL, Zwischen Versöhnung und Verstörung. 1992. S. 83. 207 Vgl. STOURZH, Geschichte des Staatsvertrages. 1985. S. 167. 208 UHL, Zwischen Versöhnung und Verstörung. 1992. S. 83. 209 JOHNSON R. LONNIE, Die österreichische Nation, die Moskauer Deklaration und die völkerrechtliche
Argumentation. 1988. S. 46. IN: UHL Heidemarie, Zwischen Versöhnung und Verstörung. 1992. S. 83. 210 Memorandum vom 29.1.1947, abgedruckt in: CSÁKY Eva-Marie, Der Weg zu Freiheit und Neutralität.
Dokumentation zur österreichischen Außenpolitik 1945-1955. Wien 1980, S. 128, Dok.51. zitiert nach
JOHNSON R. LONNIE, Die österreichische Nation, die Moskauer Deklaration und die völkerrechtliche
Argumentation. 1988. S. 46. IN: UHL Heidemarie, Zwischen Versöhnung und Verstörung. 1992. S. 84. 211 Ebda. 212 Vgl. CSÁKY Eva-Marie, Weg zu Freiheit und Neutralität. 1980, S. 130, Dok.52. zitiert nach Johnson, a.a.O.
S. 46. IN: UHL Heidemarie, Zwischen Versöhnung und Verstörung. 1992. S. 84.
48
[D]ie nationalsozialistische Reichsregierung Adolf Hitlers [hat] das macht- und willenlos gemachte Volk
Österreichs in einen sinn- und aussichtslosen Eroberungskrieg geführt, der viele Hunderttausende der
Söhne unseres Landes, beinahe die ganze Jugend- und Manneskraft unseres Volkes bedenkenlos
hingeopfert hat.213
Der Erfolg und die Akzeptanz der offiziellen Darlegung dieser Haltung ergibt sich laut Uhl
dadurch, dass das „Opfer-Argument“ mit der „nationalen Psychologie“214 der österreichischen
Bevölkerung der Nachkriegszeit übereinstimmte. Das Deutsche und der Nationalsozialismus
waren für die meisten Österreicher etwas, was sie nur noch ablegen wollten, weil es ihnen die
Freiheit und den Frieden und das Leben vieler Angehöriger und Freunde gekostet hatte. Sie
sehnten sich in ihrem Wunschdenken zurück in eine Vergangenheit vor dem Anschluss – dem
Beginn dieser unheilvollen Zeit.
Weiters wurde nicht nur der österreichische Staat, sondern darüber hinaus auch die Mehrheit
der österreichischen Bevölkerung als Opfer der nationalsozialistischen Herrschaft gesehen.
Hierbei wurde die Argumentationslinie „einer Art nationaler Blendung“ gebraucht.215 Diese
Auffassung deckte sich laut Uhl unmittelbar nach der überwundenen nationalsozialistischen
Herrschaft aber nicht mit den Erfahrungen der Nachkriegszeit eines großen Teils der
Bevölkerung. Dieser Umstand spielte aber eine sehr geringe Rolle, denn der Fokus lag nicht so
sehr auf der Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit, sondern auf dem Bemühen, Österreich
bei den Verhandlungen in ein vorteilhaftes Licht zu rücken.216 Die Okkupationsauslegung der
NS-Zeit verhalf Österreich während der zehnjährigen Besatzungszeit im Vergleich zu
Deutschland zu einer Sonderstellung, welche parallel mit anderen Faktoren schließlich den Weg
zu der Wiederherstellung eines souveränen, demokratischen Staates ebnete.217
Wichtiger als die historische Wahrheit waren nationale Selbstfindung und Stabilisierung, und damit
zusammenhängend die Abgrenzung gegen Nationalsozialismus und Deutschtum (die weitgehend
identifiziert wurden).218
Spätestens nachdem der Staatsvertrag 1955 unterzeichnet war, hatte die Berufung auf die
Opfer-These ihre politische Berechtigung verloren. Die durch die Opfer-These kommunizierten
213 CSÁKY Eva-Marie, Weg zu Freiheit und Neutralität. 1980, S. 130, Dok.52. a.a.O. S.36. IN: UHL
Heidemarie, Zwischen Versöhnung und Verstörung. 1992. S. 84. 214 JOHNSON R. LONNIE, a.a.O. S. 49. IN: UHL Heidemarie, Zwischen Versöhnung und Verstörung. 1992. S.
84. 215 JOHNSON R. LONNIE, a.a.O. S. 48. – S.49. IN: UHL Heidemarie, Zwischen Versöhnung und Verstörung.
1992. S. 84. 216 Vgl. UHL, Zwischen Versöhnung und Verstörung. 1992. S. 84. – S. 85. 217 Vgl. BOTZ Gerhard, War der „Anschluß“ erzwungen? IN: Felix KREISSLER (Hg.), Fünfzig Jahre danach.
Der „Anschluß“ von innen und außen gesehen. Beiträge zum Internationalen Symposion von Rouen 29. Feruar -
4. März 1988, veranstaltet vom Centre d՚Etudes et de Recherches Autrichiennes (CERA) der Universität Rouen,
in Zusammenarbeit mit dem österreichischen Kulturinstitut Paris. Wien, Zürich, Europaverlag. 1989. S. 97. – S.
119. IN: UHL Heidemarie, Zwischen Versöhnung und Verstörung. 1992. S. 85. 218 UHL, Zwischen Versöhnung und Verstörung. 1992. S. 85.
49
Mythen wurden noch lange danach als bestimmende Geschichtsbilder in Schulbüchern und in
politischen Reden und Staatszeremonien fortgesetzt, obwohl laut Uhl sich die
Geschichtswissenschaft bereits in den siebziger Jahren um eine differenzierte Aufarbeitung
dieser Thematik – sie verweist hierbei auf die Arbeiten von Botz – bemühte. Als Grund für die
Weiterführung dieser Geschichtsbilder vermutet Uhl, dass sie einen reibungslosen und für
Österreich günstigen Weg aus seiner Verantwortung ermöglichte.219
Die Opfer-These war ein wesentlicher Faktor bei den Staatsvertragsverhandlungen, die
erheblich zu einer erneuten Identitätsfindung und in der Aufarbeitung der „Anschluss“-
Vorstellungen beitrug. Lange Zeit war sie ein erfolgreiches Argument, um der Verantwortung
an den Verbrechen des Nationalsozialismus, bei welchen die Beteiligung vieler
Österreicher*innen nicht zu leugnen ist, zu entgehen.220
Erst ab 1961 wurden diesbezüglich Maßnahmen für moralische und materielle
Wiedergutmachung gesetzt. Zuvor wurde die Haltung vertreten, nicht für solche
Wiedergutmachung verpflichtet zu sein.221 Diese Haltung, so kritisiert Uhl, war bis in die
1990er Jahre noch gegenwärtig. In einer Broschüre, die 1988 vom Bundespressedienst
veröffentlicht wurde, wird in Bezug auf Forderungen zur Wiedergutmachen mit Unmut reagiert
und gleichzeitig wird versucht, diese für nicht haltbar zu erklären:222
[Die] Streichung der so genannten österreichischen „Mitverantwortungsklausel“ (…) ist der Grund,
warum Österreich grundsätzlich zu einer Wiedergutmachung von Unrechtshandlungen gegenüber,
religiös oder abstammungsmäßigen Verfolgten des NS-Regimes nicht verpflichtend sein kann, weil nach
den allgemeinen Grundsätzen des Völkerrechts ein Unrecht von dem gutzumachen ist, der es veranlaßt
[sic!] hat. Österreich ist auch keineswegs Rechtsnachfolger des ehemaligen Deutschen Reiches.
Österreich hat aber in Berücksichtigung des schweren Unrechts und Leides, das den Verfolgten des
Nationalsozialismus angetan worden war, es als eine moralische Verpflichtung angesehen, […]
gesetzliche Maßnahmen zu treffen, um das Schicksal der ehemals Verfolgten zu mildern.223
Im Vergleich zur Bundesrepublik Deutschland als direkten Nachfolgestaat des Dritten Reiches
ist es dem österreichischen Staat gelungen, nach Außen und Innen ein nationales Bewusstsein
und Bild zu erschaffen beziehungsweise zu bewahren, in dem der Nationalsozialismus zwar
nicht verschwunden oder gar überwunden war, aber dem man dennoch kaum politische
Relevanz bemaß.224
219 Vgl. UHL, Zwischen Versöhnung und Verstörung. 1992. S. 85. 220 Vgl. BOTZ, a.a.O. S.110. IN: UHL Heidemarie, Zwischen Versöhnung und Verstörung. 1992. S. 85. 221 Vgl. BLÄNSDORF Agnes, Zur Konfrontation mit der NS-Vergangenheit in der Bunderepublik, der DDR und
Österreich. Entnazifizierung und Wiedergutmachungsleistungen. IN: aus der Politik und Zeitgeschichte, B. 16-
17/87: April 1987, S. 3 S. 18. IN: UHL Heidemarie, Zwischen Versöhnung und Verstörung. 1992. S. 85. 222 Vgl. UHL, Zwischen Versöhnung und Verstörung. 1992. S. 85. 223 BUNDESPRESPRESSEDIENST (Hg.), Maßnahmen der Republik Österreich zugunsten bestimmter
politisch, religiös oder abstammungsmäßiger Verfolgter seit 1945. Wien. 1988. (=Österreich Dokumentationen).
S. 5 – S. 6. IN: UHL Heidemarie, Zwischen Versöhnung und Verstörung. 1992. S. 85. 224 Vgl. UHL, Zwischen Versöhnung und Verstörung. 1992. S. 85.
50
Die Opfer-These spielte in der Anfangszeit eine wesentliche Rolle für die Zukunft der Zweiten
Republik. Die Vereinnahmung und das Aufgreifen der Opferrolle war ein entscheidender
Faktor in den Verhandlungen des Staatsvertrages, der von den Siegermächten, besonders von
Sowjetrussland, als Grundbedingung für den Verhandlungserfolg gesehen wurde. Sie entschied
und beschleunigte den Prozess der Sitzungen und Konferenzen um den Staatsvertrag und gab
Österreich jene Position für den bestmöglichen Weg aus der Krise, in der es sich nach dem
Zweiten Weltkrieg befand. Darüber hinaus stellt sie bis heute einen beeinflussenden Faktor für
das Selbst- und Fremdbild und das nationale Bewusstsein der österreichischen Bevölkerung
dar. Mit ihr wird aber auch deutlich klar, dass die Aufbereitung und Haltung der
Österreicher*innen zum Nationalsozialismus eine lange Zeit unzureichend passierte und es bis
heute einer ständige Auseinandersetzung und Sensibilisierung in Bezug auf Österreichs
nationalsozialistische Vergangenheit bedarf. Ein wesentlicher Grund für diese Problematik und
die Ursache für das fehlende Bewusstsein liegt m.E. in dem in Österreich nicht abgeschlossenen
Prozess der ,Entnazifizierung‘.
4.4 Entnazifizierung
Das Wesen einer Nation ist, daß [sic!] alle
einzelnen vieles gemeinsam und daß [sic!]
sie alle vieles vergessen haben.225
Bis zum Jahresende 1945 erfolgte die Entnazifizierung in Österreich überwiegend durch die
Besatzungsmächte. Die Verantwortung zu diesen Belangen oblag hierbei größtenteils den
Siegermächten, auch weil die provisorische österreichische Regierung in dieser Zeitspanne nur
von der UdSSR anerkannt wurde und dadurch nur begrenzt in der jeweiligen Besatzungszone
Einfluss hatte. Erst im November 1945 konnte nach der Nationalratswahl eine Regierung
beschlossen werden, die von allen vier Besatzungsmächten anerkannt wurde und somit im
gesamten Land politische Gewalt ausüben konnte. Infolgedessen waren nun auch die
österreichischen NS-Gesetze von 1945, das Kriegsverbrechergesetz und das Verbotsgesetz in
ganz Österreich gültig. Ehemalige Mitglieder der NSDAP oder deren Wehrverbände (SS, SA,
NSKK, NSFK) und Personen, die in sonstiger Weise eine formale Beziehung zum NS-Regime
innehatten oder anstrebten, waren einer Registrierungspflicht unterstellt und mussten
Sühneleistungen erbringen.226
225 RENAN Ernest, „Qu’est-ce qu’une nation?“ IN: CEnvres [Sic!] Complètes, Bd. 1, Paris; Calmann-Lévy.
1947-61, S. 887-906. IN: ANDERSON Benedict, Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines erfolgreichen
Konzepts. Aus dem Englischen von Benedikt BURKARD. Campus Verlag, Frankfurt/New York. 1988. S. 15. 226 Vgl. STIEFEL Dieter, Die österreichischen Lebensversicherungen und die NS-Zeit: wirtschaftliche
Entwicklung, politischer Einfluss, jüdische Polizzen. Böhlau Verlag, Wien. 2001. S. 208.
51
Der Gesetzgeber ging bei der Behandlung des Nationalistenproblem von den Grundsatz aus, zunächst den
Personenkreis, der sich parteimäßig zu den Trägern der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft bekannt
oder durch sonstige Handlungen zur Errichtung und Aufrechterhaltung der nationalsozialistischen
Herrschaft beigetragen hatte, aus staatspolitischen Gründen zu erfassen und ihnen gewisse Zwangsfolgen
zu unterstellen.227
Die registrierungspflichtigen Personen teilte man dabei in drei Gruppen ein:
„[…]Kriegsverbrecher, Belastete (ca. 42.000) und Minderbelastete (495.000 Menschen).“228
Ein wesentlicher Punkt war dabei die Unterscheidung zwischen einer Parteimitgliedschaft vor
dem Anschluss oder danach. Jene, die bereits vor 1938, in der Zeit als in Österreich die Partei
verboten war, eingeschriebene Nationalsozialisten waren, wurden als der harte Kern angesehen
und unterlagen strengeren Maßnahmen. Den Personen, die nach dem Anschluss in die Partei
eingetreten waren, wurde eine Mitläuferhaltung, die als menschliche Schwäche bescheinigt
wurde, zugeschrieben.229 Damit war der Kreis, der von der Entnazifizierung betroffenen
Personen, festgelegt. Die Registrierungspflicht war außerdem mit anderen Gesetzten verknüpft,
die zusätzlich zum Verbotsgesetz in Kraft treten konnten. Diese waren Sondergesetze, die
weiterführende Strafmaßnahmen gegen einzelne Gruppen der registrierungspflichtigen
Personen ermöglichten.230
So sollte etwa die gesetzliche Strafandrohung bei den Illegalen [als Illegale wurden jene Personen
bezeichnet, die in der Zeit, als die NSDAP in Österreich verboten war, bereits Mitglieder waren] erst dann
realisiert werden, wenn eine neuerliche gesetzwidrige Handlung vorlag. Bei einem Rückfall der
Nationalsozialisten trat daher die gesetzlich vorgesehene – praktisch auf Bewährung verhängte – Strafe
automatisch ein.231
Das Gesetz sah des Weiteren die Verfolgung jeglicher Art von Wiederbetätigung bzw. jeglicher
staatsverrätischer Handlungen vor,232 die mit einer Gefängnisstrafe für mindestens fünf Jahre
bemessen waren. Diese Maßnahme war, so Stiefel, als ständige Warnung an Nationalsozialisten
gerichtet, die nach wie vor an ihrer Ideologie festhielten. Zusätzlich sollten auch alle gewarnt
sein, die auf die Organisation Werwolf und andere nationalsozialistischen
Untergrundbewegungen hofften.233
227 HELLER/LOEBENSTEIN/WERNER, Das Nationalsozialistengesetz. Wien. 1953. I/8. IN: STIEFEL Dieter,
Entnazifizierung in Österreich. Europa Verlag, Wien. 1981. S. 82. 228 Vgl. VOCELKA, Geschichte Österreichs. Kultur – Gesellschaft – Politik. 2009. S. 319. – S. 320. 229 Vgl. STIEFEL Dieter, Die österreichischen Lebensversicherungen und die NS-Zeit: wirtschaftliche
Entwicklung, politischer Einfluss, jüdische Polizzen. Böhlau Verlag, Wien. 2001. S. 209. 230 Vgl. STIEFEL Dieter, Entnazifizierung in Österreich. Europa Verlag, Wien. 1981. S. 82. 231 Ebda. 232 Vgl. Art. 3 § 10. IN: STIEFEL Dieter, Die österreichischen Lebensversicherungen und die NS-Zeit. 2001. S.
209. – S. 210. 233 Vgl. STIEFEL, Entnazifizierung in Österreich. Europa Verlag, Wien. 1981. S. 82.
52
Ergänzend zum Verbotsgesetz wurde das Kriegsverbrechergesetz beschlossen. Als ein
Sondergesetz sollte es dem „Kollektivphänomen organisierter Kriminalität“234, das nicht durch
das wiedereingesetzte österreichische Strafgesetz abgedeckt gewesen wäre, entgegenwirken.
Demnach sollte es die Bestrafung der Verbrechen, die in der Kriegszeit aus politischem Hass
oder durch die Ausführung einer dienstlichen Gewalt verübt wurden, ermöglichen.
Durch diese Strafbestimmungen sollten jene Personen getroffen werden, die in fremden Staaten
Grausamkeiten und sonstige Verbrechen gegen die Bevölkerung verübt haben, die durch ihre Propaganda
das friedliche österreichische Volk im Kriege aufzustacheln suchten, die insbesondere in den
Konzentrationslagern oder bei der Geheimen Staatspolizei Menschen quälten und entwürdigten, die sich
auf Kosten von Juden und sogenannten Staatsfeinden bereicherten, die politisch Andersgesinnte,
insbesondere treue Österreicher, anzeigten und damit schwerster Gefahr aussetzten, und endlich sämtliche
Gauleiter und anderen Führer der NSDAP, die durch ihre Tätigkeit Österreich in den Abgrund führten.235
Das Kriegsverbrechergesetz ist dahingehend als Teil der Entnazifizierungsmaßnahmen zu
betrachten, da es aus der nationalsozialistischen Führungsriege die ranghöchsten Funktionäre
einschloss und sie bereits aufgrund ihres Amtes zur Verantwortung zog. Zu seiner
Durchführung wurde ein Sondergericht, „das Volksgericht, bestehend aus zwei Berufsrichtern
und drei Schöffen, das durch das Verbotsgesetz eingeführt worden war“ 236, berufen. Dadurch
waren die beiden Gesetze miteinander verbunden und stellten so die Grundlager der
Entnazifizierung dar.237
Weitere wichtige Maßnahmen zur Entnazifizierung waren Berufsverbote und Entlassungen.
Besonders führende Positionen in Staats- und Wirtschaftsangelegenheiten wurden hierbei
primär ins Auge gefasst.238 Diese Maßnahmen wurden von der Regierung und einem von
Arbeitgeber-Arbeitnehmerorganisationen gegründeten Komitee in Gesetze ausgearbeitet, die
am 12. September 1945 als „Verfassungsgesetz über Maßnahmen zur Wiederherstellung
gesunder Verhältnisse in der Privatwirtschaft“ veröffentlicht wurde. Dieses Gesetz richtete sich
gegen stark belastete Nationalsozialisten. Diese wurden von jeglicher leitender Position
entlassen, wobei ihre Entlassung als von ihnen selbst verschuldet galt. Alle Arbeitgeber waren
verpflichtet, belastete Personen zu registrieren und zu entlassen. Bei Unterlassung oder
Vertuschung drohten Strafen. Das sogenannte „Wirtschaftssäuberungsgesetz“ war bis zum
neuen Entnazifizierungsgesetz im Jahr 1947 gültig.239 Durch das Gesetz wurden um die 100
234 NIETHAMMER Lutz, Entnazifizierung in Bayern. Fischer Verlag. Frankfurt. 1972 S.40 IN: STIEFEL
Dieter, Entnazifizierung in Österreich. Europa Verlag, Wien. 1981. S. 83. 235Österreichische Jahrbücher 1945 bis 1952, Bundespressedienst, Wien Rot-Weiß-Rot-Buch, Gerechtigkeit für
Österreich! Darstellungen, Dokumente und Nachweise zur Vorgeschichte und Geschichte der Okkupation
Österreichs (nach amtlichen Quellen), Österreichisches Jahrbuch 1945 – 1946, Wien 1946. S. 97 IN: STIEFEL
Dieter, Entnazifizierung in Österreich. Europa Verlag, Wien. 1981. S. 83. 236 STIEFEL, Entnazifizierung in Österreich. Europa Verlag, Wien. 1981. S. 83. 237 Vgl. ebda. 238 Vgl. STIEFEL, Die österreichischen Lebensversicherungen und die NS-Zeit. 2001. S. 209. 239 Vgl. ebda. S. 219.
53
000 Personen erfasst, von denen 75% ihren Arbeitsplatz verloren hatten. Den übrigen Personen
wurde gestattet, ihre Stellung zu behalten.240
Das Entnazifizierungsgesetz von 1947 hatte seinen Ausgangspunkt in einer Drei-Parteien-
Zusammenkunft (SPÖ, ÖVP und KPÖ). Diese wurde einberufen, um über eine mögliche
Aufhebung der Registrierung von nationalsozialistischen Gruppen nach der zweiten
Verbotsgesetzesnovelle zu beraten. Im Zuge der Gespräche zwischen den drei Parteien kam
man zum Entschluss, ein neues Gesetz mit angepasstem Rahmen auszuarbeiten. Einerseits
sollte eine einheitliche Lösung für den Umgang mit Nationalsozialisten gefunden werden, da
bei der Ausführung des Verbotsgesetzes in den Besatzungszonen unterschiedlich vorgegangen
wurde und dadurch inhomogene Zustände entstanden waren. Anderseits sollte eine
allgemeingültige Lösung gefunden werden.241 Hierbei wurde das „Ziel der politischen
Rehabilitierung der nominellen oder ‚minderbelasteten‘ Nazis“ angestrebt.242 Diese Einigung
auf eine gemeinsame Zusammenarbeit der drei Parteien wurde Ende März 1946 als „Grundsätze
der Entnazifizierung aufgrund der Parteiverhandlungen zwischen ÖVP, SPÖ und KPÖ
veröffentlicht.“243 Schwerpunkt der Ausarbeitung eines neuen Entnazifizierungsgesetzes war
die Umstellung auf eine kollektive Verfahrensweise. Diese Umstellung war jedoch mit einer
Schwierigkeit verknüpft, der man bewusst entgegensah:
Es mag sein, daß [sic!] ein individuelles Verfahren im allgemeinen [sic!] gerechter erscheint. Wir müssen
uns aber bewußt [sic!] sein, daß [sic!] zehn bis fünfzehn Jahre erforderlich wären, wollte man jeden
Nazifall [sic! ]für sich einwandfrei untersuchen. Eine solche Verschleppung der Lösung der Nazifrage
würde eine latente Gefahr für den inneren Frieden bedeuten. Jedes abgekürzte Verfahren – wir haben es
ja bei den Entregistrierungen erlebt – führt zu untragbaren Ungerechtigkeiten und bloßen
Lippenbekenntnissen, wobei sich derjenige, der über Beziehungen verfügt, herauswindet, während der
kleine Mann in den Maschen des Gesetzes hängen bleibt. Die Gruppeneinteilung mit ihren zwingenden
Sühnefolgen ist daher in ihrer Wirkung gerechter und zweckentsprechender.244
Durch eine objektive Ausführung der Maßnahmen, die das Gesetz vorgab, zielte man auch auf
eine rasche wirtschaftliche Stabilisierung ab. Diesbezüglich veränderte sich der Standpunkt der
Parteien zu dem Problem der „Illegalen“. Hier ist festzuhalten, dass diese Kategorisierung, die
zuerst von der SPÖ als Idee vorgebracht wurde und auch auf Seiten der ÖVP und der KPÖ
Zustimmung gefunden hatte, nun von allen drei Parteien gelockert betrachtet wurde. Der Status
der Illegalität sollte demnach nur noch im Strafrecht bedeutsam sein. Die Möglichkeit
beziehungsweise die Warnung, dass bei einer gesetzlichen Übertretung eines „Illegalen“ eine
strafrechtliche Verfolgung initiiert werden würde, blieb. Die rote Markierung (eine
240 Vgl. STIEFEL, Die österreichischen Lebensversicherungen und die NS-Zeit. 2001. S. 219. 241 Vgl. STIEFEL, Entnazifizierung in Österreich. Europa Verlag, Wien. 1981. S. 101. 242 Ebda. 243 Zitiert nach Stiefel siehe STIEFEL, Entnazifizierung in Österreich. Europa Verlag, Wien. 1981. S. 101. 244 MIGSCH Alfred, Zur Lösung der Nazifrage, Arbeiter-Zeitung, Wien. 24. 07. 1946. IN: STIEFEL Dieter,
Entnazifizierung in Österreich. Europa Verlag, Wien. 1981. S. 101.
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Unterstreichung des Namens), die die „Illegalen“ als solche in den Registrierungsunterlagen
kennzeichnete, sollte wegfallen.245 Die von den drei Parteien gewünschte neue Einteilung der
Nationalsozialisten sollte folgende zwei Gruppe beinhalten: Erstens, jene Gruppe von
Personen, die einer Bestrafung unterstellt wurden, also Kriegsverbrecher und eingeschränkt
Illegale; und zweitens die Gruppe der sühnepflichtigen Personen. Zu letzterer sollten Belastete
und Minderbelastete gezählt werden. Wichtig hierbei ist die bewusste Unterscheidung zwischen
Sühne und Strafe.246
Bei allen Nazis, die zur zweiten Gruppe gehörten, deren Haltung also zu keiner Bestrafung laut
des Gesetzes führen sollte, wurde mit voller Absicht die verschiedenen Maßnahmen nicht als
Strafen, sondern als Sühneleistungen bezeichnet.247 Mit dieser Formulierung sollte zum
Ausdruck gebracht werden, dass Österreich weder aus Vergeltung noch aus Rache rechtliche
Schritte gegen Belastete und Minderbelastete Nazis vollziehen wollte. Den Belasteten und
Minderbelasteten sollte es durch die Begleichung von Sühneleistungen ermöglicht werden,
gleichberechtige Bürger*innen der Republik Österreich werden zu können. Belastete hatten
demzufolge ebenso wie Minderbelastete, die gleiche Chance ihre Schuld durch vom Staat
auferlegte, vorgegebene Sühneleistungen zu begleichen.248
Die Basis der neuen Nationalsozialisteneinteilung bildete also die Abschwächung des Status
der Illegalität und die Möglichkeit der Aufwertung der politischen und rechtlichen Stellung der
Nationalsozialisten. Sühneleistungen waren hauptsächlich Kürzungen des Einkommens und
Steuer- und Vermögensabgaben sowie Gehalts- und Pensionskürzungen bei Berufen des
öffentlichen Dienstes. Zusätzlich blieb das generelle Ausübungsverbot für bestimmte Berufe
aufrecht. Dieses sollte dem Zweck249
der Ausmerzung nazistischer Ideologie aus allen jenen Tätigkeiten, die das geistige und kulturelle Leben
unseres Volkes gestalten, und anderseits die Ausmerzung des nazistischen Elements aus den
Kommandostellen der öffentlichen Verwaltung und der Wirtschaft250
dienen. Für ehemalige Parteianwärter*innen sollten die Berufsauflagen jedoch nicht gelten und
Minderbelasteten war es ebenfalls möglich nach einem positiven Bescheid einer zuständigen
Kommission sogenannte „verbotene“ Berufe auszuüben. Bei den Belasteten sollte das
Berufsverbot jedoch aufrecht bleiben.251 Die Sühneleistungen sollten – je nach Belastungsgrad
245 Vgl. STIEFEL, Entnazifizierung in Österreich. 1981. S. 101. – S. 102. 246 Vgl. ebda. S. 102. 247 STIEFEL, Entnazifizierung in Österreich. 1981. S. 102. 248 Vgl. STIEFEL, Entnazifizierung in Österreich. Europa Verlag, Wien. 1981. S. 102. – S. 103. 249 Vgl. ebda. S. 103. 250 MIGSCH Alfred, Zur Lösung der Nazifrage, Arbeiter-Zeitung, Wien. 24. 07. 1946. IN: STIEFEL Dieter,
Entnazifizierung in Österreich. Europa Verlag, Wien. 1981. S. 101. 251 Vgl. STIEFEL, Entnazifizierung in Österreich. 1981. S. 103. -S. 104.
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– für Minderbelastete nach drei Jahren und für Belastete nach fünf Jahren auslaufen. Auf dem
Punkt gebracht lässt sich, wenn man die Verhandlungen des Verbotsgesetzes von 1945 mit der
Drei-Parteien-Einigung von 1946 vergleicht, eine deutliche Milderung seitens aller drei
Parteien gegenüber den früheren Nationalsozialisten feststellen.252
Obwohl die Drei-Parteien-Einigung bereits im Juli 1946 in den Nationalrat behandelt wurde,
musste die Gesetzesvorlage noch dem alliierten Rat als höchste Instanz vorgelegt werden. Denn
erst, wenn alle vier Besatzungsmächte die Gesetzesvorlage genehmigt hatten, konnte sie zum
Gesetz erhoben werden. Der alliierte Rat war natürlich auf einen neuen Gesetzesentwurf gefasst
gewesen, denn er hatte der österreichischen Bundesregierung selbst seine Richtlinien für ein
neues Entnazifizierungsgesetz im Vorhinein mitgeteilt. Der Bundeskanzler bestätigte im Juli
1946, die vom alliierten Rat gestellten Forderungen für das neue Gesetz und fasste sie wie folgt
zusammen:253
a.) Von den Besatzungsbehörden und vom Ministerkomitee verfügte Entlassungen durch das neue
Gesetz vollkommen gedeckt sind,
b.) Niemand, der im Rahmen der Entnazifizierung entlassen wurde, in Zukunft irgendeine Position in
der öffentlichen Verwaltung einnehmen kann,
c.) Belastete Personen jedes Recht auf Pensionen oder Abfindung verlieren, Minderbelastete nur das
absolute Lebensminimum von etwa 150 Schilling im Mont erhalten,
d.) Nach den Bestimmungen des neuen Gesetzes alle entlassenen Nazi der Zwangsarbeit unterliegen.
e.) Ein eigenes Gesetz für jene vorbetreitet wird, die in ihren Fragebögen falsche Angaben gemacht
hatten,
f.) Und das Gesetz sieht vor, daß [sic!] keine Person, die in den sieben Jahren der Naziherrschaft eine
einflußreiche [sic“] Position erlangen konnte, diese beibehalten kann.254
Von diesen sechs Punkten waren die Punkte a.) bis e.) vom alliierten Rat mit Ausdruck
gefordert worden, jedoch beinhaltete der Gesetzesvorschlag der Bundesregierung lediglich
Punkt c.). Daher wurde die Gesetzesvorlage in der Fassung, in der sie von den drei Parteien
eingebracht worden war, vom alliierten Rat zunächst abgelehnt.255
An dieser Stelle ist zu erwähnen, dass Österreich im Vergleich zu Deutschland im Zuge der
Entnazifizierung einen Sonderfall darstellte, was die Vorgehensweise und Einstellung der
jeweiligen Besatzungsmächte betraf. Jede Besatzungsmacht hatte von Österreich ein anderes
Bild, das bereits vor dem Ende des Krieges geprägt worden war. Zugleich hatte auch jede
Besatzungsmacht bereits Vorstellungen darüber, wie ein wiederhergestelltes Österreich
aussehen könnte. Neben der Entnazifizierung spielte die „Entpreußung“ – also die Aufhebung
des deutschen Einflusses – bei allen vier Besatzungsmächten eine zentrale Rolle. Dies war
bereits spätestens nach der Moskauer Deklaration ein Ziel der Alliierten, die Deutschland
252 Vgl. STIEFEL, Entnazifizierung in Österreich. 1981. S. 104. – S. 105. 253 Vgl. ebda. S. 105. 254 Brief des Bundeskanzlers an den Alliierten Rat, 26. Juli 1946, 260-USACA-60219-1, NA. IN: STIEFEL
Dieter, Entnazifizierung in Österreich. Europa Verlag, Wien. 1981. S. 105. – S. 106. 255 Vgl. STIEFEL, Entnazifizierung in Österreich. 1981. S. 106.
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schwächen und zugleich Österreich als einen souveränen Staat rekonstruieren wollten. Ein
weiterer Unterschied im Vergleich zu Deutschland war, dass die alliierten Mächte mit der
provisorischen Regierung in Österreich recht früh einen politischen Aktionspartner gewonnen
hatten. Dies stellte zugleich den größten Unterschied zu der Situation in Deutschland dar, da
Österreich – anders als Deutschland – bereits seit April 1945 eine Zentralregierung hatte, die
die Entnazifizierung mitgestalten konnte.256 Ein führender britischer Militär fasste die
unterschiedliche Lage Österreichs und Deutschlands im Jahre 1946 wie folgt zusammen:
Der ehemalige deutsches Staat wird als vier getrennte Zonen mit einem Minimum an Koordination im
Zentrum regiert, während Österreich ein unabhängiger Staat ist, ein wirklich souveräner Staat, obwohl
ein Teil seiner Souveränität vom Alliierten Rat ausgeübt wird, mit einer eigenen Zentralregierung, deren
Autorität sich über das ganze Land erstreckt.257
Die Briten wiesen Österreich bereits vor Kriegsbeginn eine Sonderstellung zu. Sie waren der
Meinung, dass Österreich nur aus wirtschaftlicher Schwäche den Nationalsozialismus verfallen
sei.258 Das Ziel der Briten war es „den Nazi-Virus auszumerzen und Österreich wirtschaftlich
und politisch zu befähigen, ein unabhängiges Leben mit einem akzeptablen Lebensstandard zu
führen.“259 Deshalb waren die Briten nicht abgeneigt davon, einer milderen Entnazifizierung
zuzustimmen, wenn diese in einzelnen Fällen dem wirtschaftlichen Wiederaufbau unterstützen
würde. Es waren ebenfalls die Briten, die mit ihrem Vetorecht 1946 die anderen drei
Besatzungsmächte daran hinderten, Österreich zu härteren Entnazifizierungsmaßnahmen zu
zwingen. Dabei ist zu betonen, dass die lockere, den Österreicher*innen mehr Autonomie
gewährende Haltung der Briten, auch mit dem Umstand zu tun hatte, dass Großbritannien große
finanzielle Opfer während und nach dem Krieg zu erbringen hatte. Die britische Regierung
wollte somit die mit hohen Kosten verbundene Besatzung möglichst rasch beendet wissen.260
Diese Haltung der Briten setzte sich auch nach 1946 noch fort; „[J]e früher alle Verantwortung
der österreichischen Regierung übertragen wird desto besser“261, war das britische Credo. Die
Amerikaner vertraten eine den Briten sehr ähnlich Haltung, jedoch unterschied sich das
Vorgehen der Amerikaner durch einen systematischeren Zugang und eine konkrete Planung,
die die österreichische Regierung zwar einband, aber auch strenge Richtlinien und
Anordnungen beinhaltete. Die amerikanischen Besatzungsorgane hatten im Vorhinein, bereits
vor Kriegsende ein Entnazifizierungsprogramm ausgearbeitet. Die Kernpunkte ihres
256 Vgl. STIEFEL, Entnazifizierung in Österreich. 1981. S. 23. 257 Ebda. 258 Vgl. ebda. S. 35. – S. 36. 259 Denazification, General, November 1946, NA, 60258-2/033-2. IN: IN: STIEFEL Dieter, Entnazifizierung in
Österreich. Europa Verlag, Wien. 1981. S. 36. 260 Fourth Report from the Selected Committee on Estimates, Session 1945 – 1946, British Expenditures in
Austria, London. 1946. S. 10.IN: STIEFEL Dieter, Entnazifizierung in Österreich. Europa Verlag, Wien. 1981.
S. 36. 261 Ebda. a.a.O. S. 16.
57
Entnazifizierungsprogramms waren die Registrierung, die Entlassung aus wichtigen
wirtschaftlichen und staatlichen Positionen sowie die Verhaftung und die Etablierung von
Internierungslagern.262 Von diesen Maßnahmen wurden vor allem die ausgearbeiteten
Fragebögen der Amerikaner enorm kritisiert. Diese waren dafür konzipiert, eine Masse an
Daten über die deutsche und österreichische Bevölkerung und ihren Bezug zu dem
Nationalsozialismus zu sammeln. Die Methode der Fragebögen hatte jedoch drei große
Schwächen: Erstens differenzierte man zu wenig zwischen der deutschen und der
österreichischen Bevölkerung. So wurden im Fragebogen etwa die Jahre 1932 und 1934
behandelt, diese waren zwar für Deutschland und die weitere Entwicklung des
Nationalsozialismus signifikant, jedoch ergaben diese Fragen keine sinnvollen Aussagen über
den Nationalsozialismus in Österreich. Zweitens war diese auf Quantität zielende
Datenerfassungsmethode unzureichend, da ihre Fragen oft nicht ins Detail gingen. Die
Fragebögen waren keine geeignete Methode, um den wirklichen Bezug einer Person zum
Nationalsozialismus erfassen zu können. Zum Beispiel gab es sehr viele Menschen die Mitglied
der NSDAP waren, jedoch ohne dem Nationalsozialismus verfallen zu sein oder
nationalsozialistische Verbrechen begangen zu haben. Viele waren aufgrund von
Opportunismus der Partei beigetreten. Die auf den Fragebögen basierende Feststellung der
individuellen Schuld einer Person stieß deshalb auf heftige Kritik. Das dritte Problem stellte
der schier große Umfang der zu erfassenden Daten selbst dar.263
Noch nie wurde etwas ähnliches versucht […] noch nie ist ein bestimmtes politisches System zum Feind
erklärt worden, und noch nie hat ein bestimmtes System das Leben eines so großen Volkes in so vielen
Aspekten erfaßt [sic!].264
Diese Erfassungsmission der Amerikaner war jedoch zu groß gesteckt und erwies sich als
weitaus komplexer. Je genauer und systematischer die Amerikaner vorgingen,
desto unvermeidlicher wurde die Schlußfolgerung [sic!], daß [sic!] die ursprüngliche Absicht, jeden zu
entfernen, der in irgendeiner Weise mit der Nazipartei oder anderen Naziorganisationen zu tun gehabt
hatte, undurchführbar war.265
So wurden in Deutschland in der Besatzungszone, die von der USA verwaltet wurde, bis zum
Frühjahr 1946 etwa 1,6 Millionen Menschen durch die Fragebögen erfasst. Diese 1,6 Millionen
entsprachen jedoch erst 10% der dort lebenden Bevölkerung. Deshalb ruderten die Amerikaner
in ihren Bemühungen zurück und gestatteten bereits 1946 Konzessionen und minderten die
262 Vgl. Directive to Commander in Chief of US-Forces of Occupation regarding the Military Government in
Austria, 5. Denazification, 24. Juni 1945, R 60 263 Vgl. STIEFEL, Entnazifizierung in Österreich. 1981. S. 31. – S. 32. 264 FRIEDMANN Wolfgang, The Allied Military Government of Germany. London. 1947. S. 224. IN: STIEFEL
Dieter, Entnazifizierung in Österreich. Europa Verlag, Wien. 1981. S. 32. 265 a.a.O. S. 114.
58
Zahl der betroffenen Personen und begannen, die lokalen deutschen politischen Kräfte als
Aktionspartner für die Entnazifizierung miteinzubeziehen. In Österreich machte sich das
Scheitern der amerikanischen Vorgehensweise nicht so sehr bemerkbar, da der österreichischen
Regierung bereits ab Februar 1946 die Aufgabe der Entnazifizierung für die gesamte Nation
übertragen wurde und die Besatzungsmächte nur noch als Kontrollinstanz agierten.266
Die Franzosen verfügten bei Kriegsende noch über kein durchgeplantes Entnazifizierungs-
programm. Das war auf zwei Gründe zurückzuführen: Erstens waren die Franzosen in ihrem
eigenen Land mit Kollaborateuren, die im Krieg auf die Seite der Nazis wechselten, beschäftigt
und mussten sich deshalb auf eine politische Aufräumarbeit und „Entnazifizierung“ im eigenen
Land konzentrieren. Zweitens fiel die erste „militärische Sicherheits-
Entnazifizierungsphase“267 für die Franzosen weg, da sie diese Zone erst später von den
Amerikanern übernommen hatten, als jene diese erste Phase der Entnazifizierung bereits
abgeschlossen hatten. Für Stiefel ergibt sich aus diesen beiden genannten Gründen ein
französisches Verhalten, welches als „kurzzeitiger Pragmatismus“ zusammengefasst werden
kann. Die Franzosen hatten keine langfristigen Zukunftspläne für die Entnazifizierung auf
österreichischem Boden, sondern setzen dort Maßnahmen, wo sie aktuell erforderlich waren.
Im Grunde hatten sie ähnliche Ziele bei der Entnazifizierung wie die Briten und die
Amerikaner, jedoch – und das hebt die französische Vorgehensweise von den anderen
westlichen Alliierten ab – arbeiteten sie sehr früh, und zwar gleich ab der Übernahme ihrer
Besatzungszone im Raum Tirol und Vorarlberg mit den hiesigen Österreichern zusammen und
formten mit ihnen gemeinsam Kommissionen. Durch diese Vorgehensweise gewannen sie
einen enormen Einfluss auf die dort ansässige Wirtschaft und die politische Entwicklung. Das
Vorgehen der Franzosen war deshalb willkürlicher als jenes der Briten und der Amerikaner,
jedoch war es auch flexibler und bot der örtlichen Militärregierung einen großen Spielraum. Es
gab in der französischen Zone, gleich wie in den anderen drei Zonen, Verhaftungen und
Entlassungen, doch ließen die Franzosen oft Gnade walten, wenn dies der Arbeitsleistung
diente. So scheuten sie auch nicht davor zurück, bedeutende Beamte wieder einzustellen,
obwohl diese in den Akten eine unsaubere Vergangenheit aufwiesen. Solange diese jedoch mit
den Besatzungsbehörden kooperierten, hatten die Franzosen keine weiteren Bedenken, sie
wieder für wichtige Verwaltungsposten einzusetzen. Diese Widersprüchlichkeit der
französischen Linie zeigte sich auch in der Haltung Frankreichs im Alliierten Rat ab.268
Einerseits forderten die Franzosen im Alliierten Rat von den Österreicher*innen die
266 Vgl. STIEFEL, Entnazifizierung in Österreich. 1981. S. 32. – S. 33. 267 STIEFEL, Entnazifizierung in Österreich. 1981. S. 33 268 Vgl. STIEFEL, Entnazifizierung in Österreich. 1981.. S. 37. – S. 38.
59
Entnazifizierung zu verschärfen und andererseits ließen sie selbst häufig Milde walten und es
kam häufig zu einer inkonsequenten Beurteilung.269
Die russische Vorgehensweise zur Entnazifizierung war ebenfalls wie jene der Franzosen durch
einen starken Pragmatismus geprägt. Im Vergleich zur französischen unterschied sie sich
jedoch darin, durch die Zielsetzung längerfristige Ergebnisse erreichen zu wollen. Neben den
Briten hatten die Russen die konkretesten politischen Vorstellungen für die Entnazifizierung
und die weitere politische Entwicklung Österreichs. Das Ziel der alliierten Mächten war die
Wiederherstellung der demokratischen Verhältnisse der vorfaschistischen Periode. Hier lag der
Kernunterschied der sowjetischen Entnazifizierungslinie zu jener der westlichen Alliierten. Der
Sowjetunion widerstrebte eine Herstellung der politischen Verhältnisse Österreichs vor 1933.
Eher wollte sie eine politische und gesellschaftliche Neuerung nach ihrem Verständnis.270
Hierbei kommt eine historische Frage auf, die die historische Forschungsmeinung spaltet. So
sind einige der Ansicht, dass die Sowjetunion von Anfang an das Ziel verfolgte, Österreich
schrittweise zu sowjetisieren, sprich die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturen zu
verändern, und zwar mit einer installierten kommunistischen Partei an der Macht. Stiefel nennt
hier etwa den Historiker Bader als einen Befürworter dieser These. Auch Aussagen von
Politiker, wie jene von Adolf Schärf:
[…] daß die nach Österreich zurückgekehrten kommunistischen Emigranten Richtlinien gleicher Art
mitbrachten, nach denen die kommunistischen Parteien in den späteren Volksdemokratien handelten,271
bekräftigen diese These.272 Außerdem waren weitere führende österreichische Politiker, wie
Bundeskanzler Leopold Figl, Außenminister Gruber sowie Innenminister Helmer davon
überzeugt, dass die Sowjetunion derartigen längerfristigen Pläne nachging.273 Was jedoch laut
Stiefel gegen eine solche Intention spricht, ist, dass man die Ziele und das Vorgehen der
Sowjetunion in den anderen Ländern, die sie besetzte, nicht mit der Situation in Österreich
vergleichen konnte. Die Bodenreform und die geplante Enteignung des Privateigentums
standen in Österreich nie zur Debatte. Des Weiteren etablierten die Sowjets in der Zeit vor der
Entstehung der Alliierten Kommission ein Besatzungsregime,
das bei weitem liberaler war als das der westlichen Alliierten und das erst allmählich proportional zu dem
Anwachsen der interalliierten Spannungen zuungunsten Österreichs modifiziert wurde.274
269 Vgl. STIEFEL, Entnazifizierung in Österreich. 1981.. S. 37. – S. 38. 270 Vgl. ebda. S. 38. – S. 39. 271 SCHÄRF Adolf, Österreich Erinnerung. 1945 – 1955. Wien. 1960. S.73. IN: STIEFEL Dieter,
Entnazifizierung in Österreich. S. 39. 272 Vgl. STIEFEL, Entnazifizierung in Österreich. 1981. S. 39. 273 Vgl. ebd. S. 46. 274 AICHINGER Wilfried, Sowjetische Österreichpolitik 1943 – 1945. Österr. Ges. f. Zeitgeschichte. Wien.
1977. S. 258. IN: STIEFEL Dieter, Entnazifizierung in Österreich. 1981. S. 40.
60
Österreich war demnach schon vor den Verhandlungen des Staatsvertrages ein „Sonderfall“ in
der Planung der Sowjetunion. Es ist an dieser Stelle dennoch hervorzuheben, dass es durchaus
Indizien, die auf eine zielstrebige sowjetische Österreichpolitik, welche sich auf das Ziel einer
nachhaltigen Beziehung zu den östlichen Nachbarländern konzentriert hat, gibt; wie etwa die
hohe Anzahl an stationierten Soldaten in der sowjetischen Zone und die vorsichtige, jedoch
angestrebte, Förderung von kommunistischen Strukturen und wirtschaftlichen Maßnahmen.
Diese politische Zielstrebigkeit spiegelt sich auch in der sowjetischen Entnazifizierungspolitik
wider. 275 Höchste Priorität der russischen Entnazifizierung in Österreich hatte die Eliminierung
der Elite des Nationalsozialismus, was zugleich den gemeinsamen Nenner des gesamten
Alliierten Rates der österreichischen Entnazifizierung darstellte. Jedoch unterschied sich die
sowjetische Vorgehensweise bereits in diesem Punkt von den anderen der drei westlichen
alliierten Mächten. So banden die Sowjets seit der Besetzung ihrer Zone lokale politische Kräfte
ein, um ihre Ziele zu verfolgen. Diese Einbindung ist auch in der schnellen Gestattung und
Förderung der provisorischen Regierung unter Karl Renner, dem die Sowjets großes Vertrauen
entgegenbrachten, deutlich erkennbar. Dieser Schritt war ganz im Sinne des pragmatischen
langfristigen Vorgehen der sowjetischen Besatzung, die mithilfe der Regierung,
Gewerkschaften und Betriebsräten Entnazifizierungsmaßnahmen umsetzte, aber selbst jedoch
nur in einzelnen Fällen mit Verhaftungen agierte. Die russische Haltung – und das unterscheidet
sie zusätzlich von den anderen Besatzungsmächten – war maßgebend vom Erfolg der KPÖ
abhängig. Mit der KPÖ hatte die Sowjetunion eine einheimische Partei, die dieselbe
ideologische Haltung vertrat und bereit war, mit der sowjetischen Besatzungsmacht zu
kooperieren. Ein Wendepunkt der sowjetischen Entnazifizierung stellte die Nationalratswahl
im November 1945 dar. Die KPÖ, die bis dahin einen entscheidenden Teil der provisorischen
Regierung stellte, erreichte nur vier der 165 Sitze im Parlament und verlor damit nahezu
jegliche politische Bedeutung.276 Nach diesem ernüchternden Wahlergebnis zeigte sich ein
Wandel der russischen Haltung gegenüber der Entnazifizierung in Österreich. Jene Haltung, die
zuvor ein großes Maß an Vertrauen und Zuversicht beinhaltete, war nun von Misstrauen und
Zweifeln geprägt.277 Das zeichnete sich auch später mit der russischen Position im Alliierten
Rat ab. Die zuvor eher milde sowjetischen Haltung – einer der ersten Befehle des sowjetischen
Kommandanten beinhaltete etwa, dass einfache NSDAP-Parteimitglieder nicht aufgrund ihrer
275 Vgl. STIEFEL, Entnazifizierung in Österreich. 1981. S. 40. 276 Vgl. ebda. S. 40. – S. 42. 277 US-Forces in Austria. Legal Division. A Review of Denazification in Austria. 9. November 1949 260-
USACA-60236-1/39, NA. IN: STIEFEL Dieter, Entnazifizierung in Österreich. Europa Verlag, Wien. 1981. S.
43.
61
Parteimitgliedschaft verfolgt werden sollten278 – erhärtete sich im Dezember des gleichen
Jahres maßgeblich. Nun war es die Sowjetunion, die im Alliierten Rat immer wieder vehement
eine härtere Durchführung der Entnazifizierung forderte und fortan die Maßnahmen der
österreichischen Regierung kritisierte, Statistiken über den Erfolg der
Entnazifizierungsmaßnahmen verlangte und somit Beschlüsse in die Länge zog.279 Ab der Wahl
im November 1945 war in Österreich bereits eine Stimmung, die als Vorbote des Kalten
Krieges gedeutet werden kann, angebrochen. Die anfängliche gute Beziehung und
Zusammenarbeit der beiden alliierten Großmächte, USA und Sowjetunion begann ab diesem
Zeitpunkt immer mehr zu bröckeln. Diese Entwicklung resultierte in Bezug auf die
österreichische Entnazifizierung in einem Rollentausch dieser beiden Akteure: Einerseits die
USA, die sich seit dem Ende des Krieges für eine strenge Entnazifizierung einsetzte, und nun
ihre Forderungen schrittweise mäßigte und immer mehr Verantwortung an die österreichische
Regierung übergab; andererseits die Sowjetunion, die von Beginn an eine milde Haltung
einnahm und der österreichischen Regierung bereits früh ihr Vertrauen aussprach und nun nach
dem schlechten Wahlergebnis der KPÖ im November 1945 nicht mit Vorwürfen und Kritik zu
den ihrer Meinung nach unzureichenden Entnazifizierungsmaßnahmen der österreichischen
Regierung und zur laschen Haltung der anderen alliierten Partner im Alliierten Rat sparte.
Die neue ablehnende, kritische Haltung der Sowjets hatte jedoch ein übergeordnetes Ziel, wobei
die Entnazifizierungsmaßnahmen selbst nicht von großem Belang für sie waren. Laut Stiefel
verfolgte die sowjetische Besatzungsmacht mit immer neuen Verhandlungen und die immer
wieder gestellten Bedingungen für ihre Zustimmung im Alliierten Rat (die vier
Besatzungsmächte mussten einstimmig einen Beschluss genehmigen ehe er Gültigkeit bekam
und umgesetzt werden konnte), das Ziel, die Verhandlungen um den österreichischen
Staatsvertrag in die Länge zu ziehen.280 Dieser Haltungswechsel der beiden Supermächte in der
Frage der österreichischen Entnazifizierung war jedoch nur ein Nebenprodukt des immer größer
und eminenter werdenden West-Ost Konfliktes. Für Österreich bedeutete dies, wie bereits
weiter oben ausgeführt, dass es zwischen die beiden Parteien geriet, wobei es sich selbst klar
gegen eine Vereinnahmung wehrte. Die Lösung dieses Problems war die Neutralität
Österreichs. Diese wurde nicht nur von den West- und Ostmächten akzeptiert, sondern in
weiterer Folge von der Sowjetunion als Bedingung für die Verhandlungen um den Staatsvertrag
gefordert, um zu verhindern, dass sich Österreich zu sehr an den Westen band.281 Im
278 Vgl. STIEFEL, Entnazifizierung in Österreich. 1981. S. 41. 279 Vgl. ebda. S. 43. 280 Vgl. STIEFEL, Entnazifizierung in Österreich. 1981. S. 44. 281 Vgl. STOURZH, Geschichte des Staatsvertrages. 1985. S. 106. – S. 107.
62
Umschwenken ihrer Haltung zur österreichischen Entnazifizierungspolitik erreichten sie
allerdings das Gegenteil. Sie drängten mit diesem politischen Schritt die westlichen Alliierten
dazu, sich auf die Seite der österreichischen Regierung zu stellen, obwohl diese mit jenen
Maßnahmen zur Entnazifizierung auch nicht immer d'accord waren.282
Von 1946 an gab es daher im Alliierten Rat ständige Entnazifizierungsvorwürfe des sowjetischen
Elements und fast ebenso ständige Ablehnungen der anderen Alliierten, vor allem der Amerikaner und
Briten.283
Die Uneinigkeit der Alliierten im Alliierten Rat ermöglichte der österreichischen Regierung
eine relativ große Autonomie bei der Durchführung der Entnazifizierung, die größtenteils nur
durch die Verhandlungen zum Staatsvertrag und den Bedingungen zum Abzug der
Besatzungsgruppen eingeschränkt wurde. Trotz der internen Spannungen im Alliierten Rat war
es ihm schließlich trotzdem möglich, sich im April 1946 zu einigen und eine einheitliche
Durchführung der Entnazifizierung für Österreich zu beschließen. Die Durchführung der
Entnazifizierungsmaßnahmen wurde der österreichischen Regierung übergeben und der
Alliierten Rat nahm die Funktion des Kontrollorgans ein. Somit oblag die weitere
Entnazifizierung den politischen Parteien Österreichs.284
Das durch die drei Parteien-Einigung entstandene Entnazifizierungsgesetz markierte folglich
den Wendepunkt in der österreichischen Entnazifizierung, an dem die Verantwortung fast
gänzlich an Österreich ging. Dies geschah, obwohl die Alliierten den Gesetzesvorschlag mit 50
Änderungen am 13. Dezember 1946 zurückschickten, was von den österreichischen
Regierungsparteien als eine Schmach und Rückentwicklung empfunden wurde.285 Hier erhitzte
vor allem die vom Alliierten Rat geforderte Sühnepflicht für Jugendliche, die vor dem 20.
Lebensjahr vom Bund Deutscher Mädchen oder von der Hitlerjugend in die NSDAP einberufen
worden waren, die Gemüter der österreichischen Politiker. Weitere Änderungen der Alliierten
betrafen die Erhöhung der Sühneleistungen und die Angleichung der Sühnefolgen für
Minderbelastete an die der Belasteten. Dies waren die Hauptpunkte der Änderungsforderungen
des Alliierten Rates, welchen der österreichische Nationalrat nur enttäuscht begegnete.
Nichtsdestotrotz wurde das Entnazifizierungsgesetz mit allen Änderungen vom Alliierten Rat
einstimmig beschlossen. Das Entnazifizierungsgesetz von 1947 und dessen Entstehung
symbolisierte den Willen der österreichischen Volksvertretung, einen Schlussstrich unter die
nationalsozialistische Vergangenheit zu ziehen. Dies lässt sich nicht nur an der Drei-Parteien-
Einigung, sondern auch an der raschen Adaptierung der Änderungen des Alliierten Rates
282 Vgl. STIEFEL, Entnazifizierung in Österreich. 1981. S. 44. 283 Ebda. 284 Vgl. STIEFEL, Entnazifizierung in Österreich. 1981. S. 44. – S. 45. 285 Vgl. ebda. S. 107.
63
festmachen. Die drei Parteien erkannten die Wichtigkeit des Entnazifizierungsgesetzes, da die
alliierten Mächten daran die Bedingungen für die Verhandlungen um den Staatsvertrag und die
Beendigung der Besatzung knüpften.286
Die Bereinigung des Naziproblems ist aber auch von großer außenpolitischer Bedeutung. Wir haben
wiederholt aus den Reden und Äußerungen berufener Staatsmänner vernommen, daß [sic!] die Völker
der freien Welt in der Art seiner Lösung den Prüfstein für die Reife des österreichischen Volkes zur
Selbstbereinigung und der Stärke seiner demokratischen Staatsgewalt erblicken. Die Herstellung der
vollen staatlichen Souveränität Österreichs, die Aufhebung der alliierten Kontrolle und der Abzug der
Besatzungstruppen werden davon abhängig gemacht.287
Das Gesetz war jedoch auf dem Papier wesentlich härter, als es in der Realität durchgeführt
wurde. Es wurde nur ein Jahr vollständig durchgesetzt und viele Teilbestimmungen traten erst
gar nicht in Kraft. Die Situation veränderte sich aber erheblich, denn mit dem im Gesetz
geregelten Wegfall der sogenannten einfachen Angehörigen des NSKK und der NSFK von der
Gruppe der Registrierungspflichtigen gab es in Österreich plötzlich um 25 520 Nazi weniger.288
Auch die Zahlen der schwer Belasteten gingen stark zurück. So wurden jene
Nationalsozialisten, die durch das Gesetz von 1945 noch als schwere Nazis oder als „Illegale“
eingestuft wurden, mit dem Gesetz von 1947 als „Belastete“ gesehen. Das hatte die Folge, dass
sich die Zahl der schuldigen Nazis mehr als halbierte – und zwar von 98.000 auf 43.000
Personen. Insgesamt lässt sich in den Jahren von 1947 bis 1949 eine Abstufung und Milderung
der zuvor erfolgten Einstufung festmachen. Es gab insgesamt weniger Illegale sowie Belastete,
dafür stieg die Zahl der Minderbelasteten an.289 Der Alliierte Rat war durch die wachsende
Unstimmigkeit und Diskrepanz zwischen der Sowjetunion und den westlichen Alliierten nicht
mehr in der Lage einzugreifen, um Forderungen oder Maßnahmen für eine Verschärfung der
Entnazifizierung zu stellen. Die Entnazifizierung erreichte somit Anfang 1948 ihren
Höhenpunkt, obwohl sie alles andere als vollendet war. So war sie jedenfalls für die
österreichische Regierung an einen Schlusspunkt gelangt. Diese wartete nicht lange damit, ein
Amnestiesiegesetz auszuarbeiten, welches zugleich das letzte Kapitel der Entnazifizierung in
Österreich darstellen sollte. Zunehmend befassten sich auch die alliierten Mächte mit der Idee
der Amnestie, nicht zuletzt auch wegen des Bestrebens der österreichischen Regierung. Wie
bereits bei den Verhandlungen zuvor kamen die Verhandlungen um ein Amnestiegesetz durch
das Vetostimmrecht der Sowjetunion ins Stocken.290 Die Sowjetunion hatte immer wieder das
286 Vgl. STIEFEL, Entnazifizierung in Österreich. 1981. S. 112. 287 Migsch, SPÖ, 28. Sitzg., 24.07.1946. 1946, S. 581. Stiefel merkt in der dazugehörigen Fußnote an, „Aussagen
in dieser Richtung gab es aber eine ganze Reihe, in der Presse wie auch im Parlament.“ IN: STIEFEL Dieter,
Entnazifizierung in Österreich. Europa Verlag, Wien. 1981. S. 112. 288 Vgl. STIEFEL Dieter, Entnazifizierung in Österreich. Europa Verlag, Wien. 1981. S. 115. 289 Vgl. ebda. S. 119. 290 Vgl. ebda. S. 121. – S. 122.
64
Bemühen des Alliierten Rates um eine Jugendamnestie behindert. Am 27. Februar wurde ein
eingereichter Gesetzesentwurf zur Jugendamnestie vom Alliierten Rat besprochen. Die Sitzung
stand bereits im Vorhinein unter dem Vorzeichen, dass die Sowjetunion den Entwurf ablehnend
gegenüberstehen würde. Das tat sie auch. Ihre Vertreter kritisierten die österreichische
Durchführungsweise der Entnazifizierungsmaßnahmen und warf den österreichischen Parteien
Nazi-schützenden Re-aktionismus vor. Doch zur Verwunderung aller Teilnehmer der Sitzung
präsentierte der sowjetische Vertreter nach monatelanger Blockierung aller Bestrebungen in
Richtung einer Jugend- und Studentenamnestie plötzlich einen Entwurf für eine
Generalamnestie. Diese beinhaltete eine Komplettamnestie für alle Minderbelasteten, sprich für
jene Personen, die NSDAP-Mitglied waren, und keine Verbrechen gegen andere Menschen
oder gegen den Frieden und das österreichische Volk begangen hatten. Dies bedeutete
gleichzeitig einen Wegfall der Sühneleistungen und die Wiedererlangung des aktiven und
passiven Wahlrechts. Gleichzeitig forderte die Sowjetunion ein striktes Vorgehen seitens der
österreichischen Regierung in Bezug auf die Belasteten beziehungsweise einen schnelleren
Vollzug von Entlassungen und Bestrafungen. Die westlichen Alliierten waren nach einer
Prüfung mit den Forderungen der Sowjetunion einverstanden. So markierte die Sitzung am 27.
Februar einen weiteren Wendepunkt im Entnazifizierungsprozess, der sogleich das Ende der
Entnazifizierungsmaßnahmen markierte. Am 21. April 1947 wurde die Minderbelasteten-
amnestie vom österreichischen Nationalrat beschlossen und bereits am 28. Mai einstimmig vom
Alliierten Rat bestätigt. Lediglich die Frage über den Umgang mit den Belasteten schien
zumindest für die sowjetischen Vertreter nicht gänzlich geklärt. Figl versicherte dem Alliierten
Rat zuvor am 19. April291, „daß die von ihm geforderten Vorschläge der nichtamnestierten Nazi
nicht nötig seien, da die österreichischen Behörden bei der Behandlung dieser Fälle zufriedene
Resultate verzeichneten“292.
Die Auswirkungen der Minderbelasteten-Amnestie waren beachtlich. Über 90 Prozent der
Nationalsozialisten, die registrierten waren, einschließlich der Studenten und Jugendlichen,
waren von ihr betroffen. 293
Für 487.067 Personen war die politische Säuberung beendet, für sie galten die im Verbotsgesetz und den
anderen Sondergesetzen festgelegten Sühnefolgen nicht mehr. Sie sollten nun in staatsbürgerlicher wie in
wirtschaftlicher Hinsicht den anderen Bundesbürgern gleichgestellt sein.294
291 Vgl. STIEFEL, Entnazifizierung in Österreich. 1981. S. 304 – S. 307. 292 „Amnestiegesetz für Minderbelastete tritt in Kraft“, Wiener Zeitung. 25.05.1948. IN: STIEFEL,
Entnazifizierung in Österreich. 1981. S. 308. 293 Vgl. STIEFEL, Entnazifizierung in Österreich. 1981. S. 308. 294 Ebda.
65
Das Amnestiegesetz sollte die Normalisierung und innerpolitische Befriedung beschleunigen.
Der Kern der ehemaligen Nationalsozialisten, etwa rund 43.000 Person, blieb übrig und wurde
schrittweise durch weitere Amnestien, wie jener der Präsidentenamnestie, in der Anzahl
verringert. Die Entnazifizierung als Maßnahme zur politischen Säuberung einer ganzen
Bevölkerung erreichte damit ihr Ende. Die einzelnen Parteien zogen Bilanz und nahmen
jeweilig unterschiedliche Stellungen zur Entnazifizierung und zum Nationalsozialismus ein.
Somit erreichte nicht nur die Entnazifizierung, sondern auch die politische Auseinandersetzung
mit ihr eine neue Phase. Wenngleich sie ein immer geringer werdendes Problem für die
österreichische Wirtschaft und Gesellschaft darstellte, war sie jedoch bis in die 1950er Jahre
ein brisantes politisches Thema.295 Denn mit dem Amnestiegesetz von 1948 stand die Frage im
Raum, welche Partei von den ehemaligen Nationalsozialisten favorisiert werden würde.
Gleichfalls war es ungewiss, wie das Verhältnis der ehemaligen Nationalsozilisten zu jenen
wäre, die die Entnazifizierungsmaßnahmen einst durchgesetzt hatten. Würden jene ehemaligen
Nazis eine Partei, die die Entnazifizierung mitgetragen hatte, wählen? Dies erschien nur dann
möglich, wenn sie die Entnazifizierung als Notwendigkeit sahen und sich auch ihrer Bedeutung
bewusst waren. Außerdem mussten selbst jene, die bereits früh aus eigener Überzeugung den
Nationalsozialismus den Rücken kehrten, aber mit den wirtschaftlichen und sozialen Folgen
leben mussten, erst das Vertrauen in die Parteien zurückgewinnen. Dieses Problem der
Rehabilitierung der ehemaligen Nationalsozialisten als gleichgestellte Bürger*innen einer
Demokratie stellte die zentrale Problematik der zweiten Phase der Entnazifizierung in
Österreich dar. Wie konnte eine Entnazifizierung effektiv im Rahmen einer Demokratie
erfolgen? Dies war ein politisches Paradoxon, da eine ideologische Säuberung, wie eine
Entnazifizierung, sich eigentlich nur in einem totalitären System in einem entsprechenden Maß
realisieren lassen würde. Die Entnazifizierung war jedoch die Bereinigung dessen, was ein
totalitäres System hervorgebracht hatte und diese sollte wiederum nicht durch ein neues
totalitäres System umgesetzt werden. Was die Situation noch problematischer machte, war der
große Umfang der Entnazifizierung selbst. Laut Stiefel war eine halbe Million Menschen in
Österreich direkt davon betroffen. Wenn man die Familien und Angehörigen bedenkt, die die
Entnazifizierung ebenfalls berührte, lässt sich die Zahl um rund eine Millionen Menschen
erhöhen. Die Masse derer, die Mitglieder der NSDAP waren, stellte dabei das Hauptproblem
im Vergleich zu den zahlenmäßig geringeren „harten Kern“, die rund 40 000 belasteten Nazis,
dar.296 Es galt eine Entnazifizierung der Massen durchzuführen, die real nicht vollständig
295 Vgl. STIEFEL, Entnazifizierung in Österreich. 1981. S. 308. 296 Vgl. ebda. S. 314. – S. 316.
66
durchführbar war. Hinzu kam die Schwierigkeit der Integration der Betroffenen in eine
österreichische Gesellschaft, die demokratische Werte vertreten sollte. Die 487 000
Minderbelasteten, die zuvor kein Wahlrecht besaßen, waren 1949 wieder wahlberechtigt. Diese
Stimmen konnte bei der nächsten Nationalratswahl entscheidend sein und wirkten sich somit
auch auf die große Koalition der ÖVP und SPÖ aus. Nicht nur das Verhältnis der Parteien
zueinander veränderte sich, sondern auch die Haltung beider zu den „Ehemaligen“ und der
Entnazifizierung, da beide Parteien auf die Stimmen der ehemaligen Nationalsozialisten
pochten. Die Folge war ein hässlicher Wahlkampf, in dem das Puhlen um die Stimmen der
ehemaligen Nationalsozialisten im Vordergrund stand und die politische Diskussion um eine
erfolgreiche Entnazifizierung in den Hintergrund gerückt wurde.297 Als prominentes Beispiel
einer gescheiterten Entnazifizierungsmaßnahme, bei der die österreichische Politik maßgeblich
beteiligt war, ist der Prozess gegen Franz Murer zu nennen, der 1963 vom Landesgericht Graz
freigesprochen werden musste.
4.4.1 Das 4. Lager
Der Kampf um die Stimmen, der durch das Amnestiegesetz wiederwahlberechtigten
ehemaligen Nationalsozilisten für die Nationalratswahl, drohte die große Koalition zwischen
SPÖ und ÖVP zu sprengen. Die SPÖ warf der ÖVP, mit dem Werben um die Stimmen der
„Ehemaligen“ vor, Österreich zu ihren Gunsten nach rechts rutschen zu lassen und die
Demokratie zu verraten. Die ÖVP warf der SPÖ wiederum vor, die Nationalsozialistenfrage
nicht angehen zu wollen, da von ihr kein Bemühen bezüglich einer Wiedereingliederung der
Nationalsozialisten in das demokratische System ersichtlich war. Die ÖVP veröffentlichte im
Zuge des Wahlkampfes die „Sibirienplakate“ der SPÖ von 1945 und karikierte mit einem
Plakat, die anfänglich harte und nun milde Haltung der SPÖ zu den Nationalsozialisten:298
297 Vgl. STIEFEL, Entnazifizierung in Österreich. 1981. S. 314. – S. 316. 298 Vgl. ebda. S. 316.
67
Der Höhepunkt des schmutzigen Wahlkampfes
stellte ein Treffen von hohen Parteimitliedern
der ÖVP mit ehemaligen Nationalsozialisten in
Oberweis bei Gmunden dar. Die ÖVP erklärte,
dass dieses Treffen ein rein informatives Treffen
gewesen sei, um besser in Erfahrungen bringen
zu können, welchen Problemen die National-
sozialisten entgegen stünden. Des Weiteren
sollte das Treffen ein „Signal“ der ÖVP an die
ehemaligen Mitglieder der NSDAP sein, um
ihnen die Wahl der ÖVP zu erleichtern. Die SPÖ
sah in den Gesprächen ein reines Zugeständnis
der ÖVP an die Nationalsozialisten. Ebenso
wurde das Treffen als eine Mobilisierung des
rechten Flügels der ÖVP gesehen. Das Treffen
in Oberweis in Gmunden verschlechterte nicht
nur das Verhältnis der ÖVP zur SPÖ, sondern auch das Verhältnis Österreichs zu den Alliierten
Mächten.299
Der Streit um die Wählerstimmen der ehemaligen Nationalsozialist*innen resultierte
schließlich in der Entstehung einer vierten Partei. Hierbei ist anzumerken, dass eine weitere
Partei zuvor nicht von den alliierten Besatzungsmächten für die vorläufige Parteienlandschaft
von Österreich geplant war und von Anfang an eine drei Parteien-Lösung für die politische
Landschaft Österreichs vorgesehen war. Auch die ÖVP hatte zuvor kein Interesse an der
Etablierung einer vierten Partei, da sie das Monopol im bürgerlichen Lager hatte und sich als
Bollwerk gegen einer drohenden kommunistischen Weltanschauung sah und sich auch als
solches im Wahlkampf bewarb. Ebenso erachtete es die ÖVP als sinnvoller, die ehemaligen
Mitglieder der NSDAP in ihre Partei einzugliedern, anstatt eine neue vierte Partei ins Leben zu
rufen, die Gefahr liefe, sich als reine Nazipartei zu entpuppen. Die SPÖ hingegen war von der
Idee einer vierten Partei, die das nationale Lager auffangen sollte, nicht abgeneigt. Sie sah die
vierte Partei als Möglichkeit, zu große Parteiüberläufe zur ÖVP verhindern zu können. Zugleich
würde die Schwächung der ÖVP durch eine vierte Partei eine passive Stärkung der SPÖ
bedeuten.300 Deswegen entschied sich die SPÖ dazu, die Parteiwerdung des Verbandes der
299 Vgl. STIEFEL, Entnazifizierung in Österreich. 1981. S. 318. – S. 319. 300 Vgl. ebda. S. 319. – S. 321.
Abbildung 1: ÖVP Wahlplakat, 1949
68
Unabhängigen (VdU), der vom rechten Flügel gegründet worden war, zu unterstützen. Die
Alliierten standen angesichts der vielen Parteigründungen, die der Unzufriedenheit der
politischen Situation in Österreich nach 1945 Ausdruck verliehen, einem Problem gegenüber.
Laut Stiefel gab es bis 1949 über 50 Parteineugründungen, wobei der Alliierte Rat in etwa 20
Parteien ad hoc ablehnte. Dieser Umstand spiegelte das Bedürfnis der österreichischen
Bevölkerung nach alternativen Parteien zu den drei etablierten ÖVP, SPÖ und KPÖ wider.
Zudem griff auch das Argument des demokratischen Rechtes, dass eine neu gegründete Partei
zumindest eine Chance erhalten sollte, sich am politischen Parkett zu beweisen. Dies
veranlasste den Alliierten Rat schließlich dazu, die vierte Partei zuzulassen. Auch die ÖVP war
nun von der Idee einer vierten Partei überzeugt. Dieser Sinneswandel ergab sich jedoch nicht
nur aus dem Standpunkt der ÖVP, das demokratisch Recht einer Parteigründung geltend zu
machen, sondern hauptsächlich aus der Überzeugung, dass ihr Wahlerfolg durch eine vierte
Partei nicht sonderlich gefährdet würde. 301
Somit konnte die VdU bei der Nationalratswahl 1949 antreten und erreichte beachtliche 16
Mandate. Von der Anzahl der Stimmen war das ungefähr jene Zahl der nach 1948 wieder zur
Wahl berechtigten ehemaligen Nationalsozialisten. Jedoch ergab sich die erreichte
Stimmenanzahl nicht nur aus den Stimmen der „Ehemaligen“, sondern auch aus der im
Vergleich zu 1945 um 3 Prozent gestiegenen Wahlbeteiligung von 97 Prozent und der
Unzufriedenheit vieler Wähler*innen mit den Regierungsparteien.302 Mit dem Ergebnis der
Nationalratswahl zeichnete sich jedoch ein deutlicher Rechtsrutsch ab. Die SPÖ verlor neun
Mandate, die ÖVP hatte im Vergleich zu 1945 acht Mandate weniger und die KPÖ konnte ein
Mandat, welches hauptsächlich vom linken Flügel der SPÖ, der mit der eigenen Parteilinie und
Unterstützung des nationalen Lagers, nicht konform war, dazugewinnen. Die ÖVP erreichte
somit nicht die Mehrheit und musste mit der SPÖ eine große Koalition bilden, welche fortan an
bestimmend für die Politik in Österreich war.303 Die neu entstandene vierte Partei, die VdU, die
später zu der Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ) wurde, begab sich in Opposition, ebenso
wie die KPÖ. Mit dem Resultat der Nationalratswahl im Jahr 1949 und dem Einzug des VdUs
in das Parlament war ein weiterer Wendepunkt im Kapitel der Entnazifizierung in Österreich
erreicht. Durch die Amnestiegesetze und den immer größer werdenden zeitlichen Abstand zum
Jahr 1945, wurde das eigentliche Problem der Entnazifizierung in den Hintergrund gerückt. Die
bereits zu Beginn kritischen Stimmen der Entnazifizierungsmaßnahmengegner wurden immer
lauter und die erinnernde, mahnende Gruppe der Befürworter der Maßnahmen wurden leiser.
301 Vgl. STIEFEL, Entnazifizierung in Österreich. 1981. S. 319. – S. 321. 302 Vgl. ebda. S. 321. 303 Vgl. VOCELKA, Geschichte Österreichs. 2009. S. 320.
69
Wenngleich die Entnazifizierung nach 1945 in der breiten Öffentlichkeit den politischen
Diskurs geprägt hatte, war sie nach 1949 ein Randthema geworden.304 Im Jahr 1957 wurde die
“NS-Amnestie“ beschlossen. Diese beinhaltete die Aufhebung aller Gesetze, die im Rahmen
der Entnazifizierung beschlossen worden waren. Gleichzeitig wurde sie als endgültiger
Schlussstrich unter der NS-Vergangenheit Österreichs gesehen.305
ÖVP und SPÖ bekannten sich nach den Wahlen im Jahr 1949 plötzlich wieder zu den zuvor
gesetzten Entnazifizierungsmaßnahmen. Generell wurden die Änderungen seitens des
Alliierten Rates jedoch von vielen Vertretern aller Parteien als unnötiges Joch gesehen, welches
der österreichischen Bevölkerung ungerechterweise auferlegt wurde, gesehen.306
4.4.2 Die Bedeutung der Entnazifizierung für das österreichisches
Nationalbewusstsein
Bevor festgestellt werden kann, welche Bedeutung die Entnazifizierung für Österreich und das
österreichische Nationalbewusstsein hat, muss auf die Frage eingegangen werden, welche
Veränderung die Entnazifizierung mit sich brachte und wie erfolgreich sie schließlich war.
Wenn man ihren Verlauf und ihre Entwicklung betrachtet – von der anfangs strengen
politischen Säuberung, markiert durch die Maßnahmen von 1945 und 1946, bis hin zu
Rehabilitierungen durch Amnestiegesetze und politischen Zugeständnissen – gibt es durchaus
Anlass zu einer solchen Diskussion. Laut Stiefel soll die Entnazifizierung nicht als
abgeschlossenes Kapitel oder zeitlich begrenzte Maßnahme, sondern als ein Prozess
betrachtetet werden, der bis heute nicht abgeschlossen ist und nach wie vor eine große
Bedeutung in Österreich hat. Die erste Zeit Entnazifizierungsmaßnahmen war eine chaotische
und instabile. Österreich befand sich in einem noch nie da gewesenen katastrophalen Zustand:
Städte, die durch Bombardements in Schutt und Asche lagen, eine drohende Hungersnot und
eine Wirtschaftskrise waren bezeichnet für die ‚Trümmerjahre‘ nach 1945. Fast jede
österreichische Familie hatte Kriegsgefangene, -opfer oder Gefallene zu beklagen. Hinzu kam,
dass das vom Faschismus gebeutelte Land in vier Zonen aufgeteilt und besetzt worden war.
Nichtsdestotrotz hatten die Entnazifizierungsmaßnahmen inmitten dieser Situation oberste
Priorität. Sie wurden zumindest anfänglich von allen drei Parteien der Provisorischen
Regierung als Maßnahme zur Wiedergutmachung für die Opfer des Faschismus und
Nationalsozialismus gesehen und umgesetzt. Gleichzeitig verdeutlichte die österreichische
Spielart der Entnazifizierung die angenommene Opferrolle Österreichs und die daraus
304 Vgl. STIEFEL, Entnazifizierung in Österreich. 1981. S. 321. – S. 322. 305 Vgl. ebda. S. 310. 306 Vgl. ebda. S. 322 – S. 323.
70
resultierende abgrenzende Haltung zu Deutschland. Man entsagte mittels der „Opfer-Rolle“
jedem deutschnationalen und faschistischen Einfluss und zugleich war sie der Schlüssel zur
Wiedergewinnung der eigenen Souveränität. Bereits ab 1946 war ein Wandel in der Haltung
der Parteien zur Entnazifizierung und im Verhältnis zu den alliierten Besatzungsmächten
festzumachen. Während man sie vor 1946 noch als Partner im Kampf gegen den
Nationalsozialismus betrachtete, wurden sie quasi zum störenden Gegenspieler eines nach
Souveränität strebenden Österreichs. Die Beziehung zu den Besatzungsmächten wurde zudem
durch den Haltungswechsel der Alliierten Mächte zu der Entnazifizierung selbst und durch das
immer größer werdende Misstrauen zwischen Ost- und Westmächten stark verkompliziert. Dies
war neben einer Vielzahl von weiteren Faktoren ein Grund, wieso die zuvor bestimmten
Entnazifizierungsmahnen unzureichend und nicht in ihrer Vollständigkeit ausgeführt wurden.
Die österreichischen Verantwortlichen beriefen sich bei kritischen Einwänden von Seiten des
Alliierten Rates in Bezug auf milde und inkonsequent durchgeführte Maßnahmen auf
erfolgreiche Zahlen und Teilstudien. Auf diese Art und Weise verteidigte man auch die
Amnestiegesetze und Milderungen der Strafen und Sühneleistungen vor dem Alliierten.307 Ein
weiterer Faktor, der die Lösung des Naziproblems erschwerte, war der Umstand, dass die
Entnazifizierung und politische Säuberung innerhalb des rechtstaatlichen Rahmens einer
Demokratie zu vollziehen war. Dieser Widerspruch zeigte zugleich die Grenzen der
Entnazifizierung.
Auch das Bestreben, den wirtschaftlichen Wiederaufbau so schnell wie möglich forcieren zu
wollen, führte zu Milderungen und Zugeständnissen. So hätte die Entnazifizierung in
Österreich, selbst innerhalb einer Demokratie um einiges härter durchgeführt werden können,
jedoch wollte man keine zu strengen Maßnahmen, welche der Genesung der wirtschaftlichen
Situation und der inneren Stabilität Österreichs schaden hätte können.308
Die zweite Phase der Entnazifizierung dauerte bis zur NS-Amnestie von 1957. Der Übergang
zur dritten Phase der Entnazifizierung war ein fließender und verlief parallel zu der zweiten
Phase. Die dritte Phase ist vor allem durch das Werben um die Stimmen der ehemaligen
Nationalsozialisten und der wachsenden Bedeutungslosigkeit der Entnazifizierung als
gegenwärtiges Thema in der öffentlichen Diskussion charakterisierbar. Der allmähliche
Rückgang der Relevanz der Entnazifizierung im Alltag ist laut Stiefel darauf zurückzuführen,
dass die Österreicher*innen des Themas leid waren.309 Es herrschte generell ab 1949 eine
Aufbruchsstimmung in der österreichischen Bevölkerung, die stark vom Wunsch eines
307 Vgl. STIEFEL, Entnazifizierung in Österreich. 1981. S. 326. 308 Vgl. ebda. S.327. 309 Vgl. ebda. S. 327. – S. 329.
71
Neustarts geprägt war. Diese Haltung kann am besten mit einem vergessenden Blick nach vorne
beschrieben werden. Zu diesem Zeitpunkt war der Faschismus als treibende Kraft, die die
Massen ansprach, in Österreich längst bedeutungslos geworden. Jedoch blieben Schatten seines
Wirkens und seine charakteristischen Merkmale weiterhin bestehen. Stiefel verweist hier auf
die von den Nationalsozialisten verwendeten und geprägten Begriffe, wie etwa ‚Heimatliebe‘,
‚Kameradschaft‘, ‚Militarismus‘ und ‚Ausländerfeindlichkeit‘, die als Einstellungen auch heute
noch in Österreich sehr präsent sind.310
Eine vierte Phase der Entnazifizierung zu charakterisieren soll nicht Gegenstand dieser Arbeit
sein, dennoch kann es als wesentlich erachtet werden, die Entnazifizierung als einen
fortlaufenden Prozess, der bis heute das österreichische Selbst- und Fremdbild und das
österreichische Nationalbewusstsein prägt, zu sehen. Insofern ist es notwendig, sich mit ihrer
historischen Entwicklung zu befassen, um ihren Einfluss auf die Zweite Republik und auf das
wachsende Österreichbewusstsein der Nachkriegszeit bis heute, nachzuvollziehen.
Die Beschäftigung mit der Entnazifizierung und ihrer Entwicklung schließt unweigerlich eine
Beschäftigung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit Österreichs und dessen Umgang
damit ein. Dass das Thema Nationalsozialismus nach wie vor immer noch sehr präsent ist,
zeigte sich nicht zuletzt in der Präsidentschaftswahl zwischen Norbert Hofer und Alexander
Van der Bellen im Jahr 2016, die nicht nur die gespaltene Haltung der österreichischen
Bevölkerung zwischen links und rechts aufzeigte, sondern auch die gesellschaftliche
Dichotomie einer verantwortungsleugnenden Haltung und einer mahnenden, erinnernden
offenbarte. Auch das unterschiedliche Auftreten von Vertretern österreichischer Parteien bei
Jubiläen, Festen und Gedenktagen, wie jenen im Gedenk- und Erinnerungsjahr 2018, spiegelte
die gespaltene Haltung Österreichs zum Nationalsozialismus und Antisemitismus wider. Man
erinnere sich zum Beispiel an die Rede von Michael Köhlmeier zum Gedenktag gegen Gewalt
und Rassismus am 5. Mai 2018, in der er die amtierenden Regierungsparteien ÖVP und FPÖ
mit einem heuchlerischen Umgang der nationalsozialistischen Vergangenheit Österreichs
konfrontiert.311
Ein weiteres aktuelles Beispiel eines inkonsistenten Umgangs mit der Vergangenheit ist die
öffentlich ausgetragene Fehde auf der Social-Media-Plattform Facebook zwischen den
amtierenden Finanzminister Gernot Blümel, der bei der Wiener Gemeinderatswahl 2020 antrat,
und dem österreichischen Schriftsteller Robert Menasse. Dieser kritisierte Blümels Wahlspruch
310 Vgl. STIEFEL, Entnazifizierung in Österreich. 1981. S. 329. 311 Vgl. KÖHLMEIER Michael, Rede zum Gedenktag gegen Gewalt und Rassismus am 05.05.2018.
https://tvthek.orf.at/history/Beginn-Verlauf-Auswirkungen/13557936/Rede-von-Michael-Koehlmeier-am-
Gedenktag-gegen-Gewalt-und-Rassismus/14018655 [21.10.2020]
72
„Wien wieder nach vorne bringen“, der
seiner Meinung nach auf den
antisemitischen Bürgermeister Karl
Lueger bzw. auf die Anfangszeit des
Nationalsozialismus in Wien verweise.
Im Umgang mit der
nationalsozialistischen Vergangenheit
lassen sich zwei unterschiedliche
Gruppen feststellen: Erstens jene, die
die Entnazifizierung als einen in der
Vergangenheit liegenden und
abgeschlossenen Prozess ansehen und
deswegen kein Verantwortungsgefühl
diesbezüglich zeigen; zweitens jene, die
auch im Sinne einer Erinnerungskultur
kritisch auf den laufenden Prozess der Aufarbeitung des Nationalsozialismus hinweisen. Diese
divergierende Haltung, die sich nach wie vor sowohl in der Politik als auch im öffentlichen
Leben abbildet, ist nach wie vor „charakteristisch“ für das österreichische Selbst- und
Fremdbild und weist auf den Einfluss des Nationalsozialismus und der später durchgeführten
Entnazifizierungsmaßnahmen bei der Entwicklung der österreichischen Nation und damit
einhergehend dem österreichischen Nationalbewusstsein hin. Die nationalsozialistische
Vergangenheit wird entweder als historisch abgeschlossen betrachtet oder als Schatten der
österreichischen Identität kritisch in Erinnerung gerufen.
Studien, wie jene der Lazarsfeld Gesellschaft, über das österreichische Nationalbewusstsein,
und den von der GfK Austria (Growth from Knowledge) durchgeführten Umfragen zu den
Themen ,Österreichbewusstsein‘, ,Holocaust‘ und ‚Geschichtsbewusstsein‘ im Jahr 2009,
unterstreichen, dass die Zeit des Nationalsozialismus nach wie vor ein fester Bestandteil des
österreichischen Geschichts- und Nationalbewusstseins ist.312
312 Vgl. TRIBUTSCH Silvia / ULRAM Peter, 1918, 1938, 2008: Geschichte im Spiegel der
Forschungsergebnisse von GfK Austria. GFK Austria, Politikforschung. 2008.
https://images.derstandard.at/20080312/1918-1938-2008.pdf [05.10.2020].et. GEHMACHER Ernst, PAUL
LAZARSFELD – GESELLSCHAFT Paul Lazarsfeld-Gesellschaft für Sozialforschung (Hrsg.). Das
österreichische Nationalbewusstsein in der öffentlichen Meinung und im Urteil der Experten. Eine Studie der
Paul Lazarsfeld Gesellschaft für Sozialforschung. Paul Lazarsfeld Gesellschaft für Sozialforschung, Wien. 1982.
Abbildung 2: Robert Menasses Facebook-Kommentar
73
4.5 Alliierter Einfluss auf das österreichische Nationalbewusstsein – ‚Re-orientation‘
durch Medien
Neben der dargestellten Entnazifizierungsmaßnahmen förderten die alliierten Mächte ein
Medienprogramm, welches das Ziel hatte, den von den Nationalsozialisten und deren Organen
verbreitenden Deutschnationalismus entgegenzuwirken und statt diesem ein
österreichzentriertes Bewusstsein zu kultivieren. Dieses Ziel wurde bereits mit der
Entnazifizierung verfolgt, jedoch war diese ein rein passiver Abbau von deutschnationalem und
faschistischem Gedankengut in Form von Entlassungen, Verhaftungen und Sühneleisten und
Ehemalige wurden nicht, wie im Falle Deutschlands, einer ,Re-education‘ unterzogen. Im
Vergleich dazu stellt die Arbeit der Alliierten im Medienbereich der Nachkriegszeit eine aktive
Umerziehung zu demokratischen Werten und zu einem Österreichbewusstsein dar.
Die alliierten Mächte und die eingesetzte österreichische Regierung waren sich dem Problem
bewusst, dass nationalsozialistisches und über Jahre hinweg indoktriniertes Gedankengut sowie
die Erfahrung von autoritären Regimen nicht einfach mit Kriegsende aus dem Bewusstsein der
österreichischen Bevölkerung verschwinden würden. Jene Österreich*innen, die ab 1930
geboren waren, erlebten mit dem Ständestaat und der nationalsozialistischen Herrschaft,
autoritäre, totalitäre Regime, die weit weg von einer Demokratie waren. Viele Kinder sahen
sich als deutsche Bürger*innen eines Großdeutschen Reiches und verstanden nicht, wieso sie
nach dem Krieg plötzlich keine Deutschen mehr waren, sondern Österreicher. Darüber hinaus
wurde ihnen von den Nationalsozialisten eine abneigende Haltung gegenüber alles, was nicht
,deutsch‘ war, anerzogen. Nun sollten die Kinder und Jugendliche als zukünftige Träger*innen
eines österreichischen demokratischen Staates umerzogen werden. Die Demokratisierung und
Schaffung eines Österreichbewusstseins stellten somit zentrale Schwerunkte in der schulischen
und außerschulischen Bildungsarbeit von 1946 bis 1955 dar. Die Medien spielten dabei eine
bedeutende Rolle, um die neue Generation der Österreicher*innen zu erziehen. Der
Sonderstatus Österreichs durch die Moskauer Deklaration unterschied sich auch in diesem
Bereich vom Vorgehen der alliierten Mächte im Vergleich zu Deutschland. In Deutschland
verfolgten die alliierten Mächte eine Politik der ‚re-education‘, in Österreich dagegen führten
sie eine ‚re-orientierung‘ aus. 313 Die ‚re-orientierung‘ war eine abgeschwächte ‚re-education‘
und hatte für Österreich die Folge, dass die Umerziehungsmaßnahmen weniger drastisch
erfolgten als in Deutschland. Die Umerziehungsprogramme wurden dabei vor allem von den
313 Vgl. BLASCHITZ, Edith, Zwischen re-orientation und „Kampf gegen Schmutz und Schund“. Österreichische
Kinder- und Jugendmedien in der Nachkriegszeit (1945–1960). IN: Heinz Moser, Werner Sesink, Dorothee M.
Meister, Brigitte Hipfl, Theo Hug (Hrsg.): Jahrbuch Medienpädagogik 7. Wiesbaden: VS Verlag für
Sozialwissenschaften. 2008, S. 169–170.
74
USA forciert, die den ISB (US-Information Services Branch), dem Radio, Presse Theater,
Bildmaterial, Publikation und Filme unterstellt war, gründeten. Der ISB fungierte außerdem als
strenges Zensurorgan und war nicht nur im außerschulischen, sondern auch im schulischen
Bereich für die ‚re-orientation‘ verantwortlich. Die ‚re-orientation‘, sprich die Umorientierung,
sollte primär das übergeordnete Ziel aller alliierten Mächten folgen, nämlich: „alle Spuren der
Nazi-Ideologie auszumerzen“314. Um dieses Ziel zu realisieren, wurden zunächst alle
nationalsozialistischen Lehrpläne abgeschafft und alle Schulbücher und Lehrfilme mit
nationalsozialistischen Inhalten aus dem Verkehr gezogen. Daraufhin wurden neue Lehrbücher
von den Alliierten aufgegeben beziehungsweise vorkriegszeitliche Lehrbücher, welche keinen
bedenklichen ideologischen Inhalt aufwiesen, wieder aufgenommen. Die Vorgabe der alliierten
Kommission beinhaltete, dass die Schulbücher inhaltlich zu einem Demokratieverständnis
sowie zu einem österreichischen Staatsbewusstsein beitragen sollten. Außerdem sollten sie die
Schüler*innen für die österreichische Kultur begeistern. Überdies sollten sie soziale Werte und
den Zusammenhalt für den Wiederaufbau Österreichs betonen. Von österreichischer Seite, wie
etwa vom Wiener Schulrat, wurden die amerikanischen Ideen zur Neugestaltung und
Revolutionierung des Unterrichts ohne Beanstandungen aufgenommen und umgesetzt.
Gegenstand der Neuerung war etwa der Einsatz von audiovisuellen Medien als unterstützendes
Element im Unterricht und die Errichtung von Schulklubs nach amerikanischem Vorbild. Ein
großer Bestandteil der ‚re-orientation‘ war die außerschulische Förderung von Jugendlichen
und Kindern. Diese wurde durch die Errichtung von sogenannten „Amerika-Häusern“, von
denen es auf alle Bundesländer verteilt insgesamt zwölf gab, vorangetrieben. Die Amerika-
Häuser fungierten als Informationszentren und dienten außerdem als Veranstaltungsräume für
Konzerte, Filmvorstellungen sowie Galerien und Leseräume. In der US-Besatzungszone
wurden darüber hinaus auch abgelegene kleinere Ortschaften von Bussen, sogenannten
bookmobiles, wöchentlich mit 4 000 Büchern versorgt. Diese Maßnahmen der Amerikaner zur
„Umorientierung“ der Österreicher*innen, welche über Filme, Bücher und Radio erfolgte,
wurde von der österreichischen Bevölkerung durchaus positiv aufgenommen. Der Radiosender
„Rot-Weiß-Rot“, der unter der Aufsicht der Amerikaner stand, und Studios in Wien, Salzburg
und Linz hatte, wurde zu einem der beliebtesten Rundfunksender.315 „Rot-Weiß-Rot“ brachte
im Vergleich zu dem der sowjetischen Besatzung unterstellten „Radio Wien“, welches sich
314 Abkommen zwischen den Regierungen des Vereinigten Königreichs, der Vereinigten Staaten von Amerika,
der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken und der Französischen Republik über den Kontrollapparat in
Oesterreich vom 28. Juni 1946 (Zweites Kontrollabkommen), siehe VEROSTA Stephan (Hrsg.), Die
internationale Stellung Österreichs 1938 bis 1947. Manzsche Verlagsbuchhandlung. Wien. 1947. S. 104 – S.
113. 315 Vgl. BLASCHITZ, Zwischen re-orientation und „Kampf gegen Schmutz und Schund“ 2008. S. 169. – S. 170.
75
hauptsächlich um ein anspruchsvolles Kulturprogramm bemühte, einen wesentlichen Beitrag
zu der populären zeitgenössischen Unterhaltung, die wegweisend für die weitere Entwicklung
des österreichischen Rundfunks wurde. Der Radiosender „Rot-Weiß-Rot“ erreichte durch die
Popmusik große Beliebtheit bei den Jugendlichen im urbanen Raum und strahlte neben der
Musik auch Bildungsprogramme, wie etwa „Rot-Weiß-Rot Hochschule für Jedermann“ aus.
Die britischen und französischen Besatzungsorgane setzten bei der „re-orientation“ weniger auf
Bildungsarbeit und die Verbreitung ihrer schulischen Standards und Bildungssysteme. Ihr
Zugang charakterisierte sich hauptsächlich durch Überwachung, Hilfedienste und Beratungen.
Die „Schoolpost“, eine vom britischen „Information Services Branch“ in Englisch publizierte
Zeitschrift, sollte im Englischunterricht eingesetzt werden und die britische Geisteshaltung
vermitteln. Die „Schoolpost“ wurde in Wien von 1946 bis 1949 gedruckt. Das Leitmotiv der
Zeitschrift war die Herstellung einer Verbindung zwischen Österreich und Großbritannien, um
den kulturellen Austausch der beiden Ländern anzuregen und dessen Vorteile zu betonen.316
Beim Medium Film hatte die USA gegenüber den anderen drei Besatzungsmächten nicht nur
bei dessen Umsetzung als Mittel der Umerziehung, sondern auch bei der Etablierung
ökonomisch relevanter langfristiger Strukturen den größten Einfluss. Die Zeichentrick-,
Kinder- und Jugendfilme der Sowjetunion wurden gut aufgenommen, jedoch waren es die
amerikanischen Filme, die im Rahmen der „re-orientation“ am populärsten waren und damit
eine nachhaltige erzieherische Wirkung erzielten. So wurde über das Motiv der Unterhaltung
mit Sendungen wie Mickey Mouse und Wildwestfilme der amerikanische „Way of Life“
vermittelt und propagiert. Vor den zunehmend ökonomisch motivierten Unterhaltungsfilmen
wurden von den Alliierten auch Aufklärungsfilme über den Nationalsozialismus und den
nationalsozialistischen Verbrechen an die Menschen gezeigt. Diese Filme wurden vorwiegend
in der Anfangszeit der Besatzung von den Alliierten vorgeführt. Dokumentarfilme, wie etwa
„Die Todesmühlen“ (1946) zeigten schonungslos die Gräueltaten, die in den
Konzentrationslagern begangen wurden. Die Präsentation dieser Filme wurde dabei nicht nur
von den alliierten Siegermächten, sondern auch von österreichischen Politikern als eine
essenzielle Maßnahme zur Bewusstseinsbildung und Demokratisierung forciert. Überdies
sollten sie auch als Entnazifizierungsmaßnahme wirken. So wurden in Kärnten ehemalige
Parteimitglieder der NSDAP dazu verpflichtet, diese Dokumentarfilme anzuschauen. Obwohl
die Filme aufgrund ihrer erschreckenden Bilder eher für ein erwachsenes Publikum bestimmt
waren, konnten auch jugendliche Schüler*innen die Filme im Kino sehen.317 Eine
316 Vgl. BLASCHITZ, Zwischen re-orientation und „Kampf gegen Schmutz und Schund“ 2008. S. 170. 317 Vgl. ebda. S. 170. – S. 171.
76
Schattenseite, der zur ,re-orientation‘ eingesetzten Dokumentarfilme, war die abneigende,
ungläubige Haltung der Österreicher*innen gegenüber den präsentierten Bildern. Viele
betrachteten sie als Propagandafilme der Siegermächte. In einer Umfrage von 1947 antworteten
59 Prozent der Befragten auf die Frage „Glauben Sie alles, was in den KZ-Filmen passiert ist?“
mit „Nein“. Laut Thode könnte diese Haltung auf die Erfahrungen der österreichischen
Bevölkerung mit der realitätsverzerrenden Nazipropaganda und deren noch immer wirkenden
Einfluss, der in einem Misstrauen gegenüber den alliierten Siegermächten resultierte,
zurückzuführen sein. Mit dem Beginn des Kalten Krieges kamen die Aufarbeitungsarbeiten der
alliierten Mächte langsam zum Erliegen. Die KZ-Filme wurde nicht mehr vorgeführt. Die USA
bemühte sich statt der Vergangenheitsbewältigung nun um die Integration Österreichs als
westliches Land. An die Stelle von aufklärenden Dokumentarfilmen traten Kurzfilme wie
“Project of Tomorrow“ (USA 1950) und „Hansl und die 200 000 Kücken“ (A 1952), die über
Geschichten das Bewusstsein der österreichischen Bevölkerung für demokratische Werte,
stärken sollten. Analog zu dem abnehmenden Bemühen der Alliierten, die Aufarbeitung der
Vergangenheit voranzutreiben, setzte im kriegsgebeutelten, trümmermüden österreichischen
Volk eine Aufbruchstimmung, die durch bewusstes Vergessen und Verdrängen geprägt war,
ein. Somit kam auch die kurze Zeit der medialen Aufarbeitung des Nationalsozialismus ebenso
wie die Entnazifizierung zu einem vorzeitigen Ende.318
4.6 Österreich (er-)findet sich selbst. Zum neuen Nationalbewusstsein nach 1945
Das gespaltene Land stand vor dem Problem, ein Österreichbewusstsein und ein historisches
Gedächtnis zu finden, vielmehr noch kreieren zu müssen, mit dem sich jede Generation
identifizieren könnte. Um dies zu erreichen, suchte man nach identitätsstiftenden Merkmalen,
die unproblematisch von allen Gesellschaftsschichten und Altersgruppen akzeptieren werden
würden. Man besinnte sich hierbei – wie schon in der Ersten Republik – auf alte Werte und hob
die kulturellen Leistung, die besondere Landschaft und die wichtige Geschichte Österreichs
hervor. Die divergenten Identitätsbilder der Österreicher*innen der letzten Jahrzehnte sollten
durch eine Rückbesinnung auf die gemeinsame Geschichte vor dem Ersten Weltkrieg und die
Hervorhebung der kulturellen Bedeutsamkeit zu einem eindeutig österreichischen
Nationalbewusstsein geformt werden.319 Dieser Zugang zum „neuen“ Bewusstsein, der über die
Betonung der kulturellen und geistigen Leistungen geschehen sollte, wurde von den
österreichischen Parteien konsequent verfolgt und gefördert. Hier ist etwa der damalige
318 Vgl. BLASCHITZ, Zwischen re-orientation und „Kampf gegen Schmutz und Schund“ 2008. S. 171. 319 Vgl. ebda. S. 173.
77
Unterrichtsminister Felix Hurdes (ÖVP) zu nennen, der sich besonders für die Bildung eines
neuen Österreichbewusstseins engagierte. Wie im Kapitel 2 ausgeführt, definieren sich
Nationen über Inklusion und Exklusion. Bei der Neuerfindung der österreichischen Nation
stellte dabei die Trennung von Deutschland und dem ‚Deutschtum‘ einen zentrale Punkt und
zugleich das größte Problem dar, zumal sich ein Großteil der Generation nach dem Ersten
Weltkrieg als Deutschösterreicher und Angehörige eines Großdeutschen Reiches sahen. Der
Kleinstaat Österreich wurde von ihnen als nicht überlebensfähig eingestuft und allein den
Namen Österreich empfanden sie bereits als Verschmähung.320 Überdies war eine gesamte
junge Generation, die ihre Bildungslaufbahn durch nationalsozialistische Organisationen
durchlaufen hatte, nicht nur mit dem Verständnis Deutsch zu sein aufgewachsen, sondern
vielmehr war es ihr „eingebrannt“ worden. Diese junge Generation, auch „Kriegsgeneration“
oder Heimkehrer genannt, stellte eine besondere Herausforderung für die Schaffung eines
österreichischen Nationalbewusstseins dar, da sie sich noch nie in ihrem Leben als
Österreicher*innen gesehen hatte und auch lange nach dem Krieg noch Werte, Begriffe und
Parolen aus der Zeit des Nationalsozialismus verankert hatte. Diese Generation sah sich einer
Generation von Altösterreicher*innen und überzeugten Österreichpatriot*innen gegenüber, die
während des Krieges eingesperrt oder im Exil waren und nun ihre alten Posten wieder
bezogen.321 Die geistige Emanzipation von Deutschland stellte die schwierigste und zugleich
wichtigste Hürde für die österreichische Nationsbildung in der Nachkriegszeit dar. Bei der
Suche nach alten historischen Ereignissen, auf denen die Besonderheit und Eigenständigkeit
Österreichs aufgebaut und betont werden konnte, stieß man auf die Schenkungsurkunde von
Otto III., die sich 1946 zum 950. Mal jährte, und nahm sich das Jubiläum zur Hilfe. In der
Urkunde ist die Schenkung des Gebietes, welches „Ostarrichi“ genannt wurde, durch Otto III.
niedergeschrieben. Das Jubiläum dieser Urkunde wurde bewusst zum neuen wichtigen
Nationalgedenktag der Zweiten Republik erklärt und gleichzeitig zum Grundstein der
Einzigartigkeit Österreichs stilisiert. Renner betonte in seiner Rede zum Festtag „950. Jahrestag
Österreichs“ am 22. Oktober 1946 die Individualität der Österreicher*innen und hob ihre
Ausprägung und Einzigartigkeit hervor, die Österreich die „Eignung und auch den Anspruch“
gibt „sich zur selbständigen [sic!] Nation zu erklären“; gleichzeitig ging er auf die Verknüpfung
und zugleich notwendigen Loslösung von Deutschland und dem Großdeutschtum ein:322 „Daß
es [das österreichische Volk] die Sprachgemeinschaft mit den Deutschen des Reiches verbindet,
320 Vgl. BRUCKMÜLLER Ernst, Die Entwicklung des Österreichbewusstsein. IN: KRIECHBAUER Robert
(Hg.): Österreichische Nationalgeschichte nach 1945. Die Spiegel der Erinnerung: Die Sicht von innen, Band 1.
Böhlau, Wien/Köln/Weimar. 1998. S. 378. 321 Vgl. BRUCKMÜLLER, Die Entwicklung des Österreichbewusstsein. 1998. S. 380. 322 Vgl. eda. S.378. – S. 379.
78
kann kein Hindernis sein. Diese Sprachgemeinschaft ist auch kein Hindernis für die Deutschen,
der Schweiz, sich zur Schweizer Nation zu bekennen“.323
Zum Jubiläum und zur Stilisierung des Jahres 950 und der Schenkung Otto III. zu dem
identitätsstiftenden Ereignis der jungen Zweiten Republik sei hervorgehoben, dass das Jahr 950
vor 1946 in der jüngeren Geschichte von Österreich über lange Zeit keine Beachtung – weder
in der Geschichte, Dichtung noch in der Kunst – zukam. Die Schenkungsurkunde wurde als
Mittel zur Legitimierung der Habsburgermonarchie nie verwendet, denn hierbei stütze man sich
zuvor eher auf die Belehnung der Söhne Rudolphs von Habsburg mit Österreich und Steier oder
auf die Babenberger und auf die Ernennung Österreichs zum Herzogtum im Jahr 1156. In der
Schenkung von 996 wurde nicht der babenbergische Marktgraf, sondern ein Bischof mit dem
Land „Ostarrichi“ beschenkt. Sie stellt somit eher eine Verkleinerung der Macht des
babenbergischen Markgrafen dar und ist daher als Legitimitätsnachweis unbrauchbar.
Bruckmüller hebt weiters hervor, dass die Schenkung Otto III. im Jahr 996 an der Entwicklung
und der Bedeutung des Namens „Österreich“, als Bezeichnung für ein wichtiges Land im
Südosten und in weiterer späterer Folge als weltpolitischer Begriff über das Haus Österreich
keinerlei Bedeutung hatte:324 „Es ist eben kein Geburts-, sondern allenfalls ein Namenstag“325.
Die Erinnerung an diesen Namenstag kam 1946 jedoch gelegen, um eine neue österreichische
Tradition, frei von der ‚großdeutschen‘, aber auch distanziert genug von der imperialen
Vergangenheit, zu erschaffen.326. Das Jubiläum und das Jahr 996 sollte ausführlich in den
Schulen besprochen und gefeiert werden. So wurde die „Ostarrichi“ Urkunde zur symbolischen
Gründungsurkunde von Österreich erhoben und stellte damit zugleich die Basis der
„tausendjährigen Geschichte“ Österreichs dar.327
Ein weiterer Feiertag, der im Anschluss auf die erfolgreichen Staatsvertragsverhandlungen
etabliert und vor allem in Schulen gefeiert wurde, ist der „Tag der Fahne“ am 26. Oktober.
Dieser Festtag hatte zuerst eher die wiedergewonnene Freiheit und Souveränität als die
Neutralität zum Inhalt und sollte diese Errungenschaften des Staatsvertrages hervorheben.
Spätestens ab den 1970er Jahren wurde die Neutralität zu einem zentralen Merkmal für das
österreichische Nationalbewusstsein und das kollektive Gedächtnis der Österreicher*innen.328
323 Vgl. BRUCKMÜLLER, Die Entwicklung des Österreichbewusstsein. 1998. S.378. – S. 379. 324 Vgl. BRUCKMÜLLER Ernst, Österreichbewußtsein im Wandel: Identität und Selbstverständnis in den 90er
Jahren. Schriftenreihe des Zentrums für angewandte Politikforschung. Band 4. Signum Verlag, Wien. 1994. S.
115. – S. 116. 325 Ebda. S. 116. 326 Vgl. ebda. S. 116- 327 Vgl. BRUCKMÜLLER, Die Entwicklung des Österreichbewusstsein. 1998. S. 379 328 Vgl. ebda. S. 384.
79
Diese etablierten Feiertage im Jahr 1946 stellten den Bruch mit der deutschen Großvorstellung
und den Beginn eines österreichzentrierten Bewusstseins dar.329 Obwohl man den Begriff
‚Nation‘ in Verbindung mit Österreich noch vorsichtig verwendete, so wurde jedoch aktiv eine
Stärkung des österreichischen Wir-Gefühls forciert.
In Filmen und Publikationen der Nachkriegszeit konzentrierte man sich auf die Erschaffung
eines mystischen Österreichbildes. Im Film Sturmjahre. Der Leidensweg Österreichs (A 1947),
wird ein Wunsch-Österreich durch eine Vermischung aus Faktendokumentation und Fiktion
idealisiert dargestellt. Der Film bedient sich dabei zahlreicher Österreichklischees und stellt die
Geschichte Österreichs solcherart dar, dass den Zuseher*innen eine positive Bewertung der
Ereignisabfolge suggeriert wird: Österreich als erstes Opfer von Hitlerdeutschland, welches
patriotischen Widerstand leistet und für die Freiheit kämpft. Als der Krieg zu Ende ist, arbeitet
die junge Nachfolgegeneration entschlossen am „Wiederaufbau“. Als die österreichische
Gesellschaft ab den 1950er Jahren einen Rückzug ins Private vollzog, wurde sie dabei von einer
ganzen Welle an Musikfilmen und Operetten über mystische Traumwelten, erfolgreiche
Liebesgeschichten, Wein und Walzerklängen begleitet.330 Man denke hierbei an die
international erfolgreiche Sissi-Filmreihe, die Naturkulissen und ein habsburgerisches
Österreich in Szene setzen.
Kinder- und Jugendfilme wurden in der unmittelbaren Nachkriegszeit kaum produziert. Die
Demokratisierung und Stärkung eines österreichischen „Wir-Gefühls“ der jungen Generation
passierte überwiegend über gedruckte Medien. Ein Schwerpunkt der „Erziehung zu Österreich“
der österreichischen Jugend war dabei das „Fernhalten“ der Jugendlichen von Belasteten
beziehungsweise jeglichen Gedankengutes, das fernab von einer demokratischen
österreichischen Geisteshaltung war. Die junge Generation sollte zu ‚gutem Leben‘,
Gemeinschaftssinn und Humanismus erzogen werden. Die literarischen Werke kreierten
zahlreiche Vorbildcharaktere, die diese Werte verkörperten und gleichzeitig von den Kindern
und Jugendlichen als nachahmenswert erachtet werden sollten. Auch alte
Unterhaltungsliteratur, die moralische Werte vermittelte, wie die Märchen von den Gebrüdern
Grimm, wurden neu aufgelegt. Um den „Wiederaufbaugedanken“ und das Bewusstsein um die
Bedeutung einer geeinten österreichischen Gemeinschaft zu stärken, wurden Sachbücher und
Erzählungen veröffentlicht, die die Motive der aktuellen Zeitgeschichte aufgriffen und zu
schicksalhaften Schlüsselgeschehnissen stilisierten. Hier ist etwa das Werk Die Männer von
Kaprun von Othmar Franz aus dem Jahr 1955 zu nennen. Mit diesen literarischen Werken sollte
329 Vgl. BRUCKMÜLLER, Die Entwicklung des Österreichbewusstsein. 1998. S. 379. 330 Vgl. BLASCHITZ, Zwischen re-orientation und „Kampf gegen Schmutz und Schund“ 2008. S. 173.
80
ein österreichisches Gemeinschaftsgefühl und ein „Gemeinsam schaffen wir alles!“-Gedanke
kultiviert werden. Ein weiteres stringentes Leitmotiv der Kinder- und Jungendliteratur in der
Nachkriegszeit stellte die Verherrlichung des schönen Landes Österreich dar. In Werken, wie
Wie der liebe Gott Oesterreich erschaffen hat von Marga Frank, wird ein von Gott erschaffenes
paradiesisches Österreich beschrieben. Ähnlich der Schöpfungsgeschichte schenkte Gott im
Werk von Frank einem zuvor leeren öden Land, Berge, Flüsse, Täler, Kulturstätten,
Industrieanlagen und Vergnügungsstätten. In der letzten Darstellung des Buches ist ein
vollendendes glückliches Österreich zu sehen: Im Hintergrund das paradiesisch dargestellte
Land und im Vordergrund ein dirigierender Johann Strauss vor tanzenden Pärchen. Bei den
Zeitschriften, die für Kinder- und Jugendlichen publiziert wurde, setzte man auf Unterhaltung,
die frei von jeglicher Politik war. Themen, wie der Nationalsozialismus oder der Holocaust, die
zu einer Aufarbeitung der jüngsten Vergangenheit Österreichs geführt hätten, wurde in der
Kinder- und Jugendliteratur der Nachkriegszeit ausgespart. Das Hauptziel der Zeitschriften und
Bücher war, pädagogisch auf die jungen Leser*innen einzuwirken, sie zu erfreuen und ihnen
ein „gutes Leben“ basierend auf demokratischen Grundwerten zu lehren.331
331 Vgl. BLASCHITZ, Zwischen re-orientation und „Kampf gegen Schmutz und Schund“ 2008. S. 173. S. 174.
81
5 Das Wendejahr 1955 „Annus mirabilis“: Staatsvertrag, Neutralität und
Freiheit
Die Entnazifizierung und ihre Umsetzung nahm bei den Verhandlungen um den Staatsvertrag
eine bedeutende Rolle ein. Sie wurde von den alliierten Mächten zur Bedingung für den
Staatsvertrag und den Abzug ihrer Truppen gemacht, was Österreich den Rückgewinn seiner
Souveränität ermöglichte. Doch wie bereits im Kapitel 4.4 dargestellt, gab es neben der
Entnazifizierung und der Wiederherstellung eines demokratischen Österreichs einen weiteren
sehr gewichtigen Faktor für die Verhandlungen um den Staatvertrag, und zwar die
zunehmenden Spannungen zwischen den Ost- und Westmächten. Österreich musste sich
zwischen den beiden Mächten behaupten und dabei sein Streben nach Unabhängigkeit
durchsetzen. Um dieses Ziel zu verwirklichen, folgte es dem Modell der Schweiz und setze bei
den Verhandlungen auf den Status der Neutralität, um so frei von jeglichem Einfluss einer
äußeren Macht zu werden. Der Kampf um den Staatsvertrag allein stellt einen wichtigen Faktor
dar, auf dem wiederum nationale Symbole sowie Erinnerungsorte – wie Feier- und Gedenktage,
das Belvedere – fußen, die bedeutend für das Österreichische Nationalbewusstsein und Wir-
Gefühl sind.
5.1 Staatsvertrag
Wie zuvor bei den Verhandlungen um die Entnazifizierungs- und Amnestiegesetze hatte die
Sowjetunion auch bei den Staatsvertragsverhandlungen einen gewichtigen Einfluss auf deren
Erfolg. Im Jahr 1947 waren die alliierten Mächte und die Vertreter der österreichischen
Bundesregierung einer Einigung schon sehr nahe gekommen, sodass bereits eine erste Fassung
des Staatsvertrages ausgearbeitet werden konnte. Die Verhandlungen gerieten ins Stocken, da
das Misstrauen zwischen Ost- und Westmächten immer stärker wurde und beide Seiten
versuchten, für sich die bestmöglichen Voraussetzungen für einen möglicherweise
bevorstehenden Krieg zu schaffen. Dabei ging es nicht nur um die Frage Österreichs, sondern
auch um die Verteilung von Land und Ressourcen sowie um Bündnisse, die im Falle eines
Krieges zwischen Ost- und Westmächten, eine entscheidende Rolle spielen konnten. Mit der
Etablierung der NATO als präventives Bündnis der Westmächte gegen mögliche
Aggressionsbestrebungen des Ostblocks erhärteten sich die Fronten noch mehr.332Die
Verhandlungen zogen sich durch die russische Haltung bezüglich der Lösung der ‚deutschen
Frage‘, welche von der Sowjetunion der österreichischen Frage übergeordnet wurde, in die
Länge und erweckte zunächst den Anschein, dass keine baldige Einigung mit den westlichen
332 Vgl. STOURZH, Geschichte des Staatsvertrages. 1985. S. 128. – S. 129.
82
Alliierten erzielt werden könne.333 Der Wandel der sowjetischen Haltung am 8. Februar 1955
kam daher umso überraschender und brachte die entscheidende Wende in die stockenden
Staatsvertragsverhandlungen. Als Hintergrund für den Haltungswechsel der Sowjetunion nennt
Stourzh den Wechsel der Ministerpräsidentenposition. Bulganin übernahm das Amt von
Malenkow, wodurch der Einfluss von Nikita Chruschtschow, dem ersten Sekretär der KPdSU,
gestärkt wurde. 334 Am selben Tag trug der Außenminister Molotow vor dem obersten Sowjet
der UdSSR, dem höchsten Legislativorgan der Sowjetunion, eine Rede, in der er verkündete,
dass die Sowjetregierung gegen einen weiteren Aufschub des Staatsvertrages mit Österreich
sei, vor. Zugleich warnte er vor der im Pariser Abkommen geplanten Remilitarisierung
Westdeutschlands und der damit verbundenen potenziellen Gefahr für Österreich. Durch die
möglichen Folgen des Pariser Abkommens gelangte die Sowjetunion zu drei Folgerungen, die
für den erfolgreichen Abschluss des österreichischen Staatsvertrages von großer Bedeutung
waren. Die drei Folgerung beinhalteten zusammengefasst die erneute Hervorhebung der
deutschen Frage und deren untrennbaren Zusammenhang mit der österreichischen Frage. Die
Sowjetunion befürchtete durch die Möglichkeit der Remilitarisierung Westdeutschlands die
Gefahr eines erneuten Anschlusses beziehungsweise eine erneute Einverleibung Österreichs
durch Deutschland. Nur wenn die Möglichkeit eines erneuten Anschlusses nicht mehr im Raum
stünde, könnten alle vier Besatzungsmächte ihre Truppen, noch vor einem abgeschlossenen
Friedensvertrag mit Deutschland, aus Österreich abziehen lassen. Des Weiteren müsse
Österreich sich dazu verpflichten, keine Militärbündnisse einzugehen, welches sich gegen ein
Land, das im Kampf gegen Hitler-Deutschland und der Befreiung Österreichs einen Beitrag
geleistet hatte, richten könnte. Ebenso müsse es sich dazu verpflichten, der Errichtung von
Militärbasen fremder Mächte auf seinem Territorium zu untersagen. Diese Bestimmungen
müssten überdies von jeder Regierung der Alliierten Mächte verpflichtend eingehalten
werden.335 Der entscheidende Unterschied zur Haltung der Sowjetunion bei der Berliner
Konferenz 1954 war, dass sie nun einräumte, einem Abzug der alliierten Truppen auch vor
einem abgeschlossenen Friedensvertrag mit Deutschland zuzustimmen. Jedoch forderte die
Sowjetunion eine Lösung, die einen möglichen erneuten Anschluss Österreichs an Deutschland
nicht zulassen würde, wie zum Beispiel Vereinbarungen aller alliierten Mächte bezüglich der
deutschen Frage. Die sowjetische Bereitschaft für einen Kurswechsel in den
333 Vgl. STOURZH, Geschichte des Staatsvertrages. 1985. S. 128. – S. 129. 334 Vgl. ebda. S. 131 335 Vgl. Text der Österreich-Erklärung Molotows vom 8. Februar. IN: Österreichishce Zeitung, 10. Februar 1955,
2; sowie in: Mitteilung des Außenministeriums der UdSSR über die österreichische Frage, in Prawada, 12. März
1955, deutsch IN: WZ, 13. März 1955, 1, sowie IN: DÖA, Nr. 154. IN: STOURZH Gerald, Geschichte des
Staatsvertrages. 1985. S. 131. – S. 132.
83
Staatvertragsverhandlungen war von strategischer Natur und hatte das Ziel, den Abschluss der
Pariser Verträge, welche einen Eintritt Westdeutschlands in die NATO ermöglichen würde, zu
verzögern. Die Verhandlungen um die Pariser Verträge waren jedoch zu weit vorangeschritten
und somit war diese Bemühung der Sowjetunion letztlich ohne Wirkung. Jedoch wichen sie
von ihrem neu eingeschlagenen Weg bezüglich der österreichischen Frage auch nicht mehr ab.
Die österreichische Regierung reagierte rasch auf die Anpassung der sowjetischen
Bedingungen.336 In einer Rede von Raab wird die Bereitschaft und die zustimmende
Kenntnisnahme der sowjetischen Forderungen deutlich. Es wurden lediglich
Konkretisierungswünsche zu den sowjetischen Forderungen betreffend des Verbotes von
Militärbündnissen und Militärbasen gestellt. Bezüglich der Möglichkeit eines erneuten
Anschlusses wies Raab auf die bereits in der Moskauer Deklaration versprochene Freiheit und
Unabhängigkeit hin. In einem Antwortschreiben an die Sowjetunion wurde vermerkt, dass
Österreich jede Garantie zur Wahrung seiner Unabhängigkeit begrüßt. Darüber hinaus enthielt
dieses Schreiben zugleich einen Vorschlag, wie eine Wahrung der österreichischen
Unabhängigkeit festgemacht werden könnte:337 „Am zweckmäßigsten wäre wohl eine Garantie
der vier Großmächte, die die Unverletzlichkeit des österreichischem Staatsgebiets nach allen
Seiten hin automatisch zu sichern hätte. [Hervorgehoben im Original]“338
Die Westmächte waren mit den Vorschlägen Raabs einverstanden und schlugen vor, das von
der Sowjetunion zuvor an die österreichische Regierung unterbreitete Angebot eines Treffens
in Moskau zu arrangieren und anzunehmen, um Klarheit über die neue sowjetischen Haltung
gewinnen zu können.339 Das Vorgehen der österreichischen Regierung beziehungsweise die
Rücksprache mit den Westmächten verdeutlichen, dass sich Österreich zu diesem Zeitpunkt
bereits eher an den Westmächten orientierte.
Bei den Verhandlungen in Moskau sollte sich schließlich herausstellen, dass die Sowjetunion
nicht etwa auf eine besondere Garantieabgabe bestanden hatte, sondern dass ihr die Neutralität
als Garantie für Österreichs Unabhängigkeit genüge und ganz ihrem Interesse und Plan zur
Wahrung der Sicherheit entsprach. Die Problematik, die mit dem Begriff der Neutralität selbst
einherging, sprich dessen Auslegung und Bedeutung für Österreich, stellte nun den letzten
Schlüsselfaktor der Staatsvertragsverhandlungen dar.340 Es musste ein Neutralitätsbegriff für
Österreich gefunden werden, der von den Westmächten, der Sowjetunion und den beiden
336 Vgl. STOURZH, Geschichte des Staatsvertrages. 1985. S. 132. 337 Vgl. Rundfunkansprache Raabs. Zitiert nach STOURZH Gerald, Geschichte des Staatsvertrages. 1985. S.
134. – S. 135. 338 Ebda. 339 Vgl. STOURZH, Geschichte des Staatsvertrages. 1985. S. 139. – S. 140. 340 Vgl. ebda. S.144. – S. 145.
84
regierenden Parteien Österreichs gleichermaßen akzeptiert werden würde. Die Findung eines
solches Neutralitätsbegriffes wurde zum Hauptgegenstand und zugleich zur Grundbedingung
für die weiteren Staatsvertragsverhandlungen. Erst mit einer Einigung über die Neutralität
Österreichs könnten weitere Punkte, wie etwa das deutsche Eigentum und der Abzug der
alliierten Truppen aus Österreich, verhandelt werden. Dies wurde vor allem von der
Sowjetunion vorausgesetzt. Neben dem Haltungswechsel und dem Vorschlag der Neutralität
als Garantie für die Unabhängigkeit Österreichs, war die Sowjetunion überdies auch bereit,
hinsichtlich der Frage des deutschen Eigentums, des Truppenabzugs sowie der Entlassung von
österreichischen gefangenen Soldaten, Schritte zu Gunsten Österreichs zu setzen.341 Somit
stellte der Wandel der sowjetischen Haltung, der sich durch Kompromissbereitschaft und der
Entkopplung der Lösung der Deutschen Frage mit der der Österreichfrage zusammenfassen
lässt, die Grundlage für das erfolgreiche Abschließen des Staatsvertrages dar. Die Westmächte
waren bereit, die Verhandlung auf Basis der Forderungen der Sowjetunion
wiederaufzunehmen, und das obwohl die führenden Generäle der Westmächte den Wegfall der
militärisch wichtigen Nord-Süd Verbindung zwischen den beiden NATO-Mitgliedern
Westdeutschland und Italien, durch die Neutralität Österreichs und deren von der Sowjetunion
geforderten Bedingungen, kritisierten. Der österreichische Botschafter in Washington, Karl
Gruber, meldete, dass sich die USA es sich nicht leisten könnte, „eine wirkliche und praktische
Lösung aus militärischen Gründen im Gegensatz zur Ansicht der Bundesregierung einfach
zurückzuweisen.“342 Außerdem wollten die Westmächte nicht die Rolle des Nein-Sagers
einnehmen, falls die Sowjetunion wirklich zu Konzessionen bereit wäre. Eine dieser
Konzessionen betraf neben der Neutralität die Frage des „deutschen Eigentums“. Dieses setzte
sich folgendermaßen zusammen: Erstens aus dem Grundbesitz in Österreich, der vor dem
Anschluss 1939 in Besitz von deutschen Bürger*innen war; zweitens aus jenem Besitz, der
nach dem Anschluss durch Deutsche nach Österreich kam, sowie sämtliche Industrieanlagen,
die durch deutsches Kapital nach 1939 entstanden waren; drittens durch sämtlichen Besitz der
durch eine*n deutsche*n Staatsbürger*in nach dem Anschluss käuflich erworben wurde, wenn
der Preis dem wirklichen Wert des Gegenstandes entsprach und nicht etwa durch Zwang zum
Verkauf erreicht wurde. Die Sowjetunion übernahm dadurch viele Betriebe, inbesondere jene
der Erdölindustrie und gliederte sie in die sogenannten USIA Betriebe ein.343 Für die USIA
Betriebe forderte die Sowjetunion von Österreich eine Ablösesumme von 150 Millionen Dollar.
341 Vgl. STOURZH, Geschichte des Staatsvertrages. 1985. S.144. – S. 145. 342 Stellungnahme der Westmächte vom 5. April IN: DÖA, NR. 160. Mündlicher Bericht Grubers am 28. März
1955: HHStA. BMAA, Zl. 320.920-Pol/55, K. 40/1955. IN: STOURZH Gerald, Geschichte des Staatsvertrages.
1985. S. 140. 343 Vgl. VOCELKA, Geschichte Österreichs. 2009. S. 324.
85
Diese Summe war bereits bei der Konferenz in Berlin im Jahr 1954 von den Sowjets festgelegt
worden. Von dieser Summe wich die Sowjetunion zwar auch ein Jahr später nicht ab, allerdings
war sie jetzt zumindest dazu bereit, die Abgaben der Waren zu beschränken. Darüber hinaus
forderte die Sowjetunion, dass die USIA Betriebe nicht in die Gewalt der Westmächte fallen
dürften. Dies wurde später im Staatsvertrag im Übertragungsverbot verankert. Molotow
versicherte der österreichischen Delegation während der Verhandlungen in Moskau immer
wieder, dass sie nicht umsonst nach Moskau gekommen waren. Er sollte recht behalten, denn
die Verhandlung in Moskau und die genaue Ausarbeitung der beschriebenen Punkte war
erfolgreich und markierten somit den abschließenden Meilenstein der
Staatsvertragsverhandlungen.344 Im Moskauer Memorandum verpflichtete sich Österreich einer
immerwährenden Neutralität nach Schweizer Vorbild. Die alliierten Mächte gaben im
Gegenzug die Garantie, die Unversehrtheit und Unverletzlichkeit des österreichischen
Staatsgebietes zu wahren.345
Einen Tag bevor der Staatsvertrag feierlich am 15. Mai 1955 im Schloss Belvedere
unterzeichnet wurde, wurde noch der Absatz über das Mitverschulden Österreichs am Zweiten
Weltkrieg aus dem Vertrag gestrichen. Die Außenminister Molotow, Dulles, Macmillan, Pinay
und Bundeskanzler Leopold Figl unterzeichneten den Vertrag stellvertretend für die alliierten
Mächte und Österreich. Der Staatsvertrag, bestehend aus einer Präambel und insgesamt neun
Teilen, beinhaltete die folgenden Punkte:346
Die Wiederherstellung Österreichs als souveräner, unabhängiger und demokratischer Staat wird
von den alliierten und den assoziierten Mächten anerkannt. Dies beinhaltet das Verbot eines
wirtschaftlichen und politischen Anschlusses Österreich an Deutschland. Als Grenzen des
Landes gelten jene vor 1938. Jegliche nationalsozialistische und faschistische Organisationen
sind verboten und auch jede Form der Wiederbetätigung in solcher Natur wird unter Strafe
gestellt. Im Artikel 7 werden im Speziellen Rechte für die slowenischen und kroatischen
Minderheiten in Österreich festgelegt. In diesen werden etwa das Recht auf elementaren
Schulunterricht in slowenischer und kroatischer Sprache verankert. Im Artikel 8 wird die
demokratische Staatsform von Österreich betont. Das im Jahr 1919 beschlossene
Habsburgergesetz wurde dabei explizit analog übernommen.347 Im Staatsvertrag sind des
Weiteren auch militärische Richtlinien für Österreich verankert. Diese beinhalten etwa die
344 Vgl. STOURZH, Geschichte des Staatsvertrages. 1985. S. 146 345 Vgl. Moskauer Moramendum zitiert nach STOURZH Gerald, Geschichte des Staatsvertrages. 1985. S. 226. –
S. 227. 346 Vgl. VOCELKA, Geschichte Österreichs. 2009. S. 325. 347 Vgl. Der Österreichische Staatsvertrag. Zitiert nach: STOURZH Gerald, Geschichte des Staatsvertrages.
1985. S. 245. – S. 253.
86
Ausschließung von bestimmten Waffen, wie etwa Atomwaffen oder anderen Waffen, die als
Mittel der Massenzerstörung eingesetzt werden könnten, sowie das Verbot von jeder Art von
selbstgesteuerten Waffen und auch jegliche Arten von chemischen Waffen. Die alliierten
Mächte verpflichteten sich, ihre Truppen aus österreichischem Territorium abzuziehen und jene
Österreicher*innen, die sich noch in Kriegsgefangenschaft befanden, entsprechend der
jeweiligen Vereinbarung freizulassen. Österreich muss jedoch im Gegenzug eine Ablöse für
das deutsche Eigentum an die Sowjetunion entrichten. Diese Ablöse von 150 Millionen Dollar
verpflichtete sich Österreich innerhalb von sechs Jahren gestaffelt an die Sowjetunion zu
übergeben.348 Der Vertrag wurde am 7. Juni 1955 vom Nationalrat ratifiziert. Ebenso wurde
vom Nationalrat am 26. Oktober die immerwährende Neutralität Österreichs als
Bundesverfassungsgesetz beschlossen. Dies wurde zugleich von den alliierten Mächten
anerkannt. Damit war auch die Verpflichtung Österreichs, keine Militärbündnisse einzugehen
sowie keine fremden Militärbasen auf österreichischem Boden zuzulassen und die
Unabhängigkeit mit all seinen Kräfte zu verteidigen, offiziell festgemacht.349 Die Neutralität
war nicht nur bedeutend für den erfolgreichen Abschluss des Staatsvertrages, sie avancierte
überdies zu einem der bedeutendsten Identitätsmerkmale der Österreicher*innen in den Jahren
nach dem Staatsvertrag und hat in diesem Sinn über Generationen bis heute noch eine große
Bedeutung. Die Neutralität stellte einerseits die Bedingung für die Konstitution eines
unabhängigen und souveränen österreichischen Kleinstaates und dessen Neupositionierung in
der Welt dar. Andererseits ist die Neutralität für das österreichische Nationalbewusstsein von
enormer Wichtigkeit, worauf im folgenden Kapitel eingegangen werden soll.
5.2 Neutralität
Die im Staatsvertrag festgelegte Neutralität Österreichs hatte – wie im vorangegangenen
Kapitel bereits ausgeführt – nicht nur einen enormen Einfluss auf den Verhandlungsverlauf des
Staatsvertrags, sondern auch auf die Neupositionierung der österreichischen Nation im
politischen Weltgeschehen. Die Etablierung der Idee eines neutralen Österreichs als Lösung für
den zukünftigen Status der jungen Nation ist jedoch nicht ohne Hindernisse verlaufen. Die
österreichischen Parteien und die West- und Ostmächte vertraten in der Anfangsphase
unterschiedliche Auffassungen bei der Entstehung eines für Österreich zugeschnittenen
Neutralitätsbegriffes.
348 Vgl. Der Österreichische Staatsvertrag. Zitiert nach: STOURZH Gerald, Geschichte des Staatsvertrages.
1985. S. 254.- S. 270. 349 Vgl. VOCELKA, Geschichte Österreichs. 2009. S. 325.
87
Stourzh hebt etwa hervor, dass die Idee der Neutralität Österreichs in der politischen Diskussion
durchaus bereits vor dem Anschluss 1939 immer wieder aufgeflammt, aber durch den
Anschluss zumindest im Inneren Österreichs vollkommen untergegangen sei. Jedoch gab es
noch vor dem Kriegsende des Zweiten Weltkrieges internationale Stimmen, die die Zukunft
Österreichs als neutralen Staat und als Brücke zwischen dem Westen und Osten sahen.
Innenpolitisch nahm die Debatte um den Neutralitätsgedanken in den ersten Nachkriegsjahren
einen beachtlichen Raum ein. Diese wurden angesichts der wachsenden West- und
Ostspannungen immer bedeutender für Österreich, da die Idee der Neutralität für Österreich
eine Lösung war, die man gegen eine Vereinnahmung durch die jeweiligen West- oder
Ostmächte nutzen konnte. Als Vorlage für Österreich wurde von internationalen
Persönlichkeiten wie Julius Deutsch, David Ginsburg, einem ranghohen Mitglied der
amerikanischen Delegation der Vertragskommission, und dem französischen General
Béthouarts, sowie von bedeutenden österreichischen Persönlichkeiten wie Karl Renner,
Theodor Körner, Julius Raab, Alfred Missong und Karl Gruber, die Neutralität nach dem
Modell der Schweiz geprägt und befürwortet.350 Eine Neutralität nach Schweizer Modell stellte
auch die Basis für weitere Verhandlungen um den Staatsvertrag dar, die sowohl für Österreich
als auch für die alliierten Besatzungsmächte akzeptabel war. Denn der einzig wirkliche
gemeinsame Nenner eines Neutralitätsbegriffes für Österreich lag in der präventiven
Verhinderung von militärischen Blockbildungen. Ein spannender Aspekt der
Neutralitätsdebatte in der Nachkriegszeit stellt die unterschiedliche Haltung der
Regierungsparteien SPÖ und ÖVP zum Begriff der ‚Neutralität‘ dar. Die Mehrheit der SPÖ
war lange Zeit gegen die Verwendung des Neutralitätsbegriffs und gegen eine neutrale Haltung
Österreichs. Sie verband mit diesen Begriffen ein Nachgeben gegenüber der Sowjetpolitik. Bis
auf wenige Ausnahmen wurde das Wort Neutralität von den Sozialdemokraten bis 1955 aus
dem eigenen ‚Parteiwortschatz‘ gestrichen.351 Im Gegensatz dazu scheute die ÖVP nicht davor
zurück, den Begriff – wenn auch mit besonderem Bedacht – zu verwenden. Diese
unterschiedlichen Grundeinstellungen der beiden Parteien zum Neutralitätsbegriff blieben bis
zur Staatsvertragsunterzeichnung aufrecht. Beide Parteien waren sich jedoch in der an der
Neutralität gebundenen Untersagung, ein Militärbündnis einzugehen, einig. So hatte sich die
österreichische Regierung im Jahr 1952, als der Kalte Krieg bereits fortgeschritten war,
geschlossen zur Neutralität bekannt, um durch sie eine mögliche Spaltung des Landes
abwenden zu können.352 Die Regierung betrachtete die Neutralität nicht nur als eine von den
350 Vgl. STOURZH, Geschichte des Staatsvertrages. 1985. S. 101.- S. 103. 351 Vgl. ebda. S. 106. 352 Vgl. ebda. S. 108. – S. 111.
88
alliierten Mächten geforderte Bedingung für den Staatsvertrag, sondern sah in ihr auch den
Schlüssel zur Unabhängigkeit und Neupositionierung Österreichs als Kleinstaat. Die Neutralität
symbolisierte die endgültige Abkehr vom Großraumgedanken. Sie sollte die neue Rolle
Österreichs als vermittelnden, unabhängigen Kleinstaat ermöglichen. Gleichzeitig sollte sie
auch dessen Souveränität und die Unverletzlichkeit seiner Gebiete schützen und Österreich
davor bewahren, eine Schachfigur im Kampf zwischen Ost- und Westmächten zu werden.
Dies lässt sich bei näherer Betrachtung und Analyse anhand der Haltung der regierenden
Parteien zur Neutralität im Jahr 1955 gut erkennen. Der Regierung war es wichtig, dass die
Neutralität von Österreich selbst und nicht etwa durch einen Vertrag, wie dem Staatsvertrag
oder einem anderen Vertrag mit einer fremden Macht, erklärt werden sollte. Aus diesem Grund
war es ein politisch wichtiger Schritt, zuerst den Staatsvertrag erfolgreich abzuschließen, um
dann als freier und souveräner Staat die Neutralität selbst erklären zu können. Um dieser
Entscheidung weiteren Nachdruck zu verleihen, sollte die Neutralität nicht nur von der
Regierung alleine beschlossen werden, sondern auch vom Parlament. Der Volksvertretung
sollte die endgültige Entscheidung obliegen. Dieser Schritt wurde bereits im Moskauer
Memorandum festgehalten und seitdem von der österreichischen Regierung geplant.353 Die
offizielle Erklärung der Neutralität Österreichs erfolgte nicht mit dem Abzug des letzten
fremden Soldaten, sondern einen Tag nach Ablauf der Räumungsfrist. An diesem Tag, dem 26.
Oktober 1955, an dem die Freiheit Österreichs wiederhegestellt war, wurde das
Bundesverfassungsgesetz über die Neutralität vom Nationalrat beschlossen. Als im November
1955 über 60 Staaten, die immerwährende Neutralität Österreichs laut
Bundesverfassungsgesetz anerkannten, wurde Österreich am 14. Oktober als Mitglied in die
Vereinten Nationen aufgenommen. Österreichs Beitritt zu den Vereinten Nation markiert
zugleich den Unterschied zwischen der Neutralitätspolitik Österreichs und jener der Schweiz,
welche den Vereinten Nationen nicht angehört. Österreich führt bis heute noch eine aktive
Neutralitätspolitik. 354 Hinter dem Beitritt zu den Vereinten Nation stand die Intention, durch
eine Mitgliedschaft einen zusätzlichen Sicherheits- und Schutzfaktor für Österreich zu
generieren. Neben dem Eintritt in die UN trat Österreich im Jahr 1956 auch dem Europarat bei
und unterschrieb ein Jahr darauf die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte.
Im Jahr 1960 beteiligte sich Österreich an einer UN-Aktion im Kongo und schickte einen
Friedens-Korp. Auch in Zypern und auf den Golan-Höhen waren österreichische Truppen
stationiert.355 Österreich ist darüber hinaus ein Gründungsmitglied der OEEC (jetzt OECD,
353 Vgl. STOURZH, Geschichte des Staatsvertrages. S. 162. – S. 163. 354 Vgl. ebda. S. 171. – S. 172. 355 Vgl. VOCELKA, Geschichte Österreichs. 2009. S. 327. – S.328.
89
Organisation for Economic Cooperation and Development). Wien wurde in den Jahren nach
1955 zum Sitz zahlreicher internationaler Organisationen, wie etwa der IAEO (Internationale
Atomenergie Organisation) und der OPEC (Organization of Petroleum Exporting Countries).
Überdies wurde Wien neben New York und Genf die dritte UNO-Stadt der Welt. Viele
bedeutende internationale Treffen und Kongresse fanden seitdem in Wien statt. Eines der
berühmtesten Treffen war jenes zwischen Kennedy und Chruschtow im Jahr 1961. Der neutrale
Status Österreichs und das Anschlussverbot hatte jedoch die Folge, dass Österreich nicht zur
Gänze mit der Europäischen Wirtschaftsgemeinde (EWG, später EG), einer der drei Säulen der
Europäischen Union, welche unter anderem von der Bundesrepublik Deutschland gegründet
wurde, zusammenarbeiten konnte. Aus diesem Grund schloss sich Österreich der EFTA
(European Trade Association) an. Deren Mitglieder waren Schweden, Dänemark, Norwegen,
Großbritannien, die Schweiz und Portugal. Der durch die Neutralität erfolgreich
abgeschlossene Staatsvertrag Österreichs stellte außerdem für die damalige politische Situation
in Europa eine Besonderheit dar. Zum ersten Mal seit 1945 kam es vor, dass sich die
Sowjetunion aus einem zuvor von ihr besetztem Land wieder zurückgezogen hatte. Österreich
ist somit auch in diesem Zusammenhang ein Sonderfall. Einerseits lebte man in Österreich ganz
klar westlich orientiert, in einem westlichen politischen System; anderseits hob man stets die
guten alten Beziehungen zu jenen angrenzenden Länder, die dem Warschauer Pakt angehörten,
hervor. So wurde Österreich durch die Neutralität zu einem in Europa gut integrierten
Kleinstaat, welcher die Rolle als neutrale Friedenszone und Brücke zwischen Ost und West
einnahm.356 Dies spiegelt sich auch im Rollenverständnis der Österreicher*innen in den 1980er
Jahren wider. Bei Befragungen wurde von der Mehrheit der Österreicher*innen vor allem die
Rolle Österreichs als neutrale friedliche Zone und als Vermittlernation zwischen Ost- und
Westmächten hervorgehoben. Dabei ist zu beobachten, dass seit den 1970er Jahren ein Trend
zur steigenden Bedeutung der Rolle als ,neutrale Friedenszone zwischen den Mächten‘ zu
erkennen ist. Etwa die Hälfte der Befragten gab an, dass Österreich auch die Rolle eines
Bewahrers eines kulturellen Erbes inne hat. Ein spannendes Ergebnis dieser Studie ist, dass sich
bei rund einem Viertel der österreichischen Bevölkerung ein ‚Inselbewusstsein‘ feststellen
lässt. Dieses Inselbewusstsein ist durch die Haltung, dass sich Österreich nur für die
Österreicher*innen einsetzen sollte, charakterisiert.357 Diese Haltung resultierte aus einer
356 Vgl. VOCELKA, Geschichte Österreichs. 2009. S. 327. – S.328. 357 Vgl. GEHMACHER Ernst, PAUL LAZARSFELD – GESELLSCHAFT Paul Lazarsfeld-Gesellschaft für
Sozialforschung (Hrsg.). Das österreichische Nationalbewusstsein in der öffentlichen Meinung und im Urteil der
Experten. Eine Studie der Paul Lazarsfeld Gesellschaft für Sozialforschung. Paul Lazarsfeld Gesellschaft für
Sozialforschung, Wien. 1982. S. 17 – S. 18.
90
verstärkten, engen Auslegung der Neutralität Österreichs und geht parallel mit dem Wunsch
des ,Sich-Raushaltens‘ aus internationalen Angelegenheiten einher.358
Interessant ist auch, wie sich diese zwei Auffassungen von der Neutralität Österreichs und ihrer
Bedeutung als identitätsstiftende Merkmale in den Jahren nach 1980 bis in die Gegenwart
entwickelt hat. Das Rollenverständnis, welches das neutrale Österreich im Sinne des
Staatsvertrages als Brücke zwischen Ost und West und als Vermittler sah, verlor ab 1980 immer
mehr an Bedeutung und wurde schrittweise durch ein Inselbewusstsein abgelöst.
Der Begriff ,Neutralität‘ wurde zu einem Synonym für das Österreich um 1990 und stand für
eine selbstbezogene, enggefasste Sichtweise.359
Vor 1980 waren noch 46% der befragten Österreicher*innen der Ansicht, dass die Neutralität,
so wie sie im Rahmen des Staatsvertrages beschlossen wurde, nur Vorteile für Österreich bringe
und etwa 48% sahen Vor- und Nachteile in der Neutralität. Darüber hinaus war die Mehrheit
der Personen der Neutralität gegenüber positiv gestimmt und sah in ihr eine Möglichkeit zur
Aufwertung der Selbstständigkeit der Staaten. Nur rund 12% vertraten eine eher negative
Haltung zur Neutralität Österreichs und wiesen darauf hin, dass der Staat durch die Neutralität
in völlige Isolation geriete. Diese Haltung wurde überwiegend von älteren Personen aus sozial
schwächeren Schichten vertreten.360 In den folgenden zwei Jahrzehenten wandelte sich diese
zuvor offene Einstellung der Österreicher*innen zu einem erstarkenden Befürworten der
Neutralität im Sinne der Isolation und einem ,Sich-Raushalten‘ aus außenpolitischen
Geschehnissen. Auch die Bereitschaft, die Neutralität zu verteidigen, welche auch im
Neutralitätsgesetz vom 26. Oktober 1955 verlautbart ist, war laut den Studien von der
Lazarsfeld Gesellschaft 1980 noch stärker vorhanden als in den 1990er Jahren. Diese
Entwicklung sei aber auch durch das mangelnde Wissen über den Inhalt des
Neutralitätsgesetzes selbst zu erklären.361
Diese Auffassungen der Neutralität – einmal eine offene, vermittelnde und einmal eine
zunehmend stärker werdende, selbstorientierte, enge – stehen im Kontrast zueinander und
zeigen den Haltungswechsel der österreichischen Bevölkerung zur Neutralität auf. Zugleich
358 Vgl. GEHMACHER, PAUL LAZARSFELD – GESELLSCHAFT Paul Lazarsfeld-Gesellschaft für
Sozialforschung (Hrsg.). Das österreichische Nationalbewusstsein in der öffentlichen Meinung und im Urteil der
Experten. 1982. S. 17. – S. 18. 359 Vgl. ECKER Alois / SPERL Alexander (Hrsg.), Österreichbilder von Jugendlichen. Zum Einfluss
audiovisueller Medien. New academic press, Wien. 2018. S. 15. 360 Vgl. GEHMACHER, PAUL LAZARSFELD – GESELLSCHAFT Paul Lazarsfeld-Gesellschaft für
Sozialforschung (Hrsg.). Das österreichische Nationalbewusstsein in der öffentlichen Meinung und im Urteil der
Experten. 1982. S. 19 – S. 21. 361 Vgl. ebda. ECKER / SPERL (Hrsg.), Österreichbilder von Jugendlichen. 2018. S. 15.
91
geht mit diesem Haltungswechsel ein Schwinden der Bedeutung der Neutralität für das
österreichische Nationalbewusstsein einher.
Ecker stellt in diesem Zusammenhang folgende These zum Neutralitätsmythos auf: Die
Neutralität wurde durch die Mythologisierung um die Jahrtausendwende zur origo gentis der
österreichischen Bevölkerung der Zweiten Republik. Dies werde deutlich, wenn man die
Neutralität mit anderen Merkmalen und Charakteristika des Österreichbewusstseins dieser
Zeitspanne (Ecker nennt hier zum Beispiel das ausgeprägte österreichische Selbstbewusstsein,
die Selbstbezogenheit und das geringe Interesse am außenpolitischen Geschehen) in Beziehung
stellt und vergleicht.362 Diese These wird zum Teil auch durch die Ergebnisse der Lazarsfeld
Studie bekräftigt. Diese ergaben bereits im Jahr 1982, dass die Mehrheit der befragten
Österreicher*innen kein sehr ausgeprägtes Bewusstsein für die internationalen Bündnisse
Österreichs hat, wenngleich diese die aktive österreichische Neutralitätspolitik repräsentieren,
die durch die Neutralität und den Staatsvertrag Österreichs ermöglicht worden waren. Vielmehr
deuten die Ergebnisse der Studie auf ein Inselbewusstsein und eine ,Österreichzuerst-
Mentalität‘ hin.363
Trotz dieses Widerspruchs stellte das Jahr 1955 für viele Österreicher*innen den Ursprung des
österreichischen Nationalbewusstseins dar, dessen Gallionsfigur und Symbol die Neutralität
wurde. Ihr wurde jedoch ab 1980 neue, teils sehr gegensätzliche Werte zum ursprünglichen
Neutralitätsgedanken zugeschrieben, die auch konträr zu dem zentralen Erfolgsfaktor des
österreichischen Wirtschaftswunders standen, nämlich: die Öffnung der Grenzen.364
Die Neutralität Österreichs scheint ab dem Zeitpunkt ihrer Etablierung an Bedeutung für das
Nationalbewusstsein verloren zu haben. Ob die Neutralität eines Tages für das
Nationalbewusstsein der Österreicher*innen als Merkmal obsolet wird, kann nur schwer
beatwortet werden. Jedoch ist in den Jahren von 1955 bis 1990 ein deutlicher Wandel der
Einstellung der Österreicher*Innen zur Neutralität ersichtlich. Offen bleibt die Frage, ob die
Neutralität heute noch als Identifikationsmerkmal für die Österreicher*innen bedeutend ist und
als Merkmal des österreichischen ‚Wir- Gefühls‘ festgemacht werden kann, oder ob sie bereits
ein Mythos des österreichischen Bewusstsein geworden ist.
Das Jahr 1955 stellte ohne Zweifel einen Wendepunkt in der Entwicklung des österreichischen
Nationalbewusstseins dar. Das Ende der Alliierten Kommission, der Staatsvertrag, der Abzug
der Besatzungsmächte und die damit wiederlangte Freiheit, die Neutralität und die
362 Vgl. ECKER / SPERL (Hrsg.), Österreichbilder von Jugendlichen. 2018. S. 15. 363 Vgl. GEHMACHER, PAUL LAZARSFELD – GESELLSCHAFT Paul Lazarsfeld-Gesellschaft für
Sozialforschung (Hrsg.). Das österreichische Nationalbewusstsein in der öffentlichen Meinung und im Urteil der
Experten. 1982. S. 19 – S. 21. 364 Vgl. ECKER / SPERL (Hrsg.), Österreichbilder von Jugendlichen. 2018. S. 15.
92
Mitgliedschaft bei den Vereinten Nationen, das sind wesentliche Errungenschaften und
Ereignisse, die das Jahr 1955 so bedeutend für Österreich und das österreichische
Nationalbewusstsein machen. Das Jahr 1955 stellte die Weichen für die weitere Entwicklung
des Kleinstaates und stärkte das ,Wir-Gefühl‘ der österreichischen Bevölkerung. Gleichzeitig
kam es zu einer enormen Aufwertung der Österreichs als eigenständige Nation. Ab 1955 gab
es keinen Zweifel mehr, dass es ein österreichisches Nationalbewusstsein gab, welches auf der
dem Staatsvertrag als solide Basis aufbaute und sich über die Jahre festigte.
Welch zentrale Rolle das Staatsvertragsjahr und die unmittelbar darauffolgenden Jahre für das
Österreichbewusstsein einnehmen, wird durch die Ergebnisse der Lazarsfeld-Studie (1982)
unterstrichen: Auf die Frage, in welcher Epoche der österreichischen Geschichte die Personen
„gerne gelebt“ hätten beziehungsweise in welche man „überhaupt nicht gerne gelebt hätte“, war
die klar präferierte Zeit jene nach 1955.365 Auch auf die Frage, wann es der österreichischen
Bevölkerung am besten ergangen sei, antwortete der Großteil der Österreicher*innen, dass die
Blütezeit ab dem Jahr 1955 begonnen hätte. Nur etwa 2% gaben damals an, dass die Zeit vor
1918 die beste Zeit für die Österreicher*innen war. Interessant ist, dass hierbei in der Zeit
zwischen 1970 und 1980 in dieser Hinsicht kein signifikanter Unterschied in der Haltung der
Österreicher*innen auszumachen ist. So vertraten auch laut der Gallup-Untersuchung von 1970
90% der Österreicher*innen die Meinung, dass es Österreich nach dem Abzug der
Besatzungsmächte am besten gegangen sei und lediglich 4% nannten „die gute alte Zeit vor
1918“.366
365 Vgl. GEHMACHER, PAUL LAZARSFELD – GESELLSCHAFT Paul Lazarsfeld-Gesellschaft für
Sozialforschung (Hrsg.). Das österreichische Nationalbewusstsein in der öffentlichen Meinung und im Urteil der
Experten. 1982. S. 14 – S. 15. 366Vgl. ebda. S. 14 – S. 15.
93
6 Das österreichische Nationalbewusstsein nach dem Staatsvertrag.
Die SPÖ und ÖVP hatten sich in der Zweiten Republik in Retrospektive zur Ersten Republik
deutlich entideologisiert. Die SPÖ wurde von der stark marxistisch angelehnten Arbeiterpartei
zu einer Staatspartei und auch die ÖVP fand sich in der Demokratie ein und wandte sich
komplett vom alten Antisemitismus ab.367
Durch das Abrücken der alliierten Besatzungsmächte und die damit einhergehende
schwindende Angst vor den Maßnahmen des Alliierten Rats als kontrollierende Instanz
begannen bereits ab 1948 deutschnationale Tendenzen ruchbar zu werden. Diese Entwicklung
bot neuen und alten deutschnationalen Organisationen, wie schlagenden Burschenschaften und
Turnvereinen die Möglichkeit zur Rückkehr. Besonders sticht hier auch die Haltung der
Kärntner*innen zu den seit 1945 etablierten zweisprachigen Schulen hervor. Nach dem
Staatsvertrag kam es zu Protesten gegen den Artikel 7, der das zweisprachige Schulsystem
vorsah. Nach einem Erlass musste man ausdrücklich angeben, ob man einen zweisprachigen
Unterricht für seine Kinder wollte. Dadurch kam es zu einem Bekenntniszwang, bei dem sich
die Mehrheit gegen einen zweitsprachigen Unterricht bekannte und sich davon abmeldete. Ab
1959 kam es zu Kundgebungen von schlagenden Studentenbewegungen und nicht nur leicht,
sondern auch schwer belastete Nazis wurden freigesprochen, was auf großes Unverständnis der
Opfer des Nationalsozialismus stieß, welche generell von der Haltung und dem Vorgehen der
österreichischen Behörden enttäuscht waren. Es herrschte also eine Unmutsstimmung in
Österreich, die 1960 den Anschein erweckte, Österreich würde kollektiv zu den
deutschnationalen und nationalsozialistischen Werten zurückkehren. Abgesehen von diesen
Geschehnissen konsolidierte sich jedoch seit den 1960er Jahren ein Österreichbewusstsein, das
zunehmend als Nationalbewusstsein eingestuft werden konnte. Diesbezüglich gibt es seit 1956
auch empirische Untersuchungen. Die Ergebnisse dieser Studien legen zwar nahe, dass das
österreichische Nationalbewusstsein selbst nach dem Staatsvertrag zwar noch nicht
mehrheitlich in der Bevölkerung verankert war aber, jedoch zeigen sie eine stetige
Konsolidierung auf. Bei einer Befragung des Fessel-Instituts im Jahr 1956 zum Thema
,Nationalbewußtsein der Österreicher‘ antworteten 49% der Teilnehmer*innen auf die Frage
„Sind Sie persönlich der Meinung, daß wir eine Gruppe des deutschen Volkes sind, oder sind
wir ein eigenes österreichisches Volk?“, dass sie sich als eigenes österreichisches Volk sehen.
46% gaben an, sich dem deutschen Volk zugehörig zu fühlen, die restlichen 5% waren
unentschieden.368 Bei dieser Umfrage zeichnete sich auch ab, dass Frauen ein stärker
367 Vgl. VOCELKA, Geschichte Österreichs. 2009. S. 322. 368 Vgl. BRUCKMÜLLER, Die Entwicklung des Österreichbewusstsein. 1998. S. 385. – S. 387.
94
ausgeprägtes Österreichbewusstsein als die Männer aufwiesen. Einen weiteren
differenzierteren Beitrag zu dieser Fragestellung lieferte eine Befragung des Gallups-Instituts
im Jahr 1966. Die Ergebnisse der Gallup-Umfrage zeigten die Korrelation zwischen
Parteipräferenz und Einstellung zum österreichischen Nationalbewusstsein.369 Hierbei ergab
sich, dass Wähler*innen der SPÖ und ÖVP eher die Meinung vertraten, dass Österreich eine
eigenständige Nation sei, als das Wähler*innen der FPÖ taten. Letztere erkannten zwar den
unabhängigen Staat Österreich an, jedoch waren sie der Ansicht, dass Österreich Teil der
deutschen Nation sei. Wie stark bei den Befragten ein Österreichbewusstsein vorhanden war,
hing vor allem mit dem Alter der Befragten zusammen. Die junge Generation der bis zu
Dreißigjährigen bejahten zu 40%, dass Österreich eine eigene Nation ist. Bei den 31- bis 50-
Jährigen wurde diese Frage nur von 30% bejaht. Bei den über 50-Jährigen waren es wiederum
36%. Außerdem war die Antwort vom Beruf und der Ausbildung der jeweiligen Befragten
abhängig. So ergab die Studie, dass Leute, die eine höhere Schulausbildung hatten, ein stärkeres
deutschnationales Bewusstsein besaßen und meist in einem bürgerlichen Umfeld aufgewachsen
waren. Wichtige Erkenntnisse konnten auch in Bezug auf regionale Unterschiede gewonnen
werden. So sahen sich Niederösterreicher*innen und Burgenländer*innen eher als Mitglieder
der österreichischen Nation als etwa Oberösterreicher*innen und Salzburger*innen. Insgesamt
lässt sich aus der Studie entnehmen, dass es über die Jahre, die zwischen der vom Fessel-Institut
angestellten Befragung liegen, insgesamt zu einer stärkeren Verankerung des
Österreichbewusstseins in der Bevölkerung gekommen ist. Laut Bruckmüller wurde das
Österreichbewusstsein erst ab den späten 1960er Jahren ein klarer Bestandteil des kollektiven
Bewusstseins, sodass überhaupt erst von diesem Zeitpunkt an von einem österreichischen
Nationalbewusstsein gesprochen werden kann. Diese junge österreichische Identität verdichtete
sich, bis auf eine leichte Schwankung im Jahr 1990, kontinuierlich. So sahen bereits im Jahr
1970 66% der Befragten Österreich als Nation und 1993 waren es bereits 80%. Diese
Manifestation des österreichischen Selbstbewusstseins wird dadurch unterstrichen, dass ein
Großteil der Österreicher*innen (87%) im Jahr 1987 auf die hypothetisch im Ausland gestellte
Frage „Sind Sie Deutsche*r?“ mit „Nein, ich bin Österreicher*in“ geantwortet hätte. 2% hätten
sich als Steirer*in, Wiener*in, Oberösterreicher*in (regionales Bewusstsein), 3% als
„österreichische*r Deutsche*r“, 6% als „Deutsche*r“ bekannt und die restlichen Befragten
gaben keine Antwort an. 370 Bruckmüller hebt hervor, dass vergleichbare Fragen in der Zeit vor
1945, aber auch vor dem Anschluss und vor 1934, nicht annähernd in ähnlicher Weise
369 Vgl. BRUCKMÜLLER, Die Entwicklung des Österreichbewusstsein. 1998. S. 385. – S. 387. 370 Vgl. ebda. S. 387 – S. 389.
95
beantwortet worden wären. Zu einem übereinstimmenden Ergebnis kommen schließlich alle
Studien vor 1990: Nämlich, dass das österreichische Nationalbewusstsein neu und in der
Entwicklung befindlich ist. So wird seine Entstehung überwiegend in die Zeit der Zweiten
Republik festgemacht. Im Jahr 1965 waren 38% der Befragten der Ansicht, dass die
Entstehungszeit des Nationalbewusstseins in der Zeit vor 1938 festzumachen sei, 1987
vertraten nur mehr 18% dieselbe Meinung. Hingegen wurde die Entstehungszeit des
österreichischen Nationalbewusstsein im Jahr 1965 von 40% der Befragten in die Zeit zwischen
den Zweiten Weltkrieg und den Staatsvertrag gesetzt und 1987 waren 61% der Befragten der
Meinung, dass die Zeit der Entstehung des österreichischen Nationalbewusstsein um die Zeit
nach 1955 anzusiedeln sei. Dabei bezieht sich dieses Nationalbewusstsein auf das Land der
österreichischen Republik. Ein Großteil der Österreicher, etwas weniger als drei Viertel der
Befragten, verstanden unter dem Nationsbegriff eine ‚Staatsnation‘, sprich eine Nation, die sich
aus der Zustimmung ihrer Mitglieder zum Staat zusammensetzt. 27% setzten die Nation mit
einer ‚Sprachnation‘, die auf dem Kriterium der gleiche Sprache fußt, gleich. Die Ergebnisse
der Studien von 1993 decken sich dabei mit den Ergebnissen einer Studie von 1984, bei der
eine Nation von den Befragten überwiegend mit staatlichen und konsensualen Elementen
beschrieben wurde. Die Bedeutung einer ‚Abstammungsgemeinschaft‘ wurde nur von 6%
betont. Ob die Nation als eine Sprachnation oder als eine aus dem politischen Willen der
Menschen geschlossenen Gemeinschaft vorgestellt wurde, hing wiederum vom Bildungsstand
und der beruflichen Position der befragten Personen ab. Das Konzept der ‚Sprachnation‘ wurde
in dieser Umfrage signifikant stärker von Person, die die FPÖ anderen Parteien vorzogen,
vertreten. Des Weiteren ergab sich, dass ein hoher Grad an Bildung mit dem Konzept der Nation
als Willensgemeinschaft korreliert. Bruckmüller stellt die These auf, dass es sich hierbei um
eine Umkehr ehemaliger Zuordnungen und Wertevorstellungen handeln könnte. Denn das
Bildungsbürgertum der Nachkriegszeit vertrat einen milden Patriotismus, der sehr stark an
deutschnationale Werte orientiert war. Vertreter*innen dieser Schicht bekannten sich deutlich
zu einer „deutschen Kulturnation“. Somit ergibt sich aus den Studien der 1990er Jahre, dass der
Deutschnationalismus als Identifikationsmerkmal für höhere Bildungsschichten deutlich an
Bedeutung verloren hat. Außerdem zeigt sich, dass jene Schichten, die zuvor von
deutschnationalen Werten wenig beeinflusst wurden (überwiegend die Arbeiterschicht),
verstärkt auf diese zurückgreifen und dabei mit den Werten der FPÖ konform gingen.371
Betrachtet man die Entwicklung sowie die Relation zwischen der Parteipräferenz und der
Einstellung zum österreichischen Nationalbewusstsein, so wird verdeutlicht, dass die
371 Vgl. BRUCKMÜLLER, Die Entwicklung des Österreichbewusstsein. 1998.S. 387. – S. 389.
96
Österreicher*innen bei der Erfassung der nationalen Identität teilweise sehr unterschiedliche
Identifikationsmuster in Betracht zogen. Einerseits vertraten viele ein Österreichbewusstsein,
dass sich schwach ausgeprägt an der habsburgischen Vergangenheit orientierte und dem eine
mitteleuropäische Sichtweise zu Grunde lag. Andererseits war Österreich für viele Menschen
noch immer ein deutscher – wenn auch souveräner – Nationalstaat, aber mit deutlichem
,deutsch-österreichischem‘ Selbstverständnis. Die letzte Gruppe ist zwar offiziell in Zahlen
gemessen kleiner. Jedoch ist ihr Einfluss laut Bruckmüller nicht zu vernachlässigen, da dieser
zum Beispiel der Zusprechung von mehr Rechten für slowenische, tschechische, ungarische
und kroatische Österreicher*innen teilweise sehr erfolgreich entgegenwirkte. Für den Großteil
der Österreicher*innen – und dies dürfte das gemeinsame, gruppenübergreifende identitäts-
stiftende Merkmal sein – gelten die überwiegend positiven Erfahrungen und Einstellungen
gegenüber der Zweiten Republik als die Hauptfaktoren, durch die sich das Bekennen der
Menschen zur Nation Österreich begründet.372
Überdies ergaben die Studien, dass das kollektive Bewusstsein der Österreicher*innen durchaus
differenziert ist. So sind etwa unterschiedlich stark ausgeprägte und variierende Regional-,
Lokal- und Nationalbewusstseins auszumachen. Niederösterreicher*innen,
Burgenländer*innen und Wiener*innen waren laut einer Studie im Jahr 1987 besonders
lokalpatriotisch und identifizierten sich zugleich im Vergleich zu anderen Bundesländern
stärker als „Österreicher*innen“. Ein überdurchschnittlicher Landespatriotismus war bei den
Kärntner*innen, Tiroler*innen und Vorarlberger*innen zu verzeichnen. In der Steiermark,
Salzburg und in Oberösterreich war der Landespatriotismus etwas mehr ausgeprägt als der
Staatspatriotismus. Interessant ist auch das Verhältnis der nationalen Präferenz zur
emotionalen, territorialen Verbundenheit. So gaben etwa jene 3% der österreichischen
Bevölkerung, die sich als „Deutschösterreicher*innen“ sahen, eher an, Lokalpatrioten*innen zu
sein, und jene, die deutschnationale Werte vertraten (6%) sahen sich überwiegend als
Landespatrioten.373 Die Studien zeigen, dass es in den meisten Bundesländern Österreichs ein
ausgeprägtes Landesbewusstsein gibt. Die Bewohner der Bundesländer konzentrieren sich
dabei hauptsächlich auf ihr eigenes Bundesland. Hatten die Befragten Schwiegerkinder, so
stammten sie meist aus dem gleichen Bundesland. Aus ethnologischer Sicht ist dies
vergleichbar mit einem ‚Stamm‘. Der Anteil der ‚Endogamie‘ innerhalb eines Bundeslandes
war dabei in Oberösterreich und Tirol am höchsten mit Werten über 90%. Wien hatte mit 55%
den niedrigsten Wert.374
372 Vgl. BRUCKMÜLLER, Österreichbewußtsein im Wandel. 1994. S.16. – S. 17. 373 Vgl. BRUCKMÜLLER, Die Entwicklung des Österreichbewusstsein. 1998. S. 389. – S. 390. 374 Vgl. BRUCKMÜLLER, Österreichbewußtsein im Wandel. 1994. S. 20.
97
6.1 Der Nationalstolz der 1980er und 1990er Jahre
Nationalbewusstsein kann sich
bis zum Nationalstolz steigern.375
Einer der aussagekräftigsten Belege, für das sich immer stärker konstituierende österreichische
Nationalbewusstsein, ist der im Vergleich zu anderen Ländern überdurchschnittlich stark
ausgeprägte Nationalstolz der Österreicher*innen. Dies scheint zunächst überraschend, da die
österreichische Bevölkerung am Ende der 1980er Jahre der Politik überwiegend misstraute und
auch die Gründe für den österreichischen Nationalstolz im Laufe der Zeit großen
Schwankungen unterlagen. Die landschaftliche Schönheit, der politische und soziale Frieden
blieben jedoch konstante Identifikationsmerkmale auf die die Österreicher*innen seit 1980
stolz sind. Bruckmüller setzt in seinen Studien darüber hinaus wichtige Identifikationsfiguren
mit den Gegenständen des österreichischen Nationalstolzes in Beziehung.376
Neben der landschaftlichen Schönheit, dem politischen und sozialen Frieden wird dem Fakt,
dass die meisten geliebten Menschen der Österreicher*innen in Österreich leben, eine große
Bedeutung beigemessen. Die Ergebnisse lassen darauf schließen, dass die Bekundung des
Nationalstolzes und dessen Identifikationsfaktoren nicht etwa in einer heroischen vergangenen
oder gegenwärtigen Geschichte des Landes gesucht werden, sondern sich aus den
landschaftlichen Gegebenheiten und dem sozialen, familiären Zusammenleben ergeben. Die
gemeinsame Sprache, die eine einfache Kommunikation ermöglicht und so Vertrautheit schafft,
fällt hier besonders ins Gewicht. Die Neutralität wird als Wert der Selbstliebe und des Schutzes
der kleinen, vertrauten, familiären, österreichischen Welt gesehen. Zugleicht hofft man, nicht
von außen in seiner Glückseligkeit gestört zu werden.377 Lediglich in den Jahren 1987 und 1988
kam es zu einem Einbruch des Nationalstolzes, deren Auslöser zahlreiche Skandale und der
Bundepräsidentenwahlkampf 1986 mit der Causa Waldheim waren. Letztere stellte den Gipfel
der Ereignisse dar und führte zu einer Erschütterung des österreichischen Selbstbildes. Das
Vertrauen in die Staatspolitik welches unter Bruno Kreisky seinen Höhepunkt hatte, erreichte
einen Tiefpunkt. In den 1980er Jahren verlor neben der Politik auch der Sport als identität-
stiftender Faktor an Bedeutung, während er, bei dem Sieg der österreichischen
Fußballnationalmannschaft über die BRD bei der Weltmeisterschaft im argentinischen Córdoba
1978 noch großen Einfluss als solcher hatte.378 Die Österreicher*innen konzentrierten den
Gegenstand ihres Nationalstolzes in dieser Zeitperiode hauptsächlich auf den Bereich des
375 BRUCKMÜLLER, Die Entwicklung des Österreichbewusstsein. 1998. S. 390. 376 Vgl. BRUCKMÜLLER, Die Entwicklung des Österreichbewusstsein. 1998. S. 391. 377 Vgl. BRUCKMÜLLER, Österreichbewußtsein im Wandel. 1994. S. 25. – S. 27. 378 Vgl. ebda. S. 28. – S. 30.
98
kulturellen Erbes. Neben diesem war man ebenso stolz auf die österreichischen Leistungen in
Wirtschaft und Politik, aber nur in jenen Bereichen, in denen es zu einer Verwertung der
landschaftlichen Schönheiten und kulturellen Besonderheiten Österreichs gekommen war. In
diesem Zusammenhang sind die Österreicher*innen in den 1990ern stolz auf Österreich als
‚Fremdenverkehrsland‘. Was die Wertschätzung politischer Institutionen einer Demokratie wie
Parteien und Parlament betrifft, liegen die Österreicher*innen deutlich hinter der BRD und der
Schweiz. Jedoch war die Bürokratie von diesem Trend ausgenommen, ihr wurde im Vergleich
eine hohe Wertschätzung entgegengebracht. Diese Ergebnisse von Bruckmüller decken sich
mit einer Umfrage, die 1993 durchgeführt wurde, in der Personen befragt wurden, welchen
Institutionen sie mehr vertrauen würden. Demnach gaben 67% der Befragten ein Vertrauen
gegenüber der Polizei an und 61% der Nationalbank, jedoch nur 48% sprachen dem Parlament
ihr Vertrauen aus. Ebenfalls nur 46% bzw. 42% hatten Vertrauen in die Arbeiterkammer und
in die Regierung, gefolgt vom Bundesheer und der Wirtschaftskammer. Nur Medien, wie der
ORF (37%) und die Zeitungen (35%), lagen in den Werten noch weiter zurück. Weiters
auffällig im europäischen Vergleich ist, dass in Österreich laut den Studien von 1995 der Kirche
(29%) und den Parteien (24% ) am wenigsten vertraut wurde.379 Dies stellt nicht nur in der
Europäischen Union, sondern auch in den ex-kommunistischen Folgestaaten eine Besonderheit
dar, in denen die Kirche ungefähr auf einer Ebene mit der Polizei war, der ein hohes Vertrauen
zugesprochen wurde. Auch die Sozialpartnerschaft, welche immer als Symbol der
österreichischen Nation galt, erfuhr eine rückläufige Bewertung, bei der sie nur von 54% der
Befragten als vorteilhaft gesehen wurde.380 Erstaunlich ist auch, dass einem sehr bedeutenden
Faktor des ‚Wirtschaftswunders Österreichs‘, nämlich der Industrie und deren Entwicklung seit
dem Ende des Zweiten Weltkrieges, im Vergleich zu anderen Gegenständen des Nationalstolzes
deutlich weniger oft als Gegenstand des Nationalstolzes genannt wurde. Im Gegensatz dazu
waren die Österreicher*innen besonders stolz auf die Landwirtschaft, wenngleich diese im
Vergleich zu anderen Sparten keine wichtigere Rolle für den wirtschaftlichen Erfolg
Österreichs spielte. Hier ist eine Überbewertung der Landwirtschaft mit ihrer tatsächlichen
Wichtigkeit für Österreich auszumachen. Einen besonderen Stolz hegten die
Österreicher*innen im europäischen Kontext in Bezug auf spezielle Produktgruppen. So ist im
Jahr 1992 ein Drittel der Österreicher*innen stolz auf die hochwertigen Lebensmittel, die in
Österreich produziert werden.381 Dies geht laut Bruckmüller auf die Erwartungen der
Bürger*innen aufgrund der gesetzlichen Richtlinien, die als hoher Standard aufgefasst werden,
379 Vgl. BRUCKMÜLLER, Österreichbewußtsein im Wandel. 1994. S. 28. – S. 30. 380 Vgl. BRUCKMÜLLER, Die Entwicklung des Österreichbewusstsein. 1998. S. 392. 381 Vgl. BRUCKMÜLLER, Österreichbewußtsein im Wandel. 1994. S. 30.
99
zurück. Darüber hinaus war man in Österreich stolz auf die Stahlverarbeitung und auf die
Erzeugung von Trachten und die Herstellung von Skiern.382
Wenn man den Nationalstolz der Österreicher*innen von 1973 bis 1990 analysiert, so fällt
einem, wie bereits am Anfang dieses Kapitel erwähnt, der Einbruch in den Jahren von 1987 bis
1989 ins Auge:
Die zahlreichen Skandale und der umstrittene Wahlkampf, bei dem es einem Politiker eines
demokratischen europäischen Landes gelang, durch positive Äußerungen zum
Nationalsozialismus, nicht nur auf breite Ablehnung, sondern auch auf Zustimmung zu stoßen
und politische Aufmerksamkeit zu generieren, verdeutlichen wieso bei der Beurteilung des
Nationalsozialismus 1989, Österreich im internationalen Vergleich heraussticht. So wurde in
Österreich der Nationalsozialismus auffällig öfter als positiv bewertet als in anderen
europäischen Ländern. Bruckmüller nimmt an, dass diese positive Bewertung des
Nationalsozialismus auf einfachen Erfolgserlebnissen im Zuge von Kriegsrüstung und
Propaganda und auf Überlegenheitserfahrungen von ehemaligen Soldat und/oder
Parteimittgliedern fußt:383
Diese subjektiv positiv erlebten, aber nur im Zusammenhang mit ungeheuren kollektiven (nicht
notwendig individuellen) Verbrechen passierten Lebensstationen durften aber nach 1945 öffentlich nicht
mehr positiv beurteilt werden. Dadurch bleiben solche Erfahrungen – da negative stigmatisiert und
tabuisiert und daher nicht öffentlich diskutierbar – oft als Ressentiment erhalten. 384
Der internationale Vergleich verdeutlichte, dass das Thema Nationalsozialismus noch lange
nach dem offiziellen Ende der Entnazifizierung und der Amnestiegesetze ein Reibungspunkt in
der Entwicklung des österreichischen Nationalbewusstseins war. Wenn man zusammenfassend
das österreichische Nationalbewusstsein der 1990er betrachtet, so ist festzustellen, dass sich ein
kollektives Bewusstsein über die ersten Jahrzehnte der Zweiten Republik gefestigt hat. Die
dargestellten Ergebnisse der durchgeführten Umfragen zeigen, dass sich ab den 1960er Jahren
ein österreichisches Nationalbewusstsein konsolidiert hat, welches sich bis zu den 1990er
weiter ausformte. Im kollektiven Bewusstsein werden Gegenstände, die bereits seit der Ersten
Republik hervorgehoben wurden, wie die Landschaft und das kulturelle Erbe, verankert. Dies
wurde auch aktiv durch Medienarbeit gefördert. Auffällig ist auch, dass Errungenschaften, wie
die Sozialpartnerschaft und vor allem die Neutralität, als damaliges tragendes Element des
Staatsvertrages und als bedeutender identitätsstiftender Faktor deutlich an Bedeutung als
Merkmal für das österreichische Wir-Gefühl verloren hat.385 Das österreichische
382 Vgl. BRUCKMÜLLER, Österreichbewußtsein im Wandel. 1994. S. 30. 383 Vgl. BRUCKMÜLLER, Die Entwicklung des Österreichbewusstsein. 1998. S. 393 384 Ebda. 385 Vgl. ebda. S. 394. – S. 395.
100
Nationalbewusstsein fußt auf der Wahrnehmung einer erfolgreichen Zweiten Republik – den
Skandalen zum Trotz, die alte Problemfelder des österreichischen Selbstbildes, wie etwa die
Bewertung der Zeit des Nationalsozialismus, wieder zum Vorschein brachten. Dennoch ist das
Österreichbewusstsein der 1990er ein stabiles, dies wird auch durch den im Vergleich hohen
Nationalstolz und den Eigenheiten der Österreicher*innen, die die österreichische Nation klar
– auch vom kulturell verwandten Deutschland oder von der Schweiz abgrenzen – belegt.386
6.2 Das österreichische Nationalbewusstsein der 2000er
Laut einer im Jahr 2008 veröffentlichten Studie des Markt- und Meinungsforschungsinstitut
GfK Austria (Growth from Knowledge) bejahten 82% der Befragten die Frage, ob Österreich
eine eigenständige Nation sei. Etwa 8% waren der Meinung, dass die Österreicher*innen
langsam beginnen, sich als Nation zu fühlen und 7% widersprachen der Aussage, dass
Österreich eine eigenständige Nation ist. So lässt sich feststellen, dass sich das österreichische
Nationalbewusstsein seit dem Staatsvertrag und seiner Verfestigung in den 60er und 70er
Jahren, und trotz der Brüche im Selbstbild durch die Skandale der späten 1980er, als konsistent
erweist. Sehr ähnlich verhielt es sich laut Studien im Jahr 2007 mit dem österreichischen
Nationalstolz: 55% der Österreicher*innen gaben an, sehr stolz, 35% ziemlich stolz, und 4%
nicht sehr stolz beziehungsweise 3% überhaupt nicht stolz zu sein. Im internationalen Vergleich
war der österreichische Nationalstolz 2007 noch immer stärker ausgeprägt als jener anderer
Nationen.387
Bruckmüller stellt die These auf, dass das Unterbewusstsein der Österreicher*innen, welches
negative, dunkle Klischees von Österreich beinhaltet, erst die Tragweite der Skandale Ende der
1980er Jahre möglich machte. Diese These Bruckmüllers wird durch die Studie der GfK Austria
unterstrichen: Etwa 57% der befragten österreichischen Bürger*innen gaben an, dass der
Anschluss, die nationalsozialistische, undemokratische, antisemitische und rassistische Haltung
der österreichischen Bevölkerung offenlegte.388 Dies zeigt, dass dieses dunkle Selbstbild nach
wie vor im Bewusstsein der österreichischen Bevölkerung vorhanden war und sich als
Selffulfilling Prophecy noch weiter auf das Selbstbild der Österreicher*innen auswirkt.
Hierbei ist noch zu erwähnen, dass die Mehrheit der Österreicher*innen, jene ‚Ehemaligen‘
nicht als „echte Nazis“ einstuften. Das ergab eine Umfrage der GfK Austria zum
386 Vgl. BRUCKMÜLLER, Die Entwicklung des Österreichbewusstsein. 1998. S. 394. – S. 395. 387 Vgl. TRIBUTSCH Silvia / ULRAM Peter, 1918, 1938, 2008: Geschichte im Spiegel der
Forschungsergebnisse von GfK Austria. GFK Austria, Politikforschung. 2008.
https://images.derstandard.at/20080312/1918-1938-2008.pdf [05.10.2020]. S. 4. 388 Vgl. ebda. S. 3
101
Geschichtsbewusstsein im Jahr 2005 bei der etwa nur 34% der Befragten, den Großteil der
Österreicher*innen als „echte Anhänger*innen“ des Nationalsozialismus sahen und 52% der
Befragten die Meinung vertraten, dass die meisten lediglich „Mitläufer*innen“ gewesen seien.
Nur 13% der Befragten gaben an, dass die Österreicher*innen gegen das nationalsozialistische
Regime waren.389 Laut Uhl waren die Skandale, die in der umstrittenen Präsidentschaftswahl
um Kurt Waldheim kulminierte, ein bedeutender Bruch im österreichischen
Geschichtsbewusstsein. Die diskrepante Werthaltung der österreichischen Bevölkerung, die
durch den Waldheimskandal ans Licht kam, zeigte, dass das bisherige österreichische
Geschichts- und Selbstbild einer Revision bedurfte. Es kam somit zu einer Auseinandersetzung,
die das Paradigma der Opfer-These, die bis zu diesem Zeitpunkt noch Gültigkeit hatte, in Frage
stellte. Auf der einen Seite herrschte die Meinung, dass die in der Opfer-These bislang dunklen
Flecken, wie die Verfolgung und Ermordung jüdischer Mitbürger*innen und die bewusste,
aktive Teilnahme am Zweiten Weltkrieg, hervorzuheben sind und einer intensiven
Aufarbeitung bedürfen. Anderseits stand dieser Meinung eine Haltung gegenüber, die für einen
Abschluss der Vergangenheit des Nationalsozialismus war. Dieser Abschluss sollte durch eine
,Normalisierung‘ und ‚Historisierung‘ der Folgen des Nationalsozialismus erreicht werden. Der
Umgang beziehungsweise das Problem der historischen Einordnung und Aufarbeitung der Zeit
des Nationalsozialismus in das österreichische Nationalbewusstsein war die Hauptursache für
die Spannungen und Unsicherheiten im Selbstbild der Österreicher*innen der späten 1980er
Jahre.390
Dieser Bruch im Selbstbild der österreichischen Bevölkerung machte sich m.E. bei der ersten
Regierungskoalition zwischen der ÖVP und der FPÖ im Jahr 2000 bemerkbar, die trotz heftiger
nationaler und internationaler Kritik angelobt wurde und zu einem Bruch mit der seit den
Nachkriegsjahren geführten Politik führte. Die von den Alliierten kritisch betrachtete ,vierte
Partei‘ wurde somit auf dem politischen Parkett Österreichs nicht nur als salon-, sondern auch
als regierungsfähig erklärt.
Die geplante Koalition von ÖVP-Schüssel und FPÖ-Haider zog nach der Angelobung
Sanktionen der EU nach sich sowie eine Schwächung der bilateralen Beziehungen. Erst am 12.
September 2000 wurden die ,Maßnahmen’ der 14 EU-Mitgliedstaaten von der französischen
Ratspräsidentschaft aufgehoben. Auch innenpolitisch sorgte die Koalition für
Großdemonstrationen, Initiativen und Kundgebungen. Der amtierende Bundespräsident
Thomas Klestil weigerte sich, zwei Minister aus der FPÖ aufgrund ihrer Geistesgesinnung
389 Vgl. TRIBUTSCH / ULRAM, 1918, 1938, 2008. 2008. https://images.derstandard.at/20080312/1918-1938-
2008.pdf [5.10.2020]. S. 3. 390 Vgl. UHL, Zwischen Versöhnung und Verstörung. 1992. S. 88. – S. 89.
102
anzugeloben und forderte von den angehenden Regierungsparteien ein, eine Präambel zum
europäischen Wertekatalog abzugeben.391
Der programmatische Paradigmenwechsel in der österreichischen Politik zeichnete sich durch
eine völlig neue Schwerpunktsetzung in der Wirtschafts- und Sozialpolitik in Richtung
Neoliberalismus sowie einer Schwächung der Sozialpartner aus.392
Die Regierung Schüssel I hatte die Folge, dass nicht nur internationaler, sondern auch innerer
Zweifel an Österreichs Demokratie aufkam. Ein Großteil der österreichischen Bevölkerung sah
seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs erstmals wieder die Demokratie in Österreich in Gefahr.
Der Unmut und die Spaltung der österreichischen Gesellschaft gipfelte in zwei
Demonstrationen gegen ‘Schwarz-Blau’ am 3. März 2001 und am 2. Februar 2002.
Im Jahr 2002 kam es schließlich zum Bruch der Regierung Schüssel I. Bei den
Nationalratswahlen im Jahr 2002 verlor die FPÖ 16,90 %, während die ÖVP 15,39 %
dazugewinnen konnte. Im Folgejahr kam es nichtsdestotrotz zu einer weiteren Koalition
zwischen ÖVP und FPÖ (ab 2005 BZÖ), die bis 2007 andauerte.393
Während die Regierungen Schüssel I und II innenpolitisch zu einer Spaltung der
österreichischen Gesellschaft geführt hatten, sahen das die Österreicher*innen bei den
Nationalratswahlen im Jahr 2017 anders. Laut einer Umfrage, die vom Market-Institut in
Auftrag gegeben wurde, gab nur etwa ein Drittel der Befragten an, dass die internationalen
Reaktionen auf die österreichische Regierung wichtig seien.394
Indem den internationalen Stimmen wenig Gewicht eingeräumt wird, lässt sich in Bezug auf
das österreichische Nationalbewusstsein ein ‘Inselbewusstsein’ ausmachen: Die österreichische
Politik sei dieser Haltung nach Sache des österreichischen Volkes.
Welcher Bedeutung das internationale Ansehe zugemessen wurde, hing wiederum von der
Parteipräferenz der jeweiligen befragten Personen ab. So gaben Personen, die SPÖ und Grüne
präferierten deutlich häufiger an, dass die internationale Bewertung Österreichs, zu beachten
sei. Präferenten*innen von ÖVP und FPÖ wiederum maßen den internationalem Ansehen
Österreichs wenig Bedeutung zu.395 Dies zeigt die kohärente, kontinuierliche, gespaltene
Selbstsicht der österreichischen Bevölkerung.
391 Vgl. http://www.demokratiezentrum.org/wissen/timelines/die-erste-oevp-fpoe-koalition.html [01.11.2020] 392 In Bezug auf die politische Wende nach 2000 vgl. OBINGER Herbert/ TALÓS Emmerich, Sozialstaat
Österreich zwischen Kontinuität und Umbau. Eine Bilanz der ÖVP/FPÖ/BZÖ-Koalition. Verlag für
Sozialwissenschaften, Wiesbaden. 2006. 393 Vgl. http://www.demokratiezentrum.org/wissen/timelines/die-erste-oevp-fpoe-koalition.html [01.11.2020] 394 Vgl. https://www.market.at/market-aktuell/details/fpoe-in-der-regierung-eine-oesterreichische-entscheidung-
und-kein-fall-fuer-internationale-
proteste.html?fbclid=IwAR23Gu64sm_5WR4p8Wo5wY443b2i8mI5mDIKmhjjGwfq-9IT-gARyFMHTSA 395 Vgl. ebda.
103
7 Elemente/Merkmale des österreichischen Nationalbewusstseins/ des
österreichischen Identitätsbildes
7.1 Typisch österreichisch! Selbst- und Fremdbilder
Wie im Kapitel 2 beschrieben, definieren sich ,Wir-Gruppen‘ durch In- und Exklusion. Um sich
von anderen Nationen abzugrenzen, wird dabei nicht nur auf Symbole, sondern auch auf
selbsterschaffene Stereotype zurückgegriffen. Die Erschaffung von Selbst- und Fremdbildern
war bereits von frühen Stämmen ein beliebtes Mittel, um sich von anderen zu unterscheiden.
Die Abgrenzung wird meist durch materialistische Dinge, wie zum Beispiel Uniformen,
Trachten oder speziellen Bewaffnungen, erreicht. Über die materialistische Abgrenzung hinaus
wird auch ein eigener Nationalcharakter, um sich von anderen Nationen abzugrenzen, erfunden.
Dieser wird dabei stets mit positiven Werten und Eigenschaften wie Ehrlichkeit, Tapferkeit,
Klugheit usw. besetzt. Anderen Nationen und Fremdgruppen werden eher negative Werte und
Eigenschaften wie Dummheit, Falschheit, Vertrauensunwürdigkeit und Feigheit usw.
zugeschrieben. Um diese Wertzuschreibungen Nachdruck zu verleihen und um eine möglichst
große allgemeine Akzeptanz und Verbreitung dieser zu erreichen, werden sie nicht nur mit den
eigenen Stammes- und Nationsbildungsmythen, sondern auch mit geschichtlichen Tatsachen
und Differenzierungsmitteln wie Tracht, unterschiedliche Waffenarten und Bräuche in
Verbindung gebracht. Bruckmüller hebt hervor dass, diese Zuschreibungen durch die
Nationsbildungsprozesse im 19. Jahrhundert verbreitet und popularisiert wurden. In dieser Zeit
wurden sie auch verstärkt für die politische Propaganda verwendet, um möglichst große Massen
aktivieren zu können. Bei der Erschaffung solcher Nationalcharaktere sollte stets eine Identität
kultiviert werden, die durch ein positives, überlegenes Selbstbild und ein diffamierendes,
negatives Fremdbild von anderen Gruppen und Nationen charakterisiert ist.396
In diesem Zusammenhang ist auch die sogenannte ,Steirische Völkertafel‘ zu erwähnen, die im
18. Jahrhundert angefertigt wurde und gemäß ihrem Titel eine ,Kurze Beschreibung der In
Europa Befintlichen Völckern Und Ihren Aigenschaften‘ liefern soll. Vielmehr handelt es sich
um eine stereotype Darstellung von zehn Nationen, die etwa nach den Kriterien ,Sitten‘,
,Verstand‘, ‚Untugent‘, ,Krigs Tugente‘, ‚Tracht der Klaidung‘ etc. miteinander verglichen
werden.397
Die Erschaffung von positiven Selbst- und negativer Fremdbilder sollte unter anderem dazu
dienen, die Opferbereitschaft und die Loyalität der Menschen für politische Zwecke und Kriege
396 Vgl. BRUCKMÜLLER, Österreichbewußtsein im Wandel. 1994. S. 121. 397 https://www.volkskundemuseum.at/onlinesammlungen/oemv30905
104
zu steigern. Abgesehen von der politischen Instrumentalisierung von konstruierten
Nationalcharakteren dienen Klischees, Vorurteile und Stereotype in erster Linie dazu, der die
Komplexität des sozialen Zusammenlebens zu vereinfachen.
Stereotype basieren schließlich auch zu einem gewissen Teil auf reale durch
Sozialisierungsprozesse entstandene Unterschiede zwischen Gruppen.398 Deshalb ist es
wichtig, sich der Entstehung, Funktion sowie der möglichen Instrumentalisierung die mit
Vorurteilen und Stereotypen einhergeht, bewusst zu sein und diese auch zu hinterfragen.
Diesbezüglich können Zuschreibungen sowie Fremdbilder einen positiven Einfluss auf das
Selbstbild einer Nation haben, indem diese zur Selbstreflexion beziehungsweise zur
Modifikation des eigenen Bildes führen.
Dies war zum Beispiel in den 1980ern der Fall, als die kritischen Fremdbilder anderer Nationen
über Österreich dazu führten, dass Österreich sein Selbstbild entsprechend anpasste. Man wich
vom Selbstbewusstsein von der ‚Insel der Seligen‘ ab und betonte wieder alte Traditionen und
kulturelle Leistungen, die weniger Angriffsfläche für Kritik boten. Dabei verlagerte man die
identitätsstiftenden Merkmale wieder weiter zurück in die Vergangenheit der Geschichte
Österreichs. Das Fremdbild kann aber auch das Selbstbild selbst beeinflussen. Zum Beispiel
kann das Bild der*des freundlichen, toleranten und charmanten Österreicher*in im Ausland,
dazu führen, dass sich der*die bewusste Österreicher*in verstärkt in diese Rolle begibt, um dem
Stereotyp zu entsprechen. Wie bereits erwähnt, greift man hierbei auch auf die Österreichbilder
der Vergangenheit zurück. In der Tradition der Autoren Franz Grillparzer und Anton Wildgans
wird das gute und schöne Land Österreich hervorgehoben. Österreich wird mit Begriffen wie
Gastfreundschaft, Gemütlichkeit und genussvollem Leben assoziiert. Dabei ist beachtlich, dass
das Phäakenstereotyp, welches seit dem Spätmittelalter für den im heute österreichischen
Gebiet lebenden Menschen prägend ist, und noch immer für das Selbst- und Fremdbild der
Österreicher*innen eine Basis bietet.399
Man könnte hier auch den Einwand erheben, dass es schlicht an neuen Klischees, die sich
positiv auf das österreichische Bild auswirken könnten und möglichst kritikerhaben sind
mangelt und man sich deshalb auf diese alten Stereotype stützen muss. Hierbei hat sich die
Betonung auf das landschaftlich schöne, kulturelle Österreich über lange Zeit bewehrt, auch
wenn diese geografisch gegeben beziehungsweise Leistungen längst vergangener Zeiten sind.
In der Nachkriegszeit wurden vor allem von der ÖVP (besonders von Felix Hurdes und Alfred
Missong) und von der KPÖ (vorrangig von Ernst Fischer) an der Förderung eines möglichst
398 Vgl. BRUCKMÜLLER, Österreichbewußtsein im Wandel. 1994. S. 122. 399 Vgl. ebda. 1994. S. 122. – S. 123.
105
allgemein akzeptierbaren österreichischen Selbstbildes gearbeitet. Beide Parteien bedienten
hierbei alte Stereotype wie dem Phäakenstereotyp. Sie betonten gleichermaßen die
Besonderheit des österreichischen Volkes, nicht nur germanischer Herkunft, sondern eine
Vermischung verschiedener Nationalitäten zu sein. Die Zeit Maria Theresias wird von beiden
Parteien glorifiziert. Auch förderten beiden Parteien das Bild des*der toleranten und
künstlerischen (vor allem in musikalischer Hinsicht) Österreichers*in. In einem entscheidenden
Punkt unterschieden sich KPÖ und ÖVP aber wesentlich: Die ÖVP vertrat die Ansicht eines
konservativen Österreichs und die kommunistische Partei stand für ein fortschrittliches
Österreich. Auffallend ist, dass sich die SPÖ lange – bis etwa zur Ära Kreisky – kaum bei der
Konstruktion eines „neuen“ Österreichbildes beteiligte.400 Dies könnte auf die anfängliche
Skepsis der SPÖ gegenüber einer Nation Österreich zurückzuführen sein.
Erst mit der Etablierung der Zweiten Republik vertrat die SPÖ das Bild eines zwar
kleinstaatlichen, aber international anerkannten Österreichs, an dem die erfolgreiche Politik der
SPÖ wesentlichen Beitrag hatte und Bruno Kreisky zur Leitfigur der österreichischen Identität
stilisiert wurde. Dabei wurde es im sozialdemokratischen Österreichbild vermieden, die Zeit
der Habsburger und der Monarchie zu erwähnen. Mindestens ebenso alt wie die positiven
Zuschreibungen sind jedoch auch die negativen Klischees. Österreich wurde als Land der
Antiintellektualität, der Intoleranz und der Unterdrückung dargestellt. Von diesen alten
Klischees machten unter anderem Deutschnationale, Protestanten, Nationalsozialisten und auch
Sozialisten Gebrauch. In der Zweiten Republik, vor allem verstärkt durch die Waldheimaffäre,
konstituierte sich ein Fremdbild von Österreich als Land der Unehrlichkeit und des blinden
Eigensinns, als Land der Skandale und eigentlichen Geburtsortes des Nationalsozialismus, das
sich davor scheut, sich an die Zeit des Nationalsozialismus zu erinnern, und sich aus der
Konfrontation mit diesem Problem „wurschtelt“.401 Bruckmüller stellt die These auf, dass der
Waldheimkonflikt nur deshalb so hohe Wellen schlagen konnte, weil diese negativen Klischees
bereits im Inneren sprich im Unterbewusstsein der österreichischen Gesellschaft vorhanden
waren.402
Es sei an dieser Stelle erwähnt, dass in der bildenden Kunst ab 1945 immer wieder die
Nichtaufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit Österreichs sowie die Einbindung
der ,Ehemaligen‘ aufgezeigt wurde. Neben vielen anderen denke man hierbei etwa an den Maler
Gottfried Helnwein, der durch sein Bild Lebensunwertes Leben (1979) und einen dazu
400 Vgl. BRUCKMÜLLER, Österreichbewußtsein im Wandel. 1994S. 123. 401 Vgl. ebda. 123. – S. 124. 402 Vgl. BRUCKMÜLLER Ernst, Nation Österreich. Kulturelles Bewußtsein und gesellschaftlich-politische
Prozesse. Böhlau Verlag, Wien. 1996. S. 111. IN: ECKER Alois / SPERL Alexander (Hrsg.), Österreichbilder
von Jugendlichen. Zum Einfluss audiovisueller Medien. New academic press, Wien. 2018. S. 89.
106
abgedruckten Brief im Nachrichtenmagazin Profil auf die Karriere des Gerichtspsychiaters
Heinrich Gross aufmerksam machte, der im Sinne der nationalsozialistischen Rassenforschung
in der psychiatrischen Euthanasie-Klinik Am Spiegelgrund zahlreiche Gift-Morde an Kinder
verantwortete. Ungeachtet der Aussagen des Überlebenden Friedrich Zawrel wurde Heinrich
Gross nie zur Verantwortung gezogen.403
Das Bild der Österreicher*innen von sich selbst stellt sich als inkonsistent dar. So wurden vor
1980 noch der Sport und die Außenpolitik als Dinge, auf die man stolz ist, genannt. Um 1987
besann man sich jedoch wieder auf die kulturellen Leistungen und auf traditionelle Werte. Die
,alten‘ Werte bewährten sich in diesem Zusammenhang, da sie – wie bereits ausgeführt –
aufgrund ihrer Historizität nicht mehr Abhanden oder in Verruf geraten konnten. Somit stellen
sie auch heute noch einen bedeutenden Teil des österreichischen Selbstbildes dar. Bezüglich
ihres Wesens erfüllen beziehungsweise schreiben sich Österreicher*innen selbst alte Klischees,
wie zum Beispiel, dass sie gemütlicher und ein wenig ungenauer und arbeitsunwilliger als ihre
deutschen Nachbarn erscheinen, zu.
Diese Charakterzuschreibungen stützt eine im Jahr 1984 durchgeführte Untersuchung von
Reiterer, in der der*die „typische“ Österreicher*in durch Charaktereigenschaften ermittelt
werden sollte. Insgesamt wurden 23 verschiedene Eigenschaften genannt, die in drei Kategorien
aufgeteilt wurden. Adjektive wie „gemütlich“, „lustig“ und „musikalisch“ wurden dabei am
häufigsten genannt. Dieses Selbstbild stimmte auch zu einem großen Teil mit den Fremdbildern
überein. Die Österreicher*innen sahen sich selbst also auch als musikalische, lebensfrohe und
gastfreundschaftliche Menschen. Ebenso ergab sich durch die Nennungen, dass sich die
Österreicher*innen selbst als weniger leistungsorientiert und gemütlich wahrnehmen, was
ebenfalls mit dem Fremdbild Österreichs übereinstimmte.404
Wenn man die Studien von Diem und Reiterer zum Selbstbild der Österreicher vergleicht, so
lässt sich feststellen, dass sich das österreichische Selbst- und Fremdbild in 30 Jahren nicht
wesentlich verändert hat. Die Eigenschaften ‚gemütlich‘, ‚musikalisch‘ und ‚lebensfroh‘, die
übergreifend bei den Studien zur Selbstbeschreibung der Österreicher*innen am häufigsten
genannt wurden, erweisen sich als konsistent.
Österreich wird von außen als Kultur- und Bergland wahrgenommen. Dabei steht die Musik,
der Schisport und das gemütliche Gemüt des österreichischen Volkes im Vordergrund. Jedoch
403 BORCHHARDT-BIRBAUMER Brigitte, „Köpferl im Sand“? Die Aufarbeitung des Nationalsozialismus in
der Wiener Kunstszene. 2020. S. 72. IN: SCHRÖDER Klaus Albrecht (Hrsg.), The Beginning. Kunst in
Österreich 1945-1980. Hirmer, Wien. 2020. S. 60-73. 404 Vgl. REITERER Albert (Hg.), Nation und nationales Bewußtsein. Ergebnisse einer empirischen
Untersuchung. Mit Beiträgen von Wilhelm Filla, Ludwig Flaschberger und Albert. F. Reiterer. Verband der
wissenschaftlichen Gesellschaften Österreichs, Wien 1988. S. 103.
107
wird Österreich auch mit negativen Werten besetzt. Nationen wie etwa die USA, Israel,
Niederlande oder auch Slowenien assoziierten Österreich mit dem Nationalsozialismus, dabei
wurde dieses negative Bild durch die Ereignisse von 1986 bis 1989 bestärkt. Auch bei
Umfragen bezüglich des Neonationalsozialismus stand Österreich gleich an unmittelbarer
zweiter Stelle nach Deutschland.405
Als der Prototyp des typisch österreichischen Menschen wurde von den Österreichern*innen
der*die Wiener*in gesehen. Aber auch die Tiroler*innen und Salzburger*innen wurden im
Vergleich zu anderen sehr oft genannt. Am ‚untypischsten‘ österreichisch wurden die
Burgenländer*innen und Vorarlberger*innen genannt. Diese Wahrnehmung wird etwa auch
von den Vorarlberger*innen selbst geteilt, die eher Wiener*innen und Tiroler*innen als
‚typische‘ Österreicher*innen sehen und sich an letzte Stelle der ‚typischen Österreicher‘
setzten. Auch in diesen von Peter Diem geleiteten Untersuchungen wurde nach Stereotypen
gesucht und dabei festgestellt, dass hier zum Teil divergierende und alte Selbstbilder existierten.
So werden die Wiener*innen als fröhliche, aber faule, verschwenderische Menschen gesehen.
Des Weiteren gelten sie im Vergleich zu den anderen Bundesländern als eher kultiviert und
fortschrittlich. Die Wiener*innen schreiben sich diese Eigenschaften aber selbst nicht zu. Auch
die äußerlichen Fremdbilder der Wiener*innen als lebenslustige und kulturelle Menschen
weichen hier vom Selbstbild der Wiener ab, welches durchaus vielschichtiger ist.406
Bruckmüller verweist darauf, dass trotz der vielen Stereotypen und Wesenszuschreibungen es
trotzdem schwierig ist, ein österreichisches Nationalbewusstsein empirisch festzulegen. Denn
dazu müssten klar identifizierbare regelmäßige Verhaltensweisen in der jeweiligen Nation
vorhanden und feststellbar sein.407
Natürlich wäre dazu nicht erforderlich, daß jeder Österreicher ein raunzender Hofrat ist, der gleichzeitig
einen Gamsbart auf den Hut trägt, einen Einspänner mit Schlag zu sich nimmt, genüßlich sein Backhendl
vom Mittagessen Revue passieren läßt und dabei die ‚Unvollendete‘ summt.408
Für eine aussagekräftige Darlegung bedürfe es, dass eine repräsentative Menge der
österreichischen Bevölkerung, eine gemeinsame Vorstellung bildet und sich diese im
alltäglichen Leben und Handeln nachvollziehbar zeigt. Darüber hinaus muss sich diese
Vorstellung klar von jenen anderer Nationen unterscheiden und abgrenzen. Bruckmüller betont,
dass die Spezialisierung solcher unterschiedlichen Verhaltensstrukturen und Vorstellungen
durch Faktoren wie die Modernisierung und Individualisierung immer geringer werden.409 Da
405 Vgl. BRUCKMÜLLER, Österreichbewußtsein im Wandel. 1994. S. 124. – S. 126. 406 Vgl. ebda. S. 21. – S. 22. 407 Vgl. ebda. S. 147. 408 Ebda. 409 Vgl. ebda. S. 147. – S. 148.
108
durch diese Entwicklungen der Zwang einer notwendigen Differenzierung und Abgrenzung
zunehmend schwindet.410
Folglich schwächt die Modernisierung die Spezialisierung von nationalen kollektiven
Bewusstseinsinhalten.
Wenngleich sich ein klarer österreichischer ‚Nationalcharakter‘ nur schwer wissenschaftlich
definieren lässt, so lassen sich jedoch kollektive Vorstellungen, Selbst- und Fremdbilder und
Stereotype identifizieren. Daraus lässt sich auch zumindest eine kollektive Mythologie
ausmachen, die sich darin zeigt, dass die Österreicher*innen auch eine bestimmte Rolle
einnehmen. Dies lässt sich zum Beispiel im Neutralitätsmythos erkennen, der, die
Rollenannahme Österreichs als Kleinstaat repräsentiert, und zugleich sinnbildlich für die
Ablegung alter Rollen und Vorstellungen steht. Diesbezüglich ist erstaunlich, wie viel von den
Mustern und Vorstellungen über alte Stereotype, wie jenes des ‚Phäakenstereotypen‘, nach wie
vor im österreichischen Selbst- und Fremdbild vorhanden ist.411
7.2 Das Österreichbild der Gegenwart / der Schülergeneration
Im vorigen Kapitel wurde das „typisch Österreichisch“ dargestellt. Hierbei dominierten
Begriffe wie: Natur, Kultur, Essen, Mentalität und Sport. Bei der Frage nach der österreichische
Identität wurde bei den Umfragen ab den 2000er Jahren neben diesen Begriffen auch konkrete
Orte und Personen genannt. Dies zeigt, dass die Elemente der österreichischen Identität
vielfältig und nicht auf einzelne wenige reduzierbar sind. Wenn man die Ergebnisse der Market-
Umfrage von 2009 und 2012 miteinander vergleicht, so ist bei den Ergebnissen der Antworten
auf die Frage „Worauf sind Sie als Österreicher*in besonders stolz?“ zu erkennen, dass die
landschaftliche Schönheit, die Tradition und die österreichische Küche konstant hohe Werte
erzielten und dass etwa der Stolz auf die sportliche Leistung sowie auf die hohe soziale
Sicherheit deutlich weniger häufig genannt wurden.412
Auffallend ist, dass Medien wie Zeitungen (der Standard, Presse, Österreich) und der ORF
(Österreichische Rundfunk) in den 2010er Jahren wieder verstärkt die österreichische Identität
als Thema in ihrem Programm aufgenommen haben. Der ORF initiierte seit 2010 eine Reihe
von Reportagen und Dokumentarfilmen, welche ein Österreichbild, wie es vergleichsweise in
der Nachkriegszeit geprägt wurde, zeigten.413 Dies waren Formate wie Österreich Box (2010),
Jahrzehnte in Rot-Weiß-Rot (2012), Österreich II (als Neuauflage im Jahr 2013) und
410 Vgl. BRUCKMÜLLER, Österreichbewußtsein im Wandel. 1994. S. 147. – S. 148. 411 Vgl. ebda. S. 147. – S. 148. 412 Vgl. ECKER / SPERL (Hrsg.), Österreichbilder von Jugendlichen. 2018. S. 87. – S. 93. 413 Vgl. ebda. 95. – S. 98.
109
Generation Österreich (2014). In den Sendungen und Filmen sollten identitätsstiftende
Ereignisse um die Nationswerdung Österreichs in der Zeit nach 1945 aufgegriffen und
vermittelt werden. Da sich diese Filme somit eher an alten Österreichbildern orientierten, ist
fraglich, ob diese die jüngeren Generationen erreichte. Hierbei lässt eine durchgeführte Studie
von Sperl und Kragolnik erkennen, dass aktuelle Themen wie die Flüchtlingskrise, EU-
Abstimmung und Falco beziehungsweise deren Darstellung von den österreichischen
Jugendlichen gut erkannt werden. Ebenso gut erkannt werden alte Themen und
Österreichklischees wie Oper, Staatsvertrag und die Spanische Hofreitschule. Jedoch
verdeutlichte die Studie auch, dass die dargestellten Bilder, Personen und Ereignisse, die der
ORF als typisch österreichisch stilisiert hatte, kaum Widererkennungswert bei den
Jugendlichen hatten. Somit haben die Österreichbilder, die vom ORF oder auch von
Schulbüchern vermittelt werden sollten, eher wenig Bedeutung für das Österreichbild der
heutigen Schülergeneration.414
Um das entsprechendes Österreichbild der Jugendlichen konstruieren zu können, hielten Sperl
und Kragolnik eine Befragung, bei der 310 Schüler*innen auf folgende Frage: „Bitte gib an,
welche historischen Ereignisse oder Personen aus der Zeit nach 1945 du mit Österreich
verbindest.“415 Nennungen abgeben konnten. Insgesamt gab es 2 671 Nennungen, davon
wurden 1 633 Themen und 1 038 Personen genannt. Betrachtet man die 25 am häufigsten
genannten Themen und Personen, so ergibt sich folgendes Bild: Der am häufigsten von den
Schüler*innen genannte Themenbereich war Politik. Politische Ereignisse lagen noch vor
Kultur, Kunst, Tradition und Tourismus an erster Stelle. Dieses Ergebnis widerspricht also dem
offiziellen, von den Medien und der Tourismusindustrie verbreiteten, Österreichbild. Die
politischen Spitzenthemen waren dabei EU-Themen 23%, Flüchtlingskrise 16%, Innenpolitik
13%, Zweiter Weltkrieg 12% und Nachkriegszeit 6%. Der Rest der Nennungen teilte sich auf
nichtpolitische Themen wie das Fußballnationalteam 14%, den Eurovision Song Contest 14%
und andere auf. Bei den genannten bedeutenden österreichischen Personen ergeben sich bei den
Umfragen drei Personengruppen, die deutlich öfter als andere genannt wurden. Diese Gruppen
bildeten sich aus den Bereichen Sport, Kunst und Politik. Wobei die Personengruppe
‚Sportler*in‘ mit 38% an erster Stelle, gefolgt von ‚Künstler*in‘ (32%) und ‚Politiker*in‘
(26%), stand.416 Fasst man jedoch die Ergebnisse der Themenbereich- und Personennennungen
zusammen, so ergibt sich, dass insgesamt der Bereich der Politik die größte Bedeutung für das
414 Vgl. ECKER / Alexander (Hrsg.), Österreichbilder von Jugendlichen. 2018. S. 95. – S. 98. 415 Ebda. S. 100. 416 Vgl. ebda. S.100. – S. 102.
110
Österreichbild der Jugendlichen einnimmt.417 Außerdem unterscheiden sich die erstrangingen
Themen der weiblichen von jenen der männlichen Befragten. So stellt der Eurovision Song
Contest für die Schülerinnen eine größere Bedeutung für das Österreichbild als für ihre
männlichen Mitschüler dar, für die im Vergleich der Fußball eine übergeordnete Rolle für das
Österreichbild spielt. Sowohl bei den männlichen als auch weiblichen Befragten nahm der
Zweite Weltkrieg als politisches Thema die wichtigste Stelle ein. In einer Nachbefragung
wurden auch die Bereiche der Natur- und der Kulturlandschaften, welche in der Nachkriegszeit
medial zu einem bedeutenden Merkmal des österreichischen Nationalbewusstsein stilisiert
wurden, aufgegriffen. Hierbei stellte man den Schüler*innen „Wenn du einem Außerirdischen
eine/n für Österreich ‚typische/n’ Ort/Stadt zeigen müsstest, um welche/n würde es sich
handeln?“ und „Wenn du einen Außerirdischen eine für Österreich ‚typische‘
Region/Landschaft zeigen müsstest, um welche/n würde es sich handeln?“418. Die Antworten
ergaben, dass hier eine breite Überschneidung mit den Bildern, die durch Fernsehsendungen
und Dokumentationen vermittelt wurden, herrscht. Die Landschaft kommt in der medialen
Vermittlung durch Filme, auch wenn sie nicht der primäre Gegenstand der Darstellung ist,
meistens im Hintergrund vor. So sind sehr oft bedeutende Bauten im Hintergrund zu sehen,
wenn etwa ein politisches Thema beleuchtet wird, zum Beispiel das Parlament, Schloss
Belvedere oder die Hofburg. Auch in Übertragungen von Sportveranstaltungen, vor allem im
Wintersport, wird die Schönheit der Schnee- und Alpenlandschaft Österreichs dargestellt.
Bruckmüller hebt hervor, dass Landschaft, Natur- und Kulturlandschaft selbst
Identifikationsfaktoren und Symbole für ein neues österreichisches Nationalbewusstsein sind
und, dass sie zu einem gewissen Grad bereits in der Ersten Republik als solche hervorgehoben
wurden. Darauf knüpfte man in der Nachkriegszeit nach dem Zweiten Weltkrieges an und auch
heute bleiben Natur, Landschaft und Kulturlandschaft wichtige Identifikationsmerkmale in der
Vermittlung des Österreichbildes.419 Bei der Frage, welche für Österreich typische
Landschaft/Region beziehungsweise Stadt die Schüler*innen einem Außerirdischen zeigen
würden, wurden die Alpen und Wien am häufigsten genannt. Die landschaftliche Schönheit
stellt darüber hinaus den wichtigsten Grund der Österreicher*innen für ihre Liebe zu ihrem
Heimatland dar. Dies zeigte bereits 1980 das Ergebnis, der durch die Paul-Lazarsfeld-
Gesellschaft durchgeführten Studie, bei der die Schönheit des Landes von 97% der Befragten
noch knapp vor dem Faktor des politischen und sozialen Friedens (96%) genannt wurde.420
417 Vgl. ECKER / SPERL (Hrsg.), Österreichbilder von Jugendlichen. 2018. S. 102. 418 Ebda. S. 104. 419 Vgl. ebda. S. 104. – S.106. 420 Vgl. ebda. S. 115.
111
Sperl und Kragolnik befragten die Schüler*innen in ihrer Studie von 2018 auch nach dem*der
‚typischen Österreicher*in‘.
Die Schüler und Schülerinnen sahen dabei den typische*n Österreicher*in als Künstler*in
(101), gefolgt von der Sparte der Sportler*innen (52) und der Politiker*innen mit 32
Nennungen. Interessant ist, dass aus der Reihe der Codierungen für männliche Künstler, der
Name Falco mit mehr als zwei Drittel der Nennungen deutlich heraussticht und auch in der
kategorisierten Befragung zum typischen Österreicher am häufigsten genannt wurde. Dies ist
einerseits erstaunlich, da die befragten Schüler*innen Falco selbst nicht mehr erlebten, da dieser
im Jahr 1998 verstarb.421
Die signifikant häufigeren Nennungen dürften auf die starke mediale Aufbereitung Falcos
Leben und die Vermittlung seines Wirkens durch ältere Generationen sein.
Insgesamt wurde 57 Männer von den Schüler*innen genannt. Die nach Falco am häufigsten
genannten charakteristischen, männlichen Österreicher waren: Andreas Gabalier, Marcel
Hirscher, Heinz Fischer, Edmund Sackbauer (Karl Merkatz), Arnold Schwarzenegger und Felix
Baumgartner. Auffällig ist, dass Personen aus der Musikbranche, wie zum Beispiel Andreas
Gabalier, deutlich öfter von Schülerinnen als von Schülern genannt wurden. Falco (Johann
Hölzl) wurde dabei als einziger Musiker von beiden Geschlechtern gleich häufig als typischer
Österreicher genannt. Des Weiteren ergab sich, dass männliche Schüler bei der Frage nach dem
charakteristischen männlichen Österreicher öfter einen Sportler nennen als Schülerinnen. Der
typische männliche Österreicher kommt für die Schüler*innen zusammenfassend also eher aus
der Künstler- und Sportlersparte. Die ‚typische Österreicherin‘ wurde bei den Schüler*innen
meist in einer Person aus dem Sportbereich gesehen. Stark vertreten waren hierbei Schi- und
Alpinsportlerinnen. Auffällig ist, dass generell bei der Befragung nach der*dem typische*n
Österreicher*in insgesamt, also die Nennungen beider Geschlechter zusammengezählt, deutlich
weniger weibliche als männliche Vertreter genannt wurden. Sperl und Kragolnik führen dies
auf eine mögliche Unterrepräsentation von weiblichen, bedeutenden Personen in den
Lehrbüchern und die mangelnde Darstellung der Rolle der Frau zurück. Die am häufigsten
genannte Frau bei der Befragung nach der typischen Österreicherin war Anna Fenninger. An
zweiter Stelle wurde Conchita Wurst, gefolgt von Christina Stürmer und Helene Fischer,
genannt. Interessant ist, dass es sich ausschließlich um eine aktive oder ehemalige Skisportlerin
handelte, wenn eine Sportlerin als typische Österreicherin genannt wurde.422 Vergleicht man
dies mit den Nennungen der männlichen Sportler, so wurde zwar auch mit Marcel Hirscher ein
421 Vgl. ECKER / SPERL (Hrsg.), Österreichbilder von Jugendlichen. 2018. S. 120. 422 Vgl. ebda. S. 123. – S. 124.
112
Skifahrer am häufigsten genannt, jedoch fallen die Nennungen bezogen auf die Sportarten
wesentlich differenzierter aus als bei den weiblichen Sportlerinnen. So wurden neben Marcel
Hirscher auch Fußballer wie David Alaba, Toni Polster oder auch Extremsportler wie Felix
Baumgartner und Hermann Buhl genannt.423
Dies dürfte auf die mangelnde Übertragung von weiblichen Sportwettkämpfen abseits der
Alpinsportarten zurückzuführen sein: Man vergleiche hierbei die mediale Inszenierung,
Übertragungen und Übertragungszeiten (‚Primetimezuweisungen‘) von Fußballspielen von
männlichen und weiblichen Athleten. (Bundesliga, WM und EM etc.) oder auch
Wintersportarten wie Skilanglauf und Skispringen.
Betrachtet man die Genderverteilung, so ergibt sich, dass mehr Schüler*innen eine weibliche
Athletin als typische Österreicherin genannt haben. Anna Veith wurde zum Beispiel häufiger
von Schülern (32) als von Schülerinnen (28) gewählt.424 Zusammengefasst ist, wie bereits bei
den Ergebnissen zu der Befragung nach dem typischen Österreicher festzustellen, dass auch bei
der Frage nach der weiblichen Vertreterin der typischen Österrreicherin, Personen aus der
Politik deutlich weniger häufig genannt wurden. Auch Wissenschaftlerinnen und
Unternehmerinnen wurden kaum beziehungsweise gar nicht genannt. Somit lässt sich der
Schluss ziehen, dass Personen aus diesen Berufsgruppen, egal ob männlich oder weiblich,
wenig Relevanz für die Schüler*innen in Bezug auf die Frage nach den typischen
Österreicher*innen haben.425
Dies dürfte auf die fehlende mediale Präsenz von Vertreter*innen dieser Berufsgruppen
zurückzuführen sein, welche sicherlich einen enormen Einfluss auf die Jugendlichen und ihr
Bild des typischen österreichischen Menschen ausübt.
Die Ergebnisse, der von Sperl und Kragolnik durchgeführten Studie Das aktuelle
Österreichbild von 15-16-jährigen AHS-Schülerinnen und Schülern zeigt, dass sich das
Österreichbild der Jugendlichen zwar noch an den in der Ersten und besonders der Zweiten
Republik wiederaufgegriffenen und weiterentwickelnden Österreichbildern orientiert, doch
aber teilweise durch neue, andere gegenwärtige Bilder und Personen ersetzt worden sind. Die
alten historischen Stereotype sind den Jugendlichen zwar bekannt, jedoch haben diese keine
besondere Relevanz für deren Österreichbild. An die Stelle der alten Stereotype und Klischees
treten aktuelle Informationen über Persönlichkeiten oder Ereignisse, die den Jugendlichen
hauptsächlich über die Medien vermittelt werden.426 Was also als ‚österreichisch‘ von den
423 Vgl. ECKER / SPERL (Hrsg.), Österreichbilder von Jugendlichen. 2018. S. 123. – S. 124. 424 Vgl. ebda. S. 124. 425 Vgl. ebda. S. 124. – S. 125. 426 Vgl. ebda. S. 140.
113
Schüler*innen bewertet wird, wird über aktuelle Medien transportiert und nicht über
traditionelle Bilder und Rollenzuschreibungen. Wenn es eine Überschneidung zu den alten
tradierten Österreichbildern mit der Wahrnehmung der Jugendlichen gab, so ist es der Faktor
der landwirtschaftlichen Schönheit Österreichs noch vorhanden. Im politischen, historischen
und wirtschaftlichen Bewusstsein der Jugendlichen finden sich eher aktuelle Themen wie die
Flüchtlings- und Klimakrise. Aber auch der EU-Beitritt, die Währungsumstellung und der
Zweite Weltkrieg wurden als wichtige historische Ereignisse angegeben. In Hinblick auf das
Themenfeld Kultur wurde am häufigsten der Eurovision Song Contest 2014 angegeben. Im
Bereich Sport wurde die Qualifikation zur Fußball-EM 2015/16 am häufigsten genannt. Aus
dem Sport- und Kulturbereich wurden wiederum auch die meisten Personen als Vertreter*in
der*des typische*n Österreicher*in gewählt.427 Dies ist insofern interessant, als in den Studien
der 1980er Jahre, wie etwa in jener des Fessels Instituts für Meinungsforschung und der Paul
Lazarsfeld Gesellschaft für Sozial Forschung die für Österreich charakteristischen Personen, zu
einem Großteil aus dem Bereich der Politik kamen. In den Ergebnissen der Studien finden sich
Namen wie Bruno Kreisky, Alois Mock oder Karl Renner an erster Stelle und werden nur von
bedeutenden Künstler*innen aus dem Musikbereich wie Wolfgang Amadeus Mozart und
Johann Strauß gefolgt.428
427 Vgl. ECKER / SPERL (Hrsg.), Österreichbilder von Jugendlichen. 2018. S. 140. 428 Vgl. GEHMACHER, Das österreichische Nationalbewusstsein. Wien. 1982.
114
8 Ausblick – österreichisches Nationalbewusstsein in der Covid-19 Krise
Die Ereignisse und Entwicklungen der Covid-19 Krise lassen einen möglichen Rückschluss
darauf zu, in welche Richtung sich das österreichische Nationalbewusstsein entwickeln könnte.
Im Zuge der Covid-19 Pandemie und der von der Regierung gesetzten Maßnahmen kam es zu
einer Stärkung des österreichischen „Wir-Gefühls“. Der nationale Zusammenhalt sollte durch
Aufrufe der Regierung zur gemeinsamen Einhaltung der Maßnahmen und durch die
Verwendung von Begriffen wie ‚Team Austria‘ gestärkt werden.
Die Wiener Polizei spielte als Zeichen der Solidarität und des Zusammenhalts bei ihren
Streifenfahrten um 18:00 Uhr das Lied I Am from Austria von Reinhardt Fendrich.429
Aufgrund der verhängten Reisewarnungen über beliebte Sommerurlaubsländer der
Österreicher*innen wie Italien und Kroatien veranstaltete der ORF einen Sommer in Österreich
Programmschwerpunkttag, der am 21. Mai von 9:05 bis 23:30 Uhr ausgestrahlt wurde. Die
ausgestrahlten Sendungen sollten den Seher*innen die Vorzüge Österreichs als
Sommerurlaubsort vermitteln und zugleich ein „heimatliches Sommerfeeling in allen neun
Bundesländern in fiktionaler oder dokumentarischer Form verbreite[n]“.430 Die Sendung „Ein
Sommer in Österreich – Urlaub in Rot-Weiß-Rot“ um 20:15 Uhr war der Höhepunkt des
Programmtages. Inhaltich wurden in der Sendung pro Bundesland zwei Destinationen als
wertvolle Urlaubsziele porträtiert. Für die Moderation wurde der Ex-Skirennläufer Marcel
Hirscher engagiert.431 Die Sendung hob die Bedeutung der landschaftlichen und kulinarischen
Besonderheit Österreichs hervor. Somit zeigen sich diese beiden Faktoren, die seit Beginn der
Konstituierung des österreichischen Nationalbewusstseins eine große Bedeutung spielen, auch
in der Zeit der Covid-19 Pandemie als die einflussreichsten, identitätsstiftenden Faktoren des
österreichischen Nationalbewusstseins. Präsentiert werden diese zwei Faktoren dabei von
einem ‚typischen Österreicher‘, der sowohl geschlechter- und generationsübergreifend sehr
populär ist. Um die nationale Identität und Verbundenheit noch stärker anzusprechen, wurde in
der Sendung ein Szenenwechselbild verwendet, welches die österreichische Flagge auf
türkisem Grund zeigt, und das durch das Audiokommentar „Das ist Urlaub in Rot-Weiß-Rot“
untermalt wird. Dieser Szenenwechsel wiederholt sich durch die ganze Sendung und erreicht
durch das sich wiederholende Motiv der Österreichfahne und dem Audiokommentar eine
verstärkte Prägung der Zuseher*innen, die somit auf die Nationalfarben und den Slogan
„Urlaub in Rot-Weiß-Rot“ sensibilisiert werden.
429 Vgl. Fendrich zu Polizei-Aktion: „Bin sprachlos“. https://wien.orf.at/stories/3040243/ [01.11. 2020] 430 https://tv.orf.at/highlights/orf2/200521_ein_sommer_in_oe100.html [01. 11. 2020] 431 Vgl. ebda.
115
Fraglich ist noch, ob durch die gesetzten Covid-19 Maßnahmen wie die Schließung der Grenzen
zu ‚Risikostaaten‘, die Betonung von Regionalität und die Hervorhebung von Österreichs
schöner Landschaft zu einer Verstärkung des nationalen Inselbewusstsein führen.
Klar jedoch zeigt sich, dass während der Zeit von Covid-19 durch die Verwendung von Kriegs-
und Kampfmetaphern in der politischen Diskussion, das österreichische Wir-Gefühl gestärkt
werden soll. So wird „der gemeinsame Kampf gegen das Virus“ betont. Durch die Verwendung
von metaphorischen Kriegs- und Kampfkonzepten werden die Menschen auf emotionaler
Ebene erreicht, wodurch sie sich verstärkt als Teil einer Gemeinschaft, einer „Wir-Gruppe“
fühlen. Neben dieser ‚Kriegsrhetorik‘ im politischen Diskurs werden auch auf überparteilichen
Plattformen, wie oesterreich.gv.at ähnliche, jedoch etwas abgeschwächte wörtliche Strategien,
wie etwa „Gemeinsam gegen das Coronavirus“432 oder „Schau auf dich, schau auf mich.“433
verwendet. Außerdem ist auch ein Gebrauchszuwachs von Begriffen wie ‚Solidarität‘,
‚Gemeinschaft‘ und ‚Zusammenhalt‘ im Kontext der Covid-19 Pandemie zu beobachten.434
Wie sehr sich die Covid-19 Krise auf das österreichische „Wir-Gefühl“ und
Nationalbewusstsein auswirkt, wird sich aber erst zeigen, wenn es diesbezüglich Studien gibt.
432 https://www.oesterreich.gv.at/ [08.11.2020] 433 Ebda. 434 Vgl. Let’s talk about Corona. https://www.oeaw.ac.at/detail/news/lets-talk-about-corona
[08.11.2020]
116
9 Conclusio
Nationen zeichnen sich durch ein „Wir-Gefühl“ aus. Der subjektive Wille von Personen, einer
Nation anzugehören, wird maßgeblich von objektiven Faktoren, wie geografischen
Gegebenheiten, gemeinsamer Geschichte und gemeinsamer Sprache beeinflusst. Faktoren also,
die das Zusammenhörigkeitsgefühl einer Wir-Gruppe stärken und sie zugleich, aber nicht
notwendigerweise, von anderen Wir-Gruppen unterscheiden. Der gemeinsame Wille, einer
Nation anzugehören und die objektiven Faktoren, die die In- und Exklusion erleichtern, werden
meist im Zuge des Nationsbildungsprozesses – sprich in der weiteren Herausbildung des
nationalen Bewusstseins, durch Nationalcharaktere, Stereotype und Klischees verstärkt.
Hierbei entstehen Selbst- und Fremdbilder der Nationen, die sich wechselseitig beeinflussen.
Selbstbilder bewirken eine Anpassung der Fremdbilder und umgekehrt. Somit kommt es zu
einer ständig fortlaufenden Modifikation und Adaptierung des Nationalcharakters. Die
Entwicklung eines Nationalbewusstseins ist also ein stetiger, fortlaufender Prozess, der
abhängig von vielen inneren und äußeren Faktoren ist.
Mit dem Nationalismus kam es vor allem im 19. und 20. Jahrhundert zu einer Politisierung des
Nationsbegriff. Selbst- und Fremdbilder wurden verstärkt mit Wertungen versehen, wobei das
Selbstbild der eigenen Nation stets positiv und das Fremdbild einer anderen, fremden Nation
stets negativ, diffamierend dargestellt wurde. Diese Wertzuschreibungen wurden kultiviert und
gezielt für politische Propaganda eingesetzt und verbreitet, um einerseits das „Wir-Gefühl“, das
nationale Selbstbewusstsein und die Loyalität- beziehungsweise Opferbereitschaft der
Menschen zu stärken; andererseits um die eigenen Herrschafts- und Machtansprüche zu
legitimieren. Somit wurden Nationen nicht nur zu solchen künstlich erhoben, sondern auch als
Mittel zum politischen Zweck eingesetzt. Um das eigene Nationalbewusstsein und Selbstbild
zu fördern, griff man auf Abstammungsmythen und Nationalsymbolen wie Hymnen, Trachten,
Heldenfiguren und Flaggen zurück, oder erfand aus nur teilweise historisch belegbaren
Ereignissen den Entstehungsursprung der eigenen Nation.
Die österreichische Nation ist eine relativ junge Nation, die sich aber auf alten Werten,
Traditionen und Stereotypen, die es bereits vor einer österreichischen Nation und einem
österreichischen Nationalbewusstsein gab, stützt. Das ‚Reich‘ stand der Entwicklung eines
österreichischen Nationalbewusstsein zweimal im Weg. Einmal im Vielvölkerstaat der
Habsburger, in dem es nicht gelang, ein gesamtösterreichisches Nationalbewusstsein, welches
alle Nationalitäten des Reiches vereinigt, zu beschwören, da es dafür zu wenige
identitätsstiftende Faktoren gab und sich jedes Volk des Habsburgerreiches an einer seiner
Sprache und Kultur ähnlichen Nation orientierte. Die ‚Deutsch-Österreicher*innen‘ hatten aber
117
als einziges Volk nach dem Zerfall der Habsburger Monarchie ihren identitätsstiftenden Faktor,
der sie von den ‚Reichsdeutschen‘ unterschieden hatte, verloren, wohingegen alle anderen
ehemalig auf habsburgischem Gebiet lebenden Völker ihre nationale Präferenzen einnehmen
konnten. Der nach dem Ende des Ersten Weltkrieges durch den Friedensvertrag von Saint
Germain festgelegte Staatsname „Republik Österreich“ wurde von den – sich in einer
Identitätskrise wähnenden – Österreicher*rinnen als Schmach empfunden. Der Großteil der
österreichischen Bevölkerung bezweifelte, dass ein kleinstaatliches Österreich ein sinnvolles
und bedeutendes Dasein haben könnte. Der Weg aus der Identitätskrise und zugleich den
bedeutenden identitätsstiftenden Faktor sah man im Deutschtum. Österreich könne nur als ein
Teil einer großen Deutschen Kulturnation den Weg in die Bedeutungslosigkeit vermeiden. Die
Rückbesinnung und Hervorhebung der eigenen ‚vaterländischen‘ Werte und Traditionen kam
zu spät und konnte jenem, zuvor durch „entösterreichern[den]“435 dem Deutschtum
hingewandten Lehrplänen, eingepflanzten deutschnationalen Bewusstsein der
Österreicher*innen nicht mehr entgegenwirken, welches schließlich den Anschluss 1939 an
Hitler-Deutschland ermöglichte. Mit dem Anschluss war Österreich nicht nur seiner Identität
beraubt, es existierte als solches nicht mehr. In den Jahren von 1939 bis 1945 war Österreich
als Ostmark ein Teil des Deutschen Reiches. Doch obwohl der Staat Österreich nicht mehr
existierte, waren noch Spuren eines österreichischen Bewusstseins und Selbstverständnisses
vorhanden. Diese zeigten sich im Exil, im Widerstandskampf und auch latent etwa bei
Sportveranstaltungen wie Fußballspielen. Nach den erschütternden Erfahrungen, die die
Österreicher*innen als Teil eines Reiches erlebten, kam es zu einer Abkehr der
Großraumvorstellungen. Die kriegsgebeutelte Bevölkerung sehnte sich nach einer sicheren
Heimat. Als solches konnte das kleinstaatliche Österreich nun von den Österreicher*innen
akzeptiert werden. Doch was einer eigenständigen Nation Österreich und einem
österreichischen Nationalbewusstsein noch im Weg stand, war einerseits die Verbindung zu
Deutschland und andererseits die Besatzung der Alliierten Mächte. Für das erste Hindernis
wurde Österreich bereits mit der Moskauer Deklaration im Jahr 1943 ein Lösungsweg
vorgegeben, welcher entscheidend für die Zukunft des Landes war. Mit dem Wortlaut der
Moskauer Deklaration, der Österreich als erstes Opfer Nazideutschlands bezeichnete, wurde
der Grundstein für die Wiederherstellung Österreichs als freien Staat gelegt. Indem Österreich
die von den Siegermächten zugespielte Opfer-Rolle annahm, war eine Voraussetzung
geschaffen, die die Entwicklung des österreichischen Nationalbewusstseins maßgeblich
435 LEUTHNER Karl, Zit. nach HEER Friedrich, Der Kampf um die österreichische Identität, Wien/Köln/Graz.
1981. S. 341. IN: BRUCKMÜLLER Ernst, Symbole österreichischer Identität zwischen „Kakanien“ und
„Europa“. Wien. 1997. S. 34.
118
beeinflusste. Mit der Einnahme der Opfer-Rolle distanzierte sich Österreich nicht nur von den
deutschnationalen Tendenzen, sondern erreichte auch einen Sonderstatus bei den alliierten
Besatzungsmächten, der für die Entnazifizierung, die ‚re-orientation‘ und den Verhandlungen
um den Staatsvertag entscheidend war. Die Abgrenzung zu Deutschland und dem Deutschtum
war ein wesentlicher Schritt, um ein österreichisches Nationalbewusstsein zu fördern. Der
Kampf gegen eine Vereinnahmung durch Ost- und Westmächte und das Ringen um die
Entnazifizierung und die Rückgewinnung der Souveränität Österreichs förderten den
österreichischen Zusammenhalt und das österreichische „Wir-Gefühl“. Dabei ist das
österreichische Nationalbewusstsein ohne die Einnahme der Opfer-Rolle und den Prozess der
Entnazifizierung nicht denkbar, da die Gründung des Staates mit dieser einherging. Die
Behauptung gegen die alliierten Besatzungsmächte, die Errungenschaft des Staatsvertrages und
die Erlangung einer anerkannten Neutralität stellen die Meilensteine des österreichischen
Bewusstseins dar. Deshalb wird die Entstehung des österreichischen Nationalbewusstseins um
das Jahr 1955 festgemacht. Seitdem lässt sich auch empirisch ein österreichisches
Nationalbewusstsein nachweisen, welches sich seit den 1960er Jahre stetig konsolidierte und
spätestens nach 1970 unbezweifelbar vorhanden ist, wie aus der folgenden Tabelle entnehmbar
ist.
Abbildung 3: Nationalbewusstsein in Österreich (angegeben in Prozent), 1956-2009
119
Die Festigung des österreichischen Nationalbewusstseins spiegelt sich auch im internationalen
Vergleich im stark ausgeprägten Nationalstolz der Österreicher*innen wider.
Abbildung 4:Nationalstolz der Österreicher (angegeben in Prozent), 1973-2009
Die oben abgebildete Tabelle verdeutlicht, dass der Nationalstolz der Österreicher*innen seit
1973 konstant hoch ist. Wenn man die Ergebnisse der beiden Antwortmöglichkeiten „sehr
stolz“ und „ziemlich stolz“ addiert, so ergibt sich, dass durchgehend etwa 90 Prozent der
Befragten stolz darauf sind, Österreicher*innen zu sein.
Dabei wies die Bewertung der einzelnen Gegenstände des österreichischen Nationalstolzes in
der Zeit zwischen 1980 und 2004 Schwankungen auf. So änderte sich die Bedeutung des Sports
und der Politik als Merkmale für den Nationalstolz.
Abbildung 5: Stolz auf österreichische Leistungen (angegeben in Prozent), 1980-2004
120
So waren die Österreicher*innen 1980 noch vermehrt stolz auf die Leistungen der Politik, dieser
Stolz nahm jedoch 2004 deutlich ab. Dagegen waren die Österreicher*innen im Jahr 1987 auf
die Leistungen im Sport weniger stolz als im Jahr 2004, in dem der Sport zu einem der
wichtigsten Merkmale des österreichischen Nationalstolz avancierte.436 Dies zeigt sich auch in
Auswertungen des International Social Survey Programme, aus den Jahren 1995 und 2003/4,
bei denen der Sport jenes Merkmal war, auf das die Österreicher*innen am meisten stolz
waren.437 Einzig Kunst und Kultur sowie die landschaftliche Schönheit blieben konstant
bedeutende Merkmale des österreichischen Nationalstolz und bilden darüber hinaus neben den
Sport die wichtiges identitätsstiftenden Merkmale für das österreichische
Nationalbewusstsein.438 Dies geht auch aus aktuelleren Studien, wie jene von Kragolnik und
Sperl zum Österreichbild von Jugendlichen im Jahr 2018 hervor.439 Des Weiteren
veranschaulicht die Untersuchung von Kragolnik und Sperl, dass, obwohl das österreichische
Nationalbewusstsein stabil ist, sich dessen Merkmale und Faktoren im Laufe der letzten 40
Jahre verändert haben. Die Kultur- und Naturlandschaft stellt bis heute einen konsistenten
identitätsstiftenden Faktor da, während andere Faktoren und Ereignisse über die Zeit und durch
Modernisierungsprozesse, Veränderungen der Art der Wissensvermittlung und der
Kommunikation entweder an Bedeutung für das österreichische Nationalbewusstsein verloren
haben oder durch andere ersetzt worden sind. So haben die Sozialpartnerschaft und die
Neutralität, als die mit der Nation Österreich assoziierten Begriffe, seit den 2000er Jahren und
für die heutige Schülergeneration wenig bis keine Relevanz für das österreichische
Nationalbewusstsein. Medien spielen bei diesem Prozess dabei eine immer größere Rolle. Die
Schüler*innen kennen zwar die alten tradierten Stereotype, jedoch wirken diese sich kaum auf
deren Österreichbild aus. Hierbei stützen sie sich überwiegend auf aktuelle Informationen und
Geschehnisse.
Mit der Modernisierung und der voranschreitenden Vernetzung wird auch die Abgrenzung
einer Nation zur anderen weniger signifikant, womit auch die Merkmale, die einen
Nationalcharakter bilden, immer weniger werde und an Bedeutung verlieren.
436 Vgl. ULRAM Peter A., Vortrag: Pride and Prejudice. Charts. Twenty-Ninth GSA Annual Conference.
September 29 – October 2, 2005. Milwaukee, Wisconsin. 2005. S. 18. 437 Vgl. Datensatz ISSP (International Social Survey Programme) 1995 – Nationale Identität. et.
Datensatz ISSP (International Social Survey Programme) 2003/2004 – Nationale Identität/Staatsbürgerschaft. 438 BRUCKMÜLLER Ernst, Nation Österreich. Kulturelles Bewußtsein und gesellschaftlich-politische Prozesse.
Böhlau Verlag, Wien/Köln/Graz. 1996. S. 93. – S. 94. 439 Vgl. ECKER / SPERL (Hrsg.), Österreichbilder von Jugendlichen. Zum Einfluss audiovisueller Medien. New
academic press, Wien. 2018. S. 102. et. S. 107. – S. 112.
121
Charakteristisch für das österreichische Nationalbewusstsein ist eine Unsicherheit und eine
gespaltene Haltung zum Selbstbild der Österreicher*innen, das durch den Waldheimskandal
Ende der 1980er das erste Mal mit großer medialer Wirksamkeit offenbart wurde. Auch in der
kontroversen Regierungsangelobung von Schüssel I kam diese Spaltung erneut zum Vorschein.
Die Auseinandersetzung und die Verarbeitung des Nationalsozialismus ist auch gegenwärtig
notwendig, da es diesbezüglich noch immer Haltungsdifferenzen in der Österreichischen
Gesellschaft herrschen, die sich auch auf das gemeinsame Nationalbewusstsein und das
österreichische „Wir-Gefühl“ auswirken. Man denke etwa an die Präsidentschaftswahl
(Hofer/Van der Bellen) von 2015 zurück, in der der geführte Wahlkampf das Land zu spalten
drohte beziehungsweise der diese diskrepanten Werthaltungen der Österreich*innen erneut
offenbarte. Ebenso kontrovers wurde das Öffnen der Grenzen für Flüchtlingen aus dem
syrischen Krieg im Jahr 2015 debattiert, die ebenfalls zu einer Spaltung der österreichischen
Gesellschaft führte. Einerseits zeigten sich die Österreicher*innen solidarisch und hießen sie
willkommen, andererseits fürchteten andere eine durch die Flüchtenden ausgehende Bedrohung
ihres Wertesystems. Beide Haltungen resultieren in einem gespaltenem Selbstbild, welches das
„Wir-Gefühl“ unterminiert. Wiederum erfährt dieses „Wir-Gefühl“ durch überindividuelle
Krisen wie etwa der Covid-19 Pandemie oder der am 2. November 2020 verübte Terroranschlag
in Wien eine Stärkung.
122
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124
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Gedenktag-gegen-Gewalt-und-Rassismus/14018655 [21.10.2020]
Let’s talk about Corona. https://www.oeaw.ac.at/detail/news/lets-talk-about-corona [08.11.2020]
MUTSCHLECHNER Martin, Probleme und Potenziale eines Vielvölkerstaates.
https://www.habsburger.net/de/kapitel/probleme-und-potenziale-eines-vielvoelkerstaates [09.04.2020]
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lehre/lehre/projektlehre/regionale-erinnerungsorte/was-ist-ein-erinnerungsort/ [03.05.2020]
10.3 Datensätze
Datensatz ISSP (International Social Survey Programme) 1995 – Nationale Identität.
Datensatz ISSP (International Social Survey Programme) 2003/2004 – Nationale Identität/Staatsbürgerschaft.
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11 Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: ÖVP Wahlplakat, 1949
http://www.bildarchivaustria.at/Pages/ImageDetail.aspx?p_iBildID=15870246
Abbildung 2: Robert Menasses Kommentar auf Facebook
https://www.derstandard.at/story/2000120231259/robert-menasse-heftige-kritik-an-gernot-bluemel-kommentar-
geloescht
Abbildung 3: Nationalbewusstsein in Österreich (in Prozent), 1956-2009
TRIBUTSCH Svila / ULRAM Peter A., Kleine Nation mit Eigenschaften. Über das Verhältnis der Österreicher
zu sich selbst und zu ihren Nachbarn. Molden Verlag, Wien. 2004. S. 60.
Abbildung 4:Nationalstolz der Österreicher (angegeben in Prozent), 1973-2009
TRIBUTSCH Svila / ULRAM Peter A., Kleine Nation mit Eigenschaften. Über das Verhältnis der Österreicher
zu sich selbst und zu ihren Nachbarn. Molden Verlag, Wien. 2004. S. 61.
Abbildung 5: Stolz auf österreichische Leistungen (angegeben in Prozent), 1980-2004
ULRAM Peter A., Vortrag: Pride and Prejudice. Charts. Twenty-Ninth GSA Annual Conference. September 29
– October 2, 2005. Milwaukee, Wisconsin. 2005. S. 18.
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