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Das österreichische Nationalbewusstsein Entwicklung, Faktoren und Einflüsse Diplomarbeit zur Erlangung des akademischen Grades eines Magisters der Philosophie an der Karl-Franzens-Universität Graz vorgelegt von Julian ZUSCHNEGG am Institut für Geschichte Begutachter: Univ.-Prof. i. R. Dr. Alois Ecker Graz, 2020

Das österreichische Nationalbewusstsein

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Page 1: Das österreichische Nationalbewusstsein

Das österreichische

Nationalbewusstsein

Entwicklung, Faktoren und Einflüsse

Diplomarbeit

zur Erlangung des akademischen Grades

eines Magisters der Philosophie

an der Karl-Franzens-Universität Graz

vorgelegt von

Julian ZUSCHNEGG

am Institut für Geschichte

Begutachter: Univ.-Prof. i. R. Dr. Alois Ecker

Graz, 2020

Page 2: Das österreichische Nationalbewusstsein

1

Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis ................................................................................................................................. 1

1 Einleitung ........................................................................................................................................... 2

2 Theoretische Grundlagen: ,Nation‘ und ,Nationalismus‘ ............................................................... 3

2.1 Nation ........................................................................................................................................... 3

2.1.1 Die Nation – eine soziale, politische Gemeinschaft, eine „Wir-Gruppe“ ............................. 12

2.1.2 Der Nationsbegriff und seine Funktion ................................................................................ 14

2.2 Nationalismus ............................................................................................................................. 17

3 Nationalbewusstsein und kollektives Gedächtnis .......................................................................... 20

3.1 Erinnerungsorte .......................................................................................................................... 22

3.2 Nationalbewusstsein ................................................................................................................... 23

4 Das österreichische Nationalbewusstsein ....................................................................................... 29

4.1 Das Österreichbewusstsein nach dem Anschluss bis 1945 ......................................................... 34

4.2 Das Österreichbewusstsein nach 1945 – Bedingungen, Faktoren und Probleme ........................ 36

4.3 Die Opfer-These ......................................................................................................................... 44

4.4 Entnazifizierung ......................................................................................................................... 50

4.4.1 Das 4. Lager ........................................................................................................................ 66

4.4.2 Die Bedeutung der Entnazifizierung für das österreichisches Nationalbewusstsein ............ 69

4.5 Alliierter Einfluss auf das österreichische Nationalbewusstsein – ‚Re-orientation‘ durch Medien

......................................................................................................................................................... 73

4.6 Österreich (er-)findet sich selbst. Zum neuen Nationalbewusstsein nach 1945 .......................... 76

5 Das Wendejahr 1955 „Annus mirabilis“: Staatsvertrag, Neutralität und Freiheit .................... 81

5.1 Staatsvertrag ............................................................................................................................... 81

5.2 Neutralität ................................................................................................................................... 86

6 Das österreichische Nationalbewusstsein nach dem Staatsvertrag. ............................................. 93

6.1 Der Nationalstolz der 1980er und 1990er Jahre .......................................................................... 97

6.2 Das österreichische Nationalbewusstsein der 2000er ............................................................... 100

7 Elemente/Merkmale des österreichischen Nationalbewusstseins/ des österreichischen

Identitätsbildes ................................................................................................................................. 103

7.1 Typisch österreichisch! Selbst- und Fremdbilder...................................................................... 103

7.2 Das Österreichbild der Gegenwart / der Schülergeneration ...................................................... 108

8 Ausblick – österreichisches Nationalbewusstsein in der Covid-19 Krise .................................. 114

9 Conclusio ........................................................................................................................................ 116

10 Bibliografie .................................................................................................................................. 122

10.1 Literatur .................................................................................................................................. 122

10.2 Onlinequellen ......................................................................................................................... 124

10.3 Datensätze .............................................................................................................................. 124

11 Abbildungsverzeichnis ................................................................................................................ 125

Page 3: Das österreichische Nationalbewusstsein

2

1 Einleitung

Die vorliegende Arbeit geht der Frage nach, wodurch sich das österreichische

Nationalbewusstsein konstituiert, durch welche Faktoren es im Laufe der Geschichte geformt

wurde und ob sich diese im Lauf der Zeit verändert haben.

Hierbei ist es notwendig, die Begriffe der ‚Nation‘ und des ‚Nationalismus‘ zu beleuchten, um

Faktoren und Merkmale herauszuarbeiten, die speziell für ein Österreichbewusstsein

bezeichnend sind. Der Nationalismus, ein Phänomen der Moderne, gibt seit dem 19.

Jahrhundert durch dessen Komplexität und Vielschichtigkeit Anlass zu Diskussionen und

Abhandlungen. Es gibt ebenso viele Definitionen des Begriffes wie Diskussionen über die

Wertung desselben. Doch soll etwa die Frage, ob der Nationalismus positiv oder negativ ist,

oder ob es notwendig ist, generell zwischen einem positiven Nationalismus und negativen

Nationalismus zu unterscheiden, in dieser Arbeit nicht in den Vordergrund gestellt werden,

vielmehr wird versucht, das Fundament des Nationalismus zu definieren: die Nation. Was und

wer macht eine Nation aus? Wann ist oder fühlt man sich einer Nation zugehörig? Diese Fragen

stellen die zentrale Basis dieser Arbeit dar, da sie nicht nur für das Konzept des Nationalismus

bestimmend sind und sondern auch in weiterer Folge auch für das österreichische

Nationalbewusstsein. Eine Analyse des Nationenbegriffes ist demnach ohne die Betrachtung

des Phänomens Nationalismus unvollständig. Überdies kann eine Betrachtung des

Nationalismus auch einen Beitrag zur Untersuchung von Identitätsbildern leisten.

In einem einleitenden Kapitel werden die Begriffe ,Nation‘ und ,Nationalismus‘ gemäß der

Definitionen von Hobsbawn1, Gellner2 sowie Anderson3 besprochen und auf diesen

Definitionen basierend wird auf das österreichische Nationalbewusstsein im Speziellen

eingegangen. Hierbei sollen kurz die historischen Wurzeln des österreichischen

Nationalbewusstseins (Entnazifizierung, Staatsvertrag und Neutralität) beleuchtet werden, um

später zu untersuchen, ob die Merkmale des österreichischen Nationalbewusstseins einen

Wandel im Laufe der Geschichte durchliefen. Danach soll basierend auf diversen Umfragen

und Studien erörtert werden, auf welchen Kriterien ein österreichisches Nationalbewusstsein

fußt beziehungsweise durch welche spezifischen Merkmale sich die Menschen als

Österreich*in identifizieren und inwiefern die politische Gemengelage auf das Selbst- und

Fremdbild der Österreicher*innen Einfluss nimmt.

1 HOBSBAWM Eric J., Nationen und Nationalismus. Mythos und Realität seit 1780. Aus dem Englischen von

Udo Rennert. Campus Verlag, Frankfurt/New York. 1996. 2 GELLNER Ernest: Nationalismus und Moderne. Rotbuch Verlag, Berlin 1991. 3 ANDERSON Benedict, Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines erfolgreichen Konzepts. Aus dem

Englischen von Benedikt BURKARD. Campus Verlag, Frankfurt/New York. 1988.

Page 4: Das österreichische Nationalbewusstsein

3

2 Theoretische Grundlagen: ,Nation‘ und ,Nationalismus‘

Im folgenden Kapitel werden die Begriffe ,Nation‘ und ,Nationalismus‘ gemäß dem

Forschungsstand kritisch betrachtet. Es ist bemerkenswert, wie unterschiedlich der Zugang zu

den beiden Begriffen ist. Während Anderson davon ausgeht, dass aus der Nation der

Nationalismus entspringt, sind Hobsbawn und Hroch der Ansicht, dass zuerst der

Nationalismus Gegenstand einer Analyse sein muss, ehe man auf den Begriff der Nation

eingeht.4

2.1 Nation

Der Begriff ,Nation‘ hat seinen Ursprung im lateinischen Wort ,natio‘, was „Geburt“, „Volk“,

„Abstammung“ oder „Herkunft“ bedeutet. Im 14. Jahrhundert verwendete man den Begriff

„Nation“ erstmals als Bezeichnung für eine Verwandtschaftsgruppe innerhalb eines bestimmten

Territoriums. An den ersten Universitäten wurden auch Gruppen von Studenten aus bestimmten

Regionen als ,Nation‘ bezeichnet. In der frühen Neuzeit hatte der Terminus „Nation“ vielfältige

Bedeutungen, wie etwa Stand, Bevölkerung eines Herrschaftsgebietes oder Gemeinschaft. Seit

dem 18. Jahrhundert, spätestens seit der Französischen Revolution, wird er im gegenwärtigen

politischen Sinn definiert und gebraucht. Nach der französischen Revolution entstand der

Begriff der „Nationalität“. Dieser bezeichnet die Zugehörigkeit eines Menschen zu einer

Nation. Das Konzept der Nation dient der Vereinfachung und der Strukturierung des

menschlichen Zusammenlebens. Die Idee der Nation dient also als kognitives Hilfsmittel, die

Vielfalt von Menschen, denen sich die/der Einzelne gegenübersieht, zu strukturieren. Sie

ermöglicht es, in einer Masse von Menschen einen Teil als „wir“ und den Rest als „ihr“ zu

definieren und ist somit diesbezüglich ein Werkezeug zur Orientierung und Vereinfachung

einer komplexen Struktur. Die Komplexitätsreduktion durch das Konzept „Nation“ wird durch

Inklusion und Exklusion erreicht. Welche Kriterien die Inklusion und Exklusion bestimmen

beziehungsweise was eine Nation ist oder durch welche Faktoren sich die einen als „wir“

identifizieren und somit die anderen zu „ihr“ werden und wie straff oder fließend diese

Abgrenzung von „wir“ und „ihr“ ist, hängt von der jeweiligen theoretischen Definition einer

Nation ab. Hierbei haben sich im Laufe der Zeit vier unterschiedliche Ansätze für die Definition

der Nation durchgesetzt:5

4 Vgl. HOBSBAWM, Nationen und Nationalismus. 1996. S. 21. 5 Vgl. JANSEN Christian / BORGGRÄFE Henning, Nation – Nationalität – Nationalismus: Historische

Einführung. Band 1 von Historische Einführungen. Campus Verlag, Frankfurt. 2017. S. 10.

Page 5: Das österreichische Nationalbewusstsein

4

Die subjektivistische Definition

Nach den Definitionen eines subjektiven Nationsbegriffes sind Nationen große Kollektive, die

durch einen Konsens ihrer Mitglieder gebildet werden. Die Nation basiert demnach auf der

reinen Überzeugung ihrer Mitglieder, dass sie zusammengehören. Diese Auffassung des

Nationsbegriffes geht wiederum auf die Zeit der Französischen Revolution zurück. Emmanuel

Joseph Sieyès, ein französischer Priester und einer der Haupttheoretiker der Französischen

Revolution, hat in seiner Schrift Qu'est-ce que le Tiers État? (Was ist der Dritte Stand?) die

Nation definiert als „eine Gesamtheit von vereinigten Individuen, die unter einem gemeinsamen

Gesetz stehen und durch dieselbe gesetzgebende Versammlung vertreten sind“6. Der

französische Wissenschaftler Ernest Renan betrachtete die Nation als ein „täglicher Plebiszit“.

Dieser Ansicht nach beruht der nationale Zusammenhalt nicht auf objektiven Bedingungen,

sondern auf der immer wieder getroffenen Entscheidung des Volkes. Nach der subjektiven

Definition ist es einfach einer Nation anzugehören, da die Zugehörigkeit zu einer Nation alleine

auf den eigenen Willen und der Überzeugung des Individuums basiert.7

Die objektivistische Definition

Im Gegenzug zu den subjektivistischen Definitionen ist nach den objektiven Definitionen jede

Nation durch bestimmte objektive Realitäten definiert und von anderen durch diese klar

abgegrenzt. Die objektiven Realitäten sind dabei außerhalb des Einflussbereiches der

Individuen. Des Weiteren sollen alle Menschen eindeutig nur jeweils einer Nation angehören.

Als Zugehörigkeitskriterien werden in den objektivistischen Definitionen verschiedene

Merkmale wie gemeinsame Sprache, Geschichte, Tradition, Kultur oder gemeinsames

Territorium genannt.8

Die subjekivistische Definition als kognitives Konzept

In den 1980er Jahren wurde der subjektivistische Ansatz durch Theoretiker wie Benedict

Anderson, Ernest Gellner oder Eric Hobsbawn weiterentwickelt. Laut Anderson und Hobsbawn

sind Nationen lediglich vorgestellte Gemeinschaften oder imaginierte Konstrukte.9

6 SIEYES Emmanuel, Was ist der dritte Stand? Übersetzt und eingeleitet von Otto BRANDT. Verlag von Reimar

Hobbing, Berlin. 1924. S. 40. 7 Vgl. JANSEN / BORGGRÄFE, Nation – Nationalität – Nationalismus. 2017. S. 11 – S. 12. 8 Vgl. ebda. S. 13. 9 Vgl. ebda. S. 14.

Page 6: Das österreichische Nationalbewusstsein

5

Die Annäherung zwischen der subjektivistischen und objektivistischen Definition

Als vierte Position sind die Ansätze von Anthony Smith zu nennen. Dieser postuliert einen

ethnischen Ursprung der Nationen. Smith geht davon aus, dass gemeinsame Herkunft mehr als

eine ideologische Vorstellung oder ein Konstrukt sei und bindet die Sicht einer objektiven

Definition der Nation ein.10

Die obigen Ausführungen verdeutlichen, dass es keine einheitliche, allgemeinverbindliche

Definition des Begriffes Nation gibt, daher wird im Folgenden ein Konglomerat der

beschriebenen Ansätze von Definitionen verwendet.

Anderson weist in seinem Werk Die Erfindung der Nation bereits auf diese Problematik hin, er

stellt fest, dass Theoretiker*innen, die sich mit Nationalismus beschäftigen, oft mit drei

Schwierigkeiten, die mit dem Begriff der ,Nation‘ einhergehen, konfrontiert sind: Erstens steht

laut Anderson die aus der Sicht von Historikern objektiv jungen Neuheit des Nationsbegriffs,

ein subjektives Alter, welche Nationalisten der Nation zusprechen, gegenüber. Der Hinweis auf

diese Problematik ist für die vorliegende Arbeit insofern interessant, als man nach dem Zweiten

Weltkrieg versuchte, die Geschichtsträchtigkeit des Österreichischen über historische

Ereignisse zu evozieren, um somit das Nationalbewusstsein zu befördern und im eigentlichen

Sinne neu zu kultivieren. Das Österreichische war somit „älter“ als die Nation ,Österreich‘

selbst und als der Begriff der ,Nation‘ in seiner politischen Dimension, die er ab der

Französischen Revolution erhalten hat.11

Zweitens ist gemäß Anderson die universelle Bedeutung von Nationalität als soziokultureller

Begriff selbst oft ein Problem. Hierzu führt Anderson weiter aus, dass jeder Mensch „[…] in

der modernen Welt eine Nationalität ‚haben‘ […]“kann, „haben“ sollte oder haben wird, „[…]

so wie man ein Geschlecht ‚hat‘.“12 Dies steht der Eigenschaft der Nationalität, verschiedene

Ausprägungen zu haben, gegenüber.13 Eine Nationalität unterscheidet sich von einer anderen.

Das ist das bezeichnende Merkmal einer Nationalität und einer Nation und zugleich auch deren

Funktion als Begriffe. Anderson nennt hier als „Beispiel die definierte Einzigartigkeit der

Nationalität ‚Griechisch‘.“14 Es gibt nur eine Nationalität ,Griechisch‘ und diese unterscheidet

sich klar von anderen Nationalitäten.

Kaum eine Forschungsmeinung differiert zu Andersons Ansicht. Jedoch greift sein Ansatz für

das 21. Jahrhundert zu kurz. Seine Analogie zur Geschlechterzugehörigkeit könnte für viele in

10 Vgl. JANSEN / BORGGRÄFE, Nation – Nationalität – Nationalismus. 2017. S. 16. 11 Vgl. ANDERSON, Die Erfindung der Nation. 1988. S. 14. 12 Ebda. S. 14. 13 Vgl. ebda. 14 Ebda. S. 15.

Page 7: Das österreichische Nationalbewusstsein

6

der heutigen Zeit unzureichend sein und bedarf einer Anpassung oder Erweiterung, insofern als

einerseits das Merkmal ‚Geschlecht‘ nicht immer eindeutig ist, andererseits auch weil viele

Menschen sich nicht eindeutig einer Nationalität oder einer Nation zugehörig fühlen. Menschen

können zwei oder sogar drei Nationalitäten besitzen und sie können dies auch als Teil ihrer

Identität ansehen.

Als dritte Schwierigkeit oder Paradox, mit denen Nationalismustheoretiker*innen oft

konfrontiert sind, nennt Anderson das Ungleichgewicht der ‚politischen‘ Macht des

Nationalismus und dessen „philosophische[n]“ und „[…]den daraus resultierenden Widerstand

Widersprüchlichkeit[en] gegenüber“15. Der Nationalismus habe im Vergleich zu anderen Ismen

keine großen Denker, wie etwa Marx, Hobbes oder Weber hervorgebracht. Hier könnte man

aus aktueller Sicht widersprechen und Anderson selbst sowie auch Hobsbawm, Renan, Gellner

und Smith als prägend für den Nationalismus-Diskurs anführen.

Eine weitere Schwierigkeit, die Anderson sieht, ist, dass man dazu tendiert, Nationalismus zu

vergegenständlichen und „‚ihn‘ als eine Weltanschauung unter vielen einordnet.“16 Seiner

Auffassung nach diente es der Klarheit, verwendete man ihn begrifflich nicht wie

,Kommunismus‘, ,Liberalismus‘ oder ,Faschismus‘, „[...] sondern wie ‚Verwandtschaft‘ oder

‚Religion‘.“17 Als Vorschlag zur Lösung dieser Schwierigkeiten schlägt Anderson vor, die

Nation als „eine vorgestellte politische Gemeinschaft – vorgestellt als begrenzt und

souverän“18zu definieren. Diese Definition soll im Folgendem kurz erläutert werden:

Vorgestellt ist diese Gemeinschaft, weil sich die einzelnen Mitglieder untereinander niemals

alle kennen können, dennoch haben sie ein gemeinsames Bild einer vorgestellten Gemeinschaft,

welcher sie alle angehören, in ihren Köpfen. Anderson bezieht sich hierbei auf Renans

Definition der Nation als ,vorgestellte Gemeinschaft‘. Denn laut Renan ist „das Wesen einer

Nation […], daß alle einzelnen vieles gemeinsam und daß sie alle vieles vergessen haben.“19

Renan spielt mit diesem Satz auf das kollektive Vergessen der französischen Bürger*innen auf

die Bartholomäusnacht und die Massaker im Südfrankreich des 13. Jahrhunderts an.

Gellner geht mit Renans Begriff der ,vorgestellten Nation‘ noch einen Schritt weiter und hebt

die negative Wechselbeziehung von Nationalismus und Nation hervor: „Nationalismus ist

keineswegs das Erwachen von Nationen zu Selbstbewusstsein: man erfindet Nationen, wo es

15 ANDERSON Benedict, Die Erfindung der Nation. 1988. S. 15. 16 Ebda. S. 15. 17 Ebda. 18 Ebda. S. 15. 19 RENAN Ernest, „Qu’est-ce qu’une nation?“ IN: Cenvres [Sic!] Complètes, Bd. 1, Paris; Calmann-Lévy. 1947-

61, S. 887-906. IN: ANDERSON Benedict, Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines erfolgreichen

Konzepts. Aus dem Englischen von Benedikt BURKARD. Campus Verlag, Frankfurt/New York. 1988. S. 15.

Page 8: Das österreichische Nationalbewusstsein

7

sie vorher nicht gab.“20 Anderson sieht im direkten Vergleich zu Gellner mit Renans Begriff

der ,vorgestellten Nation‘ eher ein „Kreieren“21, welches nicht ausschließlich negativ

konnotiert ist und kritisiert Gellner, er assoziiere den Nationalismus und die ,vorgestellte

Nation‘ nur mit der „‘Herstellung‘ von ‚Falschem‘. Dies sei laut Anderson eine einseitige und

bewusst zum Negativen gerichtete Sicht. Des Weiteren suggeriere diese Sichtweise, dass es

neben den „falschen“ Nationen „wahre“ Gemeinschaften gebe, die sich durch ihren Status

„wahrhaftig“ zu sein von andren Nationen unterschieden. Anderson räumt hierbei ein, dass alle

Gemeinschaften, „die größer sind als die dörflichen Face-to-face-Kontakte, vorgestellte

Gemeinschaften“22 sind. Nicht die Authentizität der Gemeinschaften unterscheide sie laut

Anderson voneinander, sondern die Art und Weise, in der sie von den Mitgliedern imaginiert

werden.23

Mit dem „Vorstellen“ einer Nation betont Anderson zwei weitere Eigenschaften, die nach

seiner Definition für eine Nation bestimmend sind, nämlich, dass die Nation als „begrenzt“24

und „souverän“25 vorgestellt wird.

Selbst wenn in einer großen Nation mit einer Vielzahl an Menschen, die sich ihr zugehörig

fühlen, die Grenzen variabel, aber dennoch bestimmbar sind, können sie sich eben von anderen

Nationen abgrenzen und unterscheiden. Er führt weiter aus, dass sich keine Nation, egal wie

groß sie auch sein mag, sich mit der gesamten Menschheit gleichsetzen würde und auch die

eifrigsten Nationalisten nicht davon träumen, dass jeder Mensch sich ihrer einen Nation

angehörig fühlt.

Als ‚souverän‘ wird die Nation deshalb vorgestellt, weil ihr Begriff in der Zeit der Aufklärung

entstanden ist. In dieser Zeit verloren die Gott gewollte Ordnung und die Hierarchie von

dynastischen Reichen stetig an Legitimität. Frei zu sein, auch unter Gottes Gnaden, das war und

ist das Ziel von Nationalisten und Nationen.26 Die Säkularisierung, die mit dem Humanismus

und der Aufklärung einherging, war ein bedeutender Motor für die Entstehung von

‚souveränen‘ Nationen. Die Religion an sich kann man ebenso wie die Sprache oder die

Herkunftsgeschichte als ein Merkmal in einem Katalog von Merkmalen sehen, die das

Zugehörigkeitsgefühl zu einer bestimmten Nation maßgeblich beeinflussen. Jedoch ist die

20 GELLNER, Ernest, Thought and Change. Weidenfeld and Nicholson, London. 1964. S. 16. IN: ANDERSON

Benedict, Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines erfolgreichen Konzepts. Aus dem Englischen von

Benedikt BURKARD. Campus Verlag, Frankfurt/New York. 1988. S. 16. 21 ANDERSON, Die Erfindung der Nation. 1988. S. 16. 22 Ebda. 23 Vgl. ebda. 24 Ebda. S. 16. 25 Ebda. 26 Vgl. ebda. S. 16. – S. 17.

Page 9: Das österreichische Nationalbewusstsein

8

Religion, wie auch die Sprache, alleine oft nicht ausreichend, um sich klar als ein Mitglied einer

Nation zu identifizieren oder sich von Mitgliedern anderer Nation klar abgrenzen zu können,

da es in sehr vielen Nationen mehrere anerkannte Religionen gibt sowie auch zwei oder mehrere

verschiedene gesprochene Sprachen.27

Der letzte entscheidende Terminus in Andersons Definition einer Nation ist ,Gemeinschaft‘.

Nach Anderson wird die Nation trotz sozialer und gesellschaftlicher Ungleichheiten und auch

Ausbeutung als „‘kameradschaftlicher‘ Verbund von Gleichen verstanden […]“28. In diesem

brüderlichen Gedanken sieht Anderson sowohl etwas Positives als auch Negatives. Er betont

etwa, die hohe Bereitwilligkeit von sehr vielen Menschen eher für die gemeinsame Nation zu

sterben als zu töten, gleichzeitig und zurecht weißt er damit aber auch auf die Schattenseiten

des Nationalismus hin: „Wie kommt es, daß die kümmerlichen Einbildungen der jüngeren

Geschichte (von kaum mehr als zwei Jahrhunderten) so ungeheure Blutopfer gefordert

haben?“29 Anderson geht in weiterer Folge auf die Geschichte des Nationalismus ein, da er in

ihr die Antwort, oder besser eine Erklärung, für die für den Nationalismus erbrachten Blutopfer

der letzten zwei vergangen Jahrhunderten vermutet.30

Anderson weist auf die wie Verstrickung der Termini ,Nation‘ und ,Nationalismus‘ hin. Auf

diese Beziehung soll auch im Kapitel 2.2 dieser Arbeit eingegangen werden.

Andersons „praktikable Definition“31, eine Nation sei „eine vorgestellte politische

Gemeinschaft – vorgestellt als begrenzt und souverän“32, welche an die folgende Definition von

anknüpft:

“Eine Nation ist ein geistiges Prinzip, das aus tiefen Verwicklungen der Geschichte resultiert, eine

spirituelle Familie, […]eine Seele, ein geistiges Prinzip […]. Eine Nation ist also eine große

Solidargemeinschaft […]“,33

ist m.E. nicht ganz zufriedenstellend, da nach dieser Definition nur der eigene Wille zählt, um

sich als Mitglied einer Nation zu fühlen. Eine Person kann demnach selbst entscheiden, ob und

welche Nation sie sich zugehörig fühlt. Dieser eigene Wille verliert aber an Authentizität oder

freiwilligen Charakter, wenn man bedenkt, dass jede Person in eine Nation geboren wird und

somit auch die Nationalität annimmt beziehungsweise von der Umwelt und den Menschen mit

denen man aufwächst, in eine Nation und eine Nationalität hineinerzogen wird. Man ist bereits

27 Vgl. ANDERSON, Die Erfindung der Nation. 1988. S. 16. – S. 17. 28 Ebda. S. 17. 29 Ebda. 30 Vgl. ebda. 31 Ebda. 32 Ebda. S. 15. 33 Renan, Ernest: Was ist eine Nation. Aus dem Französischen von Henning Ritter. Veröffentlicht in:

JEISMANN, Michael / RITTER, Henning: Grenzfälle – Über neuen und alten Nationalismus, Leipzig 1993.

https://www.zeit.de/reden/die_historische_rede/200109_historisch_renan/komplettansicht [26.04.2019]

Page 10: Das österreichische Nationalbewusstsein

9

Mitglied einer Nation, ehe man sich des Konzepts der Nation überhaupt bewusst ist. Des

Weiteren macht die Zugehörigkeit aufgrund des bloßen Willens, dieser und nicht jener Nation

anzugehören, einen zu unzureichenden Eindruck, der nach objektiver Abgrenzung langt, da

man sich nach dieser Definition theoretisch tagtäglich für eine andere Nation beziehungsweise

Nationalität „entscheiden“ könnte. Immerhin fühlen sich Menschen auch gerade wegen

objektiver Faktoren, sei es die gemeinsame Sprache, geografische Gegebenheiten, Brauchtum

oder gemeinsame geschichtliche Herkunft als ein Mitglied einer Nation. Diese objektiven

Faktoren erleichtern den Mitglieder der einen Nation sich von der anderen zu unterscheiden.

Aber wie bereits oben angemerkt, sind wiederum auch rein objektive Faktoren allein

unzureichend, da eine Nation sich nicht ohne subjektive Faktoren zur Genüge erklären lässt.

Hobsbawm weist auf diese Problematik hin: „Weder subjektive noch objektive Definitionen

sind demnach befriedigend, und beide führen in die Irre.“34 Hobsbawm formuliert daher eine

„vorläufige Arbeitshypothese“35: Eine Nation ist eine „ausreichend große Gemeinschaft von

Menschen […], deren Mitglieder sich als Angehörige einer Nation betrachten.“36 Diese

„Arbeitshypothese“ von Hobsbawm schafft einen Kompromiss zu den Definitionen von Renan

und Anderson. Sie ist schwer zu verneinen und lässt kaum Platz für Gegenargumente durch ihre

Allgemeingültigkeit. Nichtsdestotrotz ist sie dadurch auch nicht sehr aussagekräftig und lässt

viel Raum, was nun eine Nation wirklich ist beziehungsweise ausmacht. Mit dieser Definition

ist auch fraglich, ab wann eine Gemeinschaft als „ausreichend groß“ gelten kann. Muss die Zahl

der Personen, die diese Gemeinschaft bildet, eine Mindestgröße aufweisen? Sind kleinere

Gemeinschaften, die das gleiche, oder vielleicht sogar ein größeres Bedürfnis haben, eine

Nation zu sein, weniger oder gar nicht berechtigt, als Nation angesehen zu werden, weil sie

schlicht zu klein sind? Wenn es um einen quantitativen Faktor geht, wer oder was entscheidet,

ab wann die Größe der Gemeinschaft ausreichend ist, um eine Nation zu sein? Entscheiden

andere bereits bestehende Nationen, ab wann eine Gemeinschaft eine Nation ist oder genügt,

wie zuvor erwähnt, das Bewusstsein der Gemeinschaft, auch wenn sie eine kleine ist, sich als

Nation zu legitimieren. Man könnte annehmen, dass Hobsbawm bei seiner Definition die

„ausreichend große“ Gemeinschaft bewusst nicht näher ausführt, da er hier wieder einen Schritt

zur Ursprungsproblematik der objektiven und subjektiven Merkmalsdiskussion zurückgehen

würde, auf die er ja mit seiner Definition eine Lösung und zugleich eine Grundlage für eine

weitere Analyse der Begriffe ,Nation‘ und ,Nationalismus‘ gefunden zu haben meint.

34 HOBSBAWM, Nationen und Nationalismus. 1996. S. 19. 35 Ebda. 36 Ebda.

Page 11: Das österreichische Nationalbewusstsein

10

Bei aller möglichen Kritik ist sein Lösungsansatz trotzdem praktikabel. Denn trotz der

unspezifizierten Formulierung Hobsbawms, bleibt der Kern und die Essenz seiner Definition

wesentlich und erklären sich von selbst. Eine Gemeinschaft muss eine gewisse Größe besitzen,

um sich als Nation legitimieren zu können. Es erscheint nicht sinnvoll, dass sich eine Handvoll

von Personen zusammenschließen und sich als Nation deklarieren kann. So gesehen, ergibt

Hobsbawms Formulierung „ausreichend große Gemeinschaft“ Sinn. Denn wie im zuvor

genannten Beispiel wäre diese Handvoll Menschen, die sich als Nation bekennt von einer

geringen Anzahl – nehmen wir beispielsweise an, es handelte sich um sieben Personen – nicht

eher ‚nur‘ eine Gruppe als eine Nation? Rein unser Sprachgebrauch des Wortes ,Nation‘ lässt

nicht zu, dass sich nur sieben Personen zu einer Nation zusammenschließen. Selbst wenn man

andere objektive Merkmale, wie Sprache, Religion, Herkunftsgeschichte und territoriale

Gegebenheiten außer Acht ließe, so bleibt das Kriterium einer relativen großen Größe oder

Mindestgröße, die eine Gemeinschaft, sprich eine Nation besitzen muss, als Mindestkriterium

erhalten. Dies scheint bei aller möglichen Kritik unabdingbar.

Das Kriterium der Größe findet sich auch in der Definition von Renan wieder:

„Der Mensch ist weder der Sklave seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Religion noch des Laufs der Flüsse

oder der Richtung der Gebirgsketten. Eine große Ansammlung von Menschen, gesunden Geistes und

warmen Herzens, erschafft ein Moralbewußtsein, welches sich eine Nation nennt. In dem Maße, wie

dieses Moralbewußtsein seine Kraft beweist durch die Opfer, die der Verzicht des einzelnen zugunsten

der Gemeinschaft fordert, ist die Nation legitim, hat sie ein Recht zu existieren.“37

Renan spricht hier nicht nur das Kriterium der Größe an, sondern auch wie sich eine Nation als

solche legitimiert. Um aber noch bei dem Kriterium der Größe zu bleiben: Die ausreichende

Größe muss a priori vorhanden sein, damit aus einer Gemeinschaft eine Nation werden kann,

und das vor und unabhängig von der Betrachtung anderer Kriterien. Die Größe der

Gemeinschaft stellt also das Basiskriterium, den Kern einer Nation dar.

Hierbei bleibt jedoch immer noch die Frage, wie groß die „ausreichende Größe“ sein muss. Die

mögliche Antwort zu dieser Frage könnte sein: Die Gemeinschaft muss eine solche Größe

besitzen, die ausreicht, etwas als Gemeinschaft bewirken zu können, mit dem Ziel und dem

Bewusstsein eine Nation sein zu wollen.

Doch wann kann eine ausreichend große Gemeinschaft etwas bewirken? Auf diese Fragen

können sehr wohl die vorhergenannten sogenannten objektiven Kriterien eine Antwort geben.

Eine gemeinsame Sprache und Verständigungsmöglichkeit zum Beispiel erleichtert nicht nur

das gemeinsame Wirken, sondern stellt auch eine Grundvoraussetzung dar. Zusätzlich zum

37 Was ist eine Nation? Von Ernest Renan . Aus dem Französischen von Henning Ritter. Veröffentlicht in:

Jeismann, Michael / Ritter, Henning: Grenzfälle - Über neuen und alten Nationalismus, Leipzig. 1993.

https://www.zeit.de/reden/die_historische_rede/200109_historisch_renan/seite-4 [25.11.2019]

Page 12: Das österreichische Nationalbewusstsein

11

Kriterium der Sprache und der gemeinsamen Kommunikation sind Gemeinsamkeiten wie

dieselbe Religion, Bräuche und Herkunftsgeschichte etc. bedeutende Einflussfaktoren, die das

Wir-Gefühl und das Moralbewusstsein in der Gemeinschaft stärken. Somit wird auch die

Bereitschaft jeden einzelnen Mitgliedes beeinflusst, Opfer zum Wohl der Gemeinschaft in Kauf

zu nehmen, auch wenn diese einen persönlichen Verzicht nach sich ziehen würden. Die

Einzelperson stuft das Wohl der Gemeinschaft und den Wert einer Mitgliedschaft als bedeutsam

und essenziell ein und rechtfertigt somit ihre Opferbereitschaft zu Gunsten der Gemeinschaft.

Insofern spielen objektive Kriterien keine notwendige, aber eine wichtige Rolle, die den

Zusammenhalt in einer Gemeinschaft maßgeblich beeinflussen können.

An dieser Stelle ist wichtig zu erwähnen, dass diese Kriterien und deren Einflussgröße sich im

Wandel der Zeit, durch politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklungen sowie

neuen technologischen Errungenschaften verändern. Durch die Kolonialisierung und die

Globalisierung wurde Englisch zum Beispiel zur Weltsprache, die Erfindung des Internets

revolutionierte die Kommunikation und unser Zusammenleben maßgeblich. Solche

Entwicklungen wirken sich auf Kriterien, wie etwa eine gemeinsame Sprache oder gemeinsame

Religion massiv aus und können deren Wert und Bedeutung als Kriterien einer Nation

beeinflussen. Deren Einfluss und Relevanz wird in den Kapiteln 2.2, 4 und 9 dieser Arbeit noch

genauer behandelt.

Abschließend sei noch einmal auf die Legitimation einer Nation durch das Kriterium der Größe

hingewiesen: Neben der „ausreichenden“38 Größe kann die Frage nach der Legitimation einer

Nation mit dem von Renan geprägten Merkmal des „Moralbewusstsein[s]“39 und der

Opferbereitschaft einer Nation beantwortet werden.

Auch wenn sich eine Nation nicht durch subjektive und objektive Merkmale alleine

zufriedenstellend definieren lässt, so ist das bedeutendste Merkmal einer Nation, und da sind

sich die meisten Historiker*innen und Begriffsforscher*innen einig, dass sich die Menschen

einer Nation als Mitglieder einer Gruppe betrachten, und sich als „Wir“ identifizieren können.

Die Nation als solche existierte vor den Staaten und dem Nationalismus. Diese sind Kinder der

Moderne und prägten die Bedeutung des Begriffes ,Nation‘. Die Grundfunktion der Nation –

nämlich ihren Mitgliedern einen Rahmen zu geben – bleibt aber bestehen, in denen sie sich

38 HOBSBAWM, Nationen und Nationalismus. 1996. S. 19. 39 RENAN, Was ist eine Nation? Aus dem Französischen von Henning Ritter. Veröffentlicht in: JEISMANN,

Michael / RITTER, Henning: Grenzfälle – Über neuen und alten Nationalismus, Leipzig 1993.

https://www.zeit.de/reden/die_historische_rede/200109_historisch_renan/komplettansicht [05.05.2020]

Page 13: Das österreichische Nationalbewusstsein

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ihrer Gruppe oder Gemeinschaft zuordnen können. Hier ist anzumerken, dass diese

Identifikation durch die im 18. Jahrhundert entstandenen Phänomene des Nationalismus und

Patriotismus einen ideologisierten Schwung erhielt, der drastische Folgen mit sich brachte.

Nach dem verheerenden Zweiten Weltkrieg, der die zerstörerische Kraft des Nationalismus der

Welt offenbarte, wurde auch die Diskussion in der Nations- und Nationalismusforschung neu

entfacht. Obwohl es in der Forschung diesbezüglich divergierende Ansichten gibt, ist man sich

laut Hroch nach den vergangenen einschneidenden Geschehnissen jedoch in einem Punkt einig:

Die politische, historische und soziologische Bedeutung der Nation und des Nationalismus ist

hervorzuheben und bedarf einer genaueren Betrachtung. Die Forscher*innen distanzierten sich

nun gänzlich von der Idee der Nation als Urkategorie, und auch gänzlich von rassistischen

Theorien. Des Weiteren kam man zu einem Konsens, dass sich die Nationen nicht nur durch

rein ethnische Merkmale, wie Kultur und Sprache definieren lassen.40 Zunehmend wurde die

Nation als eine „eigenständische politische oder soziale Gemeinschaft anerkannt“41, sofern

erkenntlich war, „dass sich ihre Angehörigen ihrer Zusammengehörigkeit bewusst waren und

sie als Wert betrachteten“42. Aus diesen Erkenntnissen folgert Hroch, dass sich eine „stärkere

Akzentuierung der Erforschung des Nationalismus als subjektive Voraussetzung,

Ausdrucksform oder gar Bedingung der Existenz der Nation“ ergeben hat.43

Hrochs Ausführungen folgend wird die Bedeutung der sozialen, politischen Gemeinschaft als

wichtigstes Merkmal des Nationsbegriffes der Forschungsgemeinschaft nach 1945 deutlich.

2.1.1 Die Nation – eine soziale, politische Gemeinschaft, eine „Wir-Gruppe“

Aufgrund der Ausführungen im vorangegangenen Kapitel lässt sich auf folgende konsensuale

Definition schließen: Eine Nation ist eine soziale, politische Gemeinschaft, eine „Wir-Gruppe“,

deren Mitglieder sich bewusst als solche anerkennen und dieser Mitgliedschaft auch einen Wert

zuschreiben.

Wenn aber die gemeinsame Gruppe das zentrale Merkmal einer Nation ist, ist es notwendig,

sich mit den Mechanismen und Ursachen der Gruppendefinition auseinanderzusetzen.

Schulze beschreibt in seinem Werk Staat und Nation in der europäischen Geschichte Gruppen

und macht mit seiner Darlegung deutlich, wie wichtig Gruppen, Gruppenprozesse und deren

Wechselwirkung für Nationen sind.

40 Vgl. HROCH Miroslav, Das Europa der Nationen: Die moderne Nationsbildung im europäischen Vergleich.

Vandenhoeck & Ruprecht, Wien. 2005. S. 16. 41 Ebda. S. 17. 42 Ebda. 43 Ebda.

Page 14: Das österreichische Nationalbewusstsein

13

„Die Eigengruppe wird von einem ‚Wir-Gefühl‘ zusammengehalten […], die Fremdgruppe sind die

Anderen, und die Tendenz ist stark, alle Gruppengenossen als gleichwertig, die Mitglieder von

Fremdgruppen dagegen als minderwertig anzusehen. Innerhalb der Gruppe herrschen Friede und

Ordnung, nach außen Spannung, wenn nicht Kampf. Die ‚Wir-Gruppe‘ vermittelt dem Einzelnen

Zugehörigkeit, Geborgenheit und das Gefühl, daß sein Handeln in dieser Gruppe und für dieser Gruppe

seiner Existenz Sinn verleiht. Die Sinnhaftigkeit der ‚Wir-gruppe’ wird nicht nur durch die Normen und

Verhaltensweisen hergestellt, mit denen sich die Gruppenmitglieder im Wir zusammenschließen, sondern

auch durch die Identifikation mit Symbolen: Wappen, Fahnen, Embleme. Eine Gruppe bedarf der

Kontinuität, um ihre Normen und Symbole entwickeln, und um sich über die Existenz der einzelnen

Mitglieder hinaus als dauerhaft und damit als legitimiert zu empfinden – daher die Neigung, die

Geschichte der Gruppe bis auf ihre Gründung zurückzuverfolgen, sie für die Zwecke der

Gruppenintegration zu vereinfachen oder notfalls auch zu erfinden. Niemand gehört jedoch ausschließlich

einer einzigen Gruppe an; von der Zweier-Gruppe, also Freundschaft oder Ehe, über die Familie, Sippe,

die Gemeinde, den Verein bis zu Großgruppen, der Nation oder der Kirche, gibt es viele Gruppen zu

denen jemand gleichzeitig gehören kann, die jeweils Loyalität von ihm fordern, in unterschiedlichen

Situation auf verschiedene Weise Geborgenheit versprechen, die aber auch Loyalitätskonflikt hervorrufen

können, wenn in der gegebenen Situation unterschiedliche Gruppenzugehörigkeiten unterschiedliche

Verhaltensweise fordern. Unter all diesen Gruppen hat sich die integrierende Kraft der Nation als politisch

besonders mächtig erwiesen. [] Zwar gab es den Begriff ‚Nation‘ schon lange, viel Länger als den des

‚Staates‘, aber in der heutigen Bedeutung, die die gesamte Bevölkerung umfaßt und Nation kaum noch

ohne Staat definieren kann – in dieser Bedeutung sind Nation noch sehr jung.“44

Schulze hebt die hohe Bedeutung von Gruppen und dem damit verbundenen „Wir-Gefühl“ klar

hervor. Dabei geht er nicht nur auf die Nation als Wir-Gruppe ein, sondern nennt auch andere

Wir-Gruppen, wie Familie und Religion etc. Gleichzeitig bringt er diese unterschiedlichen

Gruppen miteinander in Beziehung und verbindet sie mit dem gemeinsamen Merkmal der

„Gruppenloyalität“. Die Loyalität, die Menschen für eine Gruppe aufbringen, verbindet, kann

aber ebenso gut ein trennender Faktor sein. „Loyalitätskonflikte“ können innerhalb und

außerhalb einer Gruppe zu einer oder mehrerer koexistenten Gruppen entstehen. Diese

Loyalitätskonflikte entstehen laut Schulze, wenn eine Gruppe eine verstärkte Hingabe oder

Verhaltensweise seiner Mitglieder fordert, die nicht konform mit den Zielen einer anderen

Gruppe sind. Anders ausgedrückt: Durch eine verstärkte Inklusion ihrer Mitglieder durch eine

Gruppe A erfolgt eine Exklusion dieser Mitglieder aus einer anderen Gruppe B. Durch die

passive Mehreinbeziehung oder auch aktives Selbsteinbringen der Mitglieder bleibt kein Platz

für eine koexistente gleichwertige Mitgliedschaft in einer anderen Gruppe. Die In- und

Exklusion hängt mit dem Grad der Mehreinbeziehung und den persönlichen Ressourcen, die

eine Personen der jeweiligen Gruppe widmet, zusammen. Es ist zum Beispiel möglich, der

Nation Österreich anzugehören und gleichzeitig der Gruppe seiner Familie oder einer

Religionsgruppe.

Schulzes Beschreibung eröffnet durch die von ihm beschriebenen möglichen

Loyalitätskonflikte zwischen Gruppen weitere wichtige Fragen: Welchen Wert hat es für eine

44 SCHULZE Hagen, Staat und Nation in der europäischen Geschichte. C.H. Beck, München. 2004. S. 111.

Page 15: Das österreichische Nationalbewusstsein

14

Person, einer Gruppe oder einer Nation anzugehören? Wie loyal muss eine Person gegenüber

dieser Nation sein? Was muss eine Person aufbringen oder leisten, um einer Nation

anzugehören? Kann eine Person zwei oder mehreren Nationen gleichzeitig angehören? Wie und

wann entstehen „Loyalitätskonflikte“ zwischen Gruppen oder Nationen? Welchen Wert haben

die von Schulz genannten anderen Gruppen wie Familie, Vereine, Religionsgemeinschaften

etc. für eine Nation und wie beeinflussen sie sich gegenseitig?

Die Antwort auf diese Fragen kann eine Analyse des „Wir-Gefühls“ geben. Hierbei stellt sich

weiters die Frage, ob sich dieses „Wir-Gefühl“ im Sinne eines Nationalbewusstseins

gleichsetzen lässt oder das „Wir-Gefühl“ nur eine notwendige Voraussetzung für ein

Nationalbewusstsein darstellt. Benötigen Menschen, die zuvor erwähnten gemeinsamen

Merkmale oder Kriterien, um ein „Wir-Gefühl“ im Sinne eines Nationalbewusstseins zu

entwickeln? Inwiefern konstituieren Faktoren wie Landschaft, Kultur, Sport, gemeinsame

Geschichte, Bräuche und Sitten das „Wir-Gefühl“?

In Bezug auf das „Wir-Gefühl“ und die Identifikation der Menschen mit der Nation sieht

Hobsbawm bereits in seinem im Jahre 1990 erschienen Werk Nationen und Nationalismus

jenen Bereich der Forschung über Nation und Nationalismus, in dem es einen dringenden

Forschungsbedarf gibt.45 Denn laut Hobsbawm kann man nicht davon ausgehen, dass die

Identifikation mit der Nation, sofern sie überhaupt existiert, für die Menschen über andere

Identifikationen, die in einer Gesellschaft vorkommen, steht. Sie verschmelze immer mit

„Identifikationen andere Art“46, selbst dann, wenn sie als primär empfunden werden. Eine

weitere Schwierigkeit sieht Hobsbawm in der Wandelbarkeit dieser nationalen Identifikation.

Denn das Wir-Gefühl der Mitglieder einer Nation kann sich nicht nur über lange Zeitabschnitte

grundlegend verändern, sondern auch bereits in kurzen Perioden.47

2.1.2 Der Nationsbegriff und seine Funktion

Der Nationsbegriff ist ein Kriterium der Mitgliedschaft, der Inklusion bzw. der Exklusion von

Mitgliedern einer Gruppe. Folglich hat er eine unterscheidende Funktion zwischen Mitgliedern

und Nicht-Mitgliedern.48 Dieser Funktion ist es nach Nassehi auch zu verdanken, dass der

Begriff der Nation aufgekommen ist und die heutige Bedeutung hat. Die Begründung eines

Nationsbegriffes geht mit der „[…] Säkularisierung des Weltbegriffes und des Zurücktretens

45 Vgl. HOBSBAWM, Nationen und Nationalismus. 1996. S. 22. 46 Ebda. 47 Vgl. ebda. 48 Vgl. KITTEL Bernhard, Moderner Nationalismus. Zur Theorie politischer Integration. WUV-

Universitätsverlag, Wien. 1995. S. 95.

Page 16: Das österreichische Nationalbewusstsein

15

der Religion als ‚überwölbende Sinninstanz‘“49 einher. Der Nationsbegriff hat laut Nassehi eine

Stabilisationswirkung innerhalb einer Gesellschaft. In einer funktional differenzierten

Gesellschaft könne die Nation mit ihrer Funktion zu einer Kommunikation zwischen

Mitgliedern beitragen, die eine stabilisierende Wirkung auf jene Gesellschaft haben kann.

In diesem Zusammenhang führt Nassehi den Begriff der ‚Selbststabilisation‘ an und meint in

diesem Kontext die „gesamtgesellschaftliche Koordination von Kommunikation“.50

Diese Koordination zwischen den Mitgliedern einer Nation passiert über einen „unterstellten

Wertkonsens, der in nahezu alle kommunikativen Bereiche eindringen kann“51. Daraus

entspringt Nassehis zentrale These:

Ethnische und nationale Semantiken lassen sich exakt auf dieser Ebene des Wertkonsens wiederfinden.

Ihre spezifische Funktion ist es, dem einzelnen eine Inklusion in gesellschaftliche Kommunikation zu

ermöglichen, weil er seine Identität kaum noch durch einfache Zugehörigkeit zu sozialen Aggregaten

bestimmen kann. Oder kürzer formuliert: Ethnizität/Nationalität wird zu einem wesentlichen

Identitätsmerkmal.52

Kittel setzt die These von Nassehi fort: „Nation ist […] die Selbstbeschreibung einer

Gesellschaft.“53 Er ist der Auffassung, dass der Nationsbegriff unterstützend auf das

Kommunikationssystem eines Staates wirken kann, in welchem politische Normen, die etwa in

der Verfassung einer Nation festgelegt sind, herrschen. Gleichzeitig wird der Nationsbegriff

zum Spiegel der Kommunikation innerhalb eines Staates mit einer differenzierten Gesellschaft,

mit unterschiedlichen Machthierarchien einen kommunikativen Konsens stiften und ein

gemeinsames Wertesystem erzeugen, auf das alle Mitglieder der Nation zurückgreifen

können.54

Demnach ist es laut Kittel für die Funktion der Nation charakteristisch, Mitglieder und Nicht-

Mitgliedern, über die Kenntnis und richtige Anwendung der sozialen, politischen und

kulturellen Werte, die in der Kommunikation einer Gesellschaft mittransportiert werden, zu

unterscheiden. Nur Mitglieder der Gesellschaft können diese richtig deuten und anwenden und

unterscheiden sich dadurch von Außenstehenden.

Neben dieser Hauptfunktion bergründet Kittel noch eine ‚Nebenfunktion’ des Nationsbegriffes:

49 Vgl. KITTEL, Moderner Nationalismus. 1995. S. 95. 50 Vgl. NASSEHI Armin, Zum Funktionswandel Ethnizität im Prozeß gesellschaftlicher Modernisierung. Soziale

Welt, 41, 3. S. 265. IN: KITTEL Bernhard, Moderner Nationalismus. Zur Theorie politischer Integration. WUV-

Universitätsverlag, Wien. 1995. S. 95. 51 Ebda. 52 Ebda. 53 KITTEL, Moderner Nationalismus. 1995. S. 95. 54 Vgl. ebda. S. 95. – S. 96.

Page 17: Das österreichische Nationalbewusstsein

16

Die Nationstheorie kann „als Reflexionstheorie einer politisch abgegrenzten Gesellschaft

gesehen werden.“55 Denn die Nationstheorie bildet eine Deskription des Selbstbildes einer

Gesellschaft, einen Katalog für die Unterscheidung von ihrer äußeren Umwelt und Leitlinien

für die Kommunikation innerhalb dieser Gesellschaft.56

Darüber hinaus sieht Nassehi die Nation nicht nur als Rahmen der die Inklusion/Exklusion

vorgibt, sondern auch als eine Plattform, die Integration ermöglicht:

Die Funktion der Entstehung ethnischer und nationaler Semantiken, also Selbstidentifikationsfolien als

Grundlage für Identitätsbildungen, die sich an der ethnischen Zugehörigkeiten ausrichten, besteht in der

Möglichkeit der Vollinklusion von Personen in gesellschaftliche Kommunikation trotz ihrer neuen

Stellung als Menschen, deren sozialstrukturelle Außenstellung dazu führt, daß Identitätsbildung wegen

Mangels an alternativloser Zugehörigkeit zu sozialen Aggregaten prekär wird. Ethnizität und Nationalität

bilden also Brücken zur Integration trotz struktureller Desintegration.57

Nassehis Theorie ist insofern bemerkenswert, als in der Forschungsliteratur meist von

Nationalismus und weitergehend von einem negativen Nationalismus gesprochen wird. Dies

hängt mit der Grundfunktion der Nation, die den Definierungsrahmen einer „Wir-Gruppe“

widerspiegelt, zusammen. Das macht Nassehis Ansicht umso so spannender, insofern er der

Nation jene Grundfunktion nicht abspricht, sondern auf diese begründend darauf hinweist, dass

sie durch ihre Funktionsweise eine zweite eigentlich gegengerichtete, positive Wirkung

beinhaltet. Kurz gesagt: Der Rahmen, den die Nation für eine Inklusion und Exklusion

beinhaltet, ermöglicht gleichzeitig eine „Brücke zur Integration“58.

Bei der Analyse des Nationsbegriffs stellt sich die Frage, ob der Nationalismus zuerst da war

und die Nation nur das Produkt des Nationalismus ist, oder umkehrt, ob die Nation den

Nationalismus geprägt hat. Dazu ist wichtig zu erkennen, wie diese zwei Begriffe in Beziehung

stehen und einander beeinflussen. Hobsbawm stimmt mit Gellner überein, wenn dieser die

künstliche Erschaffung und das „Social engineering“59, welches das Entstehen von Nationen

beeinflusst, betont.

„Daß Nationen als eine natürliche, gottgegebene Art der Klassifizierung von Menschen gelten – als ein

[…] politisches Geschick – ist ein Mythos. Der Nationalismus, der manchmal bereits Kulturen in

Nationen umwandelt, erfindet manchmal Kulturen und vernichtet häufig tatsächlich bestehende Kulturen:

Das ist eine Realität.“60

55 KITTEL, Moderner Nationalismus. 1995. S. 96. 56 Vgl. ebda. S. 96. 57 NASSEHI Armin, Zum Funktionswandel Ethnizität im Prozeß gesellschaftlicher Modernisierung. Soziale

Welt, 41, 3. S. 268- S.289. IN: KITTEL Bernhard, Moderner Nationalismus. Zur Theorie politischer Integration.

WUV-Universitätsverlag, Wien. 1995. S. 97 58 Ebda. 59 HOBSBAWM, Nationen und Nationalismus. 1996. S. 21 60 GELLNER Ernest: Nationalismus und Moderne. Berlin 1991, S. 77. IN: HOBSBAWM Eric, Nationen und

Nationalismus. Mythos und Realität seit 1780. Campus Verlag, Frankfurt/M. 1996. S. 21.

Page 18: Das österreichische Nationalbewusstsein

17

2.2 Nationalismus

Eine Analyse der Nation ist ohne eine Betrachtung oder Erwähnung des Phänomens

Nationalismus unvollständig. Dies lässt sich am derzeitigen Forschungsstand und den

bedeutenden Werken zu dieser Thematik immer wieder festmachen. Eine Beschäftigung mit

Nationalismus kann wertvolle Beiträge zu Nationsbewusstsein und Nationalstolz liefern. Daher

soll nun auf den Begriff ,Nationalismus‘ eingegangen werden. Wie auch bei den vorgestellten

Definitionen der Nation gibt es auch bei dem Phänomen des Nationalismus verschiedene

Ansätze, jedoch scheint in der Forschung ein größerer Konsens als in der Diskussion um den

Begriff und den Kriterien der Nation zu herrschen.

Laut Eugen Lemberg ist der Nationalismus

[…] ein System von Vorstellungen, Wertungen, Normen, ein Welt- und Gesellschaftsbild […], das einer

sozialen Großgruppe ihre Zusammengehörigkeit bewusst macht und dieser Zusammengehörigkeit einen

besonderen Wert zuschreibt, mit anderen Worten: diese Großgruppe integriert und gegen ihre Umwelt

abgrenzt.61

Dem ist der Ansatz des Historikers Otto Dann hinzuzufügen, der den Nationalismus als

[…] ein politisches Verhalten, das nicht von der Überzeugung einer Gleichwertigkeit aller Menschen und

Nationen getragen ist, das fremde Völker und Nationen als minderwertig einschätzt und behandelt62

bezeichnet. Ähnlich, jedoch konkreter, ist die Nationalismus-Definition von Weiss, die

Nationalismus als Überschätzung und Idealisierung der eigenen Nation, Kultur und Geschichte,

zusammen mit nationalem Egoismus bestimmt.63 Dieser Ansatz der Definition wird auch von

Blank geteilt, der Kriterien nennt, die er für den Nationalismus als grundlegend erachtet. Diese

seien die Idealisierung der eigenen Nation, das Bewerten der eigenen Nation als überlegen

gegenüber anderen Nationen sowie eine stets positive Bewertung der eigenen gegenüber der

Fremdnation. Dazu zählt er ein nationsgebundenes Geschichtsverständnis, welches die

Leugnung, Uminterpretation historischer Gegebenheiten sowie die Ablehnung, historische

Schuld auf sich zu nehmen, beinhaltet, zu den bestimmenden Merkmalen. Des Weiteren nennt

Blank noch den Hang, die Zugehörigkeit zu einer Nation von objektiven Merkmalen wie Rasse

oder Herkunft abhängig zu machen als ein Kriterium.64

61 LEMBERG Eugen, Nationalismus. Band 2. Rowohlt Verlag, Reinbek. 1964. S. 52. 62 DANN Otto, Nation und Nationalismus in Deutschland 1770 – 1990. C.H. Beck, München. 1993. S. 17. 63 Vgl. ebd. S. 388 64 Vgl. SCHALLER Jan, Fußball und Nationalismus. Eine soziologische Untersuchung. Grin Verlag, München.

2013. S. 3.

Page 19: Das österreichische Nationalbewusstsein

18

In der Geschichtswissenschaft wird der Nationalismus als zweifaches Phänomen gefasst:

Einerseits als „ein Konglomerat politischer Ideen, Gefühle und damit verbundener Symbole,

das sich zu einer geschlossenen Ideologie fügen kann“65; andererseits als die politischen

Bewegungen, die diese Ideen tragen.66 Generell wird dem Nationalismus eine Janusköpfigkeit

zugeschrieben, da die Einschließung der Mitglieder aufgrund spezifischer Kriterien gleichzeitig

die Ausschließung aller anderen bedeutet. Mit dem Mechanismus der Inklusion und Exklusion

geht nicht nur eine klare Trennung zwischen „wir“ und „ihr“ einher, sondern auch eine

Abwertung jener, die nicht Mitglieder der „Wir-Gruppe“ sind.67 Allgemeinsprachlich und im

wissenschaftlichen Diskurs wird der Nationalismus oft vom Patriotismus oder

„Vaterlandsliebe“ abgegrenzt. Der Patriotismus bezeichnet ebenso wie der Nationalismus ein

mit Stolz verbundenes Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Nation, jedoch wertet der Patriotismus

andere Nationen nicht ab. Im Gegensatz zum Nationalismus geht er weder von einer

Überlegenheit der eigenen Nation aus, noch fordert er dessen Ausdehnung auf Kosten anderer

Nationen und er behauptet auch keinen Gegensatz zwischen den Nationen.68

Im Folgenden sollen vor allem die Nationalismus-Definitionen von Blank und Weiss die

Grundlage bilden.

Ursprünge und Motoren des europäischen Nationalismus

Anderson markiert den Buchdruck als einen der bedeutendsten Meilensteine in der

Ursprungsgeschichte des Nationalismus. Der Buchdruck ermöglichte es, die Idee einer

vorgestellten Gemeinschaft zu verbreiten und ihr Gewicht zu verleihen. Außerdem war das

zuvor von Geistlichen meist handgeschriebene Wissen nur für eine kleine privilegierte Schicht

zugänglich. Dies änderte sich schlagartig mit der gedruckten Information, die auf einmal in

reproduzierbar und verbreitbar geworden war.69 Durch den Buchdruck wurde die Entstehung

von säkularisierten Gemeinschaften gefördert. Diese Gemeinschaften bildeten sich aus einer

dünnen, dennoch gut vernetzten Schicht in Europa, welche die in Latein geschriebenen Werke

lesen konnte. Durch das Massenmedium Buch und das Aufkeimen des Kapitalismus kam es zu

einer Verdrängung der lateinischen Sprache durch die Landessprachen. Denn die Drucker

begannen aufgrund der Geldknappheit in Europa, den Vertrieb von günstigeren Ausgaben in

den jeweiligen Landessprachen zu forcieren. Somit stellt der frühe Kapitalismus einen

65 JANSEN / BORGGRÄFE, Nation – Nationalität – Nationalismus. 2017. S. 18. 66 Vgl. ebda. 67 Vgl. LANGEWIESCHE Dieter, Nationalismus im 19. Und 20. Jahrhundert. Zwischen Partizipation und

Aggression. Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn. 1994. S. 12 – S. 13. 68 Vgl. JANSEN / BORGGRÄFE, Nation – Nationalität – Nationalismus. 2017. S. 17. 69 Vgl. ebda. S. 39.

Page 20: Das österreichische Nationalbewusstsein

19

Einflussfaktor zur Entstehung des Nationalbewusstseins dar. Ein weiterer maßgeblicher Faktor

war der Einfluss der Reformation, die wiederum ihren Durchbruch den Buchdruck zu

verdanken hatte. Die dünne Leserschicht in Europa wuchs durch die Konföderation von

Protestantismus und Druckgewerbe, die auf billige Volksausgaben fußte, und neue große

Lesekreise ins Leben rief.70 Hinzu kommen Veränderungen linguistischer Natur, wie etwa die

langsame und regional unterschiedliche Einführung einer Landesprache. Dies wurde von frühen

absolutistischen Herrschern vorangetrieben, denn sie diente ihnen als Werkzeug der

Zentralisierung ihrer Herrschaftsgebiete. Anderson merkt an, dass die Entstehung der

nationalen Gemeinschaft auch ohne diese drei Faktoren denkbar gewesen wäre.

Nichtsdestotrotz trugen der Buchdruck, die Reformation und die administrative Landessprache

massiv zur Verdrängung der lateinischen Sprache und zum Zusammenfall der heiligen

Gemeinschaft des Christentums bei, was wiederum den Weg für die neuen nationalistischen

Gemeinschaften ebnete.71

Der Nationalismus, der eine „Wir-Gruppe“ durch spezifische Merkmale, wie politische,

ideologische Ideen und deren Symbole definiert, und andere durch solche Kriterien und meist

negativer Wertzuschreibungen von dieser „Wir-Gruppe“ ausschließt, hatte im ausgehenden 19.

und 20. Jahrhundert verheerende Konsequenzen. Gerade durch die Herabsetzung der

„Anderen“ und der damit einhergehenden Stärkung des Selbstbildes und Zugehörigkeitsgefühl

der eigenen „Wir-Gruppe“, macht den Nationalismus gefährlich und birgt ein schädliches

Potenzial, welches sich bei Nationsbildungsprozessen der Vergangenheit immer wieder

offenbarte. Als solches hat diese negative Form der Abgrenzung und Stärkung des kollektiven

Bewusstseins auch Einfluss auf die Entwicklung des österreichischen Nationalbewusstseins.

Wenn also Nationen durch ein kollektives Bewusstsein von einem Zugehörigkeitsgefühl der

Menschen zu einer jeweiligen Nation konstituiert werden und sich über In- und

Exklusionsprozesse beziehungsweise durch Selbst- und Fremdbilder und deren Bewertung

weiter formen und abgrenzen, so ist es notwendig, jene Prozesse zu beleuchten, die dieses

kollektive Bewusstsein bilden. Dies soll im anschließenden geschehen.

70 Vgl. JANSEN / BORGGRÄFE, Nation – Nationalität – Nationalismus. 2017. S. 40 – S. 41. 71 Vgl. ebda. S. 42 – S. 43.

Page 21: Das österreichische Nationalbewusstsein

20

3 Nationalbewusstsein und kollektives Gedächtnis

Um das Nationalbewusstsein einer Nation beschreiben zu können, sind die Prozesse, die dieses

Bewusstsein bilden und ein kollektives Gedächtnis formen, zu beleuchten. Die Grundpfeiler

des kollektiven Bewusstseins sind Erinnerung, Identität und kulturelle Tradierung.

Laut Assmann sind diese drei Teile essenziell für jede Kultur und dessen Ausbildung eines

kulturellen Gedächtnisses. Jede Kultur, so Assmann, bildet eine konnektive Struktur, die in

sozialen und zeitlichen Dimensionen verbindend ist. Sie erzeugt eine gefühlte Verbundenheit

von Menschen zu ihren Mitmenschen, indem sie eine „symbolische Sinnwelt“ erschafft, in der

ein gemeinsamer Erfahrungs-, Handlungs- und Erwartungsrahmen herrscht. Dadurch, dass

dieser Rahmen für alle, die sich gemeinsam in diesem bewegen, gleich ist, schafft er Vertrauen

und ist eine Orientierungshilfe, um komplexe Strukturen zu vereinfachen. Der Rahmen wird

durch das Erinnern an das Gestern und die Einbindung der Erfahrungen aus der Vergangenheit

geschaffen und gefestigt. Vergangene Erfahrungen, Bilder und Geschichten werden in der

Gegenwart verankert, um Hoffnung und Erinnerung zu stiften. Diese Aspekte der Kultur

werden über historische und mythische Erzählungen überliefert und schaffen ein

Zugehörigkeitsgefühl und eine Identität, die es dem einzelnen Individuum ermöglicht, sich zu

einem „Wir“ verbunden zu fühlen. Das „Wir-Gefühl“, sprich die gefühlte Verbundenheit des

„Ich“ zum „Wir“, wird durch gemeinsames Wissen und ein vertrautes Selbstbild konstituiert

und durch ein gemeinsames Werte- und Regelsystem und Erinnern einer gemeinsamen

Vergangenheit verstärkt. Der Motor konnektiver Strukturen ist die Wiederholung bzw. die

Tradierung und Adaption von Bekanntem. Durch das Wiederholen werden Handlungslinien zu

wiedererkennbaren Schemata und eindeutigen Elementen der eigenen und gemeinsamen Kultur

– zum Beispiel Folklore und Traditionen – die sich von den Handlungslinien anderer Kulturen

unterscheiden. Die Wiederholung trägt also einen wesentlichen Beitrag zur Vergegenwärtigung

der konnektiven Strukturen bei. Dabei passiert der Übergang von alten konnektiven Strukturen

zu neuen nicht über die bloße Übernahme, sondern durch Erinnerung und Auslegung.72

Das kulturelle Gedächtnis deckt die Dimensionen des Gedächtnisses ab, die nicht nur den

Zweck von Dingen, sondern auch ihren Sinn erfassen. Dazu gehören Riten, Symbole,

Denkmäler und Ikonen usw. Also all jenes, was über den Rahmen eines bloßen

Dinggedächtnisses hinausgeht und mit einem identitätsstiftenden Sinn besetzt ist.

Nach Halbwachs kann ein kulturelles Gedächtnis nur in einer sozialen Struktur entstehen.73

Würde also angenommen ein Mensch vollkommen alleine und isoliert von jeglicher

72 Vgl. ASSMANN Jan, Das kulturelle Gedächtnis: Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen

Hochkulturen. C.H. Beck, München. 2007 S.16. – S. 21. 73 Vgl. ebda. S. 35

Page 22: Das österreichische Nationalbewusstsein

21

Sozialisation aufwachsen, so könne er nie ein kulturelles Gedächtnis entwickeln. Laut

Halbwachs bildet sich das Gedächtnis eines Individuums erst mit dem Prozess der Sozialisation.

Zwar besitzt jede*r ein eigenes Gedächtnis, aber dieses ist immer kollektiv geprägt und deshalb

verwendet Halbwachs den Begriff des ‚kollektiven Gedächtnis‘. Kollektive haben zwar kein

Gedächtnis, jedoch bestimmen sie den Rahmen des Gedächtnis seiner Angehörigen. Die

Erinnerungen der einzelnen Individuen entstehen durch die Kommunikation und Interaktion

innerhalb einer Gruppe. Menschen erinnern sich nicht nur an das, was sie von anderen vermittelt

bekommen, sondern auch an das, was von den anderen als bedeutend bewertet wird und können

so zu einer Bestätigung ihrer Wertvorstellungen gelangen. Erinnern ist also auch immer ein

Wahrnehmen. Was vom Individuum erinnert und wahrgenommen wird, wird von der Gruppe

vorgegeben. Das Gedächtnis eines Individuums entsteht also durch die Kommunikation mit

dessen Peers einer sozialen Gruppen, sei es die Familie, Religions- oder

Nationsgemeinschaften. Nur das, was innerhalb dieser Gruppe kommuniziert wird und im

Rahmen des Gruppengedächtnisses liegt, wird von der Einzelperson erinnert. Erinnerungen

entstehen, indem Vorstellungen und Ideen mit einem Sinn versetzt werden, damit sie in ein

Gedächtnis kategorisierbar werden. Dabei verschmelzen Bilder und Begriffe miteinander.74

Um Erinnerungen fortsetzen bzw. innerhalb einer Gruppe weiter tradieren zu können, ist es

notwendig, Vorstellungen in eine konkrete Form zu bringen, sei dies in Formen eines Festes,

Feiertags, einer Person oder eines bestimmten Ortes.75 Als Beispiel sei das alljährlich

stattfindende Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker genannt, das der Welt die Bedeutung

des musikalischen Erbes Österreichs zeigen soll.

Umgekehrt müssen Ereignisse, um im kollektiven Gedächtnis Bestand haben zu können, eine

bedeutende Wahrheit aufweisen: „Jede Persönlichkeit und jedes historische Faktum wird schon

bei seinem Eintritt in dieses Gedächtnis in eine Lehre, einen Begriff, ein Symbol transportiert;

es erhält einen Sinn, es wird zu einem Element des Ideensystems der Gesellschaft.“76 Demnach

kann man Andreas Hofer als bedeutende Persönlichkeit nennen, die mit dem Freiheitskampf

gegen die napoleonischen Truppen assoziiert wird und als Projektionsfläche für die

Weitertradierung der Erinnerung dient.

Aus dieser wechselseitigen Beziehung von Bildern und Begriffen konstituieren sich

Erinnerungsfiguren.77

74 Vgl. ASSMANN, Das kulturelle Gedächtnis.2007 S. 35. – S. 38. 75 Vgl. HALBWACHS Maurice, La Topographie légendaire des Évangiles en Terre Sainte. Étude de mémoire

collective. Presses universitaires de France, Paris.1941. S.157. IN: ASSMANN Jan, Das kulturelle

Gedächtnis.2007. S. 38. 76 HALBWACHS Maurice, Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen. Suhrkamp, Berlin. 1985. S. 389. –

S. 390. IN: ASSMANN Jan, Das kulturelle Gedächtnis.2007. S. 38. 77 Vgl. ASSMANN, Das kulturelle Gedächtnis. 2007. S. 38.

Page 23: Das österreichische Nationalbewusstsein

22

3.1 Erinnerungsorte

Der Begriff „Erinnerungsort“ und dessen heutige Bedeutung ist aus sprachphilosophischer

Sicht insofern problematisch, als er auf keinen konkreten Ort verweist, so wie es der Begriff im

Eigentlichen impliziert.78

Nora definiert erstmals den Begriff ‚Erinnerungsort‘. Gemäß seiner Auffassung verweisen

‚Erinnerungsorte‘ nicht bloß auf geographische Gedächtnisorte, sondern auch auf kulturelle

Ereignisse, Gedenkfeiern, historische Persönlichkeiten sowie Texte verschiedenster Gattungen.

Nora beschreibt in seinem Werk Les lieux de mémoire die wichtigsten Meilensteine des

französischen kollektiven Gedächtnisses, wie etwa Paris, Versailles und die französische

Flagge. In diesen Erinnerungsorten hat sich nach Nora das Gedächtnis der Nation Frankreichs

in besonderem Maße kondensiert.79 Diese Theorie lässt sich auf Österreich übertragen. Als

wichtigste Meilensteine des österreichischen kollektiven Gedächtnisses gelten unter anderem

etwa Wien, Salzburg, die Unterzeichnung des Staatsvertrags oder das musikalische Erbe.

Statt des Begriffs ‚Erinnerungsort‘ könnte in diesem Zusammenhang auch der Begriff

,Erinnerungssymbol‘ verwendet werden, da dieser eher den Wortbeschreibungen näherkommt.

Erinnerungsorte symbolisieren einzelne Facetten der erinnerten nationalen Biografie eines

Landes sowie auch andere nationale Repräsentationsmittel, wie etwa Fahnen oder Hymnen, die

das ideologische Bewusstsein einer Nation innerhalb deren Gesellschaft formen. Im Fall von

Noras Werk Les lieux de mémoire lassen sich Erinnerungsorte respektive Erinnerungssymbole

außerdem durch zwei übergeordnete historische Analysekategorien einordnen und bestimmen;

nämlich Republik und Nation.80

Einen spannenden Beitrag zu diesem Thema liefert Foucault in seinem Text Andere Räume. Er

definiert anders als Nora einen gewissen ‚Ortungsraum‘. Diese Ortungsräume beschreiben

bedeutsame Orte, die sich durch wichtige geschichtliche Ereignisse, wie etwa eine gewaltsame

Entnahme von bedeutsamen Dingen aus Ort A zu Ort B, klar von anderen Orten durch ihre

Wichtigkeit hervorheben. Als Beispiel gelten hier aber auch nicht nur topografisch

festzumachende Orte, da Foucault beispielsweise die Arbeit von Galilei als Gründung eines

solchen Ortungsraumes nennt. Denn mit Galileis Erkenntnis, dass sich die Erde um die Sonne

78 Vgl. Was ist ein Erinnerungsort?

https://www.uni-oldenburg.de/geschichte/studium-und-lehre/lehre/projektlehre/regionale-erinnerungsorte/was-

ist-ein-erinnerungsort/ [03.05.2020] 79 Vgl. ebda. 80 Vgl. NEUMANN Birgit, Erinnerung - Identität - Narration: Gattungstypologie und Funktionen kanadischer

"Fictions of Memory" Band 3 von Media and Cultural Memory/Medien Und Kulturelle Erinnerung, Walter de

Gruyter, 2005. S. 81.

Page 24: Das österreichische Nationalbewusstsein

23

dreht, sei ein neuer Ortungsraum entstanden und ändere den zuvor herrschenden Ortungsraumes

des Mittelalters sowie dessen Ausdehnung.81

Im Kontext der österreichischen Geschichte ließen sich hier etwa die Etablierung des

Habsburger Reiches, der Anschluss an Hitler-Deutschland, die Unterzeichnung des

österreichischen Staatsvertrages oder der EU-Beitritt nennen.

3.2 Nationalbewusstsein

Eine gute Anknüpfung an das Kapitel ‚Nationalismus‘ und Brücke zum Nationalbewusstsein

stellt eine Bemerkung des Historikers Wilhelm Bauer da:

Weder Rassen-, noch Abstammungsmerkmale, nicht einmal immer Gemeinsamkeiten der Sprache geben

den Ausschlag. Kinder derselben Eltern gehören unter Umständen verschiedenen Nationen an. Der

moderne nationale Gedanke ruht nämlich eingebettet fast einzig und allein im Gemütsleben und im letzten

Grunde entscheidend wird demnach bloß die Tatsache, welcher Nation der einzelne sich zugehörig fühlt,

nicht welcher körperlich oder sprachlich oder sonstwie [sic!] zuzuzählen ist. Daraus erklärt sich auch,

wieso der heutige Nationalismus in seinen Ausdrucksformen bisweilen so nahe an religiöse

Empfindungen grenzt. In ihrer irrationalen Herkunft sich ähnelnd, treffen sich Religion und Volkstum

auch in der Art, wie man sie und ihren Besitz kämpft.82

Bauer konstituiert damit ein weiteres Verständnis für das Phänomen des Nationalismus und

dessen „affektgeladene Sprache, sein öffentliches Auftreten als Liturgie, wie etwa auf den

Nürnberger Reichsparteitagen, für die Opfermystik, die die oft jungen Nationalisten begeistert

[…]“.83 Die Menschen schöpfen ihr Heil nicht mehr aus dem Glauben eines jenseitigen Gottes,

sondern aus der profanen Nation.84 Bruckmüller nennt zwei Gründe für dieses, auch von

Gellner festgestellte Phänomen: Die ‚Reinheit‘ des Blutes in der postulierten

Abstammungsgesellschaft spielte eine große Rolle in der Vorstellungswelt des Nationalismus.

Der Nationalismus übernahm „nicht selten die Rolle der klassischen Erlösungsreligionen“85.

Die Analogie des göttlichen Ursprungs und der ‚Blutreinheit‘ als Begründung für die

Vorstellung, dass nur ‚reine‘ Abstammung Heil über die Gemeinschaft bringt. Diese dem

modernen Rassismus nährende Haltung taucht in der Geschichte immer wieder auf.86 Die

zweite Begründung für den religiösen Aspekt des Nationalismus wird in der Ablösung des

christlichen traditionellen Geschichtsverständnis gesehen, welches mit dem Untergang des

81 Vgl. FOUCAULT Michel, Andere Räume. In: BARCK, Karlheinz u.a. (Hg.), Aisthesis. Wahrnehmung heute

oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig 1992. S. 36. 82 BAUER Wilhelm, Österreich, IN: Österreich, Zeitschrift für Geschichte, Jahrgang 1918/19, S.6. IN:

BRUCKMÜLLER Ernst, Österreichbewußtsein im Wandel: Identität und Selbstverständnis in den 90er Jahren.

Signum Verlag, Wien. 1994. S. 62. 83 Vgl. ebda. 84 Vgl. GELLNER, Nationalismus und Moderne. Berlin 1991, S. 88. 85 BRUCKMÜLLER, Österreichbewußtsein im Wandel. 1994. S. 63. 86 Vgl. ebda.

Page 25: Das österreichische Nationalbewusstsein

24

Heiligen Römischen Reiches das Ende der Geschichte annahm. Das Geschichtsbewusstsein

konzentriert sich nunmehr auf die Nation, der „überzeitliche Funktionen zugeschrieben werden,

die jene aber nur erfüllen kann wenn sich jedes Mitglied der Nation voll in ihren Dienst stellt.“87

Auch das Nationalbewusstsein wird nicht durch objektive, sondern subjektive Kriterien, welche

religiöse Empfindungen ähneln, bestimmt. Diese bestärkten – im historischen Kontext

betrachtet – eine säkularisierte Emanzipierung religiöser Vorstellungen. Bruckmüller betont

daher die Dringlichkeit einer Analyse dieser mystischen Seite des Nationalbewusstseins.

Modernen Nationen diente diese Mystik – wie etwa ihre Abstammungsgeschichte von alten

‚Stämmen‘ – als Legitimationsgrund ihres Bestehens. Hierfür berufen sie sich oft auf eine

göttliche Herkunftsgeschichte und betonen stets das Alter ihrer Nation.88 „Je älter, desto

sicherer ist das Volk von göttlicher Herkunft.“89

Alte und neue Orte mit religiöser Bedeutung werden zu Erinnerungsorten der Nation erhoben.

Wie zum Bespiel Paris oder Reims für Frankreich und die Franzosen und Prag für die

Tschechen. Das Erheben von alten ‚heiligen‘ Orten zu nationalen Erinnerungsorten bedeutet

aber nicht, dass es sich bei modernen Nationen nicht auch häufig um Neuerfindungen

beziehungsweise um säkularisiertes Adaptieren von bedeutenden, alten religiösen

Erinnerungsorten handelt. Solche Erinnerungsorte können Orte sein, die an Niederlagen

bedeutende Siege oder Krönungen erinnern sollen. Wie bereits im Kapitel 2.2 erwähnt, dienen

vor allem die Sprache und die Kultur als weitere wichtige Identifikationsfaktoren. Die

gebildeten Schichten verständigen sich über die Dichtung, Kunst, Architektur, Malerei und

Musik über ihre nationale Identität.90 Im selben Sprachgebiet herrschte die gleiche Kultur. Die

nationalen Gemeinschaften grenzten sich daher überwiegend durch ihre jeweiligen

Hochsprachen und Symbole ab. Diese stellten auch die Basis und das wichtigsten Merkmal der

nationalen Identifikation dar. Den nationalen Gemeinschaften, die sich zuerst nur aus einer

dünnen gebildeten Schicht zusammensetzten, gelang es dadurch, ihre Ideen von ethnischer

Solidarität, Werten, und Loyalität an die breite Masse zu verbreiten.91 Mit der Vorstellung und

der Postulierung einer sozusagen vorgegebenen Zusammenhörigkeit, sprich mit der Erzeugung

einer „Wir-Gruppe“, die es vermag, sich durch bloßes Hineingeborenwerden in ein

Sprachgebiet von anderen Gruppen bewusst abzugrenzen, wurde im Vergleich zu früheren

Gesellschaften ein deutlich größerer Anspruch erreicht. Daher stellt das Merkmal der Sprache

ein besonders wichtiges Merkmal der nationalen Identifikation dar. Die alte ‚heilige‘

87 BRUCKMÜLLER, Österreichbewußtsein im Wandel. 1994. S. 63. 88 Vgl. ebda. S. 64. 89 Ebda. 90 Vgl. ebda. S. 64. – S. 65. 91 Vgl. ebda. S. 65.

Page 26: Das österreichische Nationalbewusstsein

25

Muttersprache setzte sich in der Entwicklung zunehmend als Hochsprache durch. Dialekte

werden in diesem Prozess zunächst integriert und Mehrsprachigkeit wird demontiert. Daher

kommt den Sprachrohren der Kultur dieser Zeit, den Dichtern und Musikern eine besondere

Rolle für die moderne Nationsbildung zu.92

Erinnerungsorte und nationale Symbole, wie Flaggen, Hymnen und Nationalfeiertage werden

als Mobilisierungs- und Identifikationsinstrumente für die breiten Menschenmassen erschaffen.

Die erste Nationalhymne, die Marseillaise, wird von französischen Soldaten gesungen,

woraufhin auch bald andere Staaten dies kopierten und eine Nationalhymne für ihren Staat

etablierten. Fünf Jahre später, im Jahr 1797, erteilte Kaiser Franz II. Joseph Haydn den Auftrag,

die österreichische Kaiserhymne, auch Volkshymne genannt, zu komponieren.

Darüber hinaus suchen moderne Nationalisten auch nach ‚heiligen Spitzenahnen‘, wie den

‚heiligen Königen‘ Karl der Große, Heinrich der II., Ludwig der Heilige und Stephan von

Ungarn. Dieses Prozedere ist bereits seit dem Mittelalter beobachtbar, jedoch geschieht es ab

dem 19. Jahrhundert in säkularisierter Form. Des Weiteren berufen sich moderne Nationalisten

oft auf eine vorgestellte Abstammung bestimmter ethnischer Gruppen. Zur Zeit der

Französischen Revolution herrschte der Glaube, dass der Großteil der französischen

Bevölkerung von den antiken Römern abstammte, während dem Adel eine fränkische

Abstammung zugesprochen wurde. Die Rumänen berufen sich auf eine Abstammung der

romanisierten Bevölkerung von Dakien, den Dakern, die Bulgaren auf Thraker und die

Griechen auf Altgriechen und auf Mazedonier des Reiches von Alexander des Großen.

Auffallend ist, dass mit fortschreitender Säkularisierung die Ahnen und Gründungsmythen über

bedeutende christliche Persönlichkeiten weiter zurück ins Heidnische erweitert oder ersetzt

werden. Die Nibelungen verdrängten Karl den Großen bei den Deutschen, bei den Ungarn

ersetzte Arpárd den Hl. Stephan und die Tschechen verschoben ihre Gründungslegende von

Wenzel von Böhmen auf Přemysl und Libuše.93

Auch große Reformatoren wurde die Funktion als nationale Symbolfigur zugeschrieben, wie

zum Bespiel Martin Luther für die deutsche Nation und Jan Hus als Nationalheiliger der

Tschechen. Ebenso konnten, wie bereits erwähnt, Dichter zu wichtigen nationalen

Symbolfiguren werden, wie etwa Walter von der Vogelweide, Friedrich Schiller und Dante

Alighieri. Ebenso können Vorreiter*innen und Kämpfer*innen für Freiheit, Einheit und

nationale Gleichberechtigung wie Garibaldi, Kossuth, Atatürk und Széchenyi die Funktion als

nationale Identifikationsfigur erhalten.94 All diese Persönlichkeiten wurden nicht von alleine,

92 Vgl. BRUCKMÜLLER, Österreichbewußtsein im Wandel. 1994. S. 65. 93 Vgl. ebda. S. 65 – S. 66. 94 Vgl. ebda. S. 66.

Page 27: Das österreichische Nationalbewusstsein

26

sondern durch Veranlassungen, Institutionen und Aufarbeitung der Erinnerung zu nationalen

Erinnerungssymbolen. Dies geschieht durch die Konservierung und Tradierung über

Denkmäler, Museen, Feiern, historische Aufzeichnungen und Lehrpläne; die die Funktion

hatten und weiterhin haben, nationale Identifikationssymbole der Bevölkerung bewusst zu

machen. Im Verlauf der Zeit lässt sich ein deutlicher Wandel der Priorisierung und

Aufbereitung von nationalen Erinnerungssymbolen erkennen. Von den Heiligen des

Spätmittelalters zu den Herrschern und den Heroen, die große militärische, politische oder

kulturelle Leistungen erbrachten. Auch wie diese Symbole der Bevölkerung dargestellt werden,

ist einem Wandel unterworfen. So fungierten früher hauptsächlich Bücher, Gemälde,

Denkmäler und Lieder als Medien. Heutzutage haben größtenteils das Radio, Fernsehen und

das Internet diese Funktion übernommen.95

Durch das Fernsehen etwa lässt sich nicht nur eine sehr breite Masse erreichen, sondern auch

stärker die emotionale Bewusstseinsebene der Menschen ansprechen, in welcher wiederum

Selbst- und Fremdbilder geformt werden.96

Die Nation wird ständig rekonstruiert durch die gemeinsame Erinnerung an bestimmte Daten, Personen,

Ereignisse, durch die gemeinsame Hochschätzung gewisser Symbole, kurz – die nationale Mythologie.97

Das bewusstseinsbildende Ziel, auf dem diese nationale Mythologie wurzelt, war historisch

sehr oft von kriegerischer Natur und wurde später von politischen Motiven abgelöst. Laut

Bruckmüller war die ‚Nation‘ der frühen Neuzeit „ als Versammlung der Stände identisch mit

politischer Öffentlichkeit und Berechtigung.“98 Daher korrelieren die fortschreitende

Demokratisierung der politischen Systeme und die Zunahme und Ausbreitung des

Nationalbewusstseins oft miteinander.99 Demokratie und Nation wurden schon vor 1848 dort

gefordert, wo alte, starre Systeme die Konstituierung von sich selbsterfindenden Nationen

unterdrückten, wie es zum Beispiel im Vielvölkerstaat der Habsburger der Fall war. Die

Symbiose von Demokratisierung und nationalbildenden Prozessen lässt sich auch heute noch

beobachten.100 Sie bringt eine Nationsbildung mit sich, die durch einen Ausbau von

Bürgerrechten innerhalb der gesamten Gesellschaft erfolgt. Bleibt dieses Zusammenspiel

aufrecht, so kommt es zu einer besonderen Art von nationaler Integration.101 Die Loyalität, die

die Bürger gegenüber dem Staat entgegenbringen, beruht folglich nicht nur auf die

95 Vgl. BRUCKMÜLLER, Österreichbewußtsein im Wandel. 1994. S. 66. 96 Vgl. ebda. S. 67. 97 Ebda. 98 Ebda. 99 Vgl. ebda. 100 Vgl. ebda. S. 70 – S.71. 101 Vgl. ebda. S. 71.

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27

Selbstwahrnehmung, Teil der Nation zu sein, sondern auch auf den exklusiven Rechten, die

ihnen der Staat gewährt. Diese sind exklusiv, da nur sie als Staatsbürger Anspruch auf diese

Rechte haben. Die Beziehung zwischen Demokratie und Nation bringt jedoch wegen dieser

Exklusivität ein potenzielles Problem mit: Wem stehen die Bürgerrechte wirklich zu? Wer ist

Mitglied der Nation und hat somit Anspruch auf deren exklusive Rechte?102 „Alle Staatsbürger,

alle Bewohner eines Staates oder aber ethnisch-sprachlich aufgefaßte [sic!] Dominanzgruppen

innerhalb des Staates?“,103 fragt Bruckmüller und hebt an dieser Stelle hervor, dass moderne

Nationsbildungsprozesse mit einer verstärkten Loyalitätsaufforderung verbunden sind.104

Moderne Nationen konzentrieren und zentralisieren die Loyalitätsforderung in erster Linie auf

sich selbst. Dies stellt einen wesentlichen Unterschied dar, da die Hierarchie der Loyalitäten

seit dem 19. Jahrhundert nicht mehr von unten nach oben, sondern von oben nach unten erfolgt;

sprich eine Person ist an erster Stelle ein*e Österrecher*in, zweitens ein*e Katholik*in, drittens

ein*e Steier*n, viertens ein Mitglied eines Vereins und so fort. Im Spätmittelalter war die

Loyalitätshierarchie genau umgekehrt. Die Zentralisierung der Loyalitätsforderung spiegelte

auch die Errungenschaften der französischen Revolution ‚Freiheit, Gleichheit und

Brüderlichkeit‘ wider. Diese bedeuteten gleichzeitig das Ende des Feudalismus und Gleichheit

vor dem Gesetzt, also ein Ende der rechtlichen Vorteile und ein starkes Streben nach

Demokratie. Solch ein erhöhtes Loyalitätsaufgebot ermöglicht auf der Kehrseite auch eine

höhere Opferbereitschaft der Bevölkerung, Massenkriege und Terror in einer nie zuvor

dagewesenen Form, anderseits stellt es auch die Grundlage für politische Partizipation und

Demokratie dar.105

Auf die Geschichte der Nationsbildung beziehungsweise auf die Prozesse, die diese fördern,

soll im Rahmen dieser Arbeit nicht weiter eingegangen werden. Dennoch ist ein kurzer Blick

darauf notwendig, denn eine Nationsbildung und weitergehend die Konstruktion eines

Nationalbewusstseins baut auf Selbstbilder, Vorstellungen und darauf begründenden

Mythologien auf. Diese werden durch Feiern, Hymnen, Symbole, Denkmäler und Bilder im

Besonderen in der Schule vermittelt. Als Endprodukt dieser Wertevermittlung wird ein

höchstmöglicher Grad an Loyalität angestrebt. Interessant ist, wie sich diese Vorstellungen auf

das Selbstbild auswirken und wie sehr sie auch handlungsleitend sind.106

102 Vgl. BRUCKMÜLLER, Österreichbewußtsein im Wandel. 1994. S. 71. 103 BAUBÖCK, Rainer, Nationalismus versus Demokratie. IN: ÖZP 20, 1991, Heft 1, S. 73 – S. 90, S. 82. IN:

BRUCKMÜLLER Ernst, Österreichbewußtsein im Wandel: Identität und Selbstverständnis in den 90er Jahren.

Signum Verlag, Wien. 1994. S. 71. 104 Vgl. BRUCKMÜLLER, Österreichbewußtsein im Wandel. 1994. S. 71. 105 Vgl. ebda. S. 72 – S.73. 106 Vgl. ebda. S. 73.

Page 29: Das österreichische Nationalbewusstsein

28

Phasen des Nationalbewusstseins

In Anlehnung an Hroch und dessen Studien zur europäischen Nationalbewegung hebt

Hobsbawm hervor, dass sich ein Nationalbewusstsein abhängig von der gesellschaftlichen

Gruppenzugehörigkeit und Region eines Landes unregelmäßig entwickelt. Die meisten

Forscher*innen stimmen darin überein, dass sich das Nationalbewusstsein selbst innerhalb der

Bevölkerung ungleich ausprägt. Im Europa des 19. Jahrhunderts wird die breite Masse der

Bevölkerung, sprich Arbeiter*innen und Bäuer*innen, oft als letzte von einem

Nationalbewusstsein erfasst – ganz gleich, welche anderen gesellschaftlichen Gruppen als Erste

von ihm ergriffen wurden. Aufgrund dieser Problematik teilte Horch die Geschichte nationaler

Entwicklungen in drei Phasen auf.

Die erste Phase erfolgt rein literarisch, kulturell und volkskundlich. Aus ihr ergeben sich laut

Hobsbawm noch keine wesentlichen politischen oder nationalen Folgen. In der zweiten Phase

bekommt die nationale Idee durch militärische Kräfte ein Sprachrohr, wird verbreitet und

erlangt somit auch eine politische Macht. Phase zwei stellt auch den Anfang, ab dem mit der

nationalen Idee geworben wird, dar. Zur dritten und letzten Phase schreibt Hobsbawm:107

„[E]rst hier – und nicht schon vorher – gewinnen nationalistische Programme die Unterstützung der

Massen oder zumindest eines Teiles jener Massen, deren Repräsentanten zu sein sie immer wieder

behaupten.“108

Besonders entscheidend in der Entstehung und Entwicklung nationaler Bewegungen ist

demnach der Übergang von Phase zwei auf Phase drei. Dieser kann in einzelnen Fällen, wie

zum Beispiel in Irland, vor der Entstehung eines Nationalstaates erfolgen oder wie Hobsbawm

anmerkt, in manchen Entwicklungsländern gar nicht.109

107 Vgl. HOBSBAWM, Nationen und Nationalismus. 1996. S. 22. 108 Ebda. 109 Vgl. Ebda. S.24.

Page 30: Das österreichische Nationalbewusstsein

29

4 Das österreichische Nationalbewusstsein

Die Habsburger Monarchie wurde spätestens wegen ihres revolutionären Gegenspielers

Frankreich mit dem Gegenstand der modernen Nationsbildung konfrontiert. Im Vergleich zu

Frankreich stand sie jedoch anderen Problemen gegenüber, die bei einer Etablierung einer

‚Nation Österreich‘ die gesamte Population des Reiches einschließt. Die zwei Hauptprobleme

waren einerseits das Desinteresse der habsburgischen Herrscher an einer Nationsbildung,

welche zu einer ungewollten Emanzipation ihrer Untertanen führen hätte können und somit ihre

Autorität als zentrale Herrscherfigur geschwächt hätte.110 Andererseits handelte es sich im

Gegensatz zu Frankreich um einen Vielvölkerstaat, in dem es eine Vielzahl von Interessen

einzelner Nationalitäten zu berücksichtigen galt.

In diesem Vielvölkerstaat wurden mehr als zehn Sprachen gesprochen und zahlreiche

unterschiedliche Religionen praktiziert.111 Dies machte es außerhalb des Habsburgerhauses und

der katholischen Kirche schwierig, gemeinsame Symbole für die ganze Bevölkerung zu finden

und zu institutionalisieren. Als gemeinsamer Heiliger wurde zum Beispiel Johannes von

Nepomuk betrachtet. Heroische Figuren oder gemeinsame bedeutsame Taten und

Errungenschaften gab es nur wenige. Hier zählen etwa Prinz Eugen, die Türkenkriege und das

Jahr 1809 als mögliche gemeinsame Erinnerungssymbole. Was der Erzeugung von

gemeinsamen Symbolen noch weiter entgegensteuernd wirkte, war der ungarische Heroismus,

der sich oft gegen die Habsburger Obrigkeit richtete. Generell stand einer

Gesamtnationsbildung ein stark ausgeprägtes ungarisches Selbstbewusstsein im Weg. Auch die

veraltete Formel der Habsburger, sich in Bezug auf Identifikationsfiguren nur auf den Kaiser

zu stützen, wirkte in die entgegengesetzte Richtung, denn so wurde der Entwicklung von neuen

alleinstehenden Nationsbewusstseinsinhalten ein Nährboden gegeben. Neben dem

gesamtstaatlichen habsburgischen Patriotismus entstand daher ein Landespatriotismus. Wie

bereits im Kapitel 2.2 ausgeführt, wurde dieser Landespatriotismus von einer dünnen, aber

immer weiter wachsenden Bildungsschicht getragen, welche die unterschiedlichen

Volkskulturen nährte, auf denen diese Entwicklung zurückzuführen war. Infolgedessen

entstanden seit dem Vormärz zahlreiche Sprachnationen: Rumänen, Tschechen, Kroaten,

Serben, Slowenen und auch allmählich Ungarn. Auch bei den deutschsprachigen Österreichern

kam es zu analogen Entwicklungen.112 Der deutschsprachige Teil des Habsburgerreiches hatte

das Problem, dass er von dem Nationsbildungsprozess der deutschen Bildungsschicht nicht

110 Vgl. BRUCKMÜLLER, Österreichbewußtsein im Wandel. 1994. S. 73. 111Vgl. MUTSCHLECHNER Martin, Probleme und Potenziale eines Vielvölkerstaates.

https://www.habsburger.net/de/kapitel/probleme-und-potenziale-eines-vielvoelkerstaates [09.04.2020] 112 Vgl. BRUCKMÜLLER, Österreichbewußtsein im Wandel. 1994. S. 74.

Page 31: Das österreichische Nationalbewusstsein

30

einbezogen worden war, da sich dieser hauptsächlich an Preußen orientiert hatte und man sich

von den deutschsprachigen Österreichern abgrenzen wollte.113

Ein weiteres Problem für eine Nationsbildung und ein Aufkommen eines

Gesamtnationalbewusstseins des Habsburger Reiches stellte der wachsende Glaube der

deutschsprachigen Bevölkerung der Monarchie, die eigentliche Staatsnation zu sein, dar. Diese

Vorstellung war bereits vor dem Vormärz präsent und war auch später noch weit verbreitet. Die

deutschsprachigen Österreicher waren also bei der Konstituierung ihres Nationalbewusstseins

mit zwei Einflüssen beziehungsweise zwei Identifikationsvorlagen konfrontiert: Zum einen

orientierte man sich an die Habsburgermonarchie und dem Kaiser und man sah sich als

,deutsch-österreichisch‘. Zum anderen bot auch das sich gerade stark entwickelte ,Deutschtum‘

der sogenannten ,Reichsdeutschen‘ ein Identifikationspotential.114 Diese schlossen zwar

anfänglich andere differenziertere Identifikationsoptionen, etwa für Ungarn, Tschechen,

Slowenen, etc. nicht per se aus, allerdings wurden sie mit zunehmender Zeit der

ausschlaggebende Faktor für den Differenzierungswunsch der im habsburgerischen

Herrschaftsgebiet lebenden Völker. In weiterer Folge wurde so das Aufkommen einer

gesamthabsburgerischen Bewusstseinsbildung verhindert.

Tschechen, Ungarn und Slowenen bezeichneten die Deutschösterreicher als ‚Deutsche‘, denn

diese waren in ihrem unmittelbaren Umfeld und somit auch eine im Alltag ständig präsente

konkurrierende Nationalität im Prozess der Nationsbildung. Die weiter entfernten ‚Preußen‘

waren hier nicht mit einbezogen. Dies spiegelt sich auch in der Bezeichnung ‚Reichsdeutsche‘,

die die Österreicher als Abgrenzung gegenüber der Deutschen auch noch im 20. Jahrhundert

gebrauchten, wider.115

Neben den aufstrebenden Sprachgruppen der Monarchie, die sich immer mehr zu modernen

Nationen entwickelten, gab es seit dem Bestand der Doppelmonarchie noch ein weiteres

tiefgreifendes Problem.116 Die Bewohner der kaiserlich und königlichen Monarchie waren

gespalten in ihrer Identität, denn sie sollten sich als kaiserlich und königlich österreichisch-

ungarische Bürger sehen, gleichzeitig aber auch als kaiserlich, königlich österreichische oder

königlich ungarische. Auch der Wahlspruch viribus unitis (‚mit vereinten Kräfte‘) Kaiser Franz

Josephs I. konnte die Bewohner der Doppelmonarchie nicht aus ihrer Identitätskrise führen.117

113 Vgl. BRUCKMÜLLER, Österreichbewußtsein im Wandel. 1994. S. 74. 114 Ebda. S. 75. 115 Vgl. ebda S. 75. 116 Vgl. BRUCKMÜLLER Ernst, Symbole österreichischer Identität zwischen „Kakanien“ und „Europa“.

Wiener Vorlesungen im Rathaus, Band 59. Picus Verlag, Wien. 1997. S. 27. 117 Vgl. MUSIL Robert, Der Mann ohne Eigenschaften, Aus einem Staat, der an einem Sprachfehler

zugrundegegangen ist. S. 445 – S.447. IN: BRUCKMÜLLER Ernst, Symbole österreichischer Identität zwischen

„Kakanien“ und „Europa“. Wiener Vorlesungen im Rathaus, Band 59. Picus Verlag, Wien. 1997. S. 27 – S. 28.

Page 32: Das österreichische Nationalbewusstsein

31

Laut Robert Musil taten sich die Ungarn hier leichter da sie schon vorher Ungarn waren und

Ungarn blieben. Die Österreicher hingegen hatten zuvor und danach nicht dieses Bewusstsein,

zumal es Österreich in solcher Form nicht gab, sondern nur dessen amtliche Bezeichnung ‚Die

im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder‘. Diese hatte wiederum wenig Bedeutung

für das den Alltag der Menschen. Somit konnten sie sich auch auf Wunsch der Obrigkeit nicht

als Österreich-Ungarn oder Österreicher-Ungarn identifizieren. Des Weiteren fehlte es an

einem passenden Begriff. Österreicher zu sein, hieß Slowene, Tscheche Pole, Friauler, Serbe

Kroate, Ruthene oder Wallache zu sein.118 So bringt Musil das begriffliche Dilemma, das die

Identitätskrise eines Bewohners der Doppelmonarchie, folgendermaßen auf den Punkt:

Man stelle sich ein Eichhörnchen vor, das [sic!] nicht weiß, ob es ein Eichhorn oder eine Eichkatze ist,

ein Wesen, das keinen Begriff von sich hat, so wird man verstehen, daß [sic!] es unter Umständen vor

seinem eigenen Schwanz eine heillose Angst bekommen kann; in einem solchen Verhältnis zueinander

befanden sich aber die Kakanier und betrachteten sich mit dem panischen Blick von Gliedern, die

einander mit vereinten Kräften hindern, etwas zu sein. […] der österreichischen und ungarischen

österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie wiederfuhr es […] daß [sic!] sie an ihrer

Unaussprachlichkeit zugrunde gegangen ist…119

Die bröckelnde Entwicklung dieses kollektiven Bewusstseins und die entgegensteuernden

Nationalbewegungen bis zum Ersten Weltkrieg, waren das Fundament und der Grund für die

nach dem Krieg aufkommende Identitätskrise der Österreicher.120 Als das Ende des Krieges

und der Untergang der Habsburger Monarchie bereits im Oktober 1918 absehbar war, traten

die Reichsabgeordneten zusammen und hielten eine provisorische Nationalversammlung ab.

Daraufhin wurde vom Staatsrat am 30. Oktober 1918 die erste Regierung der Republik

„Deutsch-Österreich“ ernannt. Deutschösterreich sollte eine demokratische Republik und Teil

der Deutschen Republik sein.121 Dies war jedoch mit dem Friedensvertrag von Saint-Germain,

in dem die Unabhängigkeit Österreichs festgelegt worden war, sowie auch im Versailler

Vertrag, der die Anerkennung der Österreichischen Unabhängigkeit durch Deutschland

verankert, verboten worden. Zudem wurde im Vertrag von Saint-Germain der Staatsname

„Republik Österreich“ bestimmt.122 Darüber hinaus waren vor allem die führenden

Sozialdemokraten verärgert, die sich von dem Namen Österreich trennen wollten, da er an die

Habsburger Monarchie erinnern würde, mit der sie keine Verbindung mehr haben wollten.123

118 Vgl. MUSIL Robert, Der Mann ohne Eigenschaften, Aus einem Staat, der an einem Sprachfehler

zugrundegegangen ist. S. 445 – S.447. IN: BRUCKMÜLLER Ernst, Symbole österreichischer Identität zwischen

„Kakanien“ und „Europa“. Wiener Vorlesungen im Rathaus, Band 59. Picus Verlag, Wien. 1997. S. 27 – S. 29. 119 Ebda. S. 29. 120 Vgl. BRUCKMÜLLER, Österreichbewußtsein im Wandel. 1994. S. 75. Et. BRUCKMÜLLER, Symbole

österreichischer Identität zwischen „Kakanien“ und „Europa“. 1997. S. 30 121 Vgl. VOCELKA Karl, Geschichte Österreichs. Kultur – Gesellschaft – Politik. Wilhelm Heyne Verlag,

München. 2009. S. 271. - S. 272. 122 Vgl. ebda. S. 275. 123 Vgl. BRUCKMÜLLER, Symbole österreichischer Identität zwischen „Kakanien“ und „Europa“. 1997. S. 33.

Page 33: Das österreichische Nationalbewusstsein

32

Nicht wenige Österreicher empfanden diesen Namen damals als auferlegte Geisel der

Siegermächte.124 Sogar Otto Bauer und Ignaz Seipel, die politischen Antagonisten dieser Zeit,

waren sich über den neu entstandenen Kleinstaat Österreich einig. Bauer schrieb:125

[Er] ist kein organisch gewachsenes Gebilde […] nichts als der Rest, der vom alten Reich übriggeblieben

ist, als die andern Nationen von ihm abfielen. Es blieb zurück als ein loses Bündel auseinanderstrebender

Völker, deren politisches Zusammengehörigkeitsgefühl und deren ökonomische Existenzgrundlagen

durch den Zerfall des alten Reiches und des alten Wirtschaftsgebietes zerstört worden waren.126

Auch Seipel sah im Kleinstaat Österreich keine Zukunft und meinte, die Vorstellung, Österreich

könne zu einer Art Schweiz oder Belgien werden und sich zudem ein Nationalbewusstsein

künstlich bilden, sei ein „Irrweg“127:

Dies ist keine deutsche und keine österreichische Konzeption, sondern eine weltfremde französische oder

tschechische Vorstellung. Das heutige Österreich hat niemals für sich allein gelebt; die Österreicher sind

ihrer ganzen Geschichte und Art nach Großstaatmenschen. Gerade weil sie eine starke kulturelle Eigenart

haben, können sie anderen Schicksalsgenossen in einer großen staatlichen Einheit viel geben… Unser

eigenes Gärtchen zu bebauen und gegen Entree den Fremden zu zeigen ist keine Aufgabe für die

Bewohner der karolingischen Ostmark und die Erben der Türkenbesieger.128

Den Weg aus der Identitätskrise und Unbedeutendheit als Kleinstaat sahen viele Österreicher

in der Annäherung und schrittweisen Adaptierung des Deutschtums, die vor allem durch den

Unterricht in den Fächern Deutsch und Geschichte passieren sollte. „Entösterreichern […]wir

die Schule.“129, forderte der Sozialdemokrat Karl Leuthner. Bereits im September 1919 hatte

Otto Glöckel, ebenfalls ein Sozialdemokrat, in einem Erlass für die Fächer Deutsch und

Geschichte betont,130

[…] daß […] wir in Zukunft die Geschichte unserer Heimat wieder mehr als bisher einen Teil der

Geschichte Deutschlands überhaupt darstellen. Die heranwachsende Jugend soll ihre Heimat als ein

deutsches Land auch geschichtlich kennen und schätzen, sie soll auch aufgrund der Geschichte ihr Volk

und Gebiet als untrennbar verknüpft empfinden mit dem gesamten Deutschtum […].131

124 Vgl. BRUCKMÜLLER, Symbole österreichischer Identität zwischen „Kakanien“ und „Europa“. 1997. S. 33

– S. 34. 125Vgl. GEHMACHER Ernst, Das österreichische Nationalbewusstsein. In der öffentlichen Meinung und im

Urteil der Experten. Eine Studie der Paul Lazarsfeld Gesellschaft für Sozialforschung. Paul-Lazarsfeld

Gesellschaft für Sozialforschung. Wien. 1982. S. 107. – S. 108. 126 BAUER Otto, Die österreichische Revolution (1923), Neuausgabe, Wien. 1965. S. 127. IN: GEHMACHER

Ernst, Das österreichische Nationalbewusstsein. 1982 S. 107. 127 Brief Seipels an Dr. W. Bauer, 31. Juli 1928, u. a. zit. Bei REIMANN Viktor, Zug groß für Österreich. Seipel

und Bauer im Kampf um die Erste Republik. Molden, Wien. 1968. S. 191. – S. 192. IN: GEHMACHER Ernst,

Das österreichische Nationalbewusstsein. 1982 S. 108. 128 Ebda. 129LEUTHNER Karl, Zit. nach HEER Friedrich, Der Kampf um die österreichische Identität, Wien/Köln/Graz.

1981. S. 341. IN: BRUCKMÜLLER Ernst, Symbole österreichischer Identität zwischen „Kakanien“ und

„Europa“. Wien. 1997. S. 34. 130 Vgl. BRUCKMÜLLER, Symbole österreichischer Identität zwischen „Kakanien“ und „Europa“. 1997. S. 34. 131 Zit. Nach DACHS Herbert, Schule und Politik. Die politische Erziehung an den österreichischen Schulen

1918 bis 1938. Wien/München 1982. S. 62 IN: BRUCKMÜLLER Ernst, Symbole österreichischer Identität

zwischen „Kakanien“ und „Europa“. Wien. 1997. S. 34. – S.35.

Page 34: Das österreichische Nationalbewusstsein

33

Die verstärkte Hinwendung zum Deutschtum in der politischen Bildung zeigte Wirkung, da die

Grundsätze, die durch Glöckel kultiviert wurden, weiterhin in den Lehrplänen verankert

blieben. Somit wurden die Fächer Deutsch und Geschichte zu effektiven Medien, um der

breiten Masse der österreichischen Bevölkerung ein deutschnationales Gedankengut und

Bewusstsein einzupflanzen.132

Richard Schaukal liefert einen wertvollen Beitrag, der das Gefühlsbefinden der Österreicher in

der Identitätskrise nach 1918 porträtiert:

[W]enn sich der Österreicher die Frage stellt, was bin ich?, wird ihm, nicht erst seitdem er, von seinem

‚befreiten Brüdern‘ verlassen, auf sogenanntem innerösterreichischem Boden, dem Bundesstaat

Österreich, mit sich allein geblieben ist, in der einfachsten, der zunächstliegenden, die beste Antwort

bereitliegen. Ich bin Österreicher. Aber was heißt das? Was ist ein Österreicher? Vor kurzem sind es

neben mir, mit mir, gleich mir andere gewesen, die es nicht haben bleiben wollen. Das Österreichertum

ist also etwas, was man aufgeben kann, ohne es einzubüßen, etwas Äußerliches, was man einbüßt? Ist das

wahr? Kann ich mein Österreichertum ausziehen wie ein Kleid und in ein anderes schlüpfen? Ich weiß,

daß [sic!] ich das nicht kann. Und die andern, jene Österreicher von damals, die es nicht mehr sind, haben

sie ein anders Kleid angelegt? Nein, sie sind geblieben, was sie als Österreicher gewesen waren,

Tschechen, Polen, Italiener, Serben, Ruthenen, Rumänen. Das österreichische Kleid ist ihnen abgefallen.

Ich aber, wenn ich mein Österreichertum ablegte: käme da der Deutsche zum Vorschein, der ich gewesen

bin und bleibe? Mitnichten… Der Tscheche, der Pole, der Italiener, wenn er sich auch noch so sehr als

Österreicher empfand, fühlte doch, sei es nun zutiefst oder zuerst – der Unterschied liegt im Bewußtsein

[sic!], nicht im Gefühl – sich als Tschechen, Polen, Italiener. Ich fühle mich zuerst nicht als Deutscher.

[…] Gewiß [sic!], ich sprach nicht nur die deutsche Sprache, in der mir alles deutlich geworden war, …

ich liebte sie auch, als die mir angeborene, die ‚Muttersprache‘ … Aber war und blieb so die deutsche

Sprache meine geistige wie meine leibliche Heimat – die innerste, die Heimat meiner Seele, dessen, was

mich ‚moralisch‘ ausmacht, als was ich mich empfinde, war nicht Deutschland, sondern Österreich…133

Es gab aber auch nicht wenige deutsche Österreicher, die sich, nachdem sie das österreichische

Kleid abgelegt hatten, als Deutsche identifizierten.134 Viele Österreicher hofften, durch eine

Hinwendung zum Deutschtum und dem aufstrebenden Deutschland, der österreichischen

Identitätskrise entfliehen zu können.135 Ab 1933 änderten sich aber die Rahmenbedingungen

im Vergleich zu 1919. Österreich wurde jetzt als ‚deutsches‘ Land gesehen, welches seine

eigenen Leistungen und Traditionen betont, um für das gesamte Deutschtum einen Beitrag zu

leisten. Die Österreicher hängten sozusagen ihr österreichisches Kleid in den deutschen

Kleiderschrank. Zugleich wurde wieder stärker auf die Geschichte und die Kultur Österreichs

verwiesen und das ‚Vaterländische‘ in das Zentrum der Bewusstseinsbildung gerückt.136

132 Vgl. BRUCKMÜLLER, Symbole österreichischer Identität zwischen „Kakanien“ und „Europa“. 1997. S. 35. 133 SCHAUKAL Richard, Bekenntnis zum Österreichertum (1932), nach Viktor Suchy, Ein Dichter kämpft für

Österreich. Richard v. Schaukal zum Gedächtnis. IN: Furche Jahrbuch 1947, S.303 – S.320, S. 311. IN:

BRUCKMÜLLER, Symbole österreichischer Identität zwischen „Kakanien“ und „Europa“. Wien. 1997. S. 36. –

S.37. 134 Vgl. ebda. S. 37 135 Vgl. BRUCKMÜLLER, Österreichbewußtsein im Wandel. 1994. S. 75. 136 Vgl. BRUCKMÜLLER, Symbole österreichischer Identität zwischen „Kakanien“ und „Europa“. 1997. S. 37.

– S. 38.

Page 35: Das österreichische Nationalbewusstsein

34

Ebendies lässt sich etwa aus einem Auszug einer offiziellen Publikation ‚Österreich –

Grundlegung der vaterländischen Erziehung‘ von 1936 entnehmen:

Österreich wird leben und gedeihen, als die Lebensgrundlage seines Volkes und jedes einzelnen, als

alpenländisch-donauländische [sic!] Heimat mit ihrer tausendjährigen Religion und der darin

verwurzelten tausendjährigen deutschen Kultur; als der Staat der gesamtdeutschen christlichen Sendung

im Donauraum, der Erbe des Ersten Reiches (wie es Großösterreich war): als das Herzstück friedlicher

Völkergemeinschaft in Europa; als christlicher Staat, volkstreu und sozial, bei ständischer

Selbstverwaltung unter autoritärer Führung.137

Den Autoren war eine Neukonzeption des Geschichtsunterrichts sowie eine Rückbesinnung auf

das Österreichische und Vaterländische ein besonderes Anliegen. Denn ihrer Ansicht nach

wurde der Unterricht bereits am Ende der Monarchie und vor allem im Laufe der Ersten

Republik ‚verdeutscht‘. Die Interpretation der Geschichte, die das Deutschtum als Zentrum und

Maßstab setzte, stellte ein Problem dar, jedoch war die Einfärbung der Lehrpläne und die

Bewusstseinsbildung einer deutschen Identität von 1918 bis 1933 so fortgeschritten, dass eine

Neuinterpretation der historischen Geschehnisse nicht sehr erfolgreich sein konnte und keinen

großen Anklang fand. Dazu kam auch der schnelle, wellenschlagende Aufstieg Deutschlands

unter den Nationalsozialisten, der die ‚deutsche‘ Interpretation wiederum bekräftigte und als

die erfolgreiche erschienen ließ.138

4.1 Das Österreichbewusstsein nach dem Anschluss bis 1945

Wie bereits erwähnt, wurde bei der Ausrufung von „Deutschösterreich“ am 12. November

1918, Österreich als Teil Deutschlands gesehen. Dieser Anschlusswunsch und der Gedanke an

ein gesamtdeutsches Reich, der für viele Österreicher der allgegenwärtige Hoffnungsschimmer

aus der kleinstaatlichen Identitätskrise war, wurde in der Zeit des Austrofaschismus 1934 bis

1938 ein Riegel vorgeschoben. Der Austrofaschismus setzte sich dem nationalsozialistischen

Deutschland ideologisch entgegen. Die österreichischen Machthaber pochten auf die

Unabhängigkeit von Österreich und stilisierten die Österreicher als die besseren Deutschen –

freundlicher, umgänglicher, gläubiger und kultureller. Besonders der Katholizismus wurde als

die Grundlage gesehen, weshalb Österreich der eigentliche „bessere deutsche Staat“ sei.139

Diesbezüglich wurde im Vergleich zu den Jahren nach 1918 Österreichbewusstsein propagiert.

Doch auch der Austrofaschismus konnte den wachsenden Druck von Hitlerdeutschland nicht

mehr standhalten. Im Jahr 1938 kam es zum Anschluss an Deutschland, und er kam unter völlig

137 Vereinigung christlich-deutscher Mittelschullehrer Österreichs (Hrsg.), „Österreich“, Grundlegung der

vaterländischen Erziehung. Wien/Leipzig. 1936. IN: BRUCKMÜLLER Ernst, Symbole österreichischer Identität

zwischen „Kakanien“ und „Europa“. Wien. 1997. S. 38. 138 Vgl. BRUCKMÜLLER, Symbole österreichischer Identität zwischen „Kakanien“ und „Europa“. 1997. S. 38.

– S. 39. 139 Vgl. VOCELKA, Geschichte Österreichs. 2009. S. 14. – S. 16.

Page 36: Das österreichische Nationalbewusstsein

35

anderen politischen Vorzeichen und Gegebenheiten als er vor 20 Jahren vorgestellt, erhofft,

und geplant worden war. Ab dem Zeitpunktes des Anschluss an Deutschland gab es Österreich

als solches nicht mehr.140 Der Name Österreich wurde durch den Begriff Ostmark ersetzt.

Dieser wurde 1940 schließlich durch die Bezeichnung „Alpen- und Donau-Reichsgaue“

abgelöst.141

Als die deutsche Wehrmacht über die Grenze Österreichs marschierte und der Anschluss wie

eine Lawine über Österreich fegte, so schien auch das österreichische Bewusstsein wie

weggeweht. Bis auf die wenigen emigrierten und diejenigen, die der Monarchie noch immer

nachtrauerten, sowie der beharrenden ‚Vaterländischen‘, die zwangspensioniert oder von der

Gestapo vermerkt, eingesperrt oder ins KZ gebracht wurden, blieb nicht viel übrig.142„1938

schien Österreich ein historischer Begriff geworden zu sein“143, so Bruckmüller.

Das Feuer des österreichischen Bewusstseins war aber nicht völlig erloschen und flammte

immer wieder leicht auf. Laut Bruckmüller vermerkten die Autoritäten ‚Österreich-Tendenzen‘,

die sie als nicht besonders gefährlich einstuften, aber sie auch nicht unbeobachtet lassen

wollten. Solche ‚Tendenzen‘ kamen zum Beispiel bei Fußballspielen auf. Zwei berühmte Spiele

waren jene von Schalke 04 gegen Austria am 17. November 1940 und Rapid gegen Schalke 04

am 22. Juni 1941. Im Zuge der aufgebrachten Stimmung während der Fußballspiele offenbarte

sich ein144

[…] Grad an Nichtübereinstimmung zwischen dem offiziellen gemeinsamen Deutschtum und dem

tatsächlichen Differenzempfinden, das man gegenüber den neuen Herren fühlte, der es methodisch

zulässig erscheinen läßt [sic!], hier eine Art von anonymen Österreich-Bewußtsein [sic!] am Werk zu

sehen, das sich literarisch, politisch und kulturell kaum bis gar nicht äußern konnte. Dieses anonyme

Österreichbewusstsein reichte bis in die große Schar der nationalsozialistischen Österreicher hinein.145

Dies zeigt auch ein Zitat des Sicherheitsdienstes des Reichsführers SS vom 21. Oktober 1940:146

Es ist bemerkenswert, daß [sic!] sich anscheinend alle Gegnergruppen in einer Parole einig sind und dabei

sogar bis in die Parteikreise hinein nicht unerhebliche Zustimmung finden, nämlich in der Vertiefung des

Gegensatzes zwischen Ostmärkern und Altreichsdeutschen […] Der Parteiapparat scheint in dieser

Beziehung durchaus nicht einsatzfähig, da die Parteigenossenschaft […] bis in die höchste Stellen hinauf

eine Wut gegen alles Altreichsdeutsche in sich tragen […]147

140 Vgl. VOCELKA, Geschichte Österreichs. 2009. S. 14. – S. 16. 141 Vgl. ebda. S. 300. 142 Vgl. BRUCKMÜLLER, Symbole österreichischer Identität zwischen „Kakanien“ und „Europa“. 1997. S. 39. 143 Ebda. 144 Vgl. ebda. S. 39. – S.40. 145 Ebda. S. 40. 146 Vgl. Ebda. 147 KREISSLER Felix, Der Österreich und seine Nation. Ein Lernprozess mit Hindernissen. Böhlau, Wien. 1984.

S. 11. IN: BRUCKMÜLLER Ernst, Symbole österreichischer Identität zwischen „Kakanien“ und „Europa“.

1997. S. 40.

Page 37: Das österreichische Nationalbewusstsein

36

Diese ‚Österreich-Tendenzen‘, die sich in einer abneigenden Haltung gegenüber den deutschen

Machthabern manifestierten, zeigten durchaus ein noch vorhandenes Österreichbewusstsein

während der Anschlusszeit.

Bruckmüller betont, dass Äußerungen wie „Wir sind ja Österreicher; wir hätten die deutschen

Gauner nicht gebraucht“148 bereits in der Zeit um 1940 keine Seltenheit waren und spätestens

nach dem Russlandfeldzug immer häufiger und nachdrücklicher wurden. Hier kam ein

Österreichbewusstsein zum Vorschein, welches vor allem durch den Unmut, der während des

Kriegsverlaufes wuchs, bekräftigt wurde. Dies ist jedoch in eine völlig andere Kategorie zu

setzen als etwa konkrete Widerstandsbewegungen/-bemühungen, welche durch einen

österreichischen Patriotismus motiviert waren. Solche Widerstandsgruppen gab es, doch

wurden die meisten Mitglieder ausgeforscht, eingesperrt oder getötet. Als Symbol verwendeten

sie nicht selten die Farbkombination rot-weiß-rot.149

4.2 Das Österreichbewusstsein nach 1945 – Bedingungen, Faktoren und Probleme

In und nach dieser Zeit, in der es Österreich nicht gab,

entwickelte sich ein neues Identitätsbewusstsein. Nach 1945

stand vor allem eine Abgrenzung zu Deutschland und zu den

„den Deutschen“ im Vordergrund.150

Sobald der Krieg zu Ende war, wandten die Österreicher dem Weg der ‚deutschen‘

Identifikation, den sie seit 1918 beschritten hatten, den Rücken zu. Nun war es Priorität, sich

von den Deutschen abzugrenzen. Das ‚Österreichische‘ wurde wieder hervorgehoben und dies

geschah laut Bruckmüller nicht nur aus Opportunitätsgründen: Die im Zuge des Anschlusses

vollzogene Löschung des Namens ‚Österreich‘, der Abbruch der als ‚eigen‘ wahrgenommenen

Traditionen, die Herabsetzung durch die deutschen Herren, hatte bei vielen Österreichern nach

1938 eine Lücke hinterlassen.151 Die Re-etablierung des Namens und der österreichischen

Symbole und Bräuche konnte von diesen Menschen als positiv bewertet werden, da sie einen

Teil ihrer entrissenen Identität wiedergewonnen hatten.152 Die vom Krieg gebeutelte

Bevölkerung sehnte sich nach Sicherheit und Ruhe. Das begrenzte Österreich mit seinen

Landschaften und Bergen wurde als Heimat wiedergefunden und akzeptiert.153

148BRUCKMÜLLER, Symbole österreichischer Identität zwischen „Kakanien“ und „Europa“. 1997. S. 41. 149 Vgl. BRUCKMÜLLER, Symbole österreichischer Identität zwischen „Kakanien“ und „Europa“. 1997. S. 41. 150 VOCELKA, Geschichte Österreichs. 2009. S. 16. 151 Vgl. BRUCKMÜLLER, Österreichbewußtsein im Wandel. 1994. S. 75. – S. 76. 152 Vgl. STOURZH Gerald, Vom Reich zur Republik. Studien zum Österreichbewusstsein im 20 Jahrhundert.

Wiener Journal Zeitschriftenverlag, Wien .1990. S. 49. – S. 50. IN: BRUCKMÜLLER Ernst,

Österreichbewußtsein im Wandel. 1994. S. 76. 153 Vgl. BRUCKMÜLLER, Symbole österreichischer Identität zwischen „Kakanien“ und „Europa“. 1997. S. 37.

Page 38: Das österreichische Nationalbewusstsein

37

Um den Menschen eine solche Heimat zu geben, wurden bewusst altösterreichische Stereotype

bedient und als typisch erachtete österreichische Werte neu wiederbelebt. Dies geschah im

Vergleich zu 1919 unter anderen Gegebenheiten. Der Name „Österreich“, der 1918/1919 von

der Mehrheit abgelehnt und als Schmach empfunden wurde, wurde jetzt akzeptiert. Auch die

Grenzbestimmungen von 1918, die die ehemalige Donaumonarchie zu einem Kleinstaat

gemacht hatten und den Österreicher*innen das Gefühl der Unbedeutendheit gegeben hatte,

wurde von der österreichischen Bevölkerung nun auch akzeptiert. Diese Akzeptanz spiegelte

auch die Geschichtswissenschaft wider, die in der historischen Darlegung von Österreich von

Großraumkonzepten zurückwich.154 Erstaunlich ist auch die Wiederinkraftsetzung der

Verfassung von 1920 in der Fassung von 1929, da die Verfassungsreform im Jahr 1929 noch

Spannungen im Land verursacht hatte. Auch die Antwort auf die Frage nach den neuen

repräsentativen Staatsymbolen wurde schnell gefunden: Bereits in einem am 8. Mai

verabschiedeten Gesetz war man sich einig, dass das neue Staatswappen basierend auf dem

alten der Ersten Republik, nur mit dem Unterschied gefertigt wurde, dass nun gesprengte Ketten

an den Fängen des Adlers als Zeichen der staatlichen Unabhängigkeit hinzugefügt wurden.155

Die Suche nach einem Nationalbewusstsein, die 1918 begonnen hatte, war mit Ende des

Zweiten Weltkrieges zum Erliegen gekommen. Die Folgen des Krieges, die bewusste

Abgrenzung zu den Deutschen und das Einnehmen der Opferrolle spielten dabei eine

wesentliche Rolle. Die Österreicher*innen waren müde geworden, nach der zweimaligen

Destruktion ihrer vorherringen Nationalidentitätsvorstellungen, „[…] der

‚deutschösterreichischen‘ monarchiebezogenen (sic!) 1918 und der ‚deutschen‘ 1945 […]“156.

Diese Einschnitte brachten einen neuen Konsens über das österreichische Nationalbewusstsein

hervor. Dieser Konsens war kaum geprägt von einem übertriebenen Patriotismus oder von

gemeinsamen Erinnerungen an mystische Heldentaten oder Opferbereitschaft.157

Den Ausführungen Bruckmüllers folgend ist dieser Konsens

[…] realistisch, wenig überschwenglich, zeigt Zufriedenheit mit der Gegenwart, schöpft aus dem

alltäglichen Zusammenleben, kennt aber auch keinen ‚Verfassungspatriotismus‘, kaum so etwas wie

zentrale Identifikationsbilder.158

Stourzh beschreibt in seinem Werk Vom Reich zur Republik. Studien zum

Österreichbewusstsein im 20. Jahrhundert den Wandel des Österreichbewusstseins vom Ende

154 Vgl. BRUCKMÜLLER, Österreichbewußtsein im Wandel. 1994. S. 76. 155 Vgl. BRUCKMÜLLER, Symbole österreichischer Identität zwischen „Kakanien“ und „Europa“. 1997. S. 49. 156 BRUCKMÜLLER, Österreichbewußtsein im Wandel. 1994. S. 76. 157 Vgl. ebda. 158 Ebda.

Page 39: Das österreichische Nationalbewusstsein

38

der Monarchie bis zum Ende des 20. Jahrhunderts. Als repräsentativen Begriff für den

Übergang von der Monarchie bis zur Zweiten Republik und der Entwicklung eines

Österreichischen Nationalbewusstsein verwendete er die Vorsilbe „Reichs-“. Als Anstoß

dienten Stourzh Erinnerungen Bruno Kreiskys an dessen Aufstieg zum Vorsitzenden des

„Reichsbildungsausschusses“ der Sozialistischen Arbeiterjugend. Für Kreisky und ältere

Österreicher*innen seien diese Benennungen so vertraut gewesen, wie sie den jüngeren

Generationen fremd waren. Laut Stourzh handelt es sich dabei um ein altösterreichisches Erbe.

Er verweist darauf, dass auch im konservativen Lager der Zwischenkriegszeit einige „Reichs“-

Institutionen, wie etwa den „Reichsbund der Österreicher“ oder die „Reichspost“ gegeben hat.

Neben den politischen Institutionen in der Ersten Republik gab es aber auch zahlreiche

unpolitische Organisationen, die „Reichs-“ als Vorsilbe in ihrer Benennung hatten:159 Sie

reichen „[…] von der Reichsanstalt für Mutter- und Säuglingsfürsorge über den Reichsverband

der Hebammen Österreichs bis zum Reichsverein der österreichischen Buchdruckerei- und

Zeitungsarbeiter.“160

Eine bekannte Organisation war die „Reichsorga“, die Reichsorganisation der Kaufleute

Österreichs. Die Vorsilbe „Reichs-“ fungierte in der Ersten Republik als Kennzeichnung und

wies auf das „Gesamtösterreichische“ hin. Diese Bedeutung änderte sich 1938 mit dem

Anschluss.161

Nun gab es einen „Reichskommissar für die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen

Reiche“ und ab 1939 gab es „Reichstatthalter“ für die „Reichsgaue“ der Ostmark. Doch obwohl

die Vorsilbe „Reich-“ in der Zeit, in der Österreich ein Teil des Dritten Reiches war, eine völlig

andere Bedeutung hatte, war laut Stourzh die Erinnerung an die von Altösterreich stammenden

und bis 1938 üblichen „Reich-“ Institutionen noch sehr präsent. So präsent, dass die Vorsilbe

auch noch in den ersten Monaten der Zweiten Republik verwendet wurde. Dies führte laut eines

Aktenverweises vom 25. September 1945 in den Akten des Amtes für auswertige

Angelegenheiten der Staatskanzlei zu einer Intervention des Vertreters der französischen

Besatzungsmacht. Norbert Bischoff vermerkte darin, dass der zuständige Vertreter der

französischen Besatzung, de Monicault, sich bei ihm erkundigte, wieso es bei der

„Österreichischen Volkspartei“ eine „Reichsparteiabteilung“ und sonstige „Reichsorgane“

geben könne. Daraufhin antworte ihm Bischoff, dass er selbst keine näheren Informationen

darüber habe, sich aber daran erinnern könne, dass diese Organe diese Bezeichnungen bereits

159 Vgl. STOURZH, Vom Reich zur Republik. 1990. S. 25. 160 Ebda. S. 25. 161 Vgl. Ebda. S. 25 – S. 26.

Page 40: Das österreichische Nationalbewusstsein

39

in der Ersten Republik gehabt hätten und diese Beifügung noch ein Überbleibsel aus der Zeit

der Monarchie sei. Der französische Gesandte antwortete Folgendermaßen darauf:162

[...] Dies möge wohl sein, heute habe der Terminus „Reichs“- einen anderen sehr unangenehmen Klang

gewonnen und es wäre doch sehr gut, wenn dieses Wort fallen gelassen würde, [andernfalls könnten]

möglicherweise imperative [diplomatische Einsprüche erfolgen,] was zu vermeiden gewiß [sic!] alle

Beteiligten wünschen würden […]163

Bischoff merkte an, dass in dieser Antwort „[der] außerordentliche Argwohn, mit dem selbst

die geringsten Manifestationen verfolgt werden, hinter denen noch ein Rest einer Bindung an

Deutschland vermutet werden könnte“164 ersichtlich war. Bereits am 26. September, also dem

darauffolgenden Tag, wurde folgende Meldung vom Generalsekretär des Außenamtes,

Heinrich Wildner aktenkundig gemacht:165 „Landesobmann Figl teilt mit, daß[sic!] die

beanstandete Titulatur abgeschafft wurde.“166

Aus dieser Anekdote lassen sich zwei nicht unwichtige Dinge feststellen: Erstens ist aus den

Aktenaufzeichnungen ersichtlich, wie schnell von Seiten der österreichischen politischen

Instanzen auf die Einwände des französischen Vertreters reagiert wurde. Zweitens lässt sich

hier ein Bruch beziehungsweise eine Neuinterpretation und Akzeptanz des

Österreichverständnisses und Österreichbewusstseins, symbolisch widergespiegelt durch die

Abschaffung der Vorsilbe „Reichs-“, festmachen.

Stourzh geht sogar noch weiter, indem er diesen Zeitpunkt als Wendepunkt der österreichischen

Geschichte bezeichnet, indem sie

[…] endgültig von einer „Reichsgeschichte“ („Österreichische Reichsgeschichte“ lautete ein Pflichtfach

für Jus-Studenten bis Mitte der dreißiger Jahre!) zur Republikgeschichte geworden [war], nicht schon im

November 1918.167

Er stellt die These zur Diskussion, dass sich das Österreichbewusstsein erst zu dieser Zeit von

der „Reichs-“ Mentalität völlig losgelöst hatte und dies ein Österreichbewusstsein ermöglichte,

welches den Kleinstaat und die demokratische Republik als feste Bestandteile auch über die

politischen Parteigrenzen hinweg nicht nur akzeptieren, sondern vielmehr positiv integrieren

konnte.168

162 Vgl. STOURZH, Vom Reich zur Republik. 1990. S. 26. 163 Österreichisches Staatsarchiv, Archiv der Republik, Staatskanzlei/Amt für Auswärtige Angelegenheiten 1945,

Zl. 1368-pol/45. IN: STOURZH, Vom Reich zur Republik. 1990. S. 26. 164 Österreichisches Staatsarchiv, Archiv der Republik, Staatskanzlei/Amt für Auswärtige Angelegenheiten 1945,

Zl. 1368-pol/45. IN: STOURZH, Vom Reich zur Republik. 1990. S. 26. 165 Vgl. STOURZH, Vom Reich zur Republik. 1990. S. 26. 166 Österreichisches Staatsarchiv, Archiv der Republik, Staatskanzlei/Amt für Auswärtige Angelegenheiten 1945,

Zl. 1368-pol/45. IN: STOURZH, Vom Reich zur Republik. 1990. S. 26. 167 STOURZH, Vom Reich zur Republik. 1990. S. 27. 168 Vgl. ebda.

Page 41: Das österreichische Nationalbewusstsein

40

Dieser Wendepunkt, der das Ende der von der Monarchie geprägten Mentalität und

Großstaatlichkeitsvorstellung markiert, stellt einen wichtigen Aspekt im Wandel des

Österreichbewusstseins dar. Für Reichsromantik gab es nach dem erschütternden Krieg keinen

Platz. Jene Menschen, die nicht im Krieg gefallen, in Konzentrations- und Arbeitslagern

ermordet worden waren, in Gefangenschaft lebten oder verschollen waren, kämpften in den

Trümmern um ihr Leben.

Die Bombardierungen der Städte, die zusätzlich enorme Opfer gefordert und die Infrastruktur

katastrophal zerstört hatten, trugen zur bereits schwierigen Situation der Österreicher*innen

noch bei. Allein über Wien wurden 80 Bombenangriffe geflogen und

[…] 8000 Menschen getötet, 6000 Gebäude vernichtet, 13.000 schwer, 27.000 leicht beschädigt. Andere

Städte wie Wiener Neustadt wurden noch stärker zerstört. Auch Graz, Klagenfurt, Villach, Innsbruck,

Linz und die Orte der Mur-Mürz-Furche wurden schwer beschädigt.169

Der Name Trümmerjahre ist bezeichnet für die damalige kritische Lage, in dem sich das Land

nach Kriegsende befand.

Es gab mehr als 1,6 Millionen Flüchtlinge, Vertriebene oder umgesiedelte Personen, von denen

die Mehrheit nicht deutschsprachig waren. 247 000 Österreicher, die in der Wehrmacht gedient

hatten, waren gefallen oder galten als vermisst und wurden später für tot erklärt.170 Über 500

000 waren in alliierter Gefangenschaft. Gefangene in Lagern von den westlichen Mächten

kamen im Herbst 1945 größtenteils frei, jene, die von der Roten Armee in Gefangenschaft

genommen wurden, wurden erst zwischen 1947 und 1949 freigelassen. Einige durften sogar

erst nach 1955 zurückkehren. Die Not der Bevölkerung war erschütternd: Industrieanlagen

waren zerstört, Lebensmittel und andere Konsumgüter, die bereits während der Kriegszeit nur

begrenzt vorhanden waren, waren rar. Besonders schwer traf es Wien, das im Mai 1945 kurz

vor einer Hungerskataststrophe stand.171

Die tägliche zur Verfügung stehende Kalorienmenge lag bei etwa 500 Kalorien pro Person. Durch die

Maispende der Roten Armee (8000 Tonnen Mehl, 7000 Tonnen Getreide, 1000 Tonnen Bohne, 1000

Tonnen Erbsen, 200 Tonnen Fleisch, 200 Tonnen Zucker etc.) verbesserte sich die Lage zwar, aber nur

geringfügig und kurzzeitig. Lebensmittelkarten wurden eingeführt, die Kalorienmenge pro Tag erreichte

erst Ende 1946 1550 Kalorien und 1948 2100 Kalorien für Normalverbraucher.(Schwerarbeiter,

werdende und stillende Mütter bekamen Zuschläge). Erst nach der Rekordernte im Jahr 1949 trat langsam

eine Normalisierung ein, 1953 konnten die Lebensmittelkarten abgeschafft werden.172

169 Vgl. VOCELKA, Geschichte Österreichs. 2009. S. 316. 170 Vgl. ebda. S. 317. – S. 318. 171 Vgl. ebda. S. 318. 172 Ebda.

Page 42: Das österreichische Nationalbewusstsein

41

Die Besatzung durch die alliierten Mächte stellte einen weiteren enorm belastenden Faktor für

die Bevölkerung dar.

Ende 1945 hielten sich 200.000 Russen, 65.000 Briten, 47.000 Amerikaner und 40.000 Franzosen in

Österreich auf, 1955 waren es immerhin noch 40.000 Sowjets und 20.000 Westalliierte. Renners oft

zitierter Spruch von den „vier Elefanten in einem zu kleinen Boot“ charakterisiert die Situation

trefflich.173

Das ohnedem wirtschaftlich in einem desaströsen Zustand befindliche Österreich hatte für die

Kosten der Besatzung selbst aufzukommen.174

Diese Rahmenbedingungen nach Kriegsende verdeutlichen, dass die Menschen keinen

überschwänglichen Nationalismus oder Patriotismus verspürten, ja verspüren konnten. Die

österreichische Bevölkerung sehnte sich nach Sicherheit und nach einer Heimat.

Die Selbstfindung und Identitätssuche der österreichischen Bevölkerung vor, während und nach

den Erfahrungen des Dritten Reiches mündete in den Vierzigerjahren daher zu einer neuen

Beurteilung des Kleinstaatenkonzeptes.175

Im Unterschied zu 1918/19 wurde der Kleinstaat nun akzeptiert. Dabei spielen die zuvor kurz

skizzierten Bedingungen des Nachkriegsösterreichs eine wesentliche Rolle. Die Folgen des

Krieges, die Verschiebungen der Machtverhältnisse, die Besatzung durch die alliierten Mächte

und der seit der Moskauer Deklaration von 1943 deklarierte Status Österreichs als erstes Opfer

des nationalsozialistischen Deutschlands waren enorme Einschnitte und zugleich jene

Hauptfaktoren, die die Suche und Konstituierung des österreichischen Nationalbewusstseins

maßgeblich beeinflussten.

Auch die Wiedererstarkung des föderalistischen Bewusstseins, die durch die

Länderkonferenzen im September 1945 und dem Begehren nach der Rekonstruktion der

Länderstrukturen der Ersten Republik aufkam, ist erwähnenswert.176 Die staatliche Einheit

Österreichs nahm neben den zuvor genannten Problemen der Nachkriegszeit und der Besatzung

politisch eine vorrangige Stellung ein.177

Ein weiterer wichtiger Punkt und bis heute noch oft genanntes Merkmal des

Österreichbewusstseins ist der Status der Neutralität. Vor 1945 standen der Entwicklung eines

Neutralitätsgedankens noch weitgehend hinderliche Faktoren im Weg. Im Wesentlichen war es

der Wunschgedanke nach dem Anschluss und die Großraumsehnsucht, die in der

173 VOCELKA, Geschichte Österreichs. 2009. S. 318. 174 Ebda. 175 Vgl. STOURZH, Vom Reich zur Republik. 1990. S. 86. 176 Vgl. ebda. 177 Vgl. VOCELKA, Geschichte Österreichs. 2009. S. 318.

Page 43: Das österreichische Nationalbewusstsein

42

Zwischenkriegszeit eine wesentliche Rolle gespielt hatten. Nach dem verheerenden Zweiten

Weltkrieg waren diese hinderlichen Faktoren weggefallen und Österreich befand sich in einer

völlig neuen Position, in der es zu einer Aufwertung der Neutralität kam.178 Führende Politiker,

wie auch internationale Stimmen sprachen sich zunehmend für ein Österreich aus, welches sich

das Modell der Schweiz als benachbarter und landschaftlich ähnlicher Kleinstaat als Vorbild

nehmen sollte.179

Karl Renner, der damalige Bundespräsident, gab in einem Vortrag im April 1946 einen

Ausblick darauf, wie sich Österreich neu konstituieren könnte und zog folgenden Schluss:

Die zweimaligen bitteren Erfahrungen haben uns gewitzigt. Wir wollen nimmermehr in ein

großmächtiges Reich, in irgendein Imperium eingebaut werden, um über Nacht wieder herausgerissen zu

werden. Wir wollen frei für uns bleiben und es allein in der Welt versuchen. Es gibt Staatswesen, die

weniger als sechs Millionen Einwohner zählen und doch für sich bestehen und gedeihen. Warum soll es

uns nicht gelingen? Wir grenzen im Westen an die Schweiz, die Ostalpenländer haben eine ähnliche

Struktur wie das Zentralalpenland der Eidgenossenschaft, unsere autonomen Länder sind

verfassungsmäßig und in ihrer Denkweise den Schweizer Kantonen verwandt, unsere Bevölkerung ist

noch dazu sprachlich eine Einheit. Freilich: Die Schweiz ist durch einen mehrhundertjährigen Frieden

reich und wir sind durch zwei Weltkriege arm geworden! Die Schweiz hat zu allen Völkern der Erde

freundschaftliche Beziehungen, und wir haben manchen Nachbarn, der uns nicht gut gesinnt scheint. Die

zweimalige chirurgische Operation der beiden Weltkriege hat Wunden hüben und drüben hinterlassen –

wir haben es schwer, unendlich schwerer als die Schweiz.180

Die Entwicklung des Neutralitätsgedankens wurde durch die „neue politisch-strategische

Situation, die Österreich an einer Nahtstelle zweier Machtblöcke placierte [sic!]“181, gestärkt.

Die in Etappen entstehende Beziehung zwischen den aus dem Zweiten Weltkrieg resultierenden

Supermächten UdSSR und USA hatte ihre Anfangsphase bereits im Verlauf des Jahres 1945.

Die Differenzen und der Kampf um die Vormachtstellung des jeweiligen Weltbildes zeichneten

sich schon in den Diskrepanzen und dem Misstrauen während der Zonen- und

Sektoreneinteilung für Österreich und Wien sowie auch durch die Spannungen um die

Anerkennung der provisorischen Regierung durch die Westalliierten, ab.182 Die Frage, durch

welche Orientierung – West- oder Ostmächte – sich Österreich neu ordnen würde, stand sehr

schnell im Raum. Bis zum Staatsvertrag bewegte sich die österreichische Politik auf einem

schmalen Grad, der zwischen der Versicherung von Zugeständnissen, positiver Gesinnung und

friedlichen Beziehungen und Zusammenarbeit zu beiden Großmächten und der Betonung der

Wichtigkeit eines neutralen Österreichs als Schnitt- und Vermittlungspunkt zwischen West und

Ost verlief.

178 Vgl. STOURZH Gerald, Geschichte des Staatsvertrages. 1945 – 1955. Österreichs Weg zur Neutralität.

Studienausgabe. 3. Auflage, Verlag Styria, Graz, Wien, Köln. 1985. S. 98. 179 Vgl. STOURZH, Vom Reich zur Republik. 1990. S. 86. 180 RENNER Karl, Österreich, Saint-Germain und der kommende Friede, Wien. 1946. S. 19. IN: STOURZH

Gerald, Vom Reich zur Republik. 1990. S. 87. 181 STOURZH, Geschichte des Staatsvertrages. 1985. S. 98. 182 Vgl. ebda.

Page 44: Das österreichische Nationalbewusstsein

43

Stellungnahmen aus der österreichischen Politik reflektieren recht bald die neue Position

Österreichs. Der Unterstaatssekretär für Außenangelegenheit der Übergangsregierung hielt im

Oktober 1945 in einem Leitartikel der Zeitung ‚Neues Österreich‘ fest, dass allen Mächten

versichert werden sollte, dass „Österreich weder nach der einen noch der anderen Seite“, rücken

werde; Österreich sei „weder Vorposten für die eine noch für die andere Macht.“183 Etwas

zurückhaltender und allgemeiner sprach Leopold Figl bei der Regierungserklärung am 21.

Dezember 1945 über die Zusammenarbeit Österreichs „mit allen friedlichen Nationen der Welt,

besonders mit den alliierten Großmächten“184. Etwas deutlicher nahm Abgeordneter Ernst

Koref Bezug auf die Debatte, indem er sich für eine „wohlüberlegte und klug dirigierte

außenpolitische Orientierung, „[die nicht] von weltanschaulichen Momenten und Motiven

maßgebend gelenkt sein“185 könne. „Wir sollten weder von einer einseitigen West- noch einer

einseitigen Ostorientierung reden.“186 Die Formulierung ,Weder West- noch Ostorientierung‘

avancierte zu einem der populärsten außenpolitischen Schlagworten in den Anfangsjahren der

Zweiten Republik.187

Die sehr allgemeine offene Formel ,Weder West- noch Ostorientierung‘ war der Überbau für

ein bereits zuvor genanntes und konkreteres Leitbild, nämlich das Schweizer Modell. Heinrich

Raab, der 1945 davon ausging, dass Sowjetrussland die bestimmende Großmacht für Österreich

werden würde, plädierte bereits sehr früh darauf, die Schweiz als Vorbildmodell für das

Österreich der Zweiten Republik anzusehen. Die Österreicher, so Raab, müssten lernen, ihre

Eigenart zu erkennen, um sich auf ihr eine stabile Sicherheit aufzubauen.188

Hier sei ihm [dem Österreicher] der fest in seinem eigenen Wesen ruhende Schweizer ein Vorbild. Jedes

Schielen über die Grenze zum gleichsprachigen deutschen Nachbarn wird unterbleiben, wenn der

Österreicher ein gesundes, eigenes kulturelles und wirtschaftliches Leben entwickeln kann.189

183 STOURZH, Geschichte des Staatsvertrages. 1985. S. 98. 184 Sten. Prot. NR, 5 GP., 2. Sitzg., 21. Dezember 1945, 25 und 30; weitere Beispiele: Abg. Brachmann (SPÖ)

am 22. Mai 1946 – „Wir wollen uns weder westlich noch östlich orientieren“; in der gleichen Sitzung Abg.

Frisch (ÖVP) – wir dürfen „weder Westpolitik noch Ostpolitik betreiben“, ebd., 17. Sitzg., 255, 264;

Außenminister Gruber auf einer Pressekonferenz am 13. Juni 1946, Österreich habe kein Interesse, sich einem

sogenannten Block einzugliedern (WZ), 14. Juni 1946, 1); auch Innenminister Helmer, später einer der

„westorientiertesten“ österreichischen Politiker, erklärte 1947, wir wollen uns weder dem Osten noch dem

Westen anschließen (WZ), 27. August 1947, 1, und 29. Oktober 1947,1). IN: STOURZH Gerald, Geschichte des

Staatsvertrages. 1985. S. 98. 185 Ebda. 186 Ebda. 187 Vgl. STOURZH, Geschichte des Staatsvertrages. 1985. S. 97 – S. 98. 188 Vgl. Ebda. S. 99. – S. 100. 189 RAAB Heinrich, „Die integrale Neutralität der Schweiz – Das anzustrebende Vorbild eines freien

Österreichs“ (mit einer Vorbemerkung von Gerald Stourzh), IN: Zeitgeschichte, 2 (Mai 1975), S. 192 -S: 194.

IN: STOURZH Gerald, Geschichte des Staatsvertrages. 1985. S. 100.

Page 45: Das österreichische Nationalbewusstsein

44

Heinrich Raab versuchte auf Reisen nach Wien stets, Leopold Figl und seinem Bruder Julius

die Schweizer Politik „ins rechte Licht zu rücken“190, wobei er sich nach eigenen Angaben

anfangs schwer tat, da beide seinen Ausführungen nach „noch Altösterreicher [waren], die den

Glanz der Donaumonarchie erlebt hatten“191. Die Schweiz als Vorbild setzte sich aber langsam

als politische Leitbild durch. Dies lässt sich spätestens mit dem bereits genannten Vortrag von

Bundespräsidenten Karl Renner vom April 1946 bestätigen, in dem nicht nur das Schweizer

Modell positiv bewertet wird, sondern mit ihm auch der Übergang vom Großraumdenken zur

Akzeptanz des Kleinstaates. Auch Renners Nachfolger, Theodor Körner, griff das

Vorbildbeispiel Schweiz immer wieder auf. Gerade in der Zeit, als die West-Ostspannung und

die Westorientierung Österreichs ihren Höhenpunkt erreicht hatte, schrieb Körner im Dezember

1951 den folgenden Kommentar, der im Februar 1952 veröffentlicht wurde:192

Die Schweiz, deren Wirtschaft uns das Beispiel gibt, wie man starke Initiative mit kluger Solidarität

verbinden kann, wird einem endgültig befreiten Österreich auch ein Vorbild der politischen Weisheit sei,

überall gute Freunde haben, aber sich nach keiner Seite hin einseitig zu binden.193

Diese neue Position Österreichs inmitten der beginnenden West-Ostspannungen und die

Rollenannahme des Kleinstaates am Beispiel des Schweizer Modells sowie das Bestreben, ein

neutraler Staat zu sein, hatten ihre Geburtsstunde in der Moskauer Deklaration von 1943:

The Governments of the United Kingdom, the Soviet Union and the United States of America are agreed that

Austria, the first free country to fall a victim to Hitlerelite aggression, shall be liberated from German

domination. They regard the annexion imposed on Austria by Germany on March 15, 1938 as null and void.

They consider themselves as in no way bound by any changes effected in Austria since that date. They declare

that they wish to see reestablished a free and independent Austria, […]194

4.3 Die Opfer-These

In der Moskauer Deklaration ist neben der Aufhebung des Anschlusses und dem Bestreben der

Wiederherstellung eines freien, unabhängigen Österreichs mit den Grenzen von vor 1938 durch

die alliierten Siegermächte eine Formulierung für den weiteren Verlauf der österreichischesn

Nationalgeschichte von besonderer Bedeutung, nämlich: „Österreich als erstes Opfer des

Nationalsozialismus“.

190 RAAB Heinrich, „Die integrale Neutralität der Schweiz – Das anzustrebende Vorbild eines freien

Österreichs“ (mit einer Vorbemerkung von Gerald Stourzh), IN: Zeitgeschichte, 2 (Mai 1975), S. 192 -S: 194.

IN: STOURZH Gerald, Geschichte des Staatsvertrages. 1985. S. 100. 191 Ebda. 192 Vgl. STOURZH, Geschichte des Staatsvertrages. 1985. S. 100 – S. 101. 193 Vgl. Präsidentschaftskanzlei, Zl. 17.129/51. Veröffentlicht in der Österreich-Sondernummer des Journal de

Genève, 23. Februar 1952, 1.zitiert nach Stourzh . IN: STOURZH Gerald, Geschichte des Staatsvertrages. 1985.

S. 101. 194 Moskauer Deklaration über Österreich, 1. November 1943. Englischer Text zitiert nach: Historical Office des

Department of State Washington D.C. (Hrsg.), Foreign Relations oft the United States. Band 1943/I, 1963. S.

761. IN: STOURZH Gerald, Geschichte des Staatsvertrages. 1985. S. 214.

Page 46: Das österreichische Nationalbewusstsein

45

Diese „offizielle Sprachregelung von Österreich als ‚erstem Opfer‘ der nationalsozialistischen

Aggressionspolitik“195 blieb bis 1986 unbestritten. Erst die Waldheim-Affäre verdeutlichte,

dass dieses Erklärungsmodell, das seit der Moskauer Deklaration ohne tiefere Reflexion und

Aufarbeitung konsequent weitergeführt wurde, mit der Meinung eines großen Teils der

Bevölkerung nicht konform ging oder nur teilweise mit dieser übereinstimmte.

Die Opfer-These bildete den Unterbau des Geschichts- und Selbstbildes der Zweiten Republik.

Die Grundlage der These ist, dass Österreich als Opfer einer militärischen Übernahme zu

betrachten sei, und das Österreich ab den Zeitpunkt der Besetzung durch deutsche Soldaten

nicht mehr existierte und erst 1945 wiederhergestellt wurde.196 So hebt Uhl hervor, dass die

„[w]ichtigste Implikation dieser These ist, daß [sic!] der Staat Österreich für alles, was in den

sieben Jahren seiner Auslöschung geschah, keine Verantwortung zu tragen hat.“197 Diese

Argumentation wurde vor allem auch in der Frühzeit der wiederbegründeten Republik aufgrund

des Notstandes der Nation als ein wichtiger staatspolitischer Faktor genutzt. Sie avancierte als

Grundlage für die außenpolitische Haltung in den Verhandlungen mit den Besatzungsmächten

und für die Stabilisierung der Spannungen innerhalb des Landes. So wurde gemäß Uhl die

Opfer-These zum maßgeblichen Narrativ der Zweiten Republik und Grundlage des

österreichischen Selbstbildes.198 So wurde dem demokratisch-republikanischen Staatswappen,

welches ebenso von der Ersten Republik übernommen wurde wie die Verfassung, gebrochene

Ketten als Symbol für die Befreiung vom Faschismus hinzugefügt, um die Opfer-Rolle bzw.

die Befreiung symbolisch festzuhalten.

Die nach der Moskauer Außenministerkonferenz am 30. Oktober 1943 entschiedene

Formulierung, Österreich als erstes Opfer von Hitlerdeutschland, unterstützte einerseits das

Bestreben österreichischer Emigranten, die sich für die Propagierung des Österreichgedanken

einsetzten. Andererseits war sie in ihrem Motiv primär gegen Deutschland gerichtet zu

verstehen, um dieses zu schwächen.199 Dieses Ziel verdeutlicht sich auch in der Beifügung

„Bedachtnahme darauf, wieviel es selbst zu seiner Befreiung beigetragen haben wird“200. Hier

spiegelt sich laut Portisch auch ein Aspekt der psychologischen Kriegsführung wider: Nach

dem für die Bevölkerung immer realer werdenden Sieg der Alliierten, sollte das Wachsen einer

deutschabneigenden Haltung, die ohnehin mit den häufenden militärischen Rückschlägen

195 UHL Heidemarie, Zwischen Versöhnung und Verstörung. Eine Kontroverse um Österreichs historische

Identität fünfzig Jahre nach dem „Anschluß“. Böhlau Verlag, Wien, Köln, Weimar. 1992. S. 81. 196 Vgl. UHL, Zwischen Versöhnung und Verstörung. 1992. S. 82. 197 Ebda. 198 Vgl. UHL, Zwischen Versöhnung und Verstörung. 1992. S. 82. 199 Vgl. ebda. 200 Moskauer Deklaration über Österreich, 1. November 1943. IN: STOURZH Gerald, Geschichte des

Staatsvertrages. 1985. S. 214.

Page 47: Das österreichische Nationalbewusstsein

46

merklich stieg, noch weiter bestärkt werden. Dies führte zum Gedanken einer Möglichkeit auf

mildere Konsequenzen, als sie dem deutschen Volk bevorstanden.201

Uhl betont, dass die Moskauer Deklaration somit […] aus dem historischen Kontext des Jahres 1943 zu verstehen [sei]: als Impuls für den Österreichischen

Widerstand, nicht aber als konkrete Nachkriegsplanung. Das heißt auch, daß [sic!] ihre Intentionen mit

der österreichischen Nachkriegs-Auslegung in wesentlichen Punkten nicht übereinstimmen.202

Der erklärte Opferstatus über Österreich, so Johnson, war eine rechtliche Feststellung für die

alliierten Mächte und mit der Beitragsklausel sollte sie vor allem auf psychologischer Ebene

den Widerstand gegen das Naziregime vorantreiben. Sie war,

[…] aber kaum eine Absolution für die Republik Österreich oder die österreichische Bevölkerung.

(obwohl diese Deutung am ehesten dem Interesse der Republik und der Gefühlslage der Bevölkerung in

der Nachkriegszeit entsprach).203

Mit Kriegsende deckte sich die Entscheidung der Siegermächte, Österreich als einen

unabhängigen Staat wiederherzustellen, um Deutschland zu schwächen, mit dem Bemühen der

politischen Entscheidungsträger*innen Österreichs, um einen bestmöglichen Ausweg aus der

miserablen politischen Lage zu finden.

Darüber hinaus gaben die alliierten Mächte mit dem Wortlaut der Moskauer Deklaration

Österreich die Chance, eine neue Position einzunehmen. Diese war entscheidend für den

Verlauf der Verhandlungen um den Staatsvertrag, die Voraussetzung eines freien

österreichischen Staates, dessen Wiederaufbaues und der Rehabilitierung der österreichischen

Bevölkerung. Sie spielte darüber hinaus eine maßgebende Rolle für die Entwicklung eines

österreichischen Nationalbewusstseins, welches nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ein

erneutes Mal gefunden werden musste. Gleichzeitig hatte das österreichische

Nationalbewusstsein eine Basis gefunden, die eine Kontinuität nach den gravierenden

Einschnitten der jüngsten Vergangenheit in Aussicht stellte.

Für die provisorische Regierung war es „ein Gebot der politischen Vernunft […], den in der

Moskauer Deklaration angebotenen Opfer-Status aufzugreifen und als Ausgangspunkt seiner

Selbstdarstellung anzuwenden.“204

So wurde die Moskauer Deklaration ein erster bedeutender Grundstein der Zweiten Republik,

der Unabhängigkeitserklärung vom 27. April 1945 und zum „interpretatorischen Rahmen […],

201 Vgl. UHL, Zwischen Versöhnung und Verstörung. 1992. S. 83. 202 Ebda. 203 JOHNSON R. Lonnie, Die österreichische Nation, die Moskauer Deklaration und die völkerrechtliche

Argumentation. Bemerkungen zur Problematik der Interpretation der NS-Zeit in Österreich. IN: DÖW (Hg.),

Jahrbuch 1988, a.a.O., S. 40- S. 54; S. 48f. Der Autor ist Dean und Associate Director des Institute of European

Studies, Wien Vgl. Ebda. S. 177. IN: UHL Heidemarie, Zwischen Versöhnung und Verstörung. 1992. S. 83. 204 JOHNSON R. LONNIE, Die österreichische Nation, die Moskauer Deklaration und die völkerrechtliche

Argumentation. 1988. S. 47. IN: UHL Heidemarie, Zwischen Versöhnung und Verstörung. 1992. S. 83.

Page 48: Das österreichische Nationalbewusstsein

47

durch den Österreich seine jüngste Geschichte zu interpretieren hat“205. In der Erklärung wird

das Bestreben aus österreichischer Perspektive sichtbar, sich gegen die der staatlichen

Wiederherstellung hinderlichen Klauseln von der ‚Verantwortung Österreichs‘ „für die

Teilnahme am Kriege an der Seite Hitler-Deutschlands“ zu stellen.206 Dieses Bestreben war

durchaus erfolgreich, was letztlich durch die Streichung jenes Absatzes aus der Präambel der

letzten Fassung des Staatsvertrages ersichtlich ist, in dem eine Verantwortlichkeit Österreichs

für die Kriegsteilnahme festgehalten war. Die Auslassung der Verantwortlichkeitsklausel geht

zu einem großen Teil auf die Bemühungen von Leopold Figl zurück, der sie bei der

Außenminister Konferenz vom 14. Mai. 1955 beantragte.207

Uhl hebt hervor, dass die später geführte Diskussion um den Opferstatus, die erst durch den

Waldheim-Skandal entfacht wurde, „keine historische, noch weniger eine ethisch-moralische,

sondern primär eine völkerrechtliche [war]“208. Die Verantwortung Österreichs

zurückzuziehen, war demnach aus rein juristischer Sicht vertretbar. Hier kommt das

sogenannte: „Österreicher-aber-kein-Österreich-Argument“209 als Grundlage zu tragen. Inhalt

dieses Argumentes ist, dass „seit März 1938 kein österreichischer Staat und keine

österreichische Regierung bestanden“210 habe. Dadurch müsse zwischen der Verantwortung des

Staates und der einzelnen, individuellen Verantwortung unterschieden werden. Auch was die

Frage der individuellen Teilnahmen am Krieg betraf, stützte sich die Regierung auf das

Argument, „daß[sic!]die Österreicher zum Dienst in der deutschen Kriegsorganisation ebenso

wie die Angehörigen anderer besetzter Gebiete gezwungen wurden“211.

Auf den Punkt gebracht, stand hinter dem „Österreicher-aber-kein-Österreich-Argument“ die

Haltung, dass der Staat Österreich keine Verantwortung für jene sieben Jahre zu tragen hat, da

es einem Staat Österreich nach dem Anschluss nicht gab, denn die Regierung war entmachtet

und die österreichische Zivilbevölkerung war gezwungen worden, der Kriegsmaschinerie von

Hitlerdeutschland zu dienen.212 Diese Interpretation wurde in der Unabhängigkeitserklärung

weitergeführt und folgendermaßen verankert:

205 JOHNSON R. LONNIE, Die österreichische Nation, die Moskauer Deklaration und die völkerrechtliche

Argumentation. 1988. S. 43. IN: UHL Heidemarie, Zwischen Versöhnung und Verstörung. 1992. S. 83. 206 Vgl. UHL, Zwischen Versöhnung und Verstörung. 1992. S. 83. 207 Vgl. STOURZH, Geschichte des Staatsvertrages. 1985. S. 167. 208 UHL, Zwischen Versöhnung und Verstörung. 1992. S. 83. 209 JOHNSON R. LONNIE, Die österreichische Nation, die Moskauer Deklaration und die völkerrechtliche

Argumentation. 1988. S. 46. IN: UHL Heidemarie, Zwischen Versöhnung und Verstörung. 1992. S. 83. 210 Memorandum vom 29.1.1947, abgedruckt in: CSÁKY Eva-Marie, Der Weg zu Freiheit und Neutralität.

Dokumentation zur österreichischen Außenpolitik 1945-1955. Wien 1980, S. 128, Dok.51. zitiert nach

JOHNSON R. LONNIE, Die österreichische Nation, die Moskauer Deklaration und die völkerrechtliche

Argumentation. 1988. S. 46. IN: UHL Heidemarie, Zwischen Versöhnung und Verstörung. 1992. S. 84. 211 Ebda. 212 Vgl. CSÁKY Eva-Marie, Weg zu Freiheit und Neutralität. 1980, S. 130, Dok.52. zitiert nach Johnson, a.a.O.

S. 46. IN: UHL Heidemarie, Zwischen Versöhnung und Verstörung. 1992. S. 84.

Page 49: Das österreichische Nationalbewusstsein

48

[D]ie nationalsozialistische Reichsregierung Adolf Hitlers [hat] das macht- und willenlos gemachte Volk

Österreichs in einen sinn- und aussichtslosen Eroberungskrieg geführt, der viele Hunderttausende der

Söhne unseres Landes, beinahe die ganze Jugend- und Manneskraft unseres Volkes bedenkenlos

hingeopfert hat.213

Der Erfolg und die Akzeptanz der offiziellen Darlegung dieser Haltung ergibt sich laut Uhl

dadurch, dass das „Opfer-Argument“ mit der „nationalen Psychologie“214 der österreichischen

Bevölkerung der Nachkriegszeit übereinstimmte. Das Deutsche und der Nationalsozialismus

waren für die meisten Österreicher etwas, was sie nur noch ablegen wollten, weil es ihnen die

Freiheit und den Frieden und das Leben vieler Angehöriger und Freunde gekostet hatte. Sie

sehnten sich in ihrem Wunschdenken zurück in eine Vergangenheit vor dem Anschluss – dem

Beginn dieser unheilvollen Zeit.

Weiters wurde nicht nur der österreichische Staat, sondern darüber hinaus auch die Mehrheit

der österreichischen Bevölkerung als Opfer der nationalsozialistischen Herrschaft gesehen.

Hierbei wurde die Argumentationslinie „einer Art nationaler Blendung“ gebraucht.215 Diese

Auffassung deckte sich laut Uhl unmittelbar nach der überwundenen nationalsozialistischen

Herrschaft aber nicht mit den Erfahrungen der Nachkriegszeit eines großen Teils der

Bevölkerung. Dieser Umstand spielte aber eine sehr geringe Rolle, denn der Fokus lag nicht so

sehr auf der Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit, sondern auf dem Bemühen, Österreich

bei den Verhandlungen in ein vorteilhaftes Licht zu rücken.216 Die Okkupationsauslegung der

NS-Zeit verhalf Österreich während der zehnjährigen Besatzungszeit im Vergleich zu

Deutschland zu einer Sonderstellung, welche parallel mit anderen Faktoren schließlich den Weg

zu der Wiederherstellung eines souveränen, demokratischen Staates ebnete.217

Wichtiger als die historische Wahrheit waren nationale Selbstfindung und Stabilisierung, und damit

zusammenhängend die Abgrenzung gegen Nationalsozialismus und Deutschtum (die weitgehend

identifiziert wurden).218

Spätestens nachdem der Staatsvertrag 1955 unterzeichnet war, hatte die Berufung auf die

Opfer-These ihre politische Berechtigung verloren. Die durch die Opfer-These kommunizierten

213 CSÁKY Eva-Marie, Weg zu Freiheit und Neutralität. 1980, S. 130, Dok.52. a.a.O. S.36. IN: UHL

Heidemarie, Zwischen Versöhnung und Verstörung. 1992. S. 84. 214 JOHNSON R. LONNIE, a.a.O. S. 49. IN: UHL Heidemarie, Zwischen Versöhnung und Verstörung. 1992. S.

84. 215 JOHNSON R. LONNIE, a.a.O. S. 48. – S.49. IN: UHL Heidemarie, Zwischen Versöhnung und Verstörung.

1992. S. 84. 216 Vgl. UHL, Zwischen Versöhnung und Verstörung. 1992. S. 84. – S. 85. 217 Vgl. BOTZ Gerhard, War der „Anschluß“ erzwungen? IN: Felix KREISSLER (Hg.), Fünfzig Jahre danach.

Der „Anschluß“ von innen und außen gesehen. Beiträge zum Internationalen Symposion von Rouen 29. Feruar -

4. März 1988, veranstaltet vom Centre d՚Etudes et de Recherches Autrichiennes (CERA) der Universität Rouen,

in Zusammenarbeit mit dem österreichischen Kulturinstitut Paris. Wien, Zürich, Europaverlag. 1989. S. 97. – S.

119. IN: UHL Heidemarie, Zwischen Versöhnung und Verstörung. 1992. S. 85. 218 UHL, Zwischen Versöhnung und Verstörung. 1992. S. 85.

Page 50: Das österreichische Nationalbewusstsein

49

Mythen wurden noch lange danach als bestimmende Geschichtsbilder in Schulbüchern und in

politischen Reden und Staatszeremonien fortgesetzt, obwohl laut Uhl sich die

Geschichtswissenschaft bereits in den siebziger Jahren um eine differenzierte Aufarbeitung

dieser Thematik – sie verweist hierbei auf die Arbeiten von Botz – bemühte. Als Grund für die

Weiterführung dieser Geschichtsbilder vermutet Uhl, dass sie einen reibungslosen und für

Österreich günstigen Weg aus seiner Verantwortung ermöglichte.219

Die Opfer-These war ein wesentlicher Faktor bei den Staatsvertragsverhandlungen, die

erheblich zu einer erneuten Identitätsfindung und in der Aufarbeitung der „Anschluss“-

Vorstellungen beitrug. Lange Zeit war sie ein erfolgreiches Argument, um der Verantwortung

an den Verbrechen des Nationalsozialismus, bei welchen die Beteiligung vieler

Österreicher*innen nicht zu leugnen ist, zu entgehen.220

Erst ab 1961 wurden diesbezüglich Maßnahmen für moralische und materielle

Wiedergutmachung gesetzt. Zuvor wurde die Haltung vertreten, nicht für solche

Wiedergutmachung verpflichtet zu sein.221 Diese Haltung, so kritisiert Uhl, war bis in die

1990er Jahre noch gegenwärtig. In einer Broschüre, die 1988 vom Bundespressedienst

veröffentlicht wurde, wird in Bezug auf Forderungen zur Wiedergutmachen mit Unmut reagiert

und gleichzeitig wird versucht, diese für nicht haltbar zu erklären:222

[Die] Streichung der so genannten österreichischen „Mitverantwortungsklausel“ (…) ist der Grund,

warum Österreich grundsätzlich zu einer Wiedergutmachung von Unrechtshandlungen gegenüber,

religiös oder abstammungsmäßigen Verfolgten des NS-Regimes nicht verpflichtend sein kann, weil nach

den allgemeinen Grundsätzen des Völkerrechts ein Unrecht von dem gutzumachen ist, der es veranlaßt

[sic!] hat. Österreich ist auch keineswegs Rechtsnachfolger des ehemaligen Deutschen Reiches.

Österreich hat aber in Berücksichtigung des schweren Unrechts und Leides, das den Verfolgten des

Nationalsozialismus angetan worden war, es als eine moralische Verpflichtung angesehen, […]

gesetzliche Maßnahmen zu treffen, um das Schicksal der ehemals Verfolgten zu mildern.223

Im Vergleich zur Bundesrepublik Deutschland als direkten Nachfolgestaat des Dritten Reiches

ist es dem österreichischen Staat gelungen, nach Außen und Innen ein nationales Bewusstsein

und Bild zu erschaffen beziehungsweise zu bewahren, in dem der Nationalsozialismus zwar

nicht verschwunden oder gar überwunden war, aber dem man dennoch kaum politische

Relevanz bemaß.224

219 Vgl. UHL, Zwischen Versöhnung und Verstörung. 1992. S. 85. 220 Vgl. BOTZ, a.a.O. S.110. IN: UHL Heidemarie, Zwischen Versöhnung und Verstörung. 1992. S. 85. 221 Vgl. BLÄNSDORF Agnes, Zur Konfrontation mit der NS-Vergangenheit in der Bunderepublik, der DDR und

Österreich. Entnazifizierung und Wiedergutmachungsleistungen. IN: aus der Politik und Zeitgeschichte, B. 16-

17/87: April 1987, S. 3 S. 18. IN: UHL Heidemarie, Zwischen Versöhnung und Verstörung. 1992. S. 85. 222 Vgl. UHL, Zwischen Versöhnung und Verstörung. 1992. S. 85. 223 BUNDESPRESPRESSEDIENST (Hg.), Maßnahmen der Republik Österreich zugunsten bestimmter

politisch, religiös oder abstammungsmäßiger Verfolgter seit 1945. Wien. 1988. (=Österreich Dokumentationen).

S. 5 – S. 6. IN: UHL Heidemarie, Zwischen Versöhnung und Verstörung. 1992. S. 85. 224 Vgl. UHL, Zwischen Versöhnung und Verstörung. 1992. S. 85.

Page 51: Das österreichische Nationalbewusstsein

50

Die Opfer-These spielte in der Anfangszeit eine wesentliche Rolle für die Zukunft der Zweiten

Republik. Die Vereinnahmung und das Aufgreifen der Opferrolle war ein entscheidender

Faktor in den Verhandlungen des Staatsvertrages, der von den Siegermächten, besonders von

Sowjetrussland, als Grundbedingung für den Verhandlungserfolg gesehen wurde. Sie entschied

und beschleunigte den Prozess der Sitzungen und Konferenzen um den Staatsvertrag und gab

Österreich jene Position für den bestmöglichen Weg aus der Krise, in der es sich nach dem

Zweiten Weltkrieg befand. Darüber hinaus stellt sie bis heute einen beeinflussenden Faktor für

das Selbst- und Fremdbild und das nationale Bewusstsein der österreichischen Bevölkerung

dar. Mit ihr wird aber auch deutlich klar, dass die Aufbereitung und Haltung der

Österreicher*innen zum Nationalsozialismus eine lange Zeit unzureichend passierte und es bis

heute einer ständige Auseinandersetzung und Sensibilisierung in Bezug auf Österreichs

nationalsozialistische Vergangenheit bedarf. Ein wesentlicher Grund für diese Problematik und

die Ursache für das fehlende Bewusstsein liegt m.E. in dem in Österreich nicht abgeschlossenen

Prozess der ,Entnazifizierung‘.

4.4 Entnazifizierung

Das Wesen einer Nation ist, daß [sic!] alle

einzelnen vieles gemeinsam und daß [sic!]

sie alle vieles vergessen haben.225

Bis zum Jahresende 1945 erfolgte die Entnazifizierung in Österreich überwiegend durch die

Besatzungsmächte. Die Verantwortung zu diesen Belangen oblag hierbei größtenteils den

Siegermächten, auch weil die provisorische österreichische Regierung in dieser Zeitspanne nur

von der UdSSR anerkannt wurde und dadurch nur begrenzt in der jeweiligen Besatzungszone

Einfluss hatte. Erst im November 1945 konnte nach der Nationalratswahl eine Regierung

beschlossen werden, die von allen vier Besatzungsmächten anerkannt wurde und somit im

gesamten Land politische Gewalt ausüben konnte. Infolgedessen waren nun auch die

österreichischen NS-Gesetze von 1945, das Kriegsverbrechergesetz und das Verbotsgesetz in

ganz Österreich gültig. Ehemalige Mitglieder der NSDAP oder deren Wehrverbände (SS, SA,

NSKK, NSFK) und Personen, die in sonstiger Weise eine formale Beziehung zum NS-Regime

innehatten oder anstrebten, waren einer Registrierungspflicht unterstellt und mussten

Sühneleistungen erbringen.226

225 RENAN Ernest, „Qu’est-ce qu’une nation?“ IN: CEnvres [Sic!] Complètes, Bd. 1, Paris; Calmann-Lévy.

1947-61, S. 887-906. IN: ANDERSON Benedict, Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines erfolgreichen

Konzepts. Aus dem Englischen von Benedikt BURKARD. Campus Verlag, Frankfurt/New York. 1988. S. 15. 226 Vgl. STIEFEL Dieter, Die österreichischen Lebensversicherungen und die NS-Zeit: wirtschaftliche

Entwicklung, politischer Einfluss, jüdische Polizzen. Böhlau Verlag, Wien. 2001. S. 208.

Page 52: Das österreichische Nationalbewusstsein

51

Der Gesetzgeber ging bei der Behandlung des Nationalistenproblem von den Grundsatz aus, zunächst den

Personenkreis, der sich parteimäßig zu den Trägern der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft bekannt

oder durch sonstige Handlungen zur Errichtung und Aufrechterhaltung der nationalsozialistischen

Herrschaft beigetragen hatte, aus staatspolitischen Gründen zu erfassen und ihnen gewisse Zwangsfolgen

zu unterstellen.227

Die registrierungspflichtigen Personen teilte man dabei in drei Gruppen ein:

„[…]Kriegsverbrecher, Belastete (ca. 42.000) und Minderbelastete (495.000 Menschen).“228

Ein wesentlicher Punkt war dabei die Unterscheidung zwischen einer Parteimitgliedschaft vor

dem Anschluss oder danach. Jene, die bereits vor 1938, in der Zeit als in Österreich die Partei

verboten war, eingeschriebene Nationalsozialisten waren, wurden als der harte Kern angesehen

und unterlagen strengeren Maßnahmen. Den Personen, die nach dem Anschluss in die Partei

eingetreten waren, wurde eine Mitläuferhaltung, die als menschliche Schwäche bescheinigt

wurde, zugeschrieben.229 Damit war der Kreis, der von der Entnazifizierung betroffenen

Personen, festgelegt. Die Registrierungspflicht war außerdem mit anderen Gesetzten verknüpft,

die zusätzlich zum Verbotsgesetz in Kraft treten konnten. Diese waren Sondergesetze, die

weiterführende Strafmaßnahmen gegen einzelne Gruppen der registrierungspflichtigen

Personen ermöglichten.230

So sollte etwa die gesetzliche Strafandrohung bei den Illegalen [als Illegale wurden jene Personen

bezeichnet, die in der Zeit, als die NSDAP in Österreich verboten war, bereits Mitglieder waren] erst dann

realisiert werden, wenn eine neuerliche gesetzwidrige Handlung vorlag. Bei einem Rückfall der

Nationalsozialisten trat daher die gesetzlich vorgesehene – praktisch auf Bewährung verhängte – Strafe

automatisch ein.231

Das Gesetz sah des Weiteren die Verfolgung jeglicher Art von Wiederbetätigung bzw. jeglicher

staatsverrätischer Handlungen vor,232 die mit einer Gefängnisstrafe für mindestens fünf Jahre

bemessen waren. Diese Maßnahme war, so Stiefel, als ständige Warnung an Nationalsozialisten

gerichtet, die nach wie vor an ihrer Ideologie festhielten. Zusätzlich sollten auch alle gewarnt

sein, die auf die Organisation Werwolf und andere nationalsozialistischen

Untergrundbewegungen hofften.233

227 HELLER/LOEBENSTEIN/WERNER, Das Nationalsozialistengesetz. Wien. 1953. I/8. IN: STIEFEL Dieter,

Entnazifizierung in Österreich. Europa Verlag, Wien. 1981. S. 82. 228 Vgl. VOCELKA, Geschichte Österreichs. Kultur – Gesellschaft – Politik. 2009. S. 319. – S. 320. 229 Vgl. STIEFEL Dieter, Die österreichischen Lebensversicherungen und die NS-Zeit: wirtschaftliche

Entwicklung, politischer Einfluss, jüdische Polizzen. Böhlau Verlag, Wien. 2001. S. 209. 230 Vgl. STIEFEL Dieter, Entnazifizierung in Österreich. Europa Verlag, Wien. 1981. S. 82. 231 Ebda. 232 Vgl. Art. 3 § 10. IN: STIEFEL Dieter, Die österreichischen Lebensversicherungen und die NS-Zeit. 2001. S.

209. – S. 210. 233 Vgl. STIEFEL, Entnazifizierung in Österreich. Europa Verlag, Wien. 1981. S. 82.

Page 53: Das österreichische Nationalbewusstsein

52

Ergänzend zum Verbotsgesetz wurde das Kriegsverbrechergesetz beschlossen. Als ein

Sondergesetz sollte es dem „Kollektivphänomen organisierter Kriminalität“234, das nicht durch

das wiedereingesetzte österreichische Strafgesetz abgedeckt gewesen wäre, entgegenwirken.

Demnach sollte es die Bestrafung der Verbrechen, die in der Kriegszeit aus politischem Hass

oder durch die Ausführung einer dienstlichen Gewalt verübt wurden, ermöglichen.

Durch diese Strafbestimmungen sollten jene Personen getroffen werden, die in fremden Staaten

Grausamkeiten und sonstige Verbrechen gegen die Bevölkerung verübt haben, die durch ihre Propaganda

das friedliche österreichische Volk im Kriege aufzustacheln suchten, die insbesondere in den

Konzentrationslagern oder bei der Geheimen Staatspolizei Menschen quälten und entwürdigten, die sich

auf Kosten von Juden und sogenannten Staatsfeinden bereicherten, die politisch Andersgesinnte,

insbesondere treue Österreicher, anzeigten und damit schwerster Gefahr aussetzten, und endlich sämtliche

Gauleiter und anderen Führer der NSDAP, die durch ihre Tätigkeit Österreich in den Abgrund führten.235

Das Kriegsverbrechergesetz ist dahingehend als Teil der Entnazifizierungsmaßnahmen zu

betrachten, da es aus der nationalsozialistischen Führungsriege die ranghöchsten Funktionäre

einschloss und sie bereits aufgrund ihres Amtes zur Verantwortung zog. Zu seiner

Durchführung wurde ein Sondergericht, „das Volksgericht, bestehend aus zwei Berufsrichtern

und drei Schöffen, das durch das Verbotsgesetz eingeführt worden war“ 236, berufen. Dadurch

waren die beiden Gesetze miteinander verbunden und stellten so die Grundlager der

Entnazifizierung dar.237

Weitere wichtige Maßnahmen zur Entnazifizierung waren Berufsverbote und Entlassungen.

Besonders führende Positionen in Staats- und Wirtschaftsangelegenheiten wurden hierbei

primär ins Auge gefasst.238 Diese Maßnahmen wurden von der Regierung und einem von

Arbeitgeber-Arbeitnehmerorganisationen gegründeten Komitee in Gesetze ausgearbeitet, die

am 12. September 1945 als „Verfassungsgesetz über Maßnahmen zur Wiederherstellung

gesunder Verhältnisse in der Privatwirtschaft“ veröffentlicht wurde. Dieses Gesetz richtete sich

gegen stark belastete Nationalsozialisten. Diese wurden von jeglicher leitender Position

entlassen, wobei ihre Entlassung als von ihnen selbst verschuldet galt. Alle Arbeitgeber waren

verpflichtet, belastete Personen zu registrieren und zu entlassen. Bei Unterlassung oder

Vertuschung drohten Strafen. Das sogenannte „Wirtschaftssäuberungsgesetz“ war bis zum

neuen Entnazifizierungsgesetz im Jahr 1947 gültig.239 Durch das Gesetz wurden um die 100

234 NIETHAMMER Lutz, Entnazifizierung in Bayern. Fischer Verlag. Frankfurt. 1972 S.40 IN: STIEFEL

Dieter, Entnazifizierung in Österreich. Europa Verlag, Wien. 1981. S. 83. 235Österreichische Jahrbücher 1945 bis 1952, Bundespressedienst, Wien Rot-Weiß-Rot-Buch, Gerechtigkeit für

Österreich! Darstellungen, Dokumente und Nachweise zur Vorgeschichte und Geschichte der Okkupation

Österreichs (nach amtlichen Quellen), Österreichisches Jahrbuch 1945 – 1946, Wien 1946. S. 97 IN: STIEFEL

Dieter, Entnazifizierung in Österreich. Europa Verlag, Wien. 1981. S. 83. 236 STIEFEL, Entnazifizierung in Österreich. Europa Verlag, Wien. 1981. S. 83. 237 Vgl. ebda. 238 Vgl. STIEFEL, Die österreichischen Lebensversicherungen und die NS-Zeit. 2001. S. 209. 239 Vgl. ebda. S. 219.

Page 54: Das österreichische Nationalbewusstsein

53

000 Personen erfasst, von denen 75% ihren Arbeitsplatz verloren hatten. Den übrigen Personen

wurde gestattet, ihre Stellung zu behalten.240

Das Entnazifizierungsgesetz von 1947 hatte seinen Ausgangspunkt in einer Drei-Parteien-

Zusammenkunft (SPÖ, ÖVP und KPÖ). Diese wurde einberufen, um über eine mögliche

Aufhebung der Registrierung von nationalsozialistischen Gruppen nach der zweiten

Verbotsgesetzesnovelle zu beraten. Im Zuge der Gespräche zwischen den drei Parteien kam

man zum Entschluss, ein neues Gesetz mit angepasstem Rahmen auszuarbeiten. Einerseits

sollte eine einheitliche Lösung für den Umgang mit Nationalsozialisten gefunden werden, da

bei der Ausführung des Verbotsgesetzes in den Besatzungszonen unterschiedlich vorgegangen

wurde und dadurch inhomogene Zustände entstanden waren. Anderseits sollte eine

allgemeingültige Lösung gefunden werden.241 Hierbei wurde das „Ziel der politischen

Rehabilitierung der nominellen oder ‚minderbelasteten‘ Nazis“ angestrebt.242 Diese Einigung

auf eine gemeinsame Zusammenarbeit der drei Parteien wurde Ende März 1946 als „Grundsätze

der Entnazifizierung aufgrund der Parteiverhandlungen zwischen ÖVP, SPÖ und KPÖ

veröffentlicht.“243 Schwerpunkt der Ausarbeitung eines neuen Entnazifizierungsgesetzes war

die Umstellung auf eine kollektive Verfahrensweise. Diese Umstellung war jedoch mit einer

Schwierigkeit verknüpft, der man bewusst entgegensah:

Es mag sein, daß [sic!] ein individuelles Verfahren im allgemeinen [sic!] gerechter erscheint. Wir müssen

uns aber bewußt [sic!] sein, daß [sic!] zehn bis fünfzehn Jahre erforderlich wären, wollte man jeden

Nazifall [sic! ]für sich einwandfrei untersuchen. Eine solche Verschleppung der Lösung der Nazifrage

würde eine latente Gefahr für den inneren Frieden bedeuten. Jedes abgekürzte Verfahren – wir haben es

ja bei den Entregistrierungen erlebt – führt zu untragbaren Ungerechtigkeiten und bloßen

Lippenbekenntnissen, wobei sich derjenige, der über Beziehungen verfügt, herauswindet, während der

kleine Mann in den Maschen des Gesetzes hängen bleibt. Die Gruppeneinteilung mit ihren zwingenden

Sühnefolgen ist daher in ihrer Wirkung gerechter und zweckentsprechender.244

Durch eine objektive Ausführung der Maßnahmen, die das Gesetz vorgab, zielte man auch auf

eine rasche wirtschaftliche Stabilisierung ab. Diesbezüglich veränderte sich der Standpunkt der

Parteien zu dem Problem der „Illegalen“. Hier ist festzuhalten, dass diese Kategorisierung, die

zuerst von der SPÖ als Idee vorgebracht wurde und auch auf Seiten der ÖVP und der KPÖ

Zustimmung gefunden hatte, nun von allen drei Parteien gelockert betrachtet wurde. Der Status

der Illegalität sollte demnach nur noch im Strafrecht bedeutsam sein. Die Möglichkeit

beziehungsweise die Warnung, dass bei einer gesetzlichen Übertretung eines „Illegalen“ eine

strafrechtliche Verfolgung initiiert werden würde, blieb. Die rote Markierung (eine

240 Vgl. STIEFEL, Die österreichischen Lebensversicherungen und die NS-Zeit. 2001. S. 219. 241 Vgl. STIEFEL, Entnazifizierung in Österreich. Europa Verlag, Wien. 1981. S. 101. 242 Ebda. 243 Zitiert nach Stiefel siehe STIEFEL, Entnazifizierung in Österreich. Europa Verlag, Wien. 1981. S. 101. 244 MIGSCH Alfred, Zur Lösung der Nazifrage, Arbeiter-Zeitung, Wien. 24. 07. 1946. IN: STIEFEL Dieter,

Entnazifizierung in Österreich. Europa Verlag, Wien. 1981. S. 101.

Page 55: Das österreichische Nationalbewusstsein

54

Unterstreichung des Namens), die die „Illegalen“ als solche in den Registrierungsunterlagen

kennzeichnete, sollte wegfallen.245 Die von den drei Parteien gewünschte neue Einteilung der

Nationalsozialisten sollte folgende zwei Gruppe beinhalten: Erstens, jene Gruppe von

Personen, die einer Bestrafung unterstellt wurden, also Kriegsverbrecher und eingeschränkt

Illegale; und zweitens die Gruppe der sühnepflichtigen Personen. Zu letzterer sollten Belastete

und Minderbelastete gezählt werden. Wichtig hierbei ist die bewusste Unterscheidung zwischen

Sühne und Strafe.246

Bei allen Nazis, die zur zweiten Gruppe gehörten, deren Haltung also zu keiner Bestrafung laut

des Gesetzes führen sollte, wurde mit voller Absicht die verschiedenen Maßnahmen nicht als

Strafen, sondern als Sühneleistungen bezeichnet.247 Mit dieser Formulierung sollte zum

Ausdruck gebracht werden, dass Österreich weder aus Vergeltung noch aus Rache rechtliche

Schritte gegen Belastete und Minderbelastete Nazis vollziehen wollte. Den Belasteten und

Minderbelasteten sollte es durch die Begleichung von Sühneleistungen ermöglicht werden,

gleichberechtige Bürger*innen der Republik Österreich werden zu können. Belastete hatten

demzufolge ebenso wie Minderbelastete, die gleiche Chance ihre Schuld durch vom Staat

auferlegte, vorgegebene Sühneleistungen zu begleichen.248

Die Basis der neuen Nationalsozialisteneinteilung bildete also die Abschwächung des Status

der Illegalität und die Möglichkeit der Aufwertung der politischen und rechtlichen Stellung der

Nationalsozialisten. Sühneleistungen waren hauptsächlich Kürzungen des Einkommens und

Steuer- und Vermögensabgaben sowie Gehalts- und Pensionskürzungen bei Berufen des

öffentlichen Dienstes. Zusätzlich blieb das generelle Ausübungsverbot für bestimmte Berufe

aufrecht. Dieses sollte dem Zweck249

der Ausmerzung nazistischer Ideologie aus allen jenen Tätigkeiten, die das geistige und kulturelle Leben

unseres Volkes gestalten, und anderseits die Ausmerzung des nazistischen Elements aus den

Kommandostellen der öffentlichen Verwaltung und der Wirtschaft250

dienen. Für ehemalige Parteianwärter*innen sollten die Berufsauflagen jedoch nicht gelten und

Minderbelasteten war es ebenfalls möglich nach einem positiven Bescheid einer zuständigen

Kommission sogenannte „verbotene“ Berufe auszuüben. Bei den Belasteten sollte das

Berufsverbot jedoch aufrecht bleiben.251 Die Sühneleistungen sollten – je nach Belastungsgrad

245 Vgl. STIEFEL, Entnazifizierung in Österreich. 1981. S. 101. – S. 102. 246 Vgl. ebda. S. 102. 247 STIEFEL, Entnazifizierung in Österreich. 1981. S. 102. 248 Vgl. STIEFEL, Entnazifizierung in Österreich. Europa Verlag, Wien. 1981. S. 102. – S. 103. 249 Vgl. ebda. S. 103. 250 MIGSCH Alfred, Zur Lösung der Nazifrage, Arbeiter-Zeitung, Wien. 24. 07. 1946. IN: STIEFEL Dieter,

Entnazifizierung in Österreich. Europa Verlag, Wien. 1981. S. 101. 251 Vgl. STIEFEL, Entnazifizierung in Österreich. 1981. S. 103. -S. 104.

Page 56: Das österreichische Nationalbewusstsein

55

– für Minderbelastete nach drei Jahren und für Belastete nach fünf Jahren auslaufen. Auf dem

Punkt gebracht lässt sich, wenn man die Verhandlungen des Verbotsgesetzes von 1945 mit der

Drei-Parteien-Einigung von 1946 vergleicht, eine deutliche Milderung seitens aller drei

Parteien gegenüber den früheren Nationalsozialisten feststellen.252

Obwohl die Drei-Parteien-Einigung bereits im Juli 1946 in den Nationalrat behandelt wurde,

musste die Gesetzesvorlage noch dem alliierten Rat als höchste Instanz vorgelegt werden. Denn

erst, wenn alle vier Besatzungsmächte die Gesetzesvorlage genehmigt hatten, konnte sie zum

Gesetz erhoben werden. Der alliierte Rat war natürlich auf einen neuen Gesetzesentwurf gefasst

gewesen, denn er hatte der österreichischen Bundesregierung selbst seine Richtlinien für ein

neues Entnazifizierungsgesetz im Vorhinein mitgeteilt. Der Bundeskanzler bestätigte im Juli

1946, die vom alliierten Rat gestellten Forderungen für das neue Gesetz und fasste sie wie folgt

zusammen:253

a.) Von den Besatzungsbehörden und vom Ministerkomitee verfügte Entlassungen durch das neue

Gesetz vollkommen gedeckt sind,

b.) Niemand, der im Rahmen der Entnazifizierung entlassen wurde, in Zukunft irgendeine Position in

der öffentlichen Verwaltung einnehmen kann,

c.) Belastete Personen jedes Recht auf Pensionen oder Abfindung verlieren, Minderbelastete nur das

absolute Lebensminimum von etwa 150 Schilling im Mont erhalten,

d.) Nach den Bestimmungen des neuen Gesetzes alle entlassenen Nazi der Zwangsarbeit unterliegen.

e.) Ein eigenes Gesetz für jene vorbetreitet wird, die in ihren Fragebögen falsche Angaben gemacht

hatten,

f.) Und das Gesetz sieht vor, daß [sic!] keine Person, die in den sieben Jahren der Naziherrschaft eine

einflußreiche [sic“] Position erlangen konnte, diese beibehalten kann.254

Von diesen sechs Punkten waren die Punkte a.) bis e.) vom alliierten Rat mit Ausdruck

gefordert worden, jedoch beinhaltete der Gesetzesvorschlag der Bundesregierung lediglich

Punkt c.). Daher wurde die Gesetzesvorlage in der Fassung, in der sie von den drei Parteien

eingebracht worden war, vom alliierten Rat zunächst abgelehnt.255

An dieser Stelle ist zu erwähnen, dass Österreich im Vergleich zu Deutschland im Zuge der

Entnazifizierung einen Sonderfall darstellte, was die Vorgehensweise und Einstellung der

jeweiligen Besatzungsmächte betraf. Jede Besatzungsmacht hatte von Österreich ein anderes

Bild, das bereits vor dem Ende des Krieges geprägt worden war. Zugleich hatte auch jede

Besatzungsmacht bereits Vorstellungen darüber, wie ein wiederhergestelltes Österreich

aussehen könnte. Neben der Entnazifizierung spielte die „Entpreußung“ – also die Aufhebung

des deutschen Einflusses – bei allen vier Besatzungsmächten eine zentrale Rolle. Dies war

bereits spätestens nach der Moskauer Deklaration ein Ziel der Alliierten, die Deutschland

252 Vgl. STIEFEL, Entnazifizierung in Österreich. 1981. S. 104. – S. 105. 253 Vgl. ebda. S. 105. 254 Brief des Bundeskanzlers an den Alliierten Rat, 26. Juli 1946, 260-USACA-60219-1, NA. IN: STIEFEL

Dieter, Entnazifizierung in Österreich. Europa Verlag, Wien. 1981. S. 105. – S. 106. 255 Vgl. STIEFEL, Entnazifizierung in Österreich. 1981. S. 106.

Page 57: Das österreichische Nationalbewusstsein

56

schwächen und zugleich Österreich als einen souveränen Staat rekonstruieren wollten. Ein

weiterer Unterschied im Vergleich zu Deutschland war, dass die alliierten Mächte mit der

provisorischen Regierung in Österreich recht früh einen politischen Aktionspartner gewonnen

hatten. Dies stellte zugleich den größten Unterschied zu der Situation in Deutschland dar, da

Österreich – anders als Deutschland – bereits seit April 1945 eine Zentralregierung hatte, die

die Entnazifizierung mitgestalten konnte.256 Ein führender britischer Militär fasste die

unterschiedliche Lage Österreichs und Deutschlands im Jahre 1946 wie folgt zusammen:

Der ehemalige deutsches Staat wird als vier getrennte Zonen mit einem Minimum an Koordination im

Zentrum regiert, während Österreich ein unabhängiger Staat ist, ein wirklich souveräner Staat, obwohl

ein Teil seiner Souveränität vom Alliierten Rat ausgeübt wird, mit einer eigenen Zentralregierung, deren

Autorität sich über das ganze Land erstreckt.257

Die Briten wiesen Österreich bereits vor Kriegsbeginn eine Sonderstellung zu. Sie waren der

Meinung, dass Österreich nur aus wirtschaftlicher Schwäche den Nationalsozialismus verfallen

sei.258 Das Ziel der Briten war es „den Nazi-Virus auszumerzen und Österreich wirtschaftlich

und politisch zu befähigen, ein unabhängiges Leben mit einem akzeptablen Lebensstandard zu

führen.“259 Deshalb waren die Briten nicht abgeneigt davon, einer milderen Entnazifizierung

zuzustimmen, wenn diese in einzelnen Fällen dem wirtschaftlichen Wiederaufbau unterstützen

würde. Es waren ebenfalls die Briten, die mit ihrem Vetorecht 1946 die anderen drei

Besatzungsmächte daran hinderten, Österreich zu härteren Entnazifizierungsmaßnahmen zu

zwingen. Dabei ist zu betonen, dass die lockere, den Österreicher*innen mehr Autonomie

gewährende Haltung der Briten, auch mit dem Umstand zu tun hatte, dass Großbritannien große

finanzielle Opfer während und nach dem Krieg zu erbringen hatte. Die britische Regierung

wollte somit die mit hohen Kosten verbundene Besatzung möglichst rasch beendet wissen.260

Diese Haltung der Briten setzte sich auch nach 1946 noch fort; „[J]e früher alle Verantwortung

der österreichischen Regierung übertragen wird desto besser“261, war das britische Credo. Die

Amerikaner vertraten eine den Briten sehr ähnlich Haltung, jedoch unterschied sich das

Vorgehen der Amerikaner durch einen systematischeren Zugang und eine konkrete Planung,

die die österreichische Regierung zwar einband, aber auch strenge Richtlinien und

Anordnungen beinhaltete. Die amerikanischen Besatzungsorgane hatten im Vorhinein, bereits

vor Kriegsende ein Entnazifizierungsprogramm ausgearbeitet. Die Kernpunkte ihres

256 Vgl. STIEFEL, Entnazifizierung in Österreich. 1981. S. 23. 257 Ebda. 258 Vgl. ebda. S. 35. – S. 36. 259 Denazification, General, November 1946, NA, 60258-2/033-2. IN: IN: STIEFEL Dieter, Entnazifizierung in

Österreich. Europa Verlag, Wien. 1981. S. 36. 260 Fourth Report from the Selected Committee on Estimates, Session 1945 – 1946, British Expenditures in

Austria, London. 1946. S. 10.IN: STIEFEL Dieter, Entnazifizierung in Österreich. Europa Verlag, Wien. 1981.

S. 36. 261 Ebda. a.a.O. S. 16.

Page 58: Das österreichische Nationalbewusstsein

57

Entnazifizierungsprogramms waren die Registrierung, die Entlassung aus wichtigen

wirtschaftlichen und staatlichen Positionen sowie die Verhaftung und die Etablierung von

Internierungslagern.262 Von diesen Maßnahmen wurden vor allem die ausgearbeiteten

Fragebögen der Amerikaner enorm kritisiert. Diese waren dafür konzipiert, eine Masse an

Daten über die deutsche und österreichische Bevölkerung und ihren Bezug zu dem

Nationalsozialismus zu sammeln. Die Methode der Fragebögen hatte jedoch drei große

Schwächen: Erstens differenzierte man zu wenig zwischen der deutschen und der

österreichischen Bevölkerung. So wurden im Fragebogen etwa die Jahre 1932 und 1934

behandelt, diese waren zwar für Deutschland und die weitere Entwicklung des

Nationalsozialismus signifikant, jedoch ergaben diese Fragen keine sinnvollen Aussagen über

den Nationalsozialismus in Österreich. Zweitens war diese auf Quantität zielende

Datenerfassungsmethode unzureichend, da ihre Fragen oft nicht ins Detail gingen. Die

Fragebögen waren keine geeignete Methode, um den wirklichen Bezug einer Person zum

Nationalsozialismus erfassen zu können. Zum Beispiel gab es sehr viele Menschen die Mitglied

der NSDAP waren, jedoch ohne dem Nationalsozialismus verfallen zu sein oder

nationalsozialistische Verbrechen begangen zu haben. Viele waren aufgrund von

Opportunismus der Partei beigetreten. Die auf den Fragebögen basierende Feststellung der

individuellen Schuld einer Person stieß deshalb auf heftige Kritik. Das dritte Problem stellte

der schier große Umfang der zu erfassenden Daten selbst dar.263

Noch nie wurde etwas ähnliches versucht […] noch nie ist ein bestimmtes politisches System zum Feind

erklärt worden, und noch nie hat ein bestimmtes System das Leben eines so großen Volkes in so vielen

Aspekten erfaßt [sic!].264

Diese Erfassungsmission der Amerikaner war jedoch zu groß gesteckt und erwies sich als

weitaus komplexer. Je genauer und systematischer die Amerikaner vorgingen,

desto unvermeidlicher wurde die Schlußfolgerung [sic!], daß [sic!] die ursprüngliche Absicht, jeden zu

entfernen, der in irgendeiner Weise mit der Nazipartei oder anderen Naziorganisationen zu tun gehabt

hatte, undurchführbar war.265

So wurden in Deutschland in der Besatzungszone, die von der USA verwaltet wurde, bis zum

Frühjahr 1946 etwa 1,6 Millionen Menschen durch die Fragebögen erfasst. Diese 1,6 Millionen

entsprachen jedoch erst 10% der dort lebenden Bevölkerung. Deshalb ruderten die Amerikaner

in ihren Bemühungen zurück und gestatteten bereits 1946 Konzessionen und minderten die

262 Vgl. Directive to Commander in Chief of US-Forces of Occupation regarding the Military Government in

Austria, 5. Denazification, 24. Juni 1945, R 60 263 Vgl. STIEFEL, Entnazifizierung in Österreich. 1981. S. 31. – S. 32. 264 FRIEDMANN Wolfgang, The Allied Military Government of Germany. London. 1947. S. 224. IN: STIEFEL

Dieter, Entnazifizierung in Österreich. Europa Verlag, Wien. 1981. S. 32. 265 a.a.O. S. 114.

Page 59: Das österreichische Nationalbewusstsein

58

Zahl der betroffenen Personen und begannen, die lokalen deutschen politischen Kräfte als

Aktionspartner für die Entnazifizierung miteinzubeziehen. In Österreich machte sich das

Scheitern der amerikanischen Vorgehensweise nicht so sehr bemerkbar, da der österreichischen

Regierung bereits ab Februar 1946 die Aufgabe der Entnazifizierung für die gesamte Nation

übertragen wurde und die Besatzungsmächte nur noch als Kontrollinstanz agierten.266

Die Franzosen verfügten bei Kriegsende noch über kein durchgeplantes Entnazifizierungs-

programm. Das war auf zwei Gründe zurückzuführen: Erstens waren die Franzosen in ihrem

eigenen Land mit Kollaborateuren, die im Krieg auf die Seite der Nazis wechselten, beschäftigt

und mussten sich deshalb auf eine politische Aufräumarbeit und „Entnazifizierung“ im eigenen

Land konzentrieren. Zweitens fiel die erste „militärische Sicherheits-

Entnazifizierungsphase“267 für die Franzosen weg, da sie diese Zone erst später von den

Amerikanern übernommen hatten, als jene diese erste Phase der Entnazifizierung bereits

abgeschlossen hatten. Für Stiefel ergibt sich aus diesen beiden genannten Gründen ein

französisches Verhalten, welches als „kurzzeitiger Pragmatismus“ zusammengefasst werden

kann. Die Franzosen hatten keine langfristigen Zukunftspläne für die Entnazifizierung auf

österreichischem Boden, sondern setzen dort Maßnahmen, wo sie aktuell erforderlich waren.

Im Grunde hatten sie ähnliche Ziele bei der Entnazifizierung wie die Briten und die

Amerikaner, jedoch – und das hebt die französische Vorgehensweise von den anderen

westlichen Alliierten ab – arbeiteten sie sehr früh, und zwar gleich ab der Übernahme ihrer

Besatzungszone im Raum Tirol und Vorarlberg mit den hiesigen Österreichern zusammen und

formten mit ihnen gemeinsam Kommissionen. Durch diese Vorgehensweise gewannen sie

einen enormen Einfluss auf die dort ansässige Wirtschaft und die politische Entwicklung. Das

Vorgehen der Franzosen war deshalb willkürlicher als jenes der Briten und der Amerikaner,

jedoch war es auch flexibler und bot der örtlichen Militärregierung einen großen Spielraum. Es

gab in der französischen Zone, gleich wie in den anderen drei Zonen, Verhaftungen und

Entlassungen, doch ließen die Franzosen oft Gnade walten, wenn dies der Arbeitsleistung

diente. So scheuten sie auch nicht davor zurück, bedeutende Beamte wieder einzustellen,

obwohl diese in den Akten eine unsaubere Vergangenheit aufwiesen. Solange diese jedoch mit

den Besatzungsbehörden kooperierten, hatten die Franzosen keine weiteren Bedenken, sie

wieder für wichtige Verwaltungsposten einzusetzen. Diese Widersprüchlichkeit der

französischen Linie zeigte sich auch in der Haltung Frankreichs im Alliierten Rat ab.268

Einerseits forderten die Franzosen im Alliierten Rat von den Österreicher*innen die

266 Vgl. STIEFEL, Entnazifizierung in Österreich. 1981. S. 32. – S. 33. 267 STIEFEL, Entnazifizierung in Österreich. 1981. S. 33 268 Vgl. STIEFEL, Entnazifizierung in Österreich. 1981.. S. 37. – S. 38.

Page 60: Das österreichische Nationalbewusstsein

59

Entnazifizierung zu verschärfen und andererseits ließen sie selbst häufig Milde walten und es

kam häufig zu einer inkonsequenten Beurteilung.269

Die russische Vorgehensweise zur Entnazifizierung war ebenfalls wie jene der Franzosen durch

einen starken Pragmatismus geprägt. Im Vergleich zur französischen unterschied sie sich

jedoch darin, durch die Zielsetzung längerfristige Ergebnisse erreichen zu wollen. Neben den

Briten hatten die Russen die konkretesten politischen Vorstellungen für die Entnazifizierung

und die weitere politische Entwicklung Österreichs. Das Ziel der alliierten Mächten war die

Wiederherstellung der demokratischen Verhältnisse der vorfaschistischen Periode. Hier lag der

Kernunterschied der sowjetischen Entnazifizierungslinie zu jener der westlichen Alliierten. Der

Sowjetunion widerstrebte eine Herstellung der politischen Verhältnisse Österreichs vor 1933.

Eher wollte sie eine politische und gesellschaftliche Neuerung nach ihrem Verständnis.270

Hierbei kommt eine historische Frage auf, die die historische Forschungsmeinung spaltet. So

sind einige der Ansicht, dass die Sowjetunion von Anfang an das Ziel verfolgte, Österreich

schrittweise zu sowjetisieren, sprich die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturen zu

verändern, und zwar mit einer installierten kommunistischen Partei an der Macht. Stiefel nennt

hier etwa den Historiker Bader als einen Befürworter dieser These. Auch Aussagen von

Politiker, wie jene von Adolf Schärf:

[…] daß die nach Österreich zurückgekehrten kommunistischen Emigranten Richtlinien gleicher Art

mitbrachten, nach denen die kommunistischen Parteien in den späteren Volksdemokratien handelten,271

bekräftigen diese These.272 Außerdem waren weitere führende österreichische Politiker, wie

Bundeskanzler Leopold Figl, Außenminister Gruber sowie Innenminister Helmer davon

überzeugt, dass die Sowjetunion derartigen längerfristigen Pläne nachging.273 Was jedoch laut

Stiefel gegen eine solche Intention spricht, ist, dass man die Ziele und das Vorgehen der

Sowjetunion in den anderen Ländern, die sie besetzte, nicht mit der Situation in Österreich

vergleichen konnte. Die Bodenreform und die geplante Enteignung des Privateigentums

standen in Österreich nie zur Debatte. Des Weiteren etablierten die Sowjets in der Zeit vor der

Entstehung der Alliierten Kommission ein Besatzungsregime,

das bei weitem liberaler war als das der westlichen Alliierten und das erst allmählich proportional zu dem

Anwachsen der interalliierten Spannungen zuungunsten Österreichs modifiziert wurde.274

269 Vgl. STIEFEL, Entnazifizierung in Österreich. 1981.. S. 37. – S. 38. 270 Vgl. ebda. S. 38. – S. 39. 271 SCHÄRF Adolf, Österreich Erinnerung. 1945 – 1955. Wien. 1960. S.73. IN: STIEFEL Dieter,

Entnazifizierung in Österreich. S. 39. 272 Vgl. STIEFEL, Entnazifizierung in Österreich. 1981. S. 39. 273 Vgl. ebd. S. 46. 274 AICHINGER Wilfried, Sowjetische Österreichpolitik 1943 – 1945. Österr. Ges. f. Zeitgeschichte. Wien.

1977. S. 258. IN: STIEFEL Dieter, Entnazifizierung in Österreich. 1981. S. 40.

Page 61: Das österreichische Nationalbewusstsein

60

Österreich war demnach schon vor den Verhandlungen des Staatsvertrages ein „Sonderfall“ in

der Planung der Sowjetunion. Es ist an dieser Stelle dennoch hervorzuheben, dass es durchaus

Indizien, die auf eine zielstrebige sowjetische Österreichpolitik, welche sich auf das Ziel einer

nachhaltigen Beziehung zu den östlichen Nachbarländern konzentriert hat, gibt; wie etwa die

hohe Anzahl an stationierten Soldaten in der sowjetischen Zone und die vorsichtige, jedoch

angestrebte, Förderung von kommunistischen Strukturen und wirtschaftlichen Maßnahmen.

Diese politische Zielstrebigkeit spiegelt sich auch in der sowjetischen Entnazifizierungspolitik

wider. 275 Höchste Priorität der russischen Entnazifizierung in Österreich hatte die Eliminierung

der Elite des Nationalsozialismus, was zugleich den gemeinsamen Nenner des gesamten

Alliierten Rates der österreichischen Entnazifizierung darstellte. Jedoch unterschied sich die

sowjetische Vorgehensweise bereits in diesem Punkt von den anderen der drei westlichen

alliierten Mächten. So banden die Sowjets seit der Besetzung ihrer Zone lokale politische Kräfte

ein, um ihre Ziele zu verfolgen. Diese Einbindung ist auch in der schnellen Gestattung und

Förderung der provisorischen Regierung unter Karl Renner, dem die Sowjets großes Vertrauen

entgegenbrachten, deutlich erkennbar. Dieser Schritt war ganz im Sinne des pragmatischen

langfristigen Vorgehen der sowjetischen Besatzung, die mithilfe der Regierung,

Gewerkschaften und Betriebsräten Entnazifizierungsmaßnahmen umsetzte, aber selbst jedoch

nur in einzelnen Fällen mit Verhaftungen agierte. Die russische Haltung – und das unterscheidet

sie zusätzlich von den anderen Besatzungsmächten – war maßgebend vom Erfolg der KPÖ

abhängig. Mit der KPÖ hatte die Sowjetunion eine einheimische Partei, die dieselbe

ideologische Haltung vertrat und bereit war, mit der sowjetischen Besatzungsmacht zu

kooperieren. Ein Wendepunkt der sowjetischen Entnazifizierung stellte die Nationalratswahl

im November 1945 dar. Die KPÖ, die bis dahin einen entscheidenden Teil der provisorischen

Regierung stellte, erreichte nur vier der 165 Sitze im Parlament und verlor damit nahezu

jegliche politische Bedeutung.276 Nach diesem ernüchternden Wahlergebnis zeigte sich ein

Wandel der russischen Haltung gegenüber der Entnazifizierung in Österreich. Jene Haltung, die

zuvor ein großes Maß an Vertrauen und Zuversicht beinhaltete, war nun von Misstrauen und

Zweifeln geprägt.277 Das zeichnete sich auch später mit der russischen Position im Alliierten

Rat ab. Die zuvor eher milde sowjetischen Haltung – einer der ersten Befehle des sowjetischen

Kommandanten beinhaltete etwa, dass einfache NSDAP-Parteimitglieder nicht aufgrund ihrer

275 Vgl. STIEFEL, Entnazifizierung in Österreich. 1981. S. 40. 276 Vgl. ebda. S. 40. – S. 42. 277 US-Forces in Austria. Legal Division. A Review of Denazification in Austria. 9. November 1949 260-

USACA-60236-1/39, NA. IN: STIEFEL Dieter, Entnazifizierung in Österreich. Europa Verlag, Wien. 1981. S.

43.

Page 62: Das österreichische Nationalbewusstsein

61

Parteimitgliedschaft verfolgt werden sollten278 – erhärtete sich im Dezember des gleichen

Jahres maßgeblich. Nun war es die Sowjetunion, die im Alliierten Rat immer wieder vehement

eine härtere Durchführung der Entnazifizierung forderte und fortan die Maßnahmen der

österreichischen Regierung kritisierte, Statistiken über den Erfolg der

Entnazifizierungsmaßnahmen verlangte und somit Beschlüsse in die Länge zog.279 Ab der Wahl

im November 1945 war in Österreich bereits eine Stimmung, die als Vorbote des Kalten

Krieges gedeutet werden kann, angebrochen. Die anfängliche gute Beziehung und

Zusammenarbeit der beiden alliierten Großmächte, USA und Sowjetunion begann ab diesem

Zeitpunkt immer mehr zu bröckeln. Diese Entwicklung resultierte in Bezug auf die

österreichische Entnazifizierung in einem Rollentausch dieser beiden Akteure: Einerseits die

USA, die sich seit dem Ende des Krieges für eine strenge Entnazifizierung einsetzte, und nun

ihre Forderungen schrittweise mäßigte und immer mehr Verantwortung an die österreichische

Regierung übergab; andererseits die Sowjetunion, die von Beginn an eine milde Haltung

einnahm und der österreichischen Regierung bereits früh ihr Vertrauen aussprach und nun nach

dem schlechten Wahlergebnis der KPÖ im November 1945 nicht mit Vorwürfen und Kritik zu

den ihrer Meinung nach unzureichenden Entnazifizierungsmaßnahmen der österreichischen

Regierung und zur laschen Haltung der anderen alliierten Partner im Alliierten Rat sparte.

Die neue ablehnende, kritische Haltung der Sowjets hatte jedoch ein übergeordnetes Ziel, wobei

die Entnazifizierungsmaßnahmen selbst nicht von großem Belang für sie waren. Laut Stiefel

verfolgte die sowjetische Besatzungsmacht mit immer neuen Verhandlungen und die immer

wieder gestellten Bedingungen für ihre Zustimmung im Alliierten Rat (die vier

Besatzungsmächte mussten einstimmig einen Beschluss genehmigen ehe er Gültigkeit bekam

und umgesetzt werden konnte), das Ziel, die Verhandlungen um den österreichischen

Staatsvertrag in die Länge zu ziehen.280 Dieser Haltungswechsel der beiden Supermächte in der

Frage der österreichischen Entnazifizierung war jedoch nur ein Nebenprodukt des immer größer

und eminenter werdenden West-Ost Konfliktes. Für Österreich bedeutete dies, wie bereits

weiter oben ausgeführt, dass es zwischen die beiden Parteien geriet, wobei es sich selbst klar

gegen eine Vereinnahmung wehrte. Die Lösung dieses Problems war die Neutralität

Österreichs. Diese wurde nicht nur von den West- und Ostmächten akzeptiert, sondern in

weiterer Folge von der Sowjetunion als Bedingung für die Verhandlungen um den Staatsvertrag

gefordert, um zu verhindern, dass sich Österreich zu sehr an den Westen band.281 Im

278 Vgl. STIEFEL, Entnazifizierung in Österreich. 1981. S. 41. 279 Vgl. ebda. S. 43. 280 Vgl. STIEFEL, Entnazifizierung in Österreich. 1981. S. 44. 281 Vgl. STOURZH, Geschichte des Staatsvertrages. 1985. S. 106. – S. 107.

Page 63: Das österreichische Nationalbewusstsein

62

Umschwenken ihrer Haltung zur österreichischen Entnazifizierungspolitik erreichten sie

allerdings das Gegenteil. Sie drängten mit diesem politischen Schritt die westlichen Alliierten

dazu, sich auf die Seite der österreichischen Regierung zu stellen, obwohl diese mit jenen

Maßnahmen zur Entnazifizierung auch nicht immer d'accord waren.282

Von 1946 an gab es daher im Alliierten Rat ständige Entnazifizierungsvorwürfe des sowjetischen

Elements und fast ebenso ständige Ablehnungen der anderen Alliierten, vor allem der Amerikaner und

Briten.283

Die Uneinigkeit der Alliierten im Alliierten Rat ermöglichte der österreichischen Regierung

eine relativ große Autonomie bei der Durchführung der Entnazifizierung, die größtenteils nur

durch die Verhandlungen zum Staatsvertrag und den Bedingungen zum Abzug der

Besatzungsgruppen eingeschränkt wurde. Trotz der internen Spannungen im Alliierten Rat war

es ihm schließlich trotzdem möglich, sich im April 1946 zu einigen und eine einheitliche

Durchführung der Entnazifizierung für Österreich zu beschließen. Die Durchführung der

Entnazifizierungsmaßnahmen wurde der österreichischen Regierung übergeben und der

Alliierten Rat nahm die Funktion des Kontrollorgans ein. Somit oblag die weitere

Entnazifizierung den politischen Parteien Österreichs.284

Das durch die drei Parteien-Einigung entstandene Entnazifizierungsgesetz markierte folglich

den Wendepunkt in der österreichischen Entnazifizierung, an dem die Verantwortung fast

gänzlich an Österreich ging. Dies geschah, obwohl die Alliierten den Gesetzesvorschlag mit 50

Änderungen am 13. Dezember 1946 zurückschickten, was von den österreichischen

Regierungsparteien als eine Schmach und Rückentwicklung empfunden wurde.285 Hier erhitzte

vor allem die vom Alliierten Rat geforderte Sühnepflicht für Jugendliche, die vor dem 20.

Lebensjahr vom Bund Deutscher Mädchen oder von der Hitlerjugend in die NSDAP einberufen

worden waren, die Gemüter der österreichischen Politiker. Weitere Änderungen der Alliierten

betrafen die Erhöhung der Sühneleistungen und die Angleichung der Sühnefolgen für

Minderbelastete an die der Belasteten. Dies waren die Hauptpunkte der Änderungsforderungen

des Alliierten Rates, welchen der österreichische Nationalrat nur enttäuscht begegnete.

Nichtsdestotrotz wurde das Entnazifizierungsgesetz mit allen Änderungen vom Alliierten Rat

einstimmig beschlossen. Das Entnazifizierungsgesetz von 1947 und dessen Entstehung

symbolisierte den Willen der österreichischen Volksvertretung, einen Schlussstrich unter die

nationalsozialistische Vergangenheit zu ziehen. Dies lässt sich nicht nur an der Drei-Parteien-

Einigung, sondern auch an der raschen Adaptierung der Änderungen des Alliierten Rates

282 Vgl. STIEFEL, Entnazifizierung in Österreich. 1981. S. 44. 283 Ebda. 284 Vgl. STIEFEL, Entnazifizierung in Österreich. 1981. S. 44. – S. 45. 285 Vgl. ebda. S. 107.

Page 64: Das österreichische Nationalbewusstsein

63

festmachen. Die drei Parteien erkannten die Wichtigkeit des Entnazifizierungsgesetzes, da die

alliierten Mächten daran die Bedingungen für die Verhandlungen um den Staatsvertrag und die

Beendigung der Besatzung knüpften.286

Die Bereinigung des Naziproblems ist aber auch von großer außenpolitischer Bedeutung. Wir haben

wiederholt aus den Reden und Äußerungen berufener Staatsmänner vernommen, daß [sic!] die Völker

der freien Welt in der Art seiner Lösung den Prüfstein für die Reife des österreichischen Volkes zur

Selbstbereinigung und der Stärke seiner demokratischen Staatsgewalt erblicken. Die Herstellung der

vollen staatlichen Souveränität Österreichs, die Aufhebung der alliierten Kontrolle und der Abzug der

Besatzungstruppen werden davon abhängig gemacht.287

Das Gesetz war jedoch auf dem Papier wesentlich härter, als es in der Realität durchgeführt

wurde. Es wurde nur ein Jahr vollständig durchgesetzt und viele Teilbestimmungen traten erst

gar nicht in Kraft. Die Situation veränderte sich aber erheblich, denn mit dem im Gesetz

geregelten Wegfall der sogenannten einfachen Angehörigen des NSKK und der NSFK von der

Gruppe der Registrierungspflichtigen gab es in Österreich plötzlich um 25 520 Nazi weniger.288

Auch die Zahlen der schwer Belasteten gingen stark zurück. So wurden jene

Nationalsozialisten, die durch das Gesetz von 1945 noch als schwere Nazis oder als „Illegale“

eingestuft wurden, mit dem Gesetz von 1947 als „Belastete“ gesehen. Das hatte die Folge, dass

sich die Zahl der schuldigen Nazis mehr als halbierte – und zwar von 98.000 auf 43.000

Personen. Insgesamt lässt sich in den Jahren von 1947 bis 1949 eine Abstufung und Milderung

der zuvor erfolgten Einstufung festmachen. Es gab insgesamt weniger Illegale sowie Belastete,

dafür stieg die Zahl der Minderbelasteten an.289 Der Alliierte Rat war durch die wachsende

Unstimmigkeit und Diskrepanz zwischen der Sowjetunion und den westlichen Alliierten nicht

mehr in der Lage einzugreifen, um Forderungen oder Maßnahmen für eine Verschärfung der

Entnazifizierung zu stellen. Die Entnazifizierung erreichte somit Anfang 1948 ihren

Höhenpunkt, obwohl sie alles andere als vollendet war. So war sie jedenfalls für die

österreichische Regierung an einen Schlusspunkt gelangt. Diese wartete nicht lange damit, ein

Amnestiesiegesetz auszuarbeiten, welches zugleich das letzte Kapitel der Entnazifizierung in

Österreich darstellen sollte. Zunehmend befassten sich auch die alliierten Mächte mit der Idee

der Amnestie, nicht zuletzt auch wegen des Bestrebens der österreichischen Regierung. Wie

bereits bei den Verhandlungen zuvor kamen die Verhandlungen um ein Amnestiegesetz durch

das Vetostimmrecht der Sowjetunion ins Stocken.290 Die Sowjetunion hatte immer wieder das

286 Vgl. STIEFEL, Entnazifizierung in Österreich. 1981. S. 112. 287 Migsch, SPÖ, 28. Sitzg., 24.07.1946. 1946, S. 581. Stiefel merkt in der dazugehörigen Fußnote an, „Aussagen

in dieser Richtung gab es aber eine ganze Reihe, in der Presse wie auch im Parlament.“ IN: STIEFEL Dieter,

Entnazifizierung in Österreich. Europa Verlag, Wien. 1981. S. 112. 288 Vgl. STIEFEL Dieter, Entnazifizierung in Österreich. Europa Verlag, Wien. 1981. S. 115. 289 Vgl. ebda. S. 119. 290 Vgl. ebda. S. 121. – S. 122.

Page 65: Das österreichische Nationalbewusstsein

64

Bemühen des Alliierten Rates um eine Jugendamnestie behindert. Am 27. Februar wurde ein

eingereichter Gesetzesentwurf zur Jugendamnestie vom Alliierten Rat besprochen. Die Sitzung

stand bereits im Vorhinein unter dem Vorzeichen, dass die Sowjetunion den Entwurf ablehnend

gegenüberstehen würde. Das tat sie auch. Ihre Vertreter kritisierten die österreichische

Durchführungsweise der Entnazifizierungsmaßnahmen und warf den österreichischen Parteien

Nazi-schützenden Re-aktionismus vor. Doch zur Verwunderung aller Teilnehmer der Sitzung

präsentierte der sowjetische Vertreter nach monatelanger Blockierung aller Bestrebungen in

Richtung einer Jugend- und Studentenamnestie plötzlich einen Entwurf für eine

Generalamnestie. Diese beinhaltete eine Komplettamnestie für alle Minderbelasteten, sprich für

jene Personen, die NSDAP-Mitglied waren, und keine Verbrechen gegen andere Menschen

oder gegen den Frieden und das österreichische Volk begangen hatten. Dies bedeutete

gleichzeitig einen Wegfall der Sühneleistungen und die Wiedererlangung des aktiven und

passiven Wahlrechts. Gleichzeitig forderte die Sowjetunion ein striktes Vorgehen seitens der

österreichischen Regierung in Bezug auf die Belasteten beziehungsweise einen schnelleren

Vollzug von Entlassungen und Bestrafungen. Die westlichen Alliierten waren nach einer

Prüfung mit den Forderungen der Sowjetunion einverstanden. So markierte die Sitzung am 27.

Februar einen weiteren Wendepunkt im Entnazifizierungsprozess, der sogleich das Ende der

Entnazifizierungsmaßnahmen markierte. Am 21. April 1947 wurde die Minderbelasteten-

amnestie vom österreichischen Nationalrat beschlossen und bereits am 28. Mai einstimmig vom

Alliierten Rat bestätigt. Lediglich die Frage über den Umgang mit den Belasteten schien

zumindest für die sowjetischen Vertreter nicht gänzlich geklärt. Figl versicherte dem Alliierten

Rat zuvor am 19. April291, „daß die von ihm geforderten Vorschläge der nichtamnestierten Nazi

nicht nötig seien, da die österreichischen Behörden bei der Behandlung dieser Fälle zufriedene

Resultate verzeichneten“292.

Die Auswirkungen der Minderbelasteten-Amnestie waren beachtlich. Über 90 Prozent der

Nationalsozialisten, die registrierten waren, einschließlich der Studenten und Jugendlichen,

waren von ihr betroffen. 293

Für 487.067 Personen war die politische Säuberung beendet, für sie galten die im Verbotsgesetz und den

anderen Sondergesetzen festgelegten Sühnefolgen nicht mehr. Sie sollten nun in staatsbürgerlicher wie in

wirtschaftlicher Hinsicht den anderen Bundesbürgern gleichgestellt sein.294

291 Vgl. STIEFEL, Entnazifizierung in Österreich. 1981. S. 304 – S. 307. 292 „Amnestiegesetz für Minderbelastete tritt in Kraft“, Wiener Zeitung. 25.05.1948. IN: STIEFEL,

Entnazifizierung in Österreich. 1981. S. 308. 293 Vgl. STIEFEL, Entnazifizierung in Österreich. 1981. S. 308. 294 Ebda.

Page 66: Das österreichische Nationalbewusstsein

65

Das Amnestiegesetz sollte die Normalisierung und innerpolitische Befriedung beschleunigen.

Der Kern der ehemaligen Nationalsozialisten, etwa rund 43.000 Person, blieb übrig und wurde

schrittweise durch weitere Amnestien, wie jener der Präsidentenamnestie, in der Anzahl

verringert. Die Entnazifizierung als Maßnahme zur politischen Säuberung einer ganzen

Bevölkerung erreichte damit ihr Ende. Die einzelnen Parteien zogen Bilanz und nahmen

jeweilig unterschiedliche Stellungen zur Entnazifizierung und zum Nationalsozialismus ein.

Somit erreichte nicht nur die Entnazifizierung, sondern auch die politische Auseinandersetzung

mit ihr eine neue Phase. Wenngleich sie ein immer geringer werdendes Problem für die

österreichische Wirtschaft und Gesellschaft darstellte, war sie jedoch bis in die 1950er Jahre

ein brisantes politisches Thema.295 Denn mit dem Amnestiegesetz von 1948 stand die Frage im

Raum, welche Partei von den ehemaligen Nationalsozialisten favorisiert werden würde.

Gleichfalls war es ungewiss, wie das Verhältnis der ehemaligen Nationalsozilisten zu jenen

wäre, die die Entnazifizierungsmaßnahmen einst durchgesetzt hatten. Würden jene ehemaligen

Nazis eine Partei, die die Entnazifizierung mitgetragen hatte, wählen? Dies erschien nur dann

möglich, wenn sie die Entnazifizierung als Notwendigkeit sahen und sich auch ihrer Bedeutung

bewusst waren. Außerdem mussten selbst jene, die bereits früh aus eigener Überzeugung den

Nationalsozialismus den Rücken kehrten, aber mit den wirtschaftlichen und sozialen Folgen

leben mussten, erst das Vertrauen in die Parteien zurückgewinnen. Dieses Problem der

Rehabilitierung der ehemaligen Nationalsozialisten als gleichgestellte Bürger*innen einer

Demokratie stellte die zentrale Problematik der zweiten Phase der Entnazifizierung in

Österreich dar. Wie konnte eine Entnazifizierung effektiv im Rahmen einer Demokratie

erfolgen? Dies war ein politisches Paradoxon, da eine ideologische Säuberung, wie eine

Entnazifizierung, sich eigentlich nur in einem totalitären System in einem entsprechenden Maß

realisieren lassen würde. Die Entnazifizierung war jedoch die Bereinigung dessen, was ein

totalitäres System hervorgebracht hatte und diese sollte wiederum nicht durch ein neues

totalitäres System umgesetzt werden. Was die Situation noch problematischer machte, war der

große Umfang der Entnazifizierung selbst. Laut Stiefel war eine halbe Million Menschen in

Österreich direkt davon betroffen. Wenn man die Familien und Angehörigen bedenkt, die die

Entnazifizierung ebenfalls berührte, lässt sich die Zahl um rund eine Millionen Menschen

erhöhen. Die Masse derer, die Mitglieder der NSDAP waren, stellte dabei das Hauptproblem

im Vergleich zu den zahlenmäßig geringeren „harten Kern“, die rund 40 000 belasteten Nazis,

dar.296 Es galt eine Entnazifizierung der Massen durchzuführen, die real nicht vollständig

295 Vgl. STIEFEL, Entnazifizierung in Österreich. 1981. S. 308. 296 Vgl. ebda. S. 314. – S. 316.

Page 67: Das österreichische Nationalbewusstsein

66

durchführbar war. Hinzu kam die Schwierigkeit der Integration der Betroffenen in eine

österreichische Gesellschaft, die demokratische Werte vertreten sollte. Die 487 000

Minderbelasteten, die zuvor kein Wahlrecht besaßen, waren 1949 wieder wahlberechtigt. Diese

Stimmen konnte bei der nächsten Nationalratswahl entscheidend sein und wirkten sich somit

auch auf die große Koalition der ÖVP und SPÖ aus. Nicht nur das Verhältnis der Parteien

zueinander veränderte sich, sondern auch die Haltung beider zu den „Ehemaligen“ und der

Entnazifizierung, da beide Parteien auf die Stimmen der ehemaligen Nationalsozialisten

pochten. Die Folge war ein hässlicher Wahlkampf, in dem das Puhlen um die Stimmen der

ehemaligen Nationalsozialisten im Vordergrund stand und die politische Diskussion um eine

erfolgreiche Entnazifizierung in den Hintergrund gerückt wurde.297 Als prominentes Beispiel

einer gescheiterten Entnazifizierungsmaßnahme, bei der die österreichische Politik maßgeblich

beteiligt war, ist der Prozess gegen Franz Murer zu nennen, der 1963 vom Landesgericht Graz

freigesprochen werden musste.

4.4.1 Das 4. Lager

Der Kampf um die Stimmen, der durch das Amnestiegesetz wiederwahlberechtigten

ehemaligen Nationalsozilisten für die Nationalratswahl, drohte die große Koalition zwischen

SPÖ und ÖVP zu sprengen. Die SPÖ warf der ÖVP, mit dem Werben um die Stimmen der

„Ehemaligen“ vor, Österreich zu ihren Gunsten nach rechts rutschen zu lassen und die

Demokratie zu verraten. Die ÖVP warf der SPÖ wiederum vor, die Nationalsozialistenfrage

nicht angehen zu wollen, da von ihr kein Bemühen bezüglich einer Wiedereingliederung der

Nationalsozialisten in das demokratische System ersichtlich war. Die ÖVP veröffentlichte im

Zuge des Wahlkampfes die „Sibirienplakate“ der SPÖ von 1945 und karikierte mit einem

Plakat, die anfänglich harte und nun milde Haltung der SPÖ zu den Nationalsozialisten:298

297 Vgl. STIEFEL, Entnazifizierung in Österreich. 1981. S. 314. – S. 316. 298 Vgl. ebda. S. 316.

Page 68: Das österreichische Nationalbewusstsein

67

Der Höhepunkt des schmutzigen Wahlkampfes

stellte ein Treffen von hohen Parteimitliedern

der ÖVP mit ehemaligen Nationalsozialisten in

Oberweis bei Gmunden dar. Die ÖVP erklärte,

dass dieses Treffen ein rein informatives Treffen

gewesen sei, um besser in Erfahrungen bringen

zu können, welchen Problemen die National-

sozialisten entgegen stünden. Des Weiteren

sollte das Treffen ein „Signal“ der ÖVP an die

ehemaligen Mitglieder der NSDAP sein, um

ihnen die Wahl der ÖVP zu erleichtern. Die SPÖ

sah in den Gesprächen ein reines Zugeständnis

der ÖVP an die Nationalsozialisten. Ebenso

wurde das Treffen als eine Mobilisierung des

rechten Flügels der ÖVP gesehen. Das Treffen

in Oberweis in Gmunden verschlechterte nicht

nur das Verhältnis der ÖVP zur SPÖ, sondern auch das Verhältnis Österreichs zu den Alliierten

Mächten.299

Der Streit um die Wählerstimmen der ehemaligen Nationalsozialist*innen resultierte

schließlich in der Entstehung einer vierten Partei. Hierbei ist anzumerken, dass eine weitere

Partei zuvor nicht von den alliierten Besatzungsmächten für die vorläufige Parteienlandschaft

von Österreich geplant war und von Anfang an eine drei Parteien-Lösung für die politische

Landschaft Österreichs vorgesehen war. Auch die ÖVP hatte zuvor kein Interesse an der

Etablierung einer vierten Partei, da sie das Monopol im bürgerlichen Lager hatte und sich als

Bollwerk gegen einer drohenden kommunistischen Weltanschauung sah und sich auch als

solches im Wahlkampf bewarb. Ebenso erachtete es die ÖVP als sinnvoller, die ehemaligen

Mitglieder der NSDAP in ihre Partei einzugliedern, anstatt eine neue vierte Partei ins Leben zu

rufen, die Gefahr liefe, sich als reine Nazipartei zu entpuppen. Die SPÖ hingegen war von der

Idee einer vierten Partei, die das nationale Lager auffangen sollte, nicht abgeneigt. Sie sah die

vierte Partei als Möglichkeit, zu große Parteiüberläufe zur ÖVP verhindern zu können. Zugleich

würde die Schwächung der ÖVP durch eine vierte Partei eine passive Stärkung der SPÖ

bedeuten.300 Deswegen entschied sich die SPÖ dazu, die Parteiwerdung des Verbandes der

299 Vgl. STIEFEL, Entnazifizierung in Österreich. 1981. S. 318. – S. 319. 300 Vgl. ebda. S. 319. – S. 321.

Abbildung 1: ÖVP Wahlplakat, 1949

Page 69: Das österreichische Nationalbewusstsein

68

Unabhängigen (VdU), der vom rechten Flügel gegründet worden war, zu unterstützen. Die

Alliierten standen angesichts der vielen Parteigründungen, die der Unzufriedenheit der

politischen Situation in Österreich nach 1945 Ausdruck verliehen, einem Problem gegenüber.

Laut Stiefel gab es bis 1949 über 50 Parteineugründungen, wobei der Alliierte Rat in etwa 20

Parteien ad hoc ablehnte. Dieser Umstand spiegelte das Bedürfnis der österreichischen

Bevölkerung nach alternativen Parteien zu den drei etablierten ÖVP, SPÖ und KPÖ wider.

Zudem griff auch das Argument des demokratischen Rechtes, dass eine neu gegründete Partei

zumindest eine Chance erhalten sollte, sich am politischen Parkett zu beweisen. Dies

veranlasste den Alliierten Rat schließlich dazu, die vierte Partei zuzulassen. Auch die ÖVP war

nun von der Idee einer vierten Partei überzeugt. Dieser Sinneswandel ergab sich jedoch nicht

nur aus dem Standpunkt der ÖVP, das demokratisch Recht einer Parteigründung geltend zu

machen, sondern hauptsächlich aus der Überzeugung, dass ihr Wahlerfolg durch eine vierte

Partei nicht sonderlich gefährdet würde. 301

Somit konnte die VdU bei der Nationalratswahl 1949 antreten und erreichte beachtliche 16

Mandate. Von der Anzahl der Stimmen war das ungefähr jene Zahl der nach 1948 wieder zur

Wahl berechtigten ehemaligen Nationalsozialisten. Jedoch ergab sich die erreichte

Stimmenanzahl nicht nur aus den Stimmen der „Ehemaligen“, sondern auch aus der im

Vergleich zu 1945 um 3 Prozent gestiegenen Wahlbeteiligung von 97 Prozent und der

Unzufriedenheit vieler Wähler*innen mit den Regierungsparteien.302 Mit dem Ergebnis der

Nationalratswahl zeichnete sich jedoch ein deutlicher Rechtsrutsch ab. Die SPÖ verlor neun

Mandate, die ÖVP hatte im Vergleich zu 1945 acht Mandate weniger und die KPÖ konnte ein

Mandat, welches hauptsächlich vom linken Flügel der SPÖ, der mit der eigenen Parteilinie und

Unterstützung des nationalen Lagers, nicht konform war, dazugewinnen. Die ÖVP erreichte

somit nicht die Mehrheit und musste mit der SPÖ eine große Koalition bilden, welche fortan an

bestimmend für die Politik in Österreich war.303 Die neu entstandene vierte Partei, die VdU, die

später zu der Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ) wurde, begab sich in Opposition, ebenso

wie die KPÖ. Mit dem Resultat der Nationalratswahl im Jahr 1949 und dem Einzug des VdUs

in das Parlament war ein weiterer Wendepunkt im Kapitel der Entnazifizierung in Österreich

erreicht. Durch die Amnestiegesetze und den immer größer werdenden zeitlichen Abstand zum

Jahr 1945, wurde das eigentliche Problem der Entnazifizierung in den Hintergrund gerückt. Die

bereits zu Beginn kritischen Stimmen der Entnazifizierungsmaßnahmengegner wurden immer

lauter und die erinnernde, mahnende Gruppe der Befürworter der Maßnahmen wurden leiser.

301 Vgl. STIEFEL, Entnazifizierung in Österreich. 1981. S. 319. – S. 321. 302 Vgl. ebda. S. 321. 303 Vgl. VOCELKA, Geschichte Österreichs. 2009. S. 320.

Page 70: Das österreichische Nationalbewusstsein

69

Wenngleich die Entnazifizierung nach 1945 in der breiten Öffentlichkeit den politischen

Diskurs geprägt hatte, war sie nach 1949 ein Randthema geworden.304 Im Jahr 1957 wurde die

“NS-Amnestie“ beschlossen. Diese beinhaltete die Aufhebung aller Gesetze, die im Rahmen

der Entnazifizierung beschlossen worden waren. Gleichzeitig wurde sie als endgültiger

Schlussstrich unter der NS-Vergangenheit Österreichs gesehen.305

ÖVP und SPÖ bekannten sich nach den Wahlen im Jahr 1949 plötzlich wieder zu den zuvor

gesetzten Entnazifizierungsmaßnahmen. Generell wurden die Änderungen seitens des

Alliierten Rates jedoch von vielen Vertretern aller Parteien als unnötiges Joch gesehen, welches

der österreichischen Bevölkerung ungerechterweise auferlegt wurde, gesehen.306

4.4.2 Die Bedeutung der Entnazifizierung für das österreichisches

Nationalbewusstsein

Bevor festgestellt werden kann, welche Bedeutung die Entnazifizierung für Österreich und das

österreichische Nationalbewusstsein hat, muss auf die Frage eingegangen werden, welche

Veränderung die Entnazifizierung mit sich brachte und wie erfolgreich sie schließlich war.

Wenn man ihren Verlauf und ihre Entwicklung betrachtet – von der anfangs strengen

politischen Säuberung, markiert durch die Maßnahmen von 1945 und 1946, bis hin zu

Rehabilitierungen durch Amnestiegesetze und politischen Zugeständnissen – gibt es durchaus

Anlass zu einer solchen Diskussion. Laut Stiefel soll die Entnazifizierung nicht als

abgeschlossenes Kapitel oder zeitlich begrenzte Maßnahme, sondern als ein Prozess

betrachtetet werden, der bis heute nicht abgeschlossen ist und nach wie vor eine große

Bedeutung in Österreich hat. Die erste Zeit Entnazifizierungsmaßnahmen war eine chaotische

und instabile. Österreich befand sich in einem noch nie da gewesenen katastrophalen Zustand:

Städte, die durch Bombardements in Schutt und Asche lagen, eine drohende Hungersnot und

eine Wirtschaftskrise waren bezeichnet für die ‚Trümmerjahre‘ nach 1945. Fast jede

österreichische Familie hatte Kriegsgefangene, -opfer oder Gefallene zu beklagen. Hinzu kam,

dass das vom Faschismus gebeutelte Land in vier Zonen aufgeteilt und besetzt worden war.

Nichtsdestotrotz hatten die Entnazifizierungsmaßnahmen inmitten dieser Situation oberste

Priorität. Sie wurden zumindest anfänglich von allen drei Parteien der Provisorischen

Regierung als Maßnahme zur Wiedergutmachung für die Opfer des Faschismus und

Nationalsozialismus gesehen und umgesetzt. Gleichzeitig verdeutlichte die österreichische

Spielart der Entnazifizierung die angenommene Opferrolle Österreichs und die daraus

304 Vgl. STIEFEL, Entnazifizierung in Österreich. 1981. S. 321. – S. 322. 305 Vgl. ebda. S. 310. 306 Vgl. ebda. S. 322 – S. 323.

Page 71: Das österreichische Nationalbewusstsein

70

resultierende abgrenzende Haltung zu Deutschland. Man entsagte mittels der „Opfer-Rolle“

jedem deutschnationalen und faschistischen Einfluss und zugleich war sie der Schlüssel zur

Wiedergewinnung der eigenen Souveränität. Bereits ab 1946 war ein Wandel in der Haltung

der Parteien zur Entnazifizierung und im Verhältnis zu den alliierten Besatzungsmächten

festzumachen. Während man sie vor 1946 noch als Partner im Kampf gegen den

Nationalsozialismus betrachtete, wurden sie quasi zum störenden Gegenspieler eines nach

Souveränität strebenden Österreichs. Die Beziehung zu den Besatzungsmächten wurde zudem

durch den Haltungswechsel der Alliierten Mächte zu der Entnazifizierung selbst und durch das

immer größer werdende Misstrauen zwischen Ost- und Westmächten stark verkompliziert. Dies

war neben einer Vielzahl von weiteren Faktoren ein Grund, wieso die zuvor bestimmten

Entnazifizierungsmahnen unzureichend und nicht in ihrer Vollständigkeit ausgeführt wurden.

Die österreichischen Verantwortlichen beriefen sich bei kritischen Einwänden von Seiten des

Alliierten Rates in Bezug auf milde und inkonsequent durchgeführte Maßnahmen auf

erfolgreiche Zahlen und Teilstudien. Auf diese Art und Weise verteidigte man auch die

Amnestiegesetze und Milderungen der Strafen und Sühneleistungen vor dem Alliierten.307 Ein

weiterer Faktor, der die Lösung des Naziproblems erschwerte, war der Umstand, dass die

Entnazifizierung und politische Säuberung innerhalb des rechtstaatlichen Rahmens einer

Demokratie zu vollziehen war. Dieser Widerspruch zeigte zugleich die Grenzen der

Entnazifizierung.

Auch das Bestreben, den wirtschaftlichen Wiederaufbau so schnell wie möglich forcieren zu

wollen, führte zu Milderungen und Zugeständnissen. So hätte die Entnazifizierung in

Österreich, selbst innerhalb einer Demokratie um einiges härter durchgeführt werden können,

jedoch wollte man keine zu strengen Maßnahmen, welche der Genesung der wirtschaftlichen

Situation und der inneren Stabilität Österreichs schaden hätte können.308

Die zweite Phase der Entnazifizierung dauerte bis zur NS-Amnestie von 1957. Der Übergang

zur dritten Phase der Entnazifizierung war ein fließender und verlief parallel zu der zweiten

Phase. Die dritte Phase ist vor allem durch das Werben um die Stimmen der ehemaligen

Nationalsozialisten und der wachsenden Bedeutungslosigkeit der Entnazifizierung als

gegenwärtiges Thema in der öffentlichen Diskussion charakterisierbar. Der allmähliche

Rückgang der Relevanz der Entnazifizierung im Alltag ist laut Stiefel darauf zurückzuführen,

dass die Österreicher*innen des Themas leid waren.309 Es herrschte generell ab 1949 eine

Aufbruchsstimmung in der österreichischen Bevölkerung, die stark vom Wunsch eines

307 Vgl. STIEFEL, Entnazifizierung in Österreich. 1981. S. 326. 308 Vgl. ebda. S.327. 309 Vgl. ebda. S. 327. – S. 329.

Page 72: Das österreichische Nationalbewusstsein

71

Neustarts geprägt war. Diese Haltung kann am besten mit einem vergessenden Blick nach vorne

beschrieben werden. Zu diesem Zeitpunkt war der Faschismus als treibende Kraft, die die

Massen ansprach, in Österreich längst bedeutungslos geworden. Jedoch blieben Schatten seines

Wirkens und seine charakteristischen Merkmale weiterhin bestehen. Stiefel verweist hier auf

die von den Nationalsozialisten verwendeten und geprägten Begriffe, wie etwa ‚Heimatliebe‘,

‚Kameradschaft‘, ‚Militarismus‘ und ‚Ausländerfeindlichkeit‘, die als Einstellungen auch heute

noch in Österreich sehr präsent sind.310

Eine vierte Phase der Entnazifizierung zu charakterisieren soll nicht Gegenstand dieser Arbeit

sein, dennoch kann es als wesentlich erachtet werden, die Entnazifizierung als einen

fortlaufenden Prozess, der bis heute das österreichische Selbst- und Fremdbild und das

österreichische Nationalbewusstsein prägt, zu sehen. Insofern ist es notwendig, sich mit ihrer

historischen Entwicklung zu befassen, um ihren Einfluss auf die Zweite Republik und auf das

wachsende Österreichbewusstsein der Nachkriegszeit bis heute, nachzuvollziehen.

Die Beschäftigung mit der Entnazifizierung und ihrer Entwicklung schließt unweigerlich eine

Beschäftigung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit Österreichs und dessen Umgang

damit ein. Dass das Thema Nationalsozialismus nach wie vor immer noch sehr präsent ist,

zeigte sich nicht zuletzt in der Präsidentschaftswahl zwischen Norbert Hofer und Alexander

Van der Bellen im Jahr 2016, die nicht nur die gespaltene Haltung der österreichischen

Bevölkerung zwischen links und rechts aufzeigte, sondern auch die gesellschaftliche

Dichotomie einer verantwortungsleugnenden Haltung und einer mahnenden, erinnernden

offenbarte. Auch das unterschiedliche Auftreten von Vertretern österreichischer Parteien bei

Jubiläen, Festen und Gedenktagen, wie jenen im Gedenk- und Erinnerungsjahr 2018, spiegelte

die gespaltene Haltung Österreichs zum Nationalsozialismus und Antisemitismus wider. Man

erinnere sich zum Beispiel an die Rede von Michael Köhlmeier zum Gedenktag gegen Gewalt

und Rassismus am 5. Mai 2018, in der er die amtierenden Regierungsparteien ÖVP und FPÖ

mit einem heuchlerischen Umgang der nationalsozialistischen Vergangenheit Österreichs

konfrontiert.311

Ein weiteres aktuelles Beispiel eines inkonsistenten Umgangs mit der Vergangenheit ist die

öffentlich ausgetragene Fehde auf der Social-Media-Plattform Facebook zwischen den

amtierenden Finanzminister Gernot Blümel, der bei der Wiener Gemeinderatswahl 2020 antrat,

und dem österreichischen Schriftsteller Robert Menasse. Dieser kritisierte Blümels Wahlspruch

310 Vgl. STIEFEL, Entnazifizierung in Österreich. 1981. S. 329. 311 Vgl. KÖHLMEIER Michael, Rede zum Gedenktag gegen Gewalt und Rassismus am 05.05.2018.

https://tvthek.orf.at/history/Beginn-Verlauf-Auswirkungen/13557936/Rede-von-Michael-Koehlmeier-am-

Gedenktag-gegen-Gewalt-und-Rassismus/14018655 [21.10.2020]

Page 73: Das österreichische Nationalbewusstsein

72

„Wien wieder nach vorne bringen“, der

seiner Meinung nach auf den

antisemitischen Bürgermeister Karl

Lueger bzw. auf die Anfangszeit des

Nationalsozialismus in Wien verweise.

Im Umgang mit der

nationalsozialistischen Vergangenheit

lassen sich zwei unterschiedliche

Gruppen feststellen: Erstens jene, die

die Entnazifizierung als einen in der

Vergangenheit liegenden und

abgeschlossenen Prozess ansehen und

deswegen kein Verantwortungsgefühl

diesbezüglich zeigen; zweitens jene, die

auch im Sinne einer Erinnerungskultur

kritisch auf den laufenden Prozess der Aufarbeitung des Nationalsozialismus hinweisen. Diese

divergierende Haltung, die sich nach wie vor sowohl in der Politik als auch im öffentlichen

Leben abbildet, ist nach wie vor „charakteristisch“ für das österreichische Selbst- und

Fremdbild und weist auf den Einfluss des Nationalsozialismus und der später durchgeführten

Entnazifizierungsmaßnahmen bei der Entwicklung der österreichischen Nation und damit

einhergehend dem österreichischen Nationalbewusstsein hin. Die nationalsozialistische

Vergangenheit wird entweder als historisch abgeschlossen betrachtet oder als Schatten der

österreichischen Identität kritisch in Erinnerung gerufen.

Studien, wie jene der Lazarsfeld Gesellschaft, über das österreichische Nationalbewusstsein,

und den von der GfK Austria (Growth from Knowledge) durchgeführten Umfragen zu den

Themen ,Österreichbewusstsein‘, ,Holocaust‘ und ‚Geschichtsbewusstsein‘ im Jahr 2009,

unterstreichen, dass die Zeit des Nationalsozialismus nach wie vor ein fester Bestandteil des

österreichischen Geschichts- und Nationalbewusstseins ist.312

312 Vgl. TRIBUTSCH Silvia / ULRAM Peter, 1918, 1938, 2008: Geschichte im Spiegel der

Forschungsergebnisse von GfK Austria. GFK Austria, Politikforschung. 2008.

https://images.derstandard.at/20080312/1918-1938-2008.pdf [05.10.2020].et. GEHMACHER Ernst, PAUL

LAZARSFELD – GESELLSCHAFT Paul Lazarsfeld-Gesellschaft für Sozialforschung (Hrsg.). Das

österreichische Nationalbewusstsein in der öffentlichen Meinung und im Urteil der Experten. Eine Studie der

Paul Lazarsfeld Gesellschaft für Sozialforschung. Paul Lazarsfeld Gesellschaft für Sozialforschung, Wien. 1982.

Abbildung 2: Robert Menasses Facebook-Kommentar

Page 74: Das österreichische Nationalbewusstsein

73

4.5 Alliierter Einfluss auf das österreichische Nationalbewusstsein – ‚Re-orientation‘

durch Medien

Neben der dargestellten Entnazifizierungsmaßnahmen förderten die alliierten Mächte ein

Medienprogramm, welches das Ziel hatte, den von den Nationalsozialisten und deren Organen

verbreitenden Deutschnationalismus entgegenzuwirken und statt diesem ein

österreichzentriertes Bewusstsein zu kultivieren. Dieses Ziel wurde bereits mit der

Entnazifizierung verfolgt, jedoch war diese ein rein passiver Abbau von deutschnationalem und

faschistischem Gedankengut in Form von Entlassungen, Verhaftungen und Sühneleisten und

Ehemalige wurden nicht, wie im Falle Deutschlands, einer ,Re-education‘ unterzogen. Im

Vergleich dazu stellt die Arbeit der Alliierten im Medienbereich der Nachkriegszeit eine aktive

Umerziehung zu demokratischen Werten und zu einem Österreichbewusstsein dar.

Die alliierten Mächte und die eingesetzte österreichische Regierung waren sich dem Problem

bewusst, dass nationalsozialistisches und über Jahre hinweg indoktriniertes Gedankengut sowie

die Erfahrung von autoritären Regimen nicht einfach mit Kriegsende aus dem Bewusstsein der

österreichischen Bevölkerung verschwinden würden. Jene Österreich*innen, die ab 1930

geboren waren, erlebten mit dem Ständestaat und der nationalsozialistischen Herrschaft,

autoritäre, totalitäre Regime, die weit weg von einer Demokratie waren. Viele Kinder sahen

sich als deutsche Bürger*innen eines Großdeutschen Reiches und verstanden nicht, wieso sie

nach dem Krieg plötzlich keine Deutschen mehr waren, sondern Österreicher. Darüber hinaus

wurde ihnen von den Nationalsozialisten eine abneigende Haltung gegenüber alles, was nicht

,deutsch‘ war, anerzogen. Nun sollten die Kinder und Jugendliche als zukünftige Träger*innen

eines österreichischen demokratischen Staates umerzogen werden. Die Demokratisierung und

Schaffung eines Österreichbewusstseins stellten somit zentrale Schwerunkte in der schulischen

und außerschulischen Bildungsarbeit von 1946 bis 1955 dar. Die Medien spielten dabei eine

bedeutende Rolle, um die neue Generation der Österreicher*innen zu erziehen. Der

Sonderstatus Österreichs durch die Moskauer Deklaration unterschied sich auch in diesem

Bereich vom Vorgehen der alliierten Mächte im Vergleich zu Deutschland. In Deutschland

verfolgten die alliierten Mächte eine Politik der ‚re-education‘, in Österreich dagegen führten

sie eine ‚re-orientierung‘ aus. 313 Die ‚re-orientierung‘ war eine abgeschwächte ‚re-education‘

und hatte für Österreich die Folge, dass die Umerziehungsmaßnahmen weniger drastisch

erfolgten als in Deutschland. Die Umerziehungsprogramme wurden dabei vor allem von den

313 Vgl. BLASCHITZ, Edith, Zwischen re-orientation und „Kampf gegen Schmutz und Schund“. Österreichische

Kinder- und Jugendmedien in der Nachkriegszeit (1945–1960). IN: Heinz Moser, Werner Sesink, Dorothee M.

Meister, Brigitte Hipfl, Theo Hug (Hrsg.): Jahrbuch Medienpädagogik 7. Wiesbaden: VS Verlag für

Sozialwissenschaften. 2008, S. 169–170.

Page 75: Das österreichische Nationalbewusstsein

74

USA forciert, die den ISB (US-Information Services Branch), dem Radio, Presse Theater,

Bildmaterial, Publikation und Filme unterstellt war, gründeten. Der ISB fungierte außerdem als

strenges Zensurorgan und war nicht nur im außerschulischen, sondern auch im schulischen

Bereich für die ‚re-orientation‘ verantwortlich. Die ‚re-orientation‘, sprich die Umorientierung,

sollte primär das übergeordnete Ziel aller alliierten Mächten folgen, nämlich: „alle Spuren der

Nazi-Ideologie auszumerzen“314. Um dieses Ziel zu realisieren, wurden zunächst alle

nationalsozialistischen Lehrpläne abgeschafft und alle Schulbücher und Lehrfilme mit

nationalsozialistischen Inhalten aus dem Verkehr gezogen. Daraufhin wurden neue Lehrbücher

von den Alliierten aufgegeben beziehungsweise vorkriegszeitliche Lehrbücher, welche keinen

bedenklichen ideologischen Inhalt aufwiesen, wieder aufgenommen. Die Vorgabe der alliierten

Kommission beinhaltete, dass die Schulbücher inhaltlich zu einem Demokratieverständnis

sowie zu einem österreichischen Staatsbewusstsein beitragen sollten. Außerdem sollten sie die

Schüler*innen für die österreichische Kultur begeistern. Überdies sollten sie soziale Werte und

den Zusammenhalt für den Wiederaufbau Österreichs betonen. Von österreichischer Seite, wie

etwa vom Wiener Schulrat, wurden die amerikanischen Ideen zur Neugestaltung und

Revolutionierung des Unterrichts ohne Beanstandungen aufgenommen und umgesetzt.

Gegenstand der Neuerung war etwa der Einsatz von audiovisuellen Medien als unterstützendes

Element im Unterricht und die Errichtung von Schulklubs nach amerikanischem Vorbild. Ein

großer Bestandteil der ‚re-orientation‘ war die außerschulische Förderung von Jugendlichen

und Kindern. Diese wurde durch die Errichtung von sogenannten „Amerika-Häusern“, von

denen es auf alle Bundesländer verteilt insgesamt zwölf gab, vorangetrieben. Die Amerika-

Häuser fungierten als Informationszentren und dienten außerdem als Veranstaltungsräume für

Konzerte, Filmvorstellungen sowie Galerien und Leseräume. In der US-Besatzungszone

wurden darüber hinaus auch abgelegene kleinere Ortschaften von Bussen, sogenannten

bookmobiles, wöchentlich mit 4 000 Büchern versorgt. Diese Maßnahmen der Amerikaner zur

„Umorientierung“ der Österreicher*innen, welche über Filme, Bücher und Radio erfolgte,

wurde von der österreichischen Bevölkerung durchaus positiv aufgenommen. Der Radiosender

„Rot-Weiß-Rot“, der unter der Aufsicht der Amerikaner stand, und Studios in Wien, Salzburg

und Linz hatte, wurde zu einem der beliebtesten Rundfunksender.315 „Rot-Weiß-Rot“ brachte

im Vergleich zu dem der sowjetischen Besatzung unterstellten „Radio Wien“, welches sich

314 Abkommen zwischen den Regierungen des Vereinigten Königreichs, der Vereinigten Staaten von Amerika,

der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken und der Französischen Republik über den Kontrollapparat in

Oesterreich vom 28. Juni 1946 (Zweites Kontrollabkommen), siehe VEROSTA Stephan (Hrsg.), Die

internationale Stellung Österreichs 1938 bis 1947. Manzsche Verlagsbuchhandlung. Wien. 1947. S. 104 – S.

113. 315 Vgl. BLASCHITZ, Zwischen re-orientation und „Kampf gegen Schmutz und Schund“ 2008. S. 169. – S. 170.

Page 76: Das österreichische Nationalbewusstsein

75

hauptsächlich um ein anspruchsvolles Kulturprogramm bemühte, einen wesentlichen Beitrag

zu der populären zeitgenössischen Unterhaltung, die wegweisend für die weitere Entwicklung

des österreichischen Rundfunks wurde. Der Radiosender „Rot-Weiß-Rot“ erreichte durch die

Popmusik große Beliebtheit bei den Jugendlichen im urbanen Raum und strahlte neben der

Musik auch Bildungsprogramme, wie etwa „Rot-Weiß-Rot Hochschule für Jedermann“ aus.

Die britischen und französischen Besatzungsorgane setzten bei der „re-orientation“ weniger auf

Bildungsarbeit und die Verbreitung ihrer schulischen Standards und Bildungssysteme. Ihr

Zugang charakterisierte sich hauptsächlich durch Überwachung, Hilfedienste und Beratungen.

Die „Schoolpost“, eine vom britischen „Information Services Branch“ in Englisch publizierte

Zeitschrift, sollte im Englischunterricht eingesetzt werden und die britische Geisteshaltung

vermitteln. Die „Schoolpost“ wurde in Wien von 1946 bis 1949 gedruckt. Das Leitmotiv der

Zeitschrift war die Herstellung einer Verbindung zwischen Österreich und Großbritannien, um

den kulturellen Austausch der beiden Ländern anzuregen und dessen Vorteile zu betonen.316

Beim Medium Film hatte die USA gegenüber den anderen drei Besatzungsmächten nicht nur

bei dessen Umsetzung als Mittel der Umerziehung, sondern auch bei der Etablierung

ökonomisch relevanter langfristiger Strukturen den größten Einfluss. Die Zeichentrick-,

Kinder- und Jugendfilme der Sowjetunion wurden gut aufgenommen, jedoch waren es die

amerikanischen Filme, die im Rahmen der „re-orientation“ am populärsten waren und damit

eine nachhaltige erzieherische Wirkung erzielten. So wurde über das Motiv der Unterhaltung

mit Sendungen wie Mickey Mouse und Wildwestfilme der amerikanische „Way of Life“

vermittelt und propagiert. Vor den zunehmend ökonomisch motivierten Unterhaltungsfilmen

wurden von den Alliierten auch Aufklärungsfilme über den Nationalsozialismus und den

nationalsozialistischen Verbrechen an die Menschen gezeigt. Diese Filme wurden vorwiegend

in der Anfangszeit der Besatzung von den Alliierten vorgeführt. Dokumentarfilme, wie etwa

„Die Todesmühlen“ (1946) zeigten schonungslos die Gräueltaten, die in den

Konzentrationslagern begangen wurden. Die Präsentation dieser Filme wurde dabei nicht nur

von den alliierten Siegermächten, sondern auch von österreichischen Politikern als eine

essenzielle Maßnahme zur Bewusstseinsbildung und Demokratisierung forciert. Überdies

sollten sie auch als Entnazifizierungsmaßnahme wirken. So wurden in Kärnten ehemalige

Parteimitglieder der NSDAP dazu verpflichtet, diese Dokumentarfilme anzuschauen. Obwohl

die Filme aufgrund ihrer erschreckenden Bilder eher für ein erwachsenes Publikum bestimmt

waren, konnten auch jugendliche Schüler*innen die Filme im Kino sehen.317 Eine

316 Vgl. BLASCHITZ, Zwischen re-orientation und „Kampf gegen Schmutz und Schund“ 2008. S. 170. 317 Vgl. ebda. S. 170. – S. 171.

Page 77: Das österreichische Nationalbewusstsein

76

Schattenseite, der zur ,re-orientation‘ eingesetzten Dokumentarfilme, war die abneigende,

ungläubige Haltung der Österreicher*innen gegenüber den präsentierten Bildern. Viele

betrachteten sie als Propagandafilme der Siegermächte. In einer Umfrage von 1947 antworteten

59 Prozent der Befragten auf die Frage „Glauben Sie alles, was in den KZ-Filmen passiert ist?“

mit „Nein“. Laut Thode könnte diese Haltung auf die Erfahrungen der österreichischen

Bevölkerung mit der realitätsverzerrenden Nazipropaganda und deren noch immer wirkenden

Einfluss, der in einem Misstrauen gegenüber den alliierten Siegermächten resultierte,

zurückzuführen sein. Mit dem Beginn des Kalten Krieges kamen die Aufarbeitungsarbeiten der

alliierten Mächte langsam zum Erliegen. Die KZ-Filme wurde nicht mehr vorgeführt. Die USA

bemühte sich statt der Vergangenheitsbewältigung nun um die Integration Österreichs als

westliches Land. An die Stelle von aufklärenden Dokumentarfilmen traten Kurzfilme wie

“Project of Tomorrow“ (USA 1950) und „Hansl und die 200 000 Kücken“ (A 1952), die über

Geschichten das Bewusstsein der österreichischen Bevölkerung für demokratische Werte,

stärken sollten. Analog zu dem abnehmenden Bemühen der Alliierten, die Aufarbeitung der

Vergangenheit voranzutreiben, setzte im kriegsgebeutelten, trümmermüden österreichischen

Volk eine Aufbruchstimmung, die durch bewusstes Vergessen und Verdrängen geprägt war,

ein. Somit kam auch die kurze Zeit der medialen Aufarbeitung des Nationalsozialismus ebenso

wie die Entnazifizierung zu einem vorzeitigen Ende.318

4.6 Österreich (er-)findet sich selbst. Zum neuen Nationalbewusstsein nach 1945

Das gespaltene Land stand vor dem Problem, ein Österreichbewusstsein und ein historisches

Gedächtnis zu finden, vielmehr noch kreieren zu müssen, mit dem sich jede Generation

identifizieren könnte. Um dies zu erreichen, suchte man nach identitätsstiftenden Merkmalen,

die unproblematisch von allen Gesellschaftsschichten und Altersgruppen akzeptieren werden

würden. Man besinnte sich hierbei – wie schon in der Ersten Republik – auf alte Werte und hob

die kulturellen Leistung, die besondere Landschaft und die wichtige Geschichte Österreichs

hervor. Die divergenten Identitätsbilder der Österreicher*innen der letzten Jahrzehnte sollten

durch eine Rückbesinnung auf die gemeinsame Geschichte vor dem Ersten Weltkrieg und die

Hervorhebung der kulturellen Bedeutsamkeit zu einem eindeutig österreichischen

Nationalbewusstsein geformt werden.319 Dieser Zugang zum „neuen“ Bewusstsein, der über die

Betonung der kulturellen und geistigen Leistungen geschehen sollte, wurde von den

österreichischen Parteien konsequent verfolgt und gefördert. Hier ist etwa der damalige

318 Vgl. BLASCHITZ, Zwischen re-orientation und „Kampf gegen Schmutz und Schund“ 2008. S. 171. 319 Vgl. ebda. S. 173.

Page 78: Das österreichische Nationalbewusstsein

77

Unterrichtsminister Felix Hurdes (ÖVP) zu nennen, der sich besonders für die Bildung eines

neuen Österreichbewusstseins engagierte. Wie im Kapitel 2 ausgeführt, definieren sich

Nationen über Inklusion und Exklusion. Bei der Neuerfindung der österreichischen Nation

stellte dabei die Trennung von Deutschland und dem ‚Deutschtum‘ einen zentrale Punkt und

zugleich das größte Problem dar, zumal sich ein Großteil der Generation nach dem Ersten

Weltkrieg als Deutschösterreicher und Angehörige eines Großdeutschen Reiches sahen. Der

Kleinstaat Österreich wurde von ihnen als nicht überlebensfähig eingestuft und allein den

Namen Österreich empfanden sie bereits als Verschmähung.320 Überdies war eine gesamte

junge Generation, die ihre Bildungslaufbahn durch nationalsozialistische Organisationen

durchlaufen hatte, nicht nur mit dem Verständnis Deutsch zu sein aufgewachsen, sondern

vielmehr war es ihr „eingebrannt“ worden. Diese junge Generation, auch „Kriegsgeneration“

oder Heimkehrer genannt, stellte eine besondere Herausforderung für die Schaffung eines

österreichischen Nationalbewusstseins dar, da sie sich noch nie in ihrem Leben als

Österreicher*innen gesehen hatte und auch lange nach dem Krieg noch Werte, Begriffe und

Parolen aus der Zeit des Nationalsozialismus verankert hatte. Diese Generation sah sich einer

Generation von Altösterreicher*innen und überzeugten Österreichpatriot*innen gegenüber, die

während des Krieges eingesperrt oder im Exil waren und nun ihre alten Posten wieder

bezogen.321 Die geistige Emanzipation von Deutschland stellte die schwierigste und zugleich

wichtigste Hürde für die österreichische Nationsbildung in der Nachkriegszeit dar. Bei der

Suche nach alten historischen Ereignissen, auf denen die Besonderheit und Eigenständigkeit

Österreichs aufgebaut und betont werden konnte, stieß man auf die Schenkungsurkunde von

Otto III., die sich 1946 zum 950. Mal jährte, und nahm sich das Jubiläum zur Hilfe. In der

Urkunde ist die Schenkung des Gebietes, welches „Ostarrichi“ genannt wurde, durch Otto III.

niedergeschrieben. Das Jubiläum dieser Urkunde wurde bewusst zum neuen wichtigen

Nationalgedenktag der Zweiten Republik erklärt und gleichzeitig zum Grundstein der

Einzigartigkeit Österreichs stilisiert. Renner betonte in seiner Rede zum Festtag „950. Jahrestag

Österreichs“ am 22. Oktober 1946 die Individualität der Österreicher*innen und hob ihre

Ausprägung und Einzigartigkeit hervor, die Österreich die „Eignung und auch den Anspruch“

gibt „sich zur selbständigen [sic!] Nation zu erklären“; gleichzeitig ging er auf die Verknüpfung

und zugleich notwendigen Loslösung von Deutschland und dem Großdeutschtum ein:322 „Daß

es [das österreichische Volk] die Sprachgemeinschaft mit den Deutschen des Reiches verbindet,

320 Vgl. BRUCKMÜLLER Ernst, Die Entwicklung des Österreichbewusstsein. IN: KRIECHBAUER Robert

(Hg.): Österreichische Nationalgeschichte nach 1945. Die Spiegel der Erinnerung: Die Sicht von innen, Band 1.

Böhlau, Wien/Köln/Weimar. 1998. S. 378. 321 Vgl. BRUCKMÜLLER, Die Entwicklung des Österreichbewusstsein. 1998. S. 380. 322 Vgl. eda. S.378. – S. 379.

Page 79: Das österreichische Nationalbewusstsein

78

kann kein Hindernis sein. Diese Sprachgemeinschaft ist auch kein Hindernis für die Deutschen,

der Schweiz, sich zur Schweizer Nation zu bekennen“.323

Zum Jubiläum und zur Stilisierung des Jahres 950 und der Schenkung Otto III. zu dem

identitätsstiftenden Ereignis der jungen Zweiten Republik sei hervorgehoben, dass das Jahr 950

vor 1946 in der jüngeren Geschichte von Österreich über lange Zeit keine Beachtung – weder

in der Geschichte, Dichtung noch in der Kunst – zukam. Die Schenkungsurkunde wurde als

Mittel zur Legitimierung der Habsburgermonarchie nie verwendet, denn hierbei stütze man sich

zuvor eher auf die Belehnung der Söhne Rudolphs von Habsburg mit Österreich und Steier oder

auf die Babenberger und auf die Ernennung Österreichs zum Herzogtum im Jahr 1156. In der

Schenkung von 996 wurde nicht der babenbergische Marktgraf, sondern ein Bischof mit dem

Land „Ostarrichi“ beschenkt. Sie stellt somit eher eine Verkleinerung der Macht des

babenbergischen Markgrafen dar und ist daher als Legitimitätsnachweis unbrauchbar.

Bruckmüller hebt weiters hervor, dass die Schenkung Otto III. im Jahr 996 an der Entwicklung

und der Bedeutung des Namens „Österreich“, als Bezeichnung für ein wichtiges Land im

Südosten und in weiterer späterer Folge als weltpolitischer Begriff über das Haus Österreich

keinerlei Bedeutung hatte:324 „Es ist eben kein Geburts-, sondern allenfalls ein Namenstag“325.

Die Erinnerung an diesen Namenstag kam 1946 jedoch gelegen, um eine neue österreichische

Tradition, frei von der ‚großdeutschen‘, aber auch distanziert genug von der imperialen

Vergangenheit, zu erschaffen.326. Das Jubiläum und das Jahr 996 sollte ausführlich in den

Schulen besprochen und gefeiert werden. So wurde die „Ostarrichi“ Urkunde zur symbolischen

Gründungsurkunde von Österreich erhoben und stellte damit zugleich die Basis der

„tausendjährigen Geschichte“ Österreichs dar.327

Ein weiterer Feiertag, der im Anschluss auf die erfolgreichen Staatsvertragsverhandlungen

etabliert und vor allem in Schulen gefeiert wurde, ist der „Tag der Fahne“ am 26. Oktober.

Dieser Festtag hatte zuerst eher die wiedergewonnene Freiheit und Souveränität als die

Neutralität zum Inhalt und sollte diese Errungenschaften des Staatsvertrages hervorheben.

Spätestens ab den 1970er Jahren wurde die Neutralität zu einem zentralen Merkmal für das

österreichische Nationalbewusstsein und das kollektive Gedächtnis der Österreicher*innen.328

323 Vgl. BRUCKMÜLLER, Die Entwicklung des Österreichbewusstsein. 1998. S.378. – S. 379. 324 Vgl. BRUCKMÜLLER Ernst, Österreichbewußtsein im Wandel: Identität und Selbstverständnis in den 90er

Jahren. Schriftenreihe des Zentrums für angewandte Politikforschung. Band 4. Signum Verlag, Wien. 1994. S.

115. – S. 116. 325 Ebda. S. 116. 326 Vgl. ebda. S. 116- 327 Vgl. BRUCKMÜLLER, Die Entwicklung des Österreichbewusstsein. 1998. S. 379 328 Vgl. ebda. S. 384.

Page 80: Das österreichische Nationalbewusstsein

79

Diese etablierten Feiertage im Jahr 1946 stellten den Bruch mit der deutschen Großvorstellung

und den Beginn eines österreichzentrierten Bewusstseins dar.329 Obwohl man den Begriff

‚Nation‘ in Verbindung mit Österreich noch vorsichtig verwendete, so wurde jedoch aktiv eine

Stärkung des österreichischen Wir-Gefühls forciert.

In Filmen und Publikationen der Nachkriegszeit konzentrierte man sich auf die Erschaffung

eines mystischen Österreichbildes. Im Film Sturmjahre. Der Leidensweg Österreichs (A 1947),

wird ein Wunsch-Österreich durch eine Vermischung aus Faktendokumentation und Fiktion

idealisiert dargestellt. Der Film bedient sich dabei zahlreicher Österreichklischees und stellt die

Geschichte Österreichs solcherart dar, dass den Zuseher*innen eine positive Bewertung der

Ereignisabfolge suggeriert wird: Österreich als erstes Opfer von Hitlerdeutschland, welches

patriotischen Widerstand leistet und für die Freiheit kämpft. Als der Krieg zu Ende ist, arbeitet

die junge Nachfolgegeneration entschlossen am „Wiederaufbau“. Als die österreichische

Gesellschaft ab den 1950er Jahren einen Rückzug ins Private vollzog, wurde sie dabei von einer

ganzen Welle an Musikfilmen und Operetten über mystische Traumwelten, erfolgreiche

Liebesgeschichten, Wein und Walzerklängen begleitet.330 Man denke hierbei an die

international erfolgreiche Sissi-Filmreihe, die Naturkulissen und ein habsburgerisches

Österreich in Szene setzen.

Kinder- und Jugendfilme wurden in der unmittelbaren Nachkriegszeit kaum produziert. Die

Demokratisierung und Stärkung eines österreichischen „Wir-Gefühls“ der jungen Generation

passierte überwiegend über gedruckte Medien. Ein Schwerpunkt der „Erziehung zu Österreich“

der österreichischen Jugend war dabei das „Fernhalten“ der Jugendlichen von Belasteten

beziehungsweise jeglichen Gedankengutes, das fernab von einer demokratischen

österreichischen Geisteshaltung war. Die junge Generation sollte zu ‚gutem Leben‘,

Gemeinschaftssinn und Humanismus erzogen werden. Die literarischen Werke kreierten

zahlreiche Vorbildcharaktere, die diese Werte verkörperten und gleichzeitig von den Kindern

und Jugendlichen als nachahmenswert erachtet werden sollten. Auch alte

Unterhaltungsliteratur, die moralische Werte vermittelte, wie die Märchen von den Gebrüdern

Grimm, wurden neu aufgelegt. Um den „Wiederaufbaugedanken“ und das Bewusstsein um die

Bedeutung einer geeinten österreichischen Gemeinschaft zu stärken, wurden Sachbücher und

Erzählungen veröffentlicht, die die Motive der aktuellen Zeitgeschichte aufgriffen und zu

schicksalhaften Schlüsselgeschehnissen stilisierten. Hier ist etwa das Werk Die Männer von

Kaprun von Othmar Franz aus dem Jahr 1955 zu nennen. Mit diesen literarischen Werken sollte

329 Vgl. BRUCKMÜLLER, Die Entwicklung des Österreichbewusstsein. 1998. S. 379. 330 Vgl. BLASCHITZ, Zwischen re-orientation und „Kampf gegen Schmutz und Schund“ 2008. S. 173.

Page 81: Das österreichische Nationalbewusstsein

80

ein österreichisches Gemeinschaftsgefühl und ein „Gemeinsam schaffen wir alles!“-Gedanke

kultiviert werden. Ein weiteres stringentes Leitmotiv der Kinder- und Jungendliteratur in der

Nachkriegszeit stellte die Verherrlichung des schönen Landes Österreich dar. In Werken, wie

Wie der liebe Gott Oesterreich erschaffen hat von Marga Frank, wird ein von Gott erschaffenes

paradiesisches Österreich beschrieben. Ähnlich der Schöpfungsgeschichte schenkte Gott im

Werk von Frank einem zuvor leeren öden Land, Berge, Flüsse, Täler, Kulturstätten,

Industrieanlagen und Vergnügungsstätten. In der letzten Darstellung des Buches ist ein

vollendendes glückliches Österreich zu sehen: Im Hintergrund das paradiesisch dargestellte

Land und im Vordergrund ein dirigierender Johann Strauss vor tanzenden Pärchen. Bei den

Zeitschriften, die für Kinder- und Jugendlichen publiziert wurde, setzte man auf Unterhaltung,

die frei von jeglicher Politik war. Themen, wie der Nationalsozialismus oder der Holocaust, die

zu einer Aufarbeitung der jüngsten Vergangenheit Österreichs geführt hätten, wurde in der

Kinder- und Jugendliteratur der Nachkriegszeit ausgespart. Das Hauptziel der Zeitschriften und

Bücher war, pädagogisch auf die jungen Leser*innen einzuwirken, sie zu erfreuen und ihnen

ein „gutes Leben“ basierend auf demokratischen Grundwerten zu lehren.331

331 Vgl. BLASCHITZ, Zwischen re-orientation und „Kampf gegen Schmutz und Schund“ 2008. S. 173. S. 174.

Page 82: Das österreichische Nationalbewusstsein

81

5 Das Wendejahr 1955 „Annus mirabilis“: Staatsvertrag, Neutralität und

Freiheit

Die Entnazifizierung und ihre Umsetzung nahm bei den Verhandlungen um den Staatsvertrag

eine bedeutende Rolle ein. Sie wurde von den alliierten Mächten zur Bedingung für den

Staatsvertrag und den Abzug ihrer Truppen gemacht, was Österreich den Rückgewinn seiner

Souveränität ermöglichte. Doch wie bereits im Kapitel 4.4 dargestellt, gab es neben der

Entnazifizierung und der Wiederherstellung eines demokratischen Österreichs einen weiteren

sehr gewichtigen Faktor für die Verhandlungen um den Staatvertrag, und zwar die

zunehmenden Spannungen zwischen den Ost- und Westmächten. Österreich musste sich

zwischen den beiden Mächten behaupten und dabei sein Streben nach Unabhängigkeit

durchsetzen. Um dieses Ziel zu verwirklichen, folgte es dem Modell der Schweiz und setze bei

den Verhandlungen auf den Status der Neutralität, um so frei von jeglichem Einfluss einer

äußeren Macht zu werden. Der Kampf um den Staatsvertrag allein stellt einen wichtigen Faktor

dar, auf dem wiederum nationale Symbole sowie Erinnerungsorte – wie Feier- und Gedenktage,

das Belvedere – fußen, die bedeutend für das Österreichische Nationalbewusstsein und Wir-

Gefühl sind.

5.1 Staatsvertrag

Wie zuvor bei den Verhandlungen um die Entnazifizierungs- und Amnestiegesetze hatte die

Sowjetunion auch bei den Staatsvertragsverhandlungen einen gewichtigen Einfluss auf deren

Erfolg. Im Jahr 1947 waren die alliierten Mächte und die Vertreter der österreichischen

Bundesregierung einer Einigung schon sehr nahe gekommen, sodass bereits eine erste Fassung

des Staatsvertrages ausgearbeitet werden konnte. Die Verhandlungen gerieten ins Stocken, da

das Misstrauen zwischen Ost- und Westmächten immer stärker wurde und beide Seiten

versuchten, für sich die bestmöglichen Voraussetzungen für einen möglicherweise

bevorstehenden Krieg zu schaffen. Dabei ging es nicht nur um die Frage Österreichs, sondern

auch um die Verteilung von Land und Ressourcen sowie um Bündnisse, die im Falle eines

Krieges zwischen Ost- und Westmächten, eine entscheidende Rolle spielen konnten. Mit der

Etablierung der NATO als präventives Bündnis der Westmächte gegen mögliche

Aggressionsbestrebungen des Ostblocks erhärteten sich die Fronten noch mehr.332Die

Verhandlungen zogen sich durch die russische Haltung bezüglich der Lösung der ‚deutschen

Frage‘, welche von der Sowjetunion der österreichischen Frage übergeordnet wurde, in die

Länge und erweckte zunächst den Anschein, dass keine baldige Einigung mit den westlichen

332 Vgl. STOURZH, Geschichte des Staatsvertrages. 1985. S. 128. – S. 129.

Page 83: Das österreichische Nationalbewusstsein

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Alliierten erzielt werden könne.333 Der Wandel der sowjetischen Haltung am 8. Februar 1955

kam daher umso überraschender und brachte die entscheidende Wende in die stockenden

Staatsvertragsverhandlungen. Als Hintergrund für den Haltungswechsel der Sowjetunion nennt

Stourzh den Wechsel der Ministerpräsidentenposition. Bulganin übernahm das Amt von

Malenkow, wodurch der Einfluss von Nikita Chruschtschow, dem ersten Sekretär der KPdSU,

gestärkt wurde. 334 Am selben Tag trug der Außenminister Molotow vor dem obersten Sowjet

der UdSSR, dem höchsten Legislativorgan der Sowjetunion, eine Rede, in der er verkündete,

dass die Sowjetregierung gegen einen weiteren Aufschub des Staatsvertrages mit Österreich

sei, vor. Zugleich warnte er vor der im Pariser Abkommen geplanten Remilitarisierung

Westdeutschlands und der damit verbundenen potenziellen Gefahr für Österreich. Durch die

möglichen Folgen des Pariser Abkommens gelangte die Sowjetunion zu drei Folgerungen, die

für den erfolgreichen Abschluss des österreichischen Staatsvertrages von großer Bedeutung

waren. Die drei Folgerung beinhalteten zusammengefasst die erneute Hervorhebung der

deutschen Frage und deren untrennbaren Zusammenhang mit der österreichischen Frage. Die

Sowjetunion befürchtete durch die Möglichkeit der Remilitarisierung Westdeutschlands die

Gefahr eines erneuten Anschlusses beziehungsweise eine erneute Einverleibung Österreichs

durch Deutschland. Nur wenn die Möglichkeit eines erneuten Anschlusses nicht mehr im Raum

stünde, könnten alle vier Besatzungsmächte ihre Truppen, noch vor einem abgeschlossenen

Friedensvertrag mit Deutschland, aus Österreich abziehen lassen. Des Weiteren müsse

Österreich sich dazu verpflichten, keine Militärbündnisse einzugehen, welches sich gegen ein

Land, das im Kampf gegen Hitler-Deutschland und der Befreiung Österreichs einen Beitrag

geleistet hatte, richten könnte. Ebenso müsse es sich dazu verpflichten, der Errichtung von

Militärbasen fremder Mächte auf seinem Territorium zu untersagen. Diese Bestimmungen

müssten überdies von jeder Regierung der Alliierten Mächte verpflichtend eingehalten

werden.335 Der entscheidende Unterschied zur Haltung der Sowjetunion bei der Berliner

Konferenz 1954 war, dass sie nun einräumte, einem Abzug der alliierten Truppen auch vor

einem abgeschlossenen Friedensvertrag mit Deutschland zuzustimmen. Jedoch forderte die

Sowjetunion eine Lösung, die einen möglichen erneuten Anschluss Österreichs an Deutschland

nicht zulassen würde, wie zum Beispiel Vereinbarungen aller alliierten Mächte bezüglich der

deutschen Frage. Die sowjetische Bereitschaft für einen Kurswechsel in den

333 Vgl. STOURZH, Geschichte des Staatsvertrages. 1985. S. 128. – S. 129. 334 Vgl. ebda. S. 131 335 Vgl. Text der Österreich-Erklärung Molotows vom 8. Februar. IN: Österreichishce Zeitung, 10. Februar 1955,

2; sowie in: Mitteilung des Außenministeriums der UdSSR über die österreichische Frage, in Prawada, 12. März

1955, deutsch IN: WZ, 13. März 1955, 1, sowie IN: DÖA, Nr. 154. IN: STOURZH Gerald, Geschichte des

Staatsvertrages. 1985. S. 131. – S. 132.

Page 84: Das österreichische Nationalbewusstsein

83

Staatvertragsverhandlungen war von strategischer Natur und hatte das Ziel, den Abschluss der

Pariser Verträge, welche einen Eintritt Westdeutschlands in die NATO ermöglichen würde, zu

verzögern. Die Verhandlungen um die Pariser Verträge waren jedoch zu weit vorangeschritten

und somit war diese Bemühung der Sowjetunion letztlich ohne Wirkung. Jedoch wichen sie

von ihrem neu eingeschlagenen Weg bezüglich der österreichischen Frage auch nicht mehr ab.

Die österreichische Regierung reagierte rasch auf die Anpassung der sowjetischen

Bedingungen.336 In einer Rede von Raab wird die Bereitschaft und die zustimmende

Kenntnisnahme der sowjetischen Forderungen deutlich. Es wurden lediglich

Konkretisierungswünsche zu den sowjetischen Forderungen betreffend des Verbotes von

Militärbündnissen und Militärbasen gestellt. Bezüglich der Möglichkeit eines erneuten

Anschlusses wies Raab auf die bereits in der Moskauer Deklaration versprochene Freiheit und

Unabhängigkeit hin. In einem Antwortschreiben an die Sowjetunion wurde vermerkt, dass

Österreich jede Garantie zur Wahrung seiner Unabhängigkeit begrüßt. Darüber hinaus enthielt

dieses Schreiben zugleich einen Vorschlag, wie eine Wahrung der österreichischen

Unabhängigkeit festgemacht werden könnte:337 „Am zweckmäßigsten wäre wohl eine Garantie

der vier Großmächte, die die Unverletzlichkeit des österreichischem Staatsgebiets nach allen

Seiten hin automatisch zu sichern hätte. [Hervorgehoben im Original]“338

Die Westmächte waren mit den Vorschlägen Raabs einverstanden und schlugen vor, das von

der Sowjetunion zuvor an die österreichische Regierung unterbreitete Angebot eines Treffens

in Moskau zu arrangieren und anzunehmen, um Klarheit über die neue sowjetischen Haltung

gewinnen zu können.339 Das Vorgehen der österreichischen Regierung beziehungsweise die

Rücksprache mit den Westmächten verdeutlichen, dass sich Österreich zu diesem Zeitpunkt

bereits eher an den Westmächten orientierte.

Bei den Verhandlungen in Moskau sollte sich schließlich herausstellen, dass die Sowjetunion

nicht etwa auf eine besondere Garantieabgabe bestanden hatte, sondern dass ihr die Neutralität

als Garantie für Österreichs Unabhängigkeit genüge und ganz ihrem Interesse und Plan zur

Wahrung der Sicherheit entsprach. Die Problematik, die mit dem Begriff der Neutralität selbst

einherging, sprich dessen Auslegung und Bedeutung für Österreich, stellte nun den letzten

Schlüsselfaktor der Staatsvertragsverhandlungen dar.340 Es musste ein Neutralitätsbegriff für

Österreich gefunden werden, der von den Westmächten, der Sowjetunion und den beiden

336 Vgl. STOURZH, Geschichte des Staatsvertrages. 1985. S. 132. 337 Vgl. Rundfunkansprache Raabs. Zitiert nach STOURZH Gerald, Geschichte des Staatsvertrages. 1985. S.

134. – S. 135. 338 Ebda. 339 Vgl. STOURZH, Geschichte des Staatsvertrages. 1985. S. 139. – S. 140. 340 Vgl. ebda. S.144. – S. 145.

Page 85: Das österreichische Nationalbewusstsein

84

regierenden Parteien Österreichs gleichermaßen akzeptiert werden würde. Die Findung eines

solches Neutralitätsbegriffes wurde zum Hauptgegenstand und zugleich zur Grundbedingung

für die weiteren Staatsvertragsverhandlungen. Erst mit einer Einigung über die Neutralität

Österreichs könnten weitere Punkte, wie etwa das deutsche Eigentum und der Abzug der

alliierten Truppen aus Österreich, verhandelt werden. Dies wurde vor allem von der

Sowjetunion vorausgesetzt. Neben dem Haltungswechsel und dem Vorschlag der Neutralität

als Garantie für die Unabhängigkeit Österreichs, war die Sowjetunion überdies auch bereit,

hinsichtlich der Frage des deutschen Eigentums, des Truppenabzugs sowie der Entlassung von

österreichischen gefangenen Soldaten, Schritte zu Gunsten Österreichs zu setzen.341 Somit

stellte der Wandel der sowjetischen Haltung, der sich durch Kompromissbereitschaft und der

Entkopplung der Lösung der Deutschen Frage mit der der Österreichfrage zusammenfassen

lässt, die Grundlage für das erfolgreiche Abschließen des Staatsvertrages dar. Die Westmächte

waren bereit, die Verhandlung auf Basis der Forderungen der Sowjetunion

wiederaufzunehmen, und das obwohl die führenden Generäle der Westmächte den Wegfall der

militärisch wichtigen Nord-Süd Verbindung zwischen den beiden NATO-Mitgliedern

Westdeutschland und Italien, durch die Neutralität Österreichs und deren von der Sowjetunion

geforderten Bedingungen, kritisierten. Der österreichische Botschafter in Washington, Karl

Gruber, meldete, dass sich die USA es sich nicht leisten könnte, „eine wirkliche und praktische

Lösung aus militärischen Gründen im Gegensatz zur Ansicht der Bundesregierung einfach

zurückzuweisen.“342 Außerdem wollten die Westmächte nicht die Rolle des Nein-Sagers

einnehmen, falls die Sowjetunion wirklich zu Konzessionen bereit wäre. Eine dieser

Konzessionen betraf neben der Neutralität die Frage des „deutschen Eigentums“. Dieses setzte

sich folgendermaßen zusammen: Erstens aus dem Grundbesitz in Österreich, der vor dem

Anschluss 1939 in Besitz von deutschen Bürger*innen war; zweitens aus jenem Besitz, der

nach dem Anschluss durch Deutsche nach Österreich kam, sowie sämtliche Industrieanlagen,

die durch deutsches Kapital nach 1939 entstanden waren; drittens durch sämtlichen Besitz der

durch eine*n deutsche*n Staatsbürger*in nach dem Anschluss käuflich erworben wurde, wenn

der Preis dem wirklichen Wert des Gegenstandes entsprach und nicht etwa durch Zwang zum

Verkauf erreicht wurde. Die Sowjetunion übernahm dadurch viele Betriebe, inbesondere jene

der Erdölindustrie und gliederte sie in die sogenannten USIA Betriebe ein.343 Für die USIA

Betriebe forderte die Sowjetunion von Österreich eine Ablösesumme von 150 Millionen Dollar.

341 Vgl. STOURZH, Geschichte des Staatsvertrages. 1985. S.144. – S. 145. 342 Stellungnahme der Westmächte vom 5. April IN: DÖA, NR. 160. Mündlicher Bericht Grubers am 28. März

1955: HHStA. BMAA, Zl. 320.920-Pol/55, K. 40/1955. IN: STOURZH Gerald, Geschichte des Staatsvertrages.

1985. S. 140. 343 Vgl. VOCELKA, Geschichte Österreichs. 2009. S. 324.

Page 86: Das österreichische Nationalbewusstsein

85

Diese Summe war bereits bei der Konferenz in Berlin im Jahr 1954 von den Sowjets festgelegt

worden. Von dieser Summe wich die Sowjetunion zwar auch ein Jahr später nicht ab, allerdings

war sie jetzt zumindest dazu bereit, die Abgaben der Waren zu beschränken. Darüber hinaus

forderte die Sowjetunion, dass die USIA Betriebe nicht in die Gewalt der Westmächte fallen

dürften. Dies wurde später im Staatsvertrag im Übertragungsverbot verankert. Molotow

versicherte der österreichischen Delegation während der Verhandlungen in Moskau immer

wieder, dass sie nicht umsonst nach Moskau gekommen waren. Er sollte recht behalten, denn

die Verhandlung in Moskau und die genaue Ausarbeitung der beschriebenen Punkte war

erfolgreich und markierten somit den abschließenden Meilenstein der

Staatsvertragsverhandlungen.344 Im Moskauer Memorandum verpflichtete sich Österreich einer

immerwährenden Neutralität nach Schweizer Vorbild. Die alliierten Mächte gaben im

Gegenzug die Garantie, die Unversehrtheit und Unverletzlichkeit des österreichischen

Staatsgebietes zu wahren.345

Einen Tag bevor der Staatsvertrag feierlich am 15. Mai 1955 im Schloss Belvedere

unterzeichnet wurde, wurde noch der Absatz über das Mitverschulden Österreichs am Zweiten

Weltkrieg aus dem Vertrag gestrichen. Die Außenminister Molotow, Dulles, Macmillan, Pinay

und Bundeskanzler Leopold Figl unterzeichneten den Vertrag stellvertretend für die alliierten

Mächte und Österreich. Der Staatsvertrag, bestehend aus einer Präambel und insgesamt neun

Teilen, beinhaltete die folgenden Punkte:346

Die Wiederherstellung Österreichs als souveräner, unabhängiger und demokratischer Staat wird

von den alliierten und den assoziierten Mächten anerkannt. Dies beinhaltet das Verbot eines

wirtschaftlichen und politischen Anschlusses Österreich an Deutschland. Als Grenzen des

Landes gelten jene vor 1938. Jegliche nationalsozialistische und faschistische Organisationen

sind verboten und auch jede Form der Wiederbetätigung in solcher Natur wird unter Strafe

gestellt. Im Artikel 7 werden im Speziellen Rechte für die slowenischen und kroatischen

Minderheiten in Österreich festgelegt. In diesen werden etwa das Recht auf elementaren

Schulunterricht in slowenischer und kroatischer Sprache verankert. Im Artikel 8 wird die

demokratische Staatsform von Österreich betont. Das im Jahr 1919 beschlossene

Habsburgergesetz wurde dabei explizit analog übernommen.347 Im Staatsvertrag sind des

Weiteren auch militärische Richtlinien für Österreich verankert. Diese beinhalten etwa die

344 Vgl. STOURZH, Geschichte des Staatsvertrages. 1985. S. 146 345 Vgl. Moskauer Moramendum zitiert nach STOURZH Gerald, Geschichte des Staatsvertrages. 1985. S. 226. –

S. 227. 346 Vgl. VOCELKA, Geschichte Österreichs. 2009. S. 325. 347 Vgl. Der Österreichische Staatsvertrag. Zitiert nach: STOURZH Gerald, Geschichte des Staatsvertrages.

1985. S. 245. – S. 253.

Page 87: Das österreichische Nationalbewusstsein

86

Ausschließung von bestimmten Waffen, wie etwa Atomwaffen oder anderen Waffen, die als

Mittel der Massenzerstörung eingesetzt werden könnten, sowie das Verbot von jeder Art von

selbstgesteuerten Waffen und auch jegliche Arten von chemischen Waffen. Die alliierten

Mächte verpflichteten sich, ihre Truppen aus österreichischem Territorium abzuziehen und jene

Österreicher*innen, die sich noch in Kriegsgefangenschaft befanden, entsprechend der

jeweiligen Vereinbarung freizulassen. Österreich muss jedoch im Gegenzug eine Ablöse für

das deutsche Eigentum an die Sowjetunion entrichten. Diese Ablöse von 150 Millionen Dollar

verpflichtete sich Österreich innerhalb von sechs Jahren gestaffelt an die Sowjetunion zu

übergeben.348 Der Vertrag wurde am 7. Juni 1955 vom Nationalrat ratifiziert. Ebenso wurde

vom Nationalrat am 26. Oktober die immerwährende Neutralität Österreichs als

Bundesverfassungsgesetz beschlossen. Dies wurde zugleich von den alliierten Mächten

anerkannt. Damit war auch die Verpflichtung Österreichs, keine Militärbündnisse einzugehen

sowie keine fremden Militärbasen auf österreichischem Boden zuzulassen und die

Unabhängigkeit mit all seinen Kräfte zu verteidigen, offiziell festgemacht.349 Die Neutralität

war nicht nur bedeutend für den erfolgreichen Abschluss des Staatsvertrages, sie avancierte

überdies zu einem der bedeutendsten Identitätsmerkmale der Österreicher*innen in den Jahren

nach dem Staatsvertrag und hat in diesem Sinn über Generationen bis heute noch eine große

Bedeutung. Die Neutralität stellte einerseits die Bedingung für die Konstitution eines

unabhängigen und souveränen österreichischen Kleinstaates und dessen Neupositionierung in

der Welt dar. Andererseits ist die Neutralität für das österreichische Nationalbewusstsein von

enormer Wichtigkeit, worauf im folgenden Kapitel eingegangen werden soll.

5.2 Neutralität

Die im Staatsvertrag festgelegte Neutralität Österreichs hatte – wie im vorangegangenen

Kapitel bereits ausgeführt – nicht nur einen enormen Einfluss auf den Verhandlungsverlauf des

Staatsvertrags, sondern auch auf die Neupositionierung der österreichischen Nation im

politischen Weltgeschehen. Die Etablierung der Idee eines neutralen Österreichs als Lösung für

den zukünftigen Status der jungen Nation ist jedoch nicht ohne Hindernisse verlaufen. Die

österreichischen Parteien und die West- und Ostmächte vertraten in der Anfangsphase

unterschiedliche Auffassungen bei der Entstehung eines für Österreich zugeschnittenen

Neutralitätsbegriffes.

348 Vgl. Der Österreichische Staatsvertrag. Zitiert nach: STOURZH Gerald, Geschichte des Staatsvertrages.

1985. S. 254.- S. 270. 349 Vgl. VOCELKA, Geschichte Österreichs. 2009. S. 325.

Page 88: Das österreichische Nationalbewusstsein

87

Stourzh hebt etwa hervor, dass die Idee der Neutralität Österreichs in der politischen Diskussion

durchaus bereits vor dem Anschluss 1939 immer wieder aufgeflammt, aber durch den

Anschluss zumindest im Inneren Österreichs vollkommen untergegangen sei. Jedoch gab es

noch vor dem Kriegsende des Zweiten Weltkrieges internationale Stimmen, die die Zukunft

Österreichs als neutralen Staat und als Brücke zwischen dem Westen und Osten sahen.

Innenpolitisch nahm die Debatte um den Neutralitätsgedanken in den ersten Nachkriegsjahren

einen beachtlichen Raum ein. Diese wurden angesichts der wachsenden West- und

Ostspannungen immer bedeutender für Österreich, da die Idee der Neutralität für Österreich

eine Lösung war, die man gegen eine Vereinnahmung durch die jeweiligen West- oder

Ostmächte nutzen konnte. Als Vorlage für Österreich wurde von internationalen

Persönlichkeiten wie Julius Deutsch, David Ginsburg, einem ranghohen Mitglied der

amerikanischen Delegation der Vertragskommission, und dem französischen General

Béthouarts, sowie von bedeutenden österreichischen Persönlichkeiten wie Karl Renner,

Theodor Körner, Julius Raab, Alfred Missong und Karl Gruber, die Neutralität nach dem

Modell der Schweiz geprägt und befürwortet.350 Eine Neutralität nach Schweizer Modell stellte

auch die Basis für weitere Verhandlungen um den Staatsvertrag dar, die sowohl für Österreich

als auch für die alliierten Besatzungsmächte akzeptabel war. Denn der einzig wirkliche

gemeinsame Nenner eines Neutralitätsbegriffes für Österreich lag in der präventiven

Verhinderung von militärischen Blockbildungen. Ein spannender Aspekt der

Neutralitätsdebatte in der Nachkriegszeit stellt die unterschiedliche Haltung der

Regierungsparteien SPÖ und ÖVP zum Begriff der ‚Neutralität‘ dar. Die Mehrheit der SPÖ

war lange Zeit gegen die Verwendung des Neutralitätsbegriffs und gegen eine neutrale Haltung

Österreichs. Sie verband mit diesen Begriffen ein Nachgeben gegenüber der Sowjetpolitik. Bis

auf wenige Ausnahmen wurde das Wort Neutralität von den Sozialdemokraten bis 1955 aus

dem eigenen ‚Parteiwortschatz‘ gestrichen.351 Im Gegensatz dazu scheute die ÖVP nicht davor

zurück, den Begriff – wenn auch mit besonderem Bedacht – zu verwenden. Diese

unterschiedlichen Grundeinstellungen der beiden Parteien zum Neutralitätsbegriff blieben bis

zur Staatsvertragsunterzeichnung aufrecht. Beide Parteien waren sich jedoch in der an der

Neutralität gebundenen Untersagung, ein Militärbündnis einzugehen, einig. So hatte sich die

österreichische Regierung im Jahr 1952, als der Kalte Krieg bereits fortgeschritten war,

geschlossen zur Neutralität bekannt, um durch sie eine mögliche Spaltung des Landes

abwenden zu können.352 Die Regierung betrachtete die Neutralität nicht nur als eine von den

350 Vgl. STOURZH, Geschichte des Staatsvertrages. 1985. S. 101.- S. 103. 351 Vgl. ebda. S. 106. 352 Vgl. ebda. S. 108. – S. 111.

Page 89: Das österreichische Nationalbewusstsein

88

alliierten Mächten geforderte Bedingung für den Staatsvertrag, sondern sah in ihr auch den

Schlüssel zur Unabhängigkeit und Neupositionierung Österreichs als Kleinstaat. Die Neutralität

symbolisierte die endgültige Abkehr vom Großraumgedanken. Sie sollte die neue Rolle

Österreichs als vermittelnden, unabhängigen Kleinstaat ermöglichen. Gleichzeitig sollte sie

auch dessen Souveränität und die Unverletzlichkeit seiner Gebiete schützen und Österreich

davor bewahren, eine Schachfigur im Kampf zwischen Ost- und Westmächten zu werden.

Dies lässt sich bei näherer Betrachtung und Analyse anhand der Haltung der regierenden

Parteien zur Neutralität im Jahr 1955 gut erkennen. Der Regierung war es wichtig, dass die

Neutralität von Österreich selbst und nicht etwa durch einen Vertrag, wie dem Staatsvertrag

oder einem anderen Vertrag mit einer fremden Macht, erklärt werden sollte. Aus diesem Grund

war es ein politisch wichtiger Schritt, zuerst den Staatsvertrag erfolgreich abzuschließen, um

dann als freier und souveräner Staat die Neutralität selbst erklären zu können. Um dieser

Entscheidung weiteren Nachdruck zu verleihen, sollte die Neutralität nicht nur von der

Regierung alleine beschlossen werden, sondern auch vom Parlament. Der Volksvertretung

sollte die endgültige Entscheidung obliegen. Dieser Schritt wurde bereits im Moskauer

Memorandum festgehalten und seitdem von der österreichischen Regierung geplant.353 Die

offizielle Erklärung der Neutralität Österreichs erfolgte nicht mit dem Abzug des letzten

fremden Soldaten, sondern einen Tag nach Ablauf der Räumungsfrist. An diesem Tag, dem 26.

Oktober 1955, an dem die Freiheit Österreichs wiederhegestellt war, wurde das

Bundesverfassungsgesetz über die Neutralität vom Nationalrat beschlossen. Als im November

1955 über 60 Staaten, die immerwährende Neutralität Österreichs laut

Bundesverfassungsgesetz anerkannten, wurde Österreich am 14. Oktober als Mitglied in die

Vereinten Nationen aufgenommen. Österreichs Beitritt zu den Vereinten Nation markiert

zugleich den Unterschied zwischen der Neutralitätspolitik Österreichs und jener der Schweiz,

welche den Vereinten Nationen nicht angehört. Österreich führt bis heute noch eine aktive

Neutralitätspolitik. 354 Hinter dem Beitritt zu den Vereinten Nation stand die Intention, durch

eine Mitgliedschaft einen zusätzlichen Sicherheits- und Schutzfaktor für Österreich zu

generieren. Neben dem Eintritt in die UN trat Österreich im Jahr 1956 auch dem Europarat bei

und unterschrieb ein Jahr darauf die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte.

Im Jahr 1960 beteiligte sich Österreich an einer UN-Aktion im Kongo und schickte einen

Friedens-Korp. Auch in Zypern und auf den Golan-Höhen waren österreichische Truppen

stationiert.355 Österreich ist darüber hinaus ein Gründungsmitglied der OEEC (jetzt OECD,

353 Vgl. STOURZH, Geschichte des Staatsvertrages. S. 162. – S. 163. 354 Vgl. ebda. S. 171. – S. 172. 355 Vgl. VOCELKA, Geschichte Österreichs. 2009. S. 327. – S.328.

Page 90: Das österreichische Nationalbewusstsein

89

Organisation for Economic Cooperation and Development). Wien wurde in den Jahren nach

1955 zum Sitz zahlreicher internationaler Organisationen, wie etwa der IAEO (Internationale

Atomenergie Organisation) und der OPEC (Organization of Petroleum Exporting Countries).

Überdies wurde Wien neben New York und Genf die dritte UNO-Stadt der Welt. Viele

bedeutende internationale Treffen und Kongresse fanden seitdem in Wien statt. Eines der

berühmtesten Treffen war jenes zwischen Kennedy und Chruschtow im Jahr 1961. Der neutrale

Status Österreichs und das Anschlussverbot hatte jedoch die Folge, dass Österreich nicht zur

Gänze mit der Europäischen Wirtschaftsgemeinde (EWG, später EG), einer der drei Säulen der

Europäischen Union, welche unter anderem von der Bundesrepublik Deutschland gegründet

wurde, zusammenarbeiten konnte. Aus diesem Grund schloss sich Österreich der EFTA

(European Trade Association) an. Deren Mitglieder waren Schweden, Dänemark, Norwegen,

Großbritannien, die Schweiz und Portugal. Der durch die Neutralität erfolgreich

abgeschlossene Staatsvertrag Österreichs stellte außerdem für die damalige politische Situation

in Europa eine Besonderheit dar. Zum ersten Mal seit 1945 kam es vor, dass sich die

Sowjetunion aus einem zuvor von ihr besetztem Land wieder zurückgezogen hatte. Österreich

ist somit auch in diesem Zusammenhang ein Sonderfall. Einerseits lebte man in Österreich ganz

klar westlich orientiert, in einem westlichen politischen System; anderseits hob man stets die

guten alten Beziehungen zu jenen angrenzenden Länder, die dem Warschauer Pakt angehörten,

hervor. So wurde Österreich durch die Neutralität zu einem in Europa gut integrierten

Kleinstaat, welcher die Rolle als neutrale Friedenszone und Brücke zwischen Ost und West

einnahm.356 Dies spiegelt sich auch im Rollenverständnis der Österreicher*innen in den 1980er

Jahren wider. Bei Befragungen wurde von der Mehrheit der Österreicher*innen vor allem die

Rolle Österreichs als neutrale friedliche Zone und als Vermittlernation zwischen Ost- und

Westmächten hervorgehoben. Dabei ist zu beobachten, dass seit den 1970er Jahren ein Trend

zur steigenden Bedeutung der Rolle als ,neutrale Friedenszone zwischen den Mächten‘ zu

erkennen ist. Etwa die Hälfte der Befragten gab an, dass Österreich auch die Rolle eines

Bewahrers eines kulturellen Erbes inne hat. Ein spannendes Ergebnis dieser Studie ist, dass sich

bei rund einem Viertel der österreichischen Bevölkerung ein ‚Inselbewusstsein‘ feststellen

lässt. Dieses Inselbewusstsein ist durch die Haltung, dass sich Österreich nur für die

Österreicher*innen einsetzen sollte, charakterisiert.357 Diese Haltung resultierte aus einer

356 Vgl. VOCELKA, Geschichte Österreichs. 2009. S. 327. – S.328. 357 Vgl. GEHMACHER Ernst, PAUL LAZARSFELD – GESELLSCHAFT Paul Lazarsfeld-Gesellschaft für

Sozialforschung (Hrsg.). Das österreichische Nationalbewusstsein in der öffentlichen Meinung und im Urteil der

Experten. Eine Studie der Paul Lazarsfeld Gesellschaft für Sozialforschung. Paul Lazarsfeld Gesellschaft für

Sozialforschung, Wien. 1982. S. 17 – S. 18.

Page 91: Das österreichische Nationalbewusstsein

90

verstärkten, engen Auslegung der Neutralität Österreichs und geht parallel mit dem Wunsch

des ,Sich-Raushaltens‘ aus internationalen Angelegenheiten einher.358

Interessant ist auch, wie sich diese zwei Auffassungen von der Neutralität Österreichs und ihrer

Bedeutung als identitätsstiftende Merkmale in den Jahren nach 1980 bis in die Gegenwart

entwickelt hat. Das Rollenverständnis, welches das neutrale Österreich im Sinne des

Staatsvertrages als Brücke zwischen Ost und West und als Vermittler sah, verlor ab 1980 immer

mehr an Bedeutung und wurde schrittweise durch ein Inselbewusstsein abgelöst.

Der Begriff ,Neutralität‘ wurde zu einem Synonym für das Österreich um 1990 und stand für

eine selbstbezogene, enggefasste Sichtweise.359

Vor 1980 waren noch 46% der befragten Österreicher*innen der Ansicht, dass die Neutralität,

so wie sie im Rahmen des Staatsvertrages beschlossen wurde, nur Vorteile für Österreich bringe

und etwa 48% sahen Vor- und Nachteile in der Neutralität. Darüber hinaus war die Mehrheit

der Personen der Neutralität gegenüber positiv gestimmt und sah in ihr eine Möglichkeit zur

Aufwertung der Selbstständigkeit der Staaten. Nur rund 12% vertraten eine eher negative

Haltung zur Neutralität Österreichs und wiesen darauf hin, dass der Staat durch die Neutralität

in völlige Isolation geriete. Diese Haltung wurde überwiegend von älteren Personen aus sozial

schwächeren Schichten vertreten.360 In den folgenden zwei Jahrzehenten wandelte sich diese

zuvor offene Einstellung der Österreicher*innen zu einem erstarkenden Befürworten der

Neutralität im Sinne der Isolation und einem ,Sich-Raushalten‘ aus außenpolitischen

Geschehnissen. Auch die Bereitschaft, die Neutralität zu verteidigen, welche auch im

Neutralitätsgesetz vom 26. Oktober 1955 verlautbart ist, war laut den Studien von der

Lazarsfeld Gesellschaft 1980 noch stärker vorhanden als in den 1990er Jahren. Diese

Entwicklung sei aber auch durch das mangelnde Wissen über den Inhalt des

Neutralitätsgesetzes selbst zu erklären.361

Diese Auffassungen der Neutralität – einmal eine offene, vermittelnde und einmal eine

zunehmend stärker werdende, selbstorientierte, enge – stehen im Kontrast zueinander und

zeigen den Haltungswechsel der österreichischen Bevölkerung zur Neutralität auf. Zugleich

358 Vgl. GEHMACHER, PAUL LAZARSFELD – GESELLSCHAFT Paul Lazarsfeld-Gesellschaft für

Sozialforschung (Hrsg.). Das österreichische Nationalbewusstsein in der öffentlichen Meinung und im Urteil der

Experten. 1982. S. 17. – S. 18. 359 Vgl. ECKER Alois / SPERL Alexander (Hrsg.), Österreichbilder von Jugendlichen. Zum Einfluss

audiovisueller Medien. New academic press, Wien. 2018. S. 15. 360 Vgl. GEHMACHER, PAUL LAZARSFELD – GESELLSCHAFT Paul Lazarsfeld-Gesellschaft für

Sozialforschung (Hrsg.). Das österreichische Nationalbewusstsein in der öffentlichen Meinung und im Urteil der

Experten. 1982. S. 19 – S. 21. 361 Vgl. ebda. ECKER / SPERL (Hrsg.), Österreichbilder von Jugendlichen. 2018. S. 15.

Page 92: Das österreichische Nationalbewusstsein

91

geht mit diesem Haltungswechsel ein Schwinden der Bedeutung der Neutralität für das

österreichische Nationalbewusstsein einher.

Ecker stellt in diesem Zusammenhang folgende These zum Neutralitätsmythos auf: Die

Neutralität wurde durch die Mythologisierung um die Jahrtausendwende zur origo gentis der

österreichischen Bevölkerung der Zweiten Republik. Dies werde deutlich, wenn man die

Neutralität mit anderen Merkmalen und Charakteristika des Österreichbewusstseins dieser

Zeitspanne (Ecker nennt hier zum Beispiel das ausgeprägte österreichische Selbstbewusstsein,

die Selbstbezogenheit und das geringe Interesse am außenpolitischen Geschehen) in Beziehung

stellt und vergleicht.362 Diese These wird zum Teil auch durch die Ergebnisse der Lazarsfeld

Studie bekräftigt. Diese ergaben bereits im Jahr 1982, dass die Mehrheit der befragten

Österreicher*innen kein sehr ausgeprägtes Bewusstsein für die internationalen Bündnisse

Österreichs hat, wenngleich diese die aktive österreichische Neutralitätspolitik repräsentieren,

die durch die Neutralität und den Staatsvertrag Österreichs ermöglicht worden waren. Vielmehr

deuten die Ergebnisse der Studie auf ein Inselbewusstsein und eine ,Österreichzuerst-

Mentalität‘ hin.363

Trotz dieses Widerspruchs stellte das Jahr 1955 für viele Österreicher*innen den Ursprung des

österreichischen Nationalbewusstseins dar, dessen Gallionsfigur und Symbol die Neutralität

wurde. Ihr wurde jedoch ab 1980 neue, teils sehr gegensätzliche Werte zum ursprünglichen

Neutralitätsgedanken zugeschrieben, die auch konträr zu dem zentralen Erfolgsfaktor des

österreichischen Wirtschaftswunders standen, nämlich: die Öffnung der Grenzen.364

Die Neutralität Österreichs scheint ab dem Zeitpunkt ihrer Etablierung an Bedeutung für das

Nationalbewusstsein verloren zu haben. Ob die Neutralität eines Tages für das

Nationalbewusstsein der Österreicher*innen als Merkmal obsolet wird, kann nur schwer

beatwortet werden. Jedoch ist in den Jahren von 1955 bis 1990 ein deutlicher Wandel der

Einstellung der Österreicher*Innen zur Neutralität ersichtlich. Offen bleibt die Frage, ob die

Neutralität heute noch als Identifikationsmerkmal für die Österreicher*innen bedeutend ist und

als Merkmal des österreichischen ‚Wir- Gefühls‘ festgemacht werden kann, oder ob sie bereits

ein Mythos des österreichischen Bewusstsein geworden ist.

Das Jahr 1955 stellte ohne Zweifel einen Wendepunkt in der Entwicklung des österreichischen

Nationalbewusstseins dar. Das Ende der Alliierten Kommission, der Staatsvertrag, der Abzug

der Besatzungsmächte und die damit wiederlangte Freiheit, die Neutralität und die

362 Vgl. ECKER / SPERL (Hrsg.), Österreichbilder von Jugendlichen. 2018. S. 15. 363 Vgl. GEHMACHER, PAUL LAZARSFELD – GESELLSCHAFT Paul Lazarsfeld-Gesellschaft für

Sozialforschung (Hrsg.). Das österreichische Nationalbewusstsein in der öffentlichen Meinung und im Urteil der

Experten. 1982. S. 19 – S. 21. 364 Vgl. ECKER / SPERL (Hrsg.), Österreichbilder von Jugendlichen. 2018. S. 15.

Page 93: Das österreichische Nationalbewusstsein

92

Mitgliedschaft bei den Vereinten Nationen, das sind wesentliche Errungenschaften und

Ereignisse, die das Jahr 1955 so bedeutend für Österreich und das österreichische

Nationalbewusstsein machen. Das Jahr 1955 stellte die Weichen für die weitere Entwicklung

des Kleinstaates und stärkte das ,Wir-Gefühl‘ der österreichischen Bevölkerung. Gleichzeitig

kam es zu einer enormen Aufwertung der Österreichs als eigenständige Nation. Ab 1955 gab

es keinen Zweifel mehr, dass es ein österreichisches Nationalbewusstsein gab, welches auf der

dem Staatsvertrag als solide Basis aufbaute und sich über die Jahre festigte.

Welch zentrale Rolle das Staatsvertragsjahr und die unmittelbar darauffolgenden Jahre für das

Österreichbewusstsein einnehmen, wird durch die Ergebnisse der Lazarsfeld-Studie (1982)

unterstrichen: Auf die Frage, in welcher Epoche der österreichischen Geschichte die Personen

„gerne gelebt“ hätten beziehungsweise in welche man „überhaupt nicht gerne gelebt hätte“, war

die klar präferierte Zeit jene nach 1955.365 Auch auf die Frage, wann es der österreichischen

Bevölkerung am besten ergangen sei, antwortete der Großteil der Österreicher*innen, dass die

Blütezeit ab dem Jahr 1955 begonnen hätte. Nur etwa 2% gaben damals an, dass die Zeit vor

1918 die beste Zeit für die Österreicher*innen war. Interessant ist, dass hierbei in der Zeit

zwischen 1970 und 1980 in dieser Hinsicht kein signifikanter Unterschied in der Haltung der

Österreicher*innen auszumachen ist. So vertraten auch laut der Gallup-Untersuchung von 1970

90% der Österreicher*innen die Meinung, dass es Österreich nach dem Abzug der

Besatzungsmächte am besten gegangen sei und lediglich 4% nannten „die gute alte Zeit vor

1918“.366

365 Vgl. GEHMACHER, PAUL LAZARSFELD – GESELLSCHAFT Paul Lazarsfeld-Gesellschaft für

Sozialforschung (Hrsg.). Das österreichische Nationalbewusstsein in der öffentlichen Meinung und im Urteil der

Experten. 1982. S. 14 – S. 15. 366Vgl. ebda. S. 14 – S. 15.

Page 94: Das österreichische Nationalbewusstsein

93

6 Das österreichische Nationalbewusstsein nach dem Staatsvertrag.

Die SPÖ und ÖVP hatten sich in der Zweiten Republik in Retrospektive zur Ersten Republik

deutlich entideologisiert. Die SPÖ wurde von der stark marxistisch angelehnten Arbeiterpartei

zu einer Staatspartei und auch die ÖVP fand sich in der Demokratie ein und wandte sich

komplett vom alten Antisemitismus ab.367

Durch das Abrücken der alliierten Besatzungsmächte und die damit einhergehende

schwindende Angst vor den Maßnahmen des Alliierten Rats als kontrollierende Instanz

begannen bereits ab 1948 deutschnationale Tendenzen ruchbar zu werden. Diese Entwicklung

bot neuen und alten deutschnationalen Organisationen, wie schlagenden Burschenschaften und

Turnvereinen die Möglichkeit zur Rückkehr. Besonders sticht hier auch die Haltung der

Kärntner*innen zu den seit 1945 etablierten zweisprachigen Schulen hervor. Nach dem

Staatsvertrag kam es zu Protesten gegen den Artikel 7, der das zweisprachige Schulsystem

vorsah. Nach einem Erlass musste man ausdrücklich angeben, ob man einen zweisprachigen

Unterricht für seine Kinder wollte. Dadurch kam es zu einem Bekenntniszwang, bei dem sich

die Mehrheit gegen einen zweitsprachigen Unterricht bekannte und sich davon abmeldete. Ab

1959 kam es zu Kundgebungen von schlagenden Studentenbewegungen und nicht nur leicht,

sondern auch schwer belastete Nazis wurden freigesprochen, was auf großes Unverständnis der

Opfer des Nationalsozialismus stieß, welche generell von der Haltung und dem Vorgehen der

österreichischen Behörden enttäuscht waren. Es herrschte also eine Unmutsstimmung in

Österreich, die 1960 den Anschein erweckte, Österreich würde kollektiv zu den

deutschnationalen und nationalsozialistischen Werten zurückkehren. Abgesehen von diesen

Geschehnissen konsolidierte sich jedoch seit den 1960er Jahren ein Österreichbewusstsein, das

zunehmend als Nationalbewusstsein eingestuft werden konnte. Diesbezüglich gibt es seit 1956

auch empirische Untersuchungen. Die Ergebnisse dieser Studien legen zwar nahe, dass das

österreichische Nationalbewusstsein selbst nach dem Staatsvertrag zwar noch nicht

mehrheitlich in der Bevölkerung verankert war aber, jedoch zeigen sie eine stetige

Konsolidierung auf. Bei einer Befragung des Fessel-Instituts im Jahr 1956 zum Thema

,Nationalbewußtsein der Österreicher‘ antworteten 49% der Teilnehmer*innen auf die Frage

„Sind Sie persönlich der Meinung, daß wir eine Gruppe des deutschen Volkes sind, oder sind

wir ein eigenes österreichisches Volk?“, dass sie sich als eigenes österreichisches Volk sehen.

46% gaben an, sich dem deutschen Volk zugehörig zu fühlen, die restlichen 5% waren

unentschieden.368 Bei dieser Umfrage zeichnete sich auch ab, dass Frauen ein stärker

367 Vgl. VOCELKA, Geschichte Österreichs. 2009. S. 322. 368 Vgl. BRUCKMÜLLER, Die Entwicklung des Österreichbewusstsein. 1998. S. 385. – S. 387.

Page 95: Das österreichische Nationalbewusstsein

94

ausgeprägtes Österreichbewusstsein als die Männer aufwiesen. Einen weiteren

differenzierteren Beitrag zu dieser Fragestellung lieferte eine Befragung des Gallups-Instituts

im Jahr 1966. Die Ergebnisse der Gallup-Umfrage zeigten die Korrelation zwischen

Parteipräferenz und Einstellung zum österreichischen Nationalbewusstsein.369 Hierbei ergab

sich, dass Wähler*innen der SPÖ und ÖVP eher die Meinung vertraten, dass Österreich eine

eigenständige Nation sei, als das Wähler*innen der FPÖ taten. Letztere erkannten zwar den

unabhängigen Staat Österreich an, jedoch waren sie der Ansicht, dass Österreich Teil der

deutschen Nation sei. Wie stark bei den Befragten ein Österreichbewusstsein vorhanden war,

hing vor allem mit dem Alter der Befragten zusammen. Die junge Generation der bis zu

Dreißigjährigen bejahten zu 40%, dass Österreich eine eigene Nation ist. Bei den 31- bis 50-

Jährigen wurde diese Frage nur von 30% bejaht. Bei den über 50-Jährigen waren es wiederum

36%. Außerdem war die Antwort vom Beruf und der Ausbildung der jeweiligen Befragten

abhängig. So ergab die Studie, dass Leute, die eine höhere Schulausbildung hatten, ein stärkeres

deutschnationales Bewusstsein besaßen und meist in einem bürgerlichen Umfeld aufgewachsen

waren. Wichtige Erkenntnisse konnten auch in Bezug auf regionale Unterschiede gewonnen

werden. So sahen sich Niederösterreicher*innen und Burgenländer*innen eher als Mitglieder

der österreichischen Nation als etwa Oberösterreicher*innen und Salzburger*innen. Insgesamt

lässt sich aus der Studie entnehmen, dass es über die Jahre, die zwischen der vom Fessel-Institut

angestellten Befragung liegen, insgesamt zu einer stärkeren Verankerung des

Österreichbewusstseins in der Bevölkerung gekommen ist. Laut Bruckmüller wurde das

Österreichbewusstsein erst ab den späten 1960er Jahren ein klarer Bestandteil des kollektiven

Bewusstseins, sodass überhaupt erst von diesem Zeitpunkt an von einem österreichischen

Nationalbewusstsein gesprochen werden kann. Diese junge österreichische Identität verdichtete

sich, bis auf eine leichte Schwankung im Jahr 1990, kontinuierlich. So sahen bereits im Jahr

1970 66% der Befragten Österreich als Nation und 1993 waren es bereits 80%. Diese

Manifestation des österreichischen Selbstbewusstseins wird dadurch unterstrichen, dass ein

Großteil der Österreicher*innen (87%) im Jahr 1987 auf die hypothetisch im Ausland gestellte

Frage „Sind Sie Deutsche*r?“ mit „Nein, ich bin Österreicher*in“ geantwortet hätte. 2% hätten

sich als Steirer*in, Wiener*in, Oberösterreicher*in (regionales Bewusstsein), 3% als

„österreichische*r Deutsche*r“, 6% als „Deutsche*r“ bekannt und die restlichen Befragten

gaben keine Antwort an. 370 Bruckmüller hebt hervor, dass vergleichbare Fragen in der Zeit vor

1945, aber auch vor dem Anschluss und vor 1934, nicht annähernd in ähnlicher Weise

369 Vgl. BRUCKMÜLLER, Die Entwicklung des Österreichbewusstsein. 1998. S. 385. – S. 387. 370 Vgl. ebda. S. 387 – S. 389.

Page 96: Das österreichische Nationalbewusstsein

95

beantwortet worden wären. Zu einem übereinstimmenden Ergebnis kommen schließlich alle

Studien vor 1990: Nämlich, dass das österreichische Nationalbewusstsein neu und in der

Entwicklung befindlich ist. So wird seine Entstehung überwiegend in die Zeit der Zweiten

Republik festgemacht. Im Jahr 1965 waren 38% der Befragten der Ansicht, dass die

Entstehungszeit des Nationalbewusstseins in der Zeit vor 1938 festzumachen sei, 1987

vertraten nur mehr 18% dieselbe Meinung. Hingegen wurde die Entstehungszeit des

österreichischen Nationalbewusstsein im Jahr 1965 von 40% der Befragten in die Zeit zwischen

den Zweiten Weltkrieg und den Staatsvertrag gesetzt und 1987 waren 61% der Befragten der

Meinung, dass die Zeit der Entstehung des österreichischen Nationalbewusstsein um die Zeit

nach 1955 anzusiedeln sei. Dabei bezieht sich dieses Nationalbewusstsein auf das Land der

österreichischen Republik. Ein Großteil der Österreicher, etwas weniger als drei Viertel der

Befragten, verstanden unter dem Nationsbegriff eine ‚Staatsnation‘, sprich eine Nation, die sich

aus der Zustimmung ihrer Mitglieder zum Staat zusammensetzt. 27% setzten die Nation mit

einer ‚Sprachnation‘, die auf dem Kriterium der gleiche Sprache fußt, gleich. Die Ergebnisse

der Studien von 1993 decken sich dabei mit den Ergebnissen einer Studie von 1984, bei der

eine Nation von den Befragten überwiegend mit staatlichen und konsensualen Elementen

beschrieben wurde. Die Bedeutung einer ‚Abstammungsgemeinschaft‘ wurde nur von 6%

betont. Ob die Nation als eine Sprachnation oder als eine aus dem politischen Willen der

Menschen geschlossenen Gemeinschaft vorgestellt wurde, hing wiederum vom Bildungsstand

und der beruflichen Position der befragten Personen ab. Das Konzept der ‚Sprachnation‘ wurde

in dieser Umfrage signifikant stärker von Person, die die FPÖ anderen Parteien vorzogen,

vertreten. Des Weiteren ergab sich, dass ein hoher Grad an Bildung mit dem Konzept der Nation

als Willensgemeinschaft korreliert. Bruckmüller stellt die These auf, dass es sich hierbei um

eine Umkehr ehemaliger Zuordnungen und Wertevorstellungen handeln könnte. Denn das

Bildungsbürgertum der Nachkriegszeit vertrat einen milden Patriotismus, der sehr stark an

deutschnationale Werte orientiert war. Vertreter*innen dieser Schicht bekannten sich deutlich

zu einer „deutschen Kulturnation“. Somit ergibt sich aus den Studien der 1990er Jahre, dass der

Deutschnationalismus als Identifikationsmerkmal für höhere Bildungsschichten deutlich an

Bedeutung verloren hat. Außerdem zeigt sich, dass jene Schichten, die zuvor von

deutschnationalen Werten wenig beeinflusst wurden (überwiegend die Arbeiterschicht),

verstärkt auf diese zurückgreifen und dabei mit den Werten der FPÖ konform gingen.371

Betrachtet man die Entwicklung sowie die Relation zwischen der Parteipräferenz und der

Einstellung zum österreichischen Nationalbewusstsein, so wird verdeutlicht, dass die

371 Vgl. BRUCKMÜLLER, Die Entwicklung des Österreichbewusstsein. 1998.S. 387. – S. 389.

Page 97: Das österreichische Nationalbewusstsein

96

Österreicher*innen bei der Erfassung der nationalen Identität teilweise sehr unterschiedliche

Identifikationsmuster in Betracht zogen. Einerseits vertraten viele ein Österreichbewusstsein,

dass sich schwach ausgeprägt an der habsburgischen Vergangenheit orientierte und dem eine

mitteleuropäische Sichtweise zu Grunde lag. Andererseits war Österreich für viele Menschen

noch immer ein deutscher – wenn auch souveräner – Nationalstaat, aber mit deutlichem

,deutsch-österreichischem‘ Selbstverständnis. Die letzte Gruppe ist zwar offiziell in Zahlen

gemessen kleiner. Jedoch ist ihr Einfluss laut Bruckmüller nicht zu vernachlässigen, da dieser

zum Beispiel der Zusprechung von mehr Rechten für slowenische, tschechische, ungarische

und kroatische Österreicher*innen teilweise sehr erfolgreich entgegenwirkte. Für den Großteil

der Österreicher*innen – und dies dürfte das gemeinsame, gruppenübergreifende identitäts-

stiftende Merkmal sein – gelten die überwiegend positiven Erfahrungen und Einstellungen

gegenüber der Zweiten Republik als die Hauptfaktoren, durch die sich das Bekennen der

Menschen zur Nation Österreich begründet.372

Überdies ergaben die Studien, dass das kollektive Bewusstsein der Österreicher*innen durchaus

differenziert ist. So sind etwa unterschiedlich stark ausgeprägte und variierende Regional-,

Lokal- und Nationalbewusstseins auszumachen. Niederösterreicher*innen,

Burgenländer*innen und Wiener*innen waren laut einer Studie im Jahr 1987 besonders

lokalpatriotisch und identifizierten sich zugleich im Vergleich zu anderen Bundesländern

stärker als „Österreicher*innen“. Ein überdurchschnittlicher Landespatriotismus war bei den

Kärntner*innen, Tiroler*innen und Vorarlberger*innen zu verzeichnen. In der Steiermark,

Salzburg und in Oberösterreich war der Landespatriotismus etwas mehr ausgeprägt als der

Staatspatriotismus. Interessant ist auch das Verhältnis der nationalen Präferenz zur

emotionalen, territorialen Verbundenheit. So gaben etwa jene 3% der österreichischen

Bevölkerung, die sich als „Deutschösterreicher*innen“ sahen, eher an, Lokalpatrioten*innen zu

sein, und jene, die deutschnationale Werte vertraten (6%) sahen sich überwiegend als

Landespatrioten.373 Die Studien zeigen, dass es in den meisten Bundesländern Österreichs ein

ausgeprägtes Landesbewusstsein gibt. Die Bewohner der Bundesländer konzentrieren sich

dabei hauptsächlich auf ihr eigenes Bundesland. Hatten die Befragten Schwiegerkinder, so

stammten sie meist aus dem gleichen Bundesland. Aus ethnologischer Sicht ist dies

vergleichbar mit einem ‚Stamm‘. Der Anteil der ‚Endogamie‘ innerhalb eines Bundeslandes

war dabei in Oberösterreich und Tirol am höchsten mit Werten über 90%. Wien hatte mit 55%

den niedrigsten Wert.374

372 Vgl. BRUCKMÜLLER, Österreichbewußtsein im Wandel. 1994. S.16. – S. 17. 373 Vgl. BRUCKMÜLLER, Die Entwicklung des Österreichbewusstsein. 1998. S. 389. – S. 390. 374 Vgl. BRUCKMÜLLER, Österreichbewußtsein im Wandel. 1994. S. 20.

Page 98: Das österreichische Nationalbewusstsein

97

6.1 Der Nationalstolz der 1980er und 1990er Jahre

Nationalbewusstsein kann sich

bis zum Nationalstolz steigern.375

Einer der aussagekräftigsten Belege, für das sich immer stärker konstituierende österreichische

Nationalbewusstsein, ist der im Vergleich zu anderen Ländern überdurchschnittlich stark

ausgeprägte Nationalstolz der Österreicher*innen. Dies scheint zunächst überraschend, da die

österreichische Bevölkerung am Ende der 1980er Jahre der Politik überwiegend misstraute und

auch die Gründe für den österreichischen Nationalstolz im Laufe der Zeit großen

Schwankungen unterlagen. Die landschaftliche Schönheit, der politische und soziale Frieden

blieben jedoch konstante Identifikationsmerkmale auf die die Österreicher*innen seit 1980

stolz sind. Bruckmüller setzt in seinen Studien darüber hinaus wichtige Identifikationsfiguren

mit den Gegenständen des österreichischen Nationalstolzes in Beziehung.376

Neben der landschaftlichen Schönheit, dem politischen und sozialen Frieden wird dem Fakt,

dass die meisten geliebten Menschen der Österreicher*innen in Österreich leben, eine große

Bedeutung beigemessen. Die Ergebnisse lassen darauf schließen, dass die Bekundung des

Nationalstolzes und dessen Identifikationsfaktoren nicht etwa in einer heroischen vergangenen

oder gegenwärtigen Geschichte des Landes gesucht werden, sondern sich aus den

landschaftlichen Gegebenheiten und dem sozialen, familiären Zusammenleben ergeben. Die

gemeinsame Sprache, die eine einfache Kommunikation ermöglicht und so Vertrautheit schafft,

fällt hier besonders ins Gewicht. Die Neutralität wird als Wert der Selbstliebe und des Schutzes

der kleinen, vertrauten, familiären, österreichischen Welt gesehen. Zugleicht hofft man, nicht

von außen in seiner Glückseligkeit gestört zu werden.377 Lediglich in den Jahren 1987 und 1988

kam es zu einem Einbruch des Nationalstolzes, deren Auslöser zahlreiche Skandale und der

Bundepräsidentenwahlkampf 1986 mit der Causa Waldheim waren. Letztere stellte den Gipfel

der Ereignisse dar und führte zu einer Erschütterung des österreichischen Selbstbildes. Das

Vertrauen in die Staatspolitik welches unter Bruno Kreisky seinen Höhepunkt hatte, erreichte

einen Tiefpunkt. In den 1980er Jahren verlor neben der Politik auch der Sport als identität-

stiftender Faktor an Bedeutung, während er, bei dem Sieg der österreichischen

Fußballnationalmannschaft über die BRD bei der Weltmeisterschaft im argentinischen Córdoba

1978 noch großen Einfluss als solcher hatte.378 Die Österreicher*innen konzentrierten den

Gegenstand ihres Nationalstolzes in dieser Zeitperiode hauptsächlich auf den Bereich des

375 BRUCKMÜLLER, Die Entwicklung des Österreichbewusstsein. 1998. S. 390. 376 Vgl. BRUCKMÜLLER, Die Entwicklung des Österreichbewusstsein. 1998. S. 391. 377 Vgl. BRUCKMÜLLER, Österreichbewußtsein im Wandel. 1994. S. 25. – S. 27. 378 Vgl. ebda. S. 28. – S. 30.

Page 99: Das österreichische Nationalbewusstsein

98

kulturellen Erbes. Neben diesem war man ebenso stolz auf die österreichischen Leistungen in

Wirtschaft und Politik, aber nur in jenen Bereichen, in denen es zu einer Verwertung der

landschaftlichen Schönheiten und kulturellen Besonderheiten Österreichs gekommen war. In

diesem Zusammenhang sind die Österreicher*innen in den 1990ern stolz auf Österreich als

‚Fremdenverkehrsland‘. Was die Wertschätzung politischer Institutionen einer Demokratie wie

Parteien und Parlament betrifft, liegen die Österreicher*innen deutlich hinter der BRD und der

Schweiz. Jedoch war die Bürokratie von diesem Trend ausgenommen, ihr wurde im Vergleich

eine hohe Wertschätzung entgegengebracht. Diese Ergebnisse von Bruckmüller decken sich

mit einer Umfrage, die 1993 durchgeführt wurde, in der Personen befragt wurden, welchen

Institutionen sie mehr vertrauen würden. Demnach gaben 67% der Befragten ein Vertrauen

gegenüber der Polizei an und 61% der Nationalbank, jedoch nur 48% sprachen dem Parlament

ihr Vertrauen aus. Ebenfalls nur 46% bzw. 42% hatten Vertrauen in die Arbeiterkammer und

in die Regierung, gefolgt vom Bundesheer und der Wirtschaftskammer. Nur Medien, wie der

ORF (37%) und die Zeitungen (35%), lagen in den Werten noch weiter zurück. Weiters

auffällig im europäischen Vergleich ist, dass in Österreich laut den Studien von 1995 der Kirche

(29%) und den Parteien (24% ) am wenigsten vertraut wurde.379 Dies stellt nicht nur in der

Europäischen Union, sondern auch in den ex-kommunistischen Folgestaaten eine Besonderheit

dar, in denen die Kirche ungefähr auf einer Ebene mit der Polizei war, der ein hohes Vertrauen

zugesprochen wurde. Auch die Sozialpartnerschaft, welche immer als Symbol der

österreichischen Nation galt, erfuhr eine rückläufige Bewertung, bei der sie nur von 54% der

Befragten als vorteilhaft gesehen wurde.380 Erstaunlich ist auch, dass einem sehr bedeutenden

Faktor des ‚Wirtschaftswunders Österreichs‘, nämlich der Industrie und deren Entwicklung seit

dem Ende des Zweiten Weltkrieges, im Vergleich zu anderen Gegenständen des Nationalstolzes

deutlich weniger oft als Gegenstand des Nationalstolzes genannt wurde. Im Gegensatz dazu

waren die Österreicher*innen besonders stolz auf die Landwirtschaft, wenngleich diese im

Vergleich zu anderen Sparten keine wichtigere Rolle für den wirtschaftlichen Erfolg

Österreichs spielte. Hier ist eine Überbewertung der Landwirtschaft mit ihrer tatsächlichen

Wichtigkeit für Österreich auszumachen. Einen besonderen Stolz hegten die

Österreicher*innen im europäischen Kontext in Bezug auf spezielle Produktgruppen. So ist im

Jahr 1992 ein Drittel der Österreicher*innen stolz auf die hochwertigen Lebensmittel, die in

Österreich produziert werden.381 Dies geht laut Bruckmüller auf die Erwartungen der

Bürger*innen aufgrund der gesetzlichen Richtlinien, die als hoher Standard aufgefasst werden,

379 Vgl. BRUCKMÜLLER, Österreichbewußtsein im Wandel. 1994. S. 28. – S. 30. 380 Vgl. BRUCKMÜLLER, Die Entwicklung des Österreichbewusstsein. 1998. S. 392. 381 Vgl. BRUCKMÜLLER, Österreichbewußtsein im Wandel. 1994. S. 30.

Page 100: Das österreichische Nationalbewusstsein

99

zurück. Darüber hinaus war man in Österreich stolz auf die Stahlverarbeitung und auf die

Erzeugung von Trachten und die Herstellung von Skiern.382

Wenn man den Nationalstolz der Österreicher*innen von 1973 bis 1990 analysiert, so fällt

einem, wie bereits am Anfang dieses Kapitel erwähnt, der Einbruch in den Jahren von 1987 bis

1989 ins Auge:

Die zahlreichen Skandale und der umstrittene Wahlkampf, bei dem es einem Politiker eines

demokratischen europäischen Landes gelang, durch positive Äußerungen zum

Nationalsozialismus, nicht nur auf breite Ablehnung, sondern auch auf Zustimmung zu stoßen

und politische Aufmerksamkeit zu generieren, verdeutlichen wieso bei der Beurteilung des

Nationalsozialismus 1989, Österreich im internationalen Vergleich heraussticht. So wurde in

Österreich der Nationalsozialismus auffällig öfter als positiv bewertet als in anderen

europäischen Ländern. Bruckmüller nimmt an, dass diese positive Bewertung des

Nationalsozialismus auf einfachen Erfolgserlebnissen im Zuge von Kriegsrüstung und

Propaganda und auf Überlegenheitserfahrungen von ehemaligen Soldat und/oder

Parteimittgliedern fußt:383

Diese subjektiv positiv erlebten, aber nur im Zusammenhang mit ungeheuren kollektiven (nicht

notwendig individuellen) Verbrechen passierten Lebensstationen durften aber nach 1945 öffentlich nicht

mehr positiv beurteilt werden. Dadurch bleiben solche Erfahrungen – da negative stigmatisiert und

tabuisiert und daher nicht öffentlich diskutierbar – oft als Ressentiment erhalten. 384

Der internationale Vergleich verdeutlichte, dass das Thema Nationalsozialismus noch lange

nach dem offiziellen Ende der Entnazifizierung und der Amnestiegesetze ein Reibungspunkt in

der Entwicklung des österreichischen Nationalbewusstseins war. Wenn man zusammenfassend

das österreichische Nationalbewusstsein der 1990er betrachtet, so ist festzustellen, dass sich ein

kollektives Bewusstsein über die ersten Jahrzehnte der Zweiten Republik gefestigt hat. Die

dargestellten Ergebnisse der durchgeführten Umfragen zeigen, dass sich ab den 1960er Jahren

ein österreichisches Nationalbewusstsein konsolidiert hat, welches sich bis zu den 1990er

weiter ausformte. Im kollektiven Bewusstsein werden Gegenstände, die bereits seit der Ersten

Republik hervorgehoben wurden, wie die Landschaft und das kulturelle Erbe, verankert. Dies

wurde auch aktiv durch Medienarbeit gefördert. Auffällig ist auch, dass Errungenschaften, wie

die Sozialpartnerschaft und vor allem die Neutralität, als damaliges tragendes Element des

Staatsvertrages und als bedeutender identitätsstiftender Faktor deutlich an Bedeutung als

Merkmal für das österreichische Wir-Gefühl verloren hat.385 Das österreichische

382 Vgl. BRUCKMÜLLER, Österreichbewußtsein im Wandel. 1994. S. 30. 383 Vgl. BRUCKMÜLLER, Die Entwicklung des Österreichbewusstsein. 1998. S. 393 384 Ebda. 385 Vgl. ebda. S. 394. – S. 395.

Page 101: Das österreichische Nationalbewusstsein

100

Nationalbewusstsein fußt auf der Wahrnehmung einer erfolgreichen Zweiten Republik – den

Skandalen zum Trotz, die alte Problemfelder des österreichischen Selbstbildes, wie etwa die

Bewertung der Zeit des Nationalsozialismus, wieder zum Vorschein brachten. Dennoch ist das

Österreichbewusstsein der 1990er ein stabiles, dies wird auch durch den im Vergleich hohen

Nationalstolz und den Eigenheiten der Österreicher*innen, die die österreichische Nation klar

– auch vom kulturell verwandten Deutschland oder von der Schweiz abgrenzen – belegt.386

6.2 Das österreichische Nationalbewusstsein der 2000er

Laut einer im Jahr 2008 veröffentlichten Studie des Markt- und Meinungsforschungsinstitut

GfK Austria (Growth from Knowledge) bejahten 82% der Befragten die Frage, ob Österreich

eine eigenständige Nation sei. Etwa 8% waren der Meinung, dass die Österreicher*innen

langsam beginnen, sich als Nation zu fühlen und 7% widersprachen der Aussage, dass

Österreich eine eigenständige Nation ist. So lässt sich feststellen, dass sich das österreichische

Nationalbewusstsein seit dem Staatsvertrag und seiner Verfestigung in den 60er und 70er

Jahren, und trotz der Brüche im Selbstbild durch die Skandale der späten 1980er, als konsistent

erweist. Sehr ähnlich verhielt es sich laut Studien im Jahr 2007 mit dem österreichischen

Nationalstolz: 55% der Österreicher*innen gaben an, sehr stolz, 35% ziemlich stolz, und 4%

nicht sehr stolz beziehungsweise 3% überhaupt nicht stolz zu sein. Im internationalen Vergleich

war der österreichische Nationalstolz 2007 noch immer stärker ausgeprägt als jener anderer

Nationen.387

Bruckmüller stellt die These auf, dass das Unterbewusstsein der Österreicher*innen, welches

negative, dunkle Klischees von Österreich beinhaltet, erst die Tragweite der Skandale Ende der

1980er Jahre möglich machte. Diese These Bruckmüllers wird durch die Studie der GfK Austria

unterstrichen: Etwa 57% der befragten österreichischen Bürger*innen gaben an, dass der

Anschluss, die nationalsozialistische, undemokratische, antisemitische und rassistische Haltung

der österreichischen Bevölkerung offenlegte.388 Dies zeigt, dass dieses dunkle Selbstbild nach

wie vor im Bewusstsein der österreichischen Bevölkerung vorhanden war und sich als

Selffulfilling Prophecy noch weiter auf das Selbstbild der Österreicher*innen auswirkt.

Hierbei ist noch zu erwähnen, dass die Mehrheit der Österreicher*innen, jene ‚Ehemaligen‘

nicht als „echte Nazis“ einstuften. Das ergab eine Umfrage der GfK Austria zum

386 Vgl. BRUCKMÜLLER, Die Entwicklung des Österreichbewusstsein. 1998. S. 394. – S. 395. 387 Vgl. TRIBUTSCH Silvia / ULRAM Peter, 1918, 1938, 2008: Geschichte im Spiegel der

Forschungsergebnisse von GfK Austria. GFK Austria, Politikforschung. 2008.

https://images.derstandard.at/20080312/1918-1938-2008.pdf [05.10.2020]. S. 4. 388 Vgl. ebda. S. 3

Page 102: Das österreichische Nationalbewusstsein

101

Geschichtsbewusstsein im Jahr 2005 bei der etwa nur 34% der Befragten, den Großteil der

Österreicher*innen als „echte Anhänger*innen“ des Nationalsozialismus sahen und 52% der

Befragten die Meinung vertraten, dass die meisten lediglich „Mitläufer*innen“ gewesen seien.

Nur 13% der Befragten gaben an, dass die Österreicher*innen gegen das nationalsozialistische

Regime waren.389 Laut Uhl waren die Skandale, die in der umstrittenen Präsidentschaftswahl

um Kurt Waldheim kulminierte, ein bedeutender Bruch im österreichischen

Geschichtsbewusstsein. Die diskrepante Werthaltung der österreichischen Bevölkerung, die

durch den Waldheimskandal ans Licht kam, zeigte, dass das bisherige österreichische

Geschichts- und Selbstbild einer Revision bedurfte. Es kam somit zu einer Auseinandersetzung,

die das Paradigma der Opfer-These, die bis zu diesem Zeitpunkt noch Gültigkeit hatte, in Frage

stellte. Auf der einen Seite herrschte die Meinung, dass die in der Opfer-These bislang dunklen

Flecken, wie die Verfolgung und Ermordung jüdischer Mitbürger*innen und die bewusste,

aktive Teilnahme am Zweiten Weltkrieg, hervorzuheben sind und einer intensiven

Aufarbeitung bedürfen. Anderseits stand dieser Meinung eine Haltung gegenüber, die für einen

Abschluss der Vergangenheit des Nationalsozialismus war. Dieser Abschluss sollte durch eine

,Normalisierung‘ und ‚Historisierung‘ der Folgen des Nationalsozialismus erreicht werden. Der

Umgang beziehungsweise das Problem der historischen Einordnung und Aufarbeitung der Zeit

des Nationalsozialismus in das österreichische Nationalbewusstsein war die Hauptursache für

die Spannungen und Unsicherheiten im Selbstbild der Österreicher*innen der späten 1980er

Jahre.390

Dieser Bruch im Selbstbild der österreichischen Bevölkerung machte sich m.E. bei der ersten

Regierungskoalition zwischen der ÖVP und der FPÖ im Jahr 2000 bemerkbar, die trotz heftiger

nationaler und internationaler Kritik angelobt wurde und zu einem Bruch mit der seit den

Nachkriegsjahren geführten Politik führte. Die von den Alliierten kritisch betrachtete ,vierte

Partei‘ wurde somit auf dem politischen Parkett Österreichs nicht nur als salon-, sondern auch

als regierungsfähig erklärt.

Die geplante Koalition von ÖVP-Schüssel und FPÖ-Haider zog nach der Angelobung

Sanktionen der EU nach sich sowie eine Schwächung der bilateralen Beziehungen. Erst am 12.

September 2000 wurden die ,Maßnahmen’ der 14 EU-Mitgliedstaaten von der französischen

Ratspräsidentschaft aufgehoben. Auch innenpolitisch sorgte die Koalition für

Großdemonstrationen, Initiativen und Kundgebungen. Der amtierende Bundespräsident

Thomas Klestil weigerte sich, zwei Minister aus der FPÖ aufgrund ihrer Geistesgesinnung

389 Vgl. TRIBUTSCH / ULRAM, 1918, 1938, 2008. 2008. https://images.derstandard.at/20080312/1918-1938-

2008.pdf [5.10.2020]. S. 3. 390 Vgl. UHL, Zwischen Versöhnung und Verstörung. 1992. S. 88. – S. 89.

Page 103: Das österreichische Nationalbewusstsein

102

anzugeloben und forderte von den angehenden Regierungsparteien ein, eine Präambel zum

europäischen Wertekatalog abzugeben.391

Der programmatische Paradigmenwechsel in der österreichischen Politik zeichnete sich durch

eine völlig neue Schwerpunktsetzung in der Wirtschafts- und Sozialpolitik in Richtung

Neoliberalismus sowie einer Schwächung der Sozialpartner aus.392

Die Regierung Schüssel I hatte die Folge, dass nicht nur internationaler, sondern auch innerer

Zweifel an Österreichs Demokratie aufkam. Ein Großteil der österreichischen Bevölkerung sah

seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs erstmals wieder die Demokratie in Österreich in Gefahr.

Der Unmut und die Spaltung der österreichischen Gesellschaft gipfelte in zwei

Demonstrationen gegen ‘Schwarz-Blau’ am 3. März 2001 und am 2. Februar 2002.

Im Jahr 2002 kam es schließlich zum Bruch der Regierung Schüssel I. Bei den

Nationalratswahlen im Jahr 2002 verlor die FPÖ 16,90 %, während die ÖVP 15,39 %

dazugewinnen konnte. Im Folgejahr kam es nichtsdestotrotz zu einer weiteren Koalition

zwischen ÖVP und FPÖ (ab 2005 BZÖ), die bis 2007 andauerte.393

Während die Regierungen Schüssel I und II innenpolitisch zu einer Spaltung der

österreichischen Gesellschaft geführt hatten, sahen das die Österreicher*innen bei den

Nationalratswahlen im Jahr 2017 anders. Laut einer Umfrage, die vom Market-Institut in

Auftrag gegeben wurde, gab nur etwa ein Drittel der Befragten an, dass die internationalen

Reaktionen auf die österreichische Regierung wichtig seien.394

Indem den internationalen Stimmen wenig Gewicht eingeräumt wird, lässt sich in Bezug auf

das österreichische Nationalbewusstsein ein ‘Inselbewusstsein’ ausmachen: Die österreichische

Politik sei dieser Haltung nach Sache des österreichischen Volkes.

Welcher Bedeutung das internationale Ansehe zugemessen wurde, hing wiederum von der

Parteipräferenz der jeweiligen befragten Personen ab. So gaben Personen, die SPÖ und Grüne

präferierten deutlich häufiger an, dass die internationale Bewertung Österreichs, zu beachten

sei. Präferenten*innen von ÖVP und FPÖ wiederum maßen den internationalem Ansehen

Österreichs wenig Bedeutung zu.395 Dies zeigt die kohärente, kontinuierliche, gespaltene

Selbstsicht der österreichischen Bevölkerung.

391 Vgl. http://www.demokratiezentrum.org/wissen/timelines/die-erste-oevp-fpoe-koalition.html [01.11.2020] 392 In Bezug auf die politische Wende nach 2000 vgl. OBINGER Herbert/ TALÓS Emmerich, Sozialstaat

Österreich zwischen Kontinuität und Umbau. Eine Bilanz der ÖVP/FPÖ/BZÖ-Koalition. Verlag für

Sozialwissenschaften, Wiesbaden. 2006. 393 Vgl. http://www.demokratiezentrum.org/wissen/timelines/die-erste-oevp-fpoe-koalition.html [01.11.2020] 394 Vgl. https://www.market.at/market-aktuell/details/fpoe-in-der-regierung-eine-oesterreichische-entscheidung-

und-kein-fall-fuer-internationale-

proteste.html?fbclid=IwAR23Gu64sm_5WR4p8Wo5wY443b2i8mI5mDIKmhjjGwfq-9IT-gARyFMHTSA 395 Vgl. ebda.

Page 104: Das österreichische Nationalbewusstsein

103

7 Elemente/Merkmale des österreichischen Nationalbewusstseins/ des

österreichischen Identitätsbildes

7.1 Typisch österreichisch! Selbst- und Fremdbilder

Wie im Kapitel 2 beschrieben, definieren sich ,Wir-Gruppen‘ durch In- und Exklusion. Um sich

von anderen Nationen abzugrenzen, wird dabei nicht nur auf Symbole, sondern auch auf

selbsterschaffene Stereotype zurückgegriffen. Die Erschaffung von Selbst- und Fremdbildern

war bereits von frühen Stämmen ein beliebtes Mittel, um sich von anderen zu unterscheiden.

Die Abgrenzung wird meist durch materialistische Dinge, wie zum Beispiel Uniformen,

Trachten oder speziellen Bewaffnungen, erreicht. Über die materialistische Abgrenzung hinaus

wird auch ein eigener Nationalcharakter, um sich von anderen Nationen abzugrenzen, erfunden.

Dieser wird dabei stets mit positiven Werten und Eigenschaften wie Ehrlichkeit, Tapferkeit,

Klugheit usw. besetzt. Anderen Nationen und Fremdgruppen werden eher negative Werte und

Eigenschaften wie Dummheit, Falschheit, Vertrauensunwürdigkeit und Feigheit usw.

zugeschrieben. Um diese Wertzuschreibungen Nachdruck zu verleihen und um eine möglichst

große allgemeine Akzeptanz und Verbreitung dieser zu erreichen, werden sie nicht nur mit den

eigenen Stammes- und Nationsbildungsmythen, sondern auch mit geschichtlichen Tatsachen

und Differenzierungsmitteln wie Tracht, unterschiedliche Waffenarten und Bräuche in

Verbindung gebracht. Bruckmüller hebt hervor dass, diese Zuschreibungen durch die

Nationsbildungsprozesse im 19. Jahrhundert verbreitet und popularisiert wurden. In dieser Zeit

wurden sie auch verstärkt für die politische Propaganda verwendet, um möglichst große Massen

aktivieren zu können. Bei der Erschaffung solcher Nationalcharaktere sollte stets eine Identität

kultiviert werden, die durch ein positives, überlegenes Selbstbild und ein diffamierendes,

negatives Fremdbild von anderen Gruppen und Nationen charakterisiert ist.396

In diesem Zusammenhang ist auch die sogenannte ,Steirische Völkertafel‘ zu erwähnen, die im

18. Jahrhundert angefertigt wurde und gemäß ihrem Titel eine ,Kurze Beschreibung der In

Europa Befintlichen Völckern Und Ihren Aigenschaften‘ liefern soll. Vielmehr handelt es sich

um eine stereotype Darstellung von zehn Nationen, die etwa nach den Kriterien ,Sitten‘,

,Verstand‘, ‚Untugent‘, ,Krigs Tugente‘, ‚Tracht der Klaidung‘ etc. miteinander verglichen

werden.397

Die Erschaffung von positiven Selbst- und negativer Fremdbilder sollte unter anderem dazu

dienen, die Opferbereitschaft und die Loyalität der Menschen für politische Zwecke und Kriege

396 Vgl. BRUCKMÜLLER, Österreichbewußtsein im Wandel. 1994. S. 121. 397 https://www.volkskundemuseum.at/onlinesammlungen/oemv30905

Page 105: Das österreichische Nationalbewusstsein

104

zu steigern. Abgesehen von der politischen Instrumentalisierung von konstruierten

Nationalcharakteren dienen Klischees, Vorurteile und Stereotype in erster Linie dazu, der die

Komplexität des sozialen Zusammenlebens zu vereinfachen.

Stereotype basieren schließlich auch zu einem gewissen Teil auf reale durch

Sozialisierungsprozesse entstandene Unterschiede zwischen Gruppen.398 Deshalb ist es

wichtig, sich der Entstehung, Funktion sowie der möglichen Instrumentalisierung die mit

Vorurteilen und Stereotypen einhergeht, bewusst zu sein und diese auch zu hinterfragen.

Diesbezüglich können Zuschreibungen sowie Fremdbilder einen positiven Einfluss auf das

Selbstbild einer Nation haben, indem diese zur Selbstreflexion beziehungsweise zur

Modifikation des eigenen Bildes führen.

Dies war zum Beispiel in den 1980ern der Fall, als die kritischen Fremdbilder anderer Nationen

über Österreich dazu führten, dass Österreich sein Selbstbild entsprechend anpasste. Man wich

vom Selbstbewusstsein von der ‚Insel der Seligen‘ ab und betonte wieder alte Traditionen und

kulturelle Leistungen, die weniger Angriffsfläche für Kritik boten. Dabei verlagerte man die

identitätsstiftenden Merkmale wieder weiter zurück in die Vergangenheit der Geschichte

Österreichs. Das Fremdbild kann aber auch das Selbstbild selbst beeinflussen. Zum Beispiel

kann das Bild der*des freundlichen, toleranten und charmanten Österreicher*in im Ausland,

dazu führen, dass sich der*die bewusste Österreicher*in verstärkt in diese Rolle begibt, um dem

Stereotyp zu entsprechen. Wie bereits erwähnt, greift man hierbei auch auf die Österreichbilder

der Vergangenheit zurück. In der Tradition der Autoren Franz Grillparzer und Anton Wildgans

wird das gute und schöne Land Österreich hervorgehoben. Österreich wird mit Begriffen wie

Gastfreundschaft, Gemütlichkeit und genussvollem Leben assoziiert. Dabei ist beachtlich, dass

das Phäakenstereotyp, welches seit dem Spätmittelalter für den im heute österreichischen

Gebiet lebenden Menschen prägend ist, und noch immer für das Selbst- und Fremdbild der

Österreicher*innen eine Basis bietet.399

Man könnte hier auch den Einwand erheben, dass es schlicht an neuen Klischees, die sich

positiv auf das österreichische Bild auswirken könnten und möglichst kritikerhaben sind

mangelt und man sich deshalb auf diese alten Stereotype stützen muss. Hierbei hat sich die

Betonung auf das landschaftlich schöne, kulturelle Österreich über lange Zeit bewehrt, auch

wenn diese geografisch gegeben beziehungsweise Leistungen längst vergangener Zeiten sind.

In der Nachkriegszeit wurden vor allem von der ÖVP (besonders von Felix Hurdes und Alfred

Missong) und von der KPÖ (vorrangig von Ernst Fischer) an der Förderung eines möglichst

398 Vgl. BRUCKMÜLLER, Österreichbewußtsein im Wandel. 1994. S. 122. 399 Vgl. ebda. 1994. S. 122. – S. 123.

Page 106: Das österreichische Nationalbewusstsein

105

allgemein akzeptierbaren österreichischen Selbstbildes gearbeitet. Beide Parteien bedienten

hierbei alte Stereotype wie dem Phäakenstereotyp. Sie betonten gleichermaßen die

Besonderheit des österreichischen Volkes, nicht nur germanischer Herkunft, sondern eine

Vermischung verschiedener Nationalitäten zu sein. Die Zeit Maria Theresias wird von beiden

Parteien glorifiziert. Auch förderten beiden Parteien das Bild des*der toleranten und

künstlerischen (vor allem in musikalischer Hinsicht) Österreichers*in. In einem entscheidenden

Punkt unterschieden sich KPÖ und ÖVP aber wesentlich: Die ÖVP vertrat die Ansicht eines

konservativen Österreichs und die kommunistische Partei stand für ein fortschrittliches

Österreich. Auffallend ist, dass sich die SPÖ lange – bis etwa zur Ära Kreisky – kaum bei der

Konstruktion eines „neuen“ Österreichbildes beteiligte.400 Dies könnte auf die anfängliche

Skepsis der SPÖ gegenüber einer Nation Österreich zurückzuführen sein.

Erst mit der Etablierung der Zweiten Republik vertrat die SPÖ das Bild eines zwar

kleinstaatlichen, aber international anerkannten Österreichs, an dem die erfolgreiche Politik der

SPÖ wesentlichen Beitrag hatte und Bruno Kreisky zur Leitfigur der österreichischen Identität

stilisiert wurde. Dabei wurde es im sozialdemokratischen Österreichbild vermieden, die Zeit

der Habsburger und der Monarchie zu erwähnen. Mindestens ebenso alt wie die positiven

Zuschreibungen sind jedoch auch die negativen Klischees. Österreich wurde als Land der

Antiintellektualität, der Intoleranz und der Unterdrückung dargestellt. Von diesen alten

Klischees machten unter anderem Deutschnationale, Protestanten, Nationalsozialisten und auch

Sozialisten Gebrauch. In der Zweiten Republik, vor allem verstärkt durch die Waldheimaffäre,

konstituierte sich ein Fremdbild von Österreich als Land der Unehrlichkeit und des blinden

Eigensinns, als Land der Skandale und eigentlichen Geburtsortes des Nationalsozialismus, das

sich davor scheut, sich an die Zeit des Nationalsozialismus zu erinnern, und sich aus der

Konfrontation mit diesem Problem „wurschtelt“.401 Bruckmüller stellt die These auf, dass der

Waldheimkonflikt nur deshalb so hohe Wellen schlagen konnte, weil diese negativen Klischees

bereits im Inneren sprich im Unterbewusstsein der österreichischen Gesellschaft vorhanden

waren.402

Es sei an dieser Stelle erwähnt, dass in der bildenden Kunst ab 1945 immer wieder die

Nichtaufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit Österreichs sowie die Einbindung

der ,Ehemaligen‘ aufgezeigt wurde. Neben vielen anderen denke man hierbei etwa an den Maler

Gottfried Helnwein, der durch sein Bild Lebensunwertes Leben (1979) und einen dazu

400 Vgl. BRUCKMÜLLER, Österreichbewußtsein im Wandel. 1994S. 123. 401 Vgl. ebda. 123. – S. 124. 402 Vgl. BRUCKMÜLLER Ernst, Nation Österreich. Kulturelles Bewußtsein und gesellschaftlich-politische

Prozesse. Böhlau Verlag, Wien. 1996. S. 111. IN: ECKER Alois / SPERL Alexander (Hrsg.), Österreichbilder

von Jugendlichen. Zum Einfluss audiovisueller Medien. New academic press, Wien. 2018. S. 89.

Page 107: Das österreichische Nationalbewusstsein

106

abgedruckten Brief im Nachrichtenmagazin Profil auf die Karriere des Gerichtspsychiaters

Heinrich Gross aufmerksam machte, der im Sinne der nationalsozialistischen Rassenforschung

in der psychiatrischen Euthanasie-Klinik Am Spiegelgrund zahlreiche Gift-Morde an Kinder

verantwortete. Ungeachtet der Aussagen des Überlebenden Friedrich Zawrel wurde Heinrich

Gross nie zur Verantwortung gezogen.403

Das Bild der Österreicher*innen von sich selbst stellt sich als inkonsistent dar. So wurden vor

1980 noch der Sport und die Außenpolitik als Dinge, auf die man stolz ist, genannt. Um 1987

besann man sich jedoch wieder auf die kulturellen Leistungen und auf traditionelle Werte. Die

,alten‘ Werte bewährten sich in diesem Zusammenhang, da sie – wie bereits ausgeführt –

aufgrund ihrer Historizität nicht mehr Abhanden oder in Verruf geraten konnten. Somit stellen

sie auch heute noch einen bedeutenden Teil des österreichischen Selbstbildes dar. Bezüglich

ihres Wesens erfüllen beziehungsweise schreiben sich Österreicher*innen selbst alte Klischees,

wie zum Beispiel, dass sie gemütlicher und ein wenig ungenauer und arbeitsunwilliger als ihre

deutschen Nachbarn erscheinen, zu.

Diese Charakterzuschreibungen stützt eine im Jahr 1984 durchgeführte Untersuchung von

Reiterer, in der der*die „typische“ Österreicher*in durch Charaktereigenschaften ermittelt

werden sollte. Insgesamt wurden 23 verschiedene Eigenschaften genannt, die in drei Kategorien

aufgeteilt wurden. Adjektive wie „gemütlich“, „lustig“ und „musikalisch“ wurden dabei am

häufigsten genannt. Dieses Selbstbild stimmte auch zu einem großen Teil mit den Fremdbildern

überein. Die Österreicher*innen sahen sich selbst also auch als musikalische, lebensfrohe und

gastfreundschaftliche Menschen. Ebenso ergab sich durch die Nennungen, dass sich die

Österreicher*innen selbst als weniger leistungsorientiert und gemütlich wahrnehmen, was

ebenfalls mit dem Fremdbild Österreichs übereinstimmte.404

Wenn man die Studien von Diem und Reiterer zum Selbstbild der Österreicher vergleicht, so

lässt sich feststellen, dass sich das österreichische Selbst- und Fremdbild in 30 Jahren nicht

wesentlich verändert hat. Die Eigenschaften ‚gemütlich‘, ‚musikalisch‘ und ‚lebensfroh‘, die

übergreifend bei den Studien zur Selbstbeschreibung der Österreicher*innen am häufigsten

genannt wurden, erweisen sich als konsistent.

Österreich wird von außen als Kultur- und Bergland wahrgenommen. Dabei steht die Musik,

der Schisport und das gemütliche Gemüt des österreichischen Volkes im Vordergrund. Jedoch

403 BORCHHARDT-BIRBAUMER Brigitte, „Köpferl im Sand“? Die Aufarbeitung des Nationalsozialismus in

der Wiener Kunstszene. 2020. S. 72. IN: SCHRÖDER Klaus Albrecht (Hrsg.), The Beginning. Kunst in

Österreich 1945-1980. Hirmer, Wien. 2020. S. 60-73. 404 Vgl. REITERER Albert (Hg.), Nation und nationales Bewußtsein. Ergebnisse einer empirischen

Untersuchung. Mit Beiträgen von Wilhelm Filla, Ludwig Flaschberger und Albert. F. Reiterer. Verband der

wissenschaftlichen Gesellschaften Österreichs, Wien 1988. S. 103.

Page 108: Das österreichische Nationalbewusstsein

107

wird Österreich auch mit negativen Werten besetzt. Nationen wie etwa die USA, Israel,

Niederlande oder auch Slowenien assoziierten Österreich mit dem Nationalsozialismus, dabei

wurde dieses negative Bild durch die Ereignisse von 1986 bis 1989 bestärkt. Auch bei

Umfragen bezüglich des Neonationalsozialismus stand Österreich gleich an unmittelbarer

zweiter Stelle nach Deutschland.405

Als der Prototyp des typisch österreichischen Menschen wurde von den Österreichern*innen

der*die Wiener*in gesehen. Aber auch die Tiroler*innen und Salzburger*innen wurden im

Vergleich zu anderen sehr oft genannt. Am ‚untypischsten‘ österreichisch wurden die

Burgenländer*innen und Vorarlberger*innen genannt. Diese Wahrnehmung wird etwa auch

von den Vorarlberger*innen selbst geteilt, die eher Wiener*innen und Tiroler*innen als

‚typische‘ Österreicher*innen sehen und sich an letzte Stelle der ‚typischen Österreicher‘

setzten. Auch in diesen von Peter Diem geleiteten Untersuchungen wurde nach Stereotypen

gesucht und dabei festgestellt, dass hier zum Teil divergierende und alte Selbstbilder existierten.

So werden die Wiener*innen als fröhliche, aber faule, verschwenderische Menschen gesehen.

Des Weiteren gelten sie im Vergleich zu den anderen Bundesländern als eher kultiviert und

fortschrittlich. Die Wiener*innen schreiben sich diese Eigenschaften aber selbst nicht zu. Auch

die äußerlichen Fremdbilder der Wiener*innen als lebenslustige und kulturelle Menschen

weichen hier vom Selbstbild der Wiener ab, welches durchaus vielschichtiger ist.406

Bruckmüller verweist darauf, dass trotz der vielen Stereotypen und Wesenszuschreibungen es

trotzdem schwierig ist, ein österreichisches Nationalbewusstsein empirisch festzulegen. Denn

dazu müssten klar identifizierbare regelmäßige Verhaltensweisen in der jeweiligen Nation

vorhanden und feststellbar sein.407

Natürlich wäre dazu nicht erforderlich, daß jeder Österreicher ein raunzender Hofrat ist, der gleichzeitig

einen Gamsbart auf den Hut trägt, einen Einspänner mit Schlag zu sich nimmt, genüßlich sein Backhendl

vom Mittagessen Revue passieren läßt und dabei die ‚Unvollendete‘ summt.408

Für eine aussagekräftige Darlegung bedürfe es, dass eine repräsentative Menge der

österreichischen Bevölkerung, eine gemeinsame Vorstellung bildet und sich diese im

alltäglichen Leben und Handeln nachvollziehbar zeigt. Darüber hinaus muss sich diese

Vorstellung klar von jenen anderer Nationen unterscheiden und abgrenzen. Bruckmüller betont,

dass die Spezialisierung solcher unterschiedlichen Verhaltensstrukturen und Vorstellungen

durch Faktoren wie die Modernisierung und Individualisierung immer geringer werden.409 Da

405 Vgl. BRUCKMÜLLER, Österreichbewußtsein im Wandel. 1994. S. 124. – S. 126. 406 Vgl. ebda. S. 21. – S. 22. 407 Vgl. ebda. S. 147. 408 Ebda. 409 Vgl. ebda. S. 147. – S. 148.

Page 109: Das österreichische Nationalbewusstsein

108

durch diese Entwicklungen der Zwang einer notwendigen Differenzierung und Abgrenzung

zunehmend schwindet.410

Folglich schwächt die Modernisierung die Spezialisierung von nationalen kollektiven

Bewusstseinsinhalten.

Wenngleich sich ein klarer österreichischer ‚Nationalcharakter‘ nur schwer wissenschaftlich

definieren lässt, so lassen sich jedoch kollektive Vorstellungen, Selbst- und Fremdbilder und

Stereotype identifizieren. Daraus lässt sich auch zumindest eine kollektive Mythologie

ausmachen, die sich darin zeigt, dass die Österreicher*innen auch eine bestimmte Rolle

einnehmen. Dies lässt sich zum Beispiel im Neutralitätsmythos erkennen, der, die

Rollenannahme Österreichs als Kleinstaat repräsentiert, und zugleich sinnbildlich für die

Ablegung alter Rollen und Vorstellungen steht. Diesbezüglich ist erstaunlich, wie viel von den

Mustern und Vorstellungen über alte Stereotype, wie jenes des ‚Phäakenstereotypen‘, nach wie

vor im österreichischen Selbst- und Fremdbild vorhanden ist.411

7.2 Das Österreichbild der Gegenwart / der Schülergeneration

Im vorigen Kapitel wurde das „typisch Österreichisch“ dargestellt. Hierbei dominierten

Begriffe wie: Natur, Kultur, Essen, Mentalität und Sport. Bei der Frage nach der österreichische

Identität wurde bei den Umfragen ab den 2000er Jahren neben diesen Begriffen auch konkrete

Orte und Personen genannt. Dies zeigt, dass die Elemente der österreichischen Identität

vielfältig und nicht auf einzelne wenige reduzierbar sind. Wenn man die Ergebnisse der Market-

Umfrage von 2009 und 2012 miteinander vergleicht, so ist bei den Ergebnissen der Antworten

auf die Frage „Worauf sind Sie als Österreicher*in besonders stolz?“ zu erkennen, dass die

landschaftliche Schönheit, die Tradition und die österreichische Küche konstant hohe Werte

erzielten und dass etwa der Stolz auf die sportliche Leistung sowie auf die hohe soziale

Sicherheit deutlich weniger häufig genannt wurden.412

Auffallend ist, dass Medien wie Zeitungen (der Standard, Presse, Österreich) und der ORF

(Österreichische Rundfunk) in den 2010er Jahren wieder verstärkt die österreichische Identität

als Thema in ihrem Programm aufgenommen haben. Der ORF initiierte seit 2010 eine Reihe

von Reportagen und Dokumentarfilmen, welche ein Österreichbild, wie es vergleichsweise in

der Nachkriegszeit geprägt wurde, zeigten.413 Dies waren Formate wie Österreich Box (2010),

Jahrzehnte in Rot-Weiß-Rot (2012), Österreich II (als Neuauflage im Jahr 2013) und

410 Vgl. BRUCKMÜLLER, Österreichbewußtsein im Wandel. 1994. S. 147. – S. 148. 411 Vgl. ebda. S. 147. – S. 148. 412 Vgl. ECKER / SPERL (Hrsg.), Österreichbilder von Jugendlichen. 2018. S. 87. – S. 93. 413 Vgl. ebda. 95. – S. 98.

Page 110: Das österreichische Nationalbewusstsein

109

Generation Österreich (2014). In den Sendungen und Filmen sollten identitätsstiftende

Ereignisse um die Nationswerdung Österreichs in der Zeit nach 1945 aufgegriffen und

vermittelt werden. Da sich diese Filme somit eher an alten Österreichbildern orientierten, ist

fraglich, ob diese die jüngeren Generationen erreichte. Hierbei lässt eine durchgeführte Studie

von Sperl und Kragolnik erkennen, dass aktuelle Themen wie die Flüchtlingskrise, EU-

Abstimmung und Falco beziehungsweise deren Darstellung von den österreichischen

Jugendlichen gut erkannt werden. Ebenso gut erkannt werden alte Themen und

Österreichklischees wie Oper, Staatsvertrag und die Spanische Hofreitschule. Jedoch

verdeutlichte die Studie auch, dass die dargestellten Bilder, Personen und Ereignisse, die der

ORF als typisch österreichisch stilisiert hatte, kaum Widererkennungswert bei den

Jugendlichen hatten. Somit haben die Österreichbilder, die vom ORF oder auch von

Schulbüchern vermittelt werden sollten, eher wenig Bedeutung für das Österreichbild der

heutigen Schülergeneration.414

Um das entsprechendes Österreichbild der Jugendlichen konstruieren zu können, hielten Sperl

und Kragolnik eine Befragung, bei der 310 Schüler*innen auf folgende Frage: „Bitte gib an,

welche historischen Ereignisse oder Personen aus der Zeit nach 1945 du mit Österreich

verbindest.“415 Nennungen abgeben konnten. Insgesamt gab es 2 671 Nennungen, davon

wurden 1 633 Themen und 1 038 Personen genannt. Betrachtet man die 25 am häufigsten

genannten Themen und Personen, so ergibt sich folgendes Bild: Der am häufigsten von den

Schüler*innen genannte Themenbereich war Politik. Politische Ereignisse lagen noch vor

Kultur, Kunst, Tradition und Tourismus an erster Stelle. Dieses Ergebnis widerspricht also dem

offiziellen, von den Medien und der Tourismusindustrie verbreiteten, Österreichbild. Die

politischen Spitzenthemen waren dabei EU-Themen 23%, Flüchtlingskrise 16%, Innenpolitik

13%, Zweiter Weltkrieg 12% und Nachkriegszeit 6%. Der Rest der Nennungen teilte sich auf

nichtpolitische Themen wie das Fußballnationalteam 14%, den Eurovision Song Contest 14%

und andere auf. Bei den genannten bedeutenden österreichischen Personen ergeben sich bei den

Umfragen drei Personengruppen, die deutlich öfter als andere genannt wurden. Diese Gruppen

bildeten sich aus den Bereichen Sport, Kunst und Politik. Wobei die Personengruppe

‚Sportler*in‘ mit 38% an erster Stelle, gefolgt von ‚Künstler*in‘ (32%) und ‚Politiker*in‘

(26%), stand.416 Fasst man jedoch die Ergebnisse der Themenbereich- und Personennennungen

zusammen, so ergibt sich, dass insgesamt der Bereich der Politik die größte Bedeutung für das

414 Vgl. ECKER / Alexander (Hrsg.), Österreichbilder von Jugendlichen. 2018. S. 95. – S. 98. 415 Ebda. S. 100. 416 Vgl. ebda. S.100. – S. 102.

Page 111: Das österreichische Nationalbewusstsein

110

Österreichbild der Jugendlichen einnimmt.417 Außerdem unterscheiden sich die erstrangingen

Themen der weiblichen von jenen der männlichen Befragten. So stellt der Eurovision Song

Contest für die Schülerinnen eine größere Bedeutung für das Österreichbild als für ihre

männlichen Mitschüler dar, für die im Vergleich der Fußball eine übergeordnete Rolle für das

Österreichbild spielt. Sowohl bei den männlichen als auch weiblichen Befragten nahm der

Zweite Weltkrieg als politisches Thema die wichtigste Stelle ein. In einer Nachbefragung

wurden auch die Bereiche der Natur- und der Kulturlandschaften, welche in der Nachkriegszeit

medial zu einem bedeutenden Merkmal des österreichischen Nationalbewusstsein stilisiert

wurden, aufgegriffen. Hierbei stellte man den Schüler*innen „Wenn du einem Außerirdischen

eine/n für Österreich ‚typische/n’ Ort/Stadt zeigen müsstest, um welche/n würde es sich

handeln?“ und „Wenn du einen Außerirdischen eine für Österreich ‚typische‘

Region/Landschaft zeigen müsstest, um welche/n würde es sich handeln?“418. Die Antworten

ergaben, dass hier eine breite Überschneidung mit den Bildern, die durch Fernsehsendungen

und Dokumentationen vermittelt wurden, herrscht. Die Landschaft kommt in der medialen

Vermittlung durch Filme, auch wenn sie nicht der primäre Gegenstand der Darstellung ist,

meistens im Hintergrund vor. So sind sehr oft bedeutende Bauten im Hintergrund zu sehen,

wenn etwa ein politisches Thema beleuchtet wird, zum Beispiel das Parlament, Schloss

Belvedere oder die Hofburg. Auch in Übertragungen von Sportveranstaltungen, vor allem im

Wintersport, wird die Schönheit der Schnee- und Alpenlandschaft Österreichs dargestellt.

Bruckmüller hebt hervor, dass Landschaft, Natur- und Kulturlandschaft selbst

Identifikationsfaktoren und Symbole für ein neues österreichisches Nationalbewusstsein sind

und, dass sie zu einem gewissen Grad bereits in der Ersten Republik als solche hervorgehoben

wurden. Darauf knüpfte man in der Nachkriegszeit nach dem Zweiten Weltkrieges an und auch

heute bleiben Natur, Landschaft und Kulturlandschaft wichtige Identifikationsmerkmale in der

Vermittlung des Österreichbildes.419 Bei der Frage, welche für Österreich typische

Landschaft/Region beziehungsweise Stadt die Schüler*innen einem Außerirdischen zeigen

würden, wurden die Alpen und Wien am häufigsten genannt. Die landschaftliche Schönheit

stellt darüber hinaus den wichtigsten Grund der Österreicher*innen für ihre Liebe zu ihrem

Heimatland dar. Dies zeigte bereits 1980 das Ergebnis, der durch die Paul-Lazarsfeld-

Gesellschaft durchgeführten Studie, bei der die Schönheit des Landes von 97% der Befragten

noch knapp vor dem Faktor des politischen und sozialen Friedens (96%) genannt wurde.420

417 Vgl. ECKER / SPERL (Hrsg.), Österreichbilder von Jugendlichen. 2018. S. 102. 418 Ebda. S. 104. 419 Vgl. ebda. S. 104. – S.106. 420 Vgl. ebda. S. 115.

Page 112: Das österreichische Nationalbewusstsein

111

Sperl und Kragolnik befragten die Schüler*innen in ihrer Studie von 2018 auch nach dem*der

‚typischen Österreicher*in‘.

Die Schüler und Schülerinnen sahen dabei den typische*n Österreicher*in als Künstler*in

(101), gefolgt von der Sparte der Sportler*innen (52) und der Politiker*innen mit 32

Nennungen. Interessant ist, dass aus der Reihe der Codierungen für männliche Künstler, der

Name Falco mit mehr als zwei Drittel der Nennungen deutlich heraussticht und auch in der

kategorisierten Befragung zum typischen Österreicher am häufigsten genannt wurde. Dies ist

einerseits erstaunlich, da die befragten Schüler*innen Falco selbst nicht mehr erlebten, da dieser

im Jahr 1998 verstarb.421

Die signifikant häufigeren Nennungen dürften auf die starke mediale Aufbereitung Falcos

Leben und die Vermittlung seines Wirkens durch ältere Generationen sein.

Insgesamt wurde 57 Männer von den Schüler*innen genannt. Die nach Falco am häufigsten

genannten charakteristischen, männlichen Österreicher waren: Andreas Gabalier, Marcel

Hirscher, Heinz Fischer, Edmund Sackbauer (Karl Merkatz), Arnold Schwarzenegger und Felix

Baumgartner. Auffällig ist, dass Personen aus der Musikbranche, wie zum Beispiel Andreas

Gabalier, deutlich öfter von Schülerinnen als von Schülern genannt wurden. Falco (Johann

Hölzl) wurde dabei als einziger Musiker von beiden Geschlechtern gleich häufig als typischer

Österreicher genannt. Des Weiteren ergab sich, dass männliche Schüler bei der Frage nach dem

charakteristischen männlichen Österreicher öfter einen Sportler nennen als Schülerinnen. Der

typische männliche Österreicher kommt für die Schüler*innen zusammenfassend also eher aus

der Künstler- und Sportlersparte. Die ‚typische Österreicherin‘ wurde bei den Schüler*innen

meist in einer Person aus dem Sportbereich gesehen. Stark vertreten waren hierbei Schi- und

Alpinsportlerinnen. Auffällig ist, dass generell bei der Befragung nach der*dem typische*n

Österreicher*in insgesamt, also die Nennungen beider Geschlechter zusammengezählt, deutlich

weniger weibliche als männliche Vertreter genannt wurden. Sperl und Kragolnik führen dies

auf eine mögliche Unterrepräsentation von weiblichen, bedeutenden Personen in den

Lehrbüchern und die mangelnde Darstellung der Rolle der Frau zurück. Die am häufigsten

genannte Frau bei der Befragung nach der typischen Österreicherin war Anna Fenninger. An

zweiter Stelle wurde Conchita Wurst, gefolgt von Christina Stürmer und Helene Fischer,

genannt. Interessant ist, dass es sich ausschließlich um eine aktive oder ehemalige Skisportlerin

handelte, wenn eine Sportlerin als typische Österreicherin genannt wurde.422 Vergleicht man

dies mit den Nennungen der männlichen Sportler, so wurde zwar auch mit Marcel Hirscher ein

421 Vgl. ECKER / SPERL (Hrsg.), Österreichbilder von Jugendlichen. 2018. S. 120. 422 Vgl. ebda. S. 123. – S. 124.

Page 113: Das österreichische Nationalbewusstsein

112

Skifahrer am häufigsten genannt, jedoch fallen die Nennungen bezogen auf die Sportarten

wesentlich differenzierter aus als bei den weiblichen Sportlerinnen. So wurden neben Marcel

Hirscher auch Fußballer wie David Alaba, Toni Polster oder auch Extremsportler wie Felix

Baumgartner und Hermann Buhl genannt.423

Dies dürfte auf die mangelnde Übertragung von weiblichen Sportwettkämpfen abseits der

Alpinsportarten zurückzuführen sein: Man vergleiche hierbei die mediale Inszenierung,

Übertragungen und Übertragungszeiten (‚Primetimezuweisungen‘) von Fußballspielen von

männlichen und weiblichen Athleten. (Bundesliga, WM und EM etc.) oder auch

Wintersportarten wie Skilanglauf und Skispringen.

Betrachtet man die Genderverteilung, so ergibt sich, dass mehr Schüler*innen eine weibliche

Athletin als typische Österreicherin genannt haben. Anna Veith wurde zum Beispiel häufiger

von Schülern (32) als von Schülerinnen (28) gewählt.424 Zusammengefasst ist, wie bereits bei

den Ergebnissen zu der Befragung nach dem typischen Österreicher festzustellen, dass auch bei

der Frage nach der weiblichen Vertreterin der typischen Österrreicherin, Personen aus der

Politik deutlich weniger häufig genannt wurden. Auch Wissenschaftlerinnen und

Unternehmerinnen wurden kaum beziehungsweise gar nicht genannt. Somit lässt sich der

Schluss ziehen, dass Personen aus diesen Berufsgruppen, egal ob männlich oder weiblich,

wenig Relevanz für die Schüler*innen in Bezug auf die Frage nach den typischen

Österreicher*innen haben.425

Dies dürfte auf die fehlende mediale Präsenz von Vertreter*innen dieser Berufsgruppen

zurückzuführen sein, welche sicherlich einen enormen Einfluss auf die Jugendlichen und ihr

Bild des typischen österreichischen Menschen ausübt.

Die Ergebnisse, der von Sperl und Kragolnik durchgeführten Studie Das aktuelle

Österreichbild von 15-16-jährigen AHS-Schülerinnen und Schülern zeigt, dass sich das

Österreichbild der Jugendlichen zwar noch an den in der Ersten und besonders der Zweiten

Republik wiederaufgegriffenen und weiterentwickelnden Österreichbildern orientiert, doch

aber teilweise durch neue, andere gegenwärtige Bilder und Personen ersetzt worden sind. Die

alten historischen Stereotype sind den Jugendlichen zwar bekannt, jedoch haben diese keine

besondere Relevanz für deren Österreichbild. An die Stelle der alten Stereotype und Klischees

treten aktuelle Informationen über Persönlichkeiten oder Ereignisse, die den Jugendlichen

hauptsächlich über die Medien vermittelt werden.426 Was also als ‚österreichisch‘ von den

423 Vgl. ECKER / SPERL (Hrsg.), Österreichbilder von Jugendlichen. 2018. S. 123. – S. 124. 424 Vgl. ebda. S. 124. 425 Vgl. ebda. S. 124. – S. 125. 426 Vgl. ebda. S. 140.

Page 114: Das österreichische Nationalbewusstsein

113

Schüler*innen bewertet wird, wird über aktuelle Medien transportiert und nicht über

traditionelle Bilder und Rollenzuschreibungen. Wenn es eine Überschneidung zu den alten

tradierten Österreichbildern mit der Wahrnehmung der Jugendlichen gab, so ist es der Faktor

der landwirtschaftlichen Schönheit Österreichs noch vorhanden. Im politischen, historischen

und wirtschaftlichen Bewusstsein der Jugendlichen finden sich eher aktuelle Themen wie die

Flüchtlings- und Klimakrise. Aber auch der EU-Beitritt, die Währungsumstellung und der

Zweite Weltkrieg wurden als wichtige historische Ereignisse angegeben. In Hinblick auf das

Themenfeld Kultur wurde am häufigsten der Eurovision Song Contest 2014 angegeben. Im

Bereich Sport wurde die Qualifikation zur Fußball-EM 2015/16 am häufigsten genannt. Aus

dem Sport- und Kulturbereich wurden wiederum auch die meisten Personen als Vertreter*in

der*des typische*n Österreicher*in gewählt.427 Dies ist insofern interessant, als in den Studien

der 1980er Jahre, wie etwa in jener des Fessels Instituts für Meinungsforschung und der Paul

Lazarsfeld Gesellschaft für Sozial Forschung die für Österreich charakteristischen Personen, zu

einem Großteil aus dem Bereich der Politik kamen. In den Ergebnissen der Studien finden sich

Namen wie Bruno Kreisky, Alois Mock oder Karl Renner an erster Stelle und werden nur von

bedeutenden Künstler*innen aus dem Musikbereich wie Wolfgang Amadeus Mozart und

Johann Strauß gefolgt.428

427 Vgl. ECKER / SPERL (Hrsg.), Österreichbilder von Jugendlichen. 2018. S. 140. 428 Vgl. GEHMACHER, Das österreichische Nationalbewusstsein. Wien. 1982.

Page 115: Das österreichische Nationalbewusstsein

114

8 Ausblick – österreichisches Nationalbewusstsein in der Covid-19 Krise

Die Ereignisse und Entwicklungen der Covid-19 Krise lassen einen möglichen Rückschluss

darauf zu, in welche Richtung sich das österreichische Nationalbewusstsein entwickeln könnte.

Im Zuge der Covid-19 Pandemie und der von der Regierung gesetzten Maßnahmen kam es zu

einer Stärkung des österreichischen „Wir-Gefühls“. Der nationale Zusammenhalt sollte durch

Aufrufe der Regierung zur gemeinsamen Einhaltung der Maßnahmen und durch die

Verwendung von Begriffen wie ‚Team Austria‘ gestärkt werden.

Die Wiener Polizei spielte als Zeichen der Solidarität und des Zusammenhalts bei ihren

Streifenfahrten um 18:00 Uhr das Lied I Am from Austria von Reinhardt Fendrich.429

Aufgrund der verhängten Reisewarnungen über beliebte Sommerurlaubsländer der

Österreicher*innen wie Italien und Kroatien veranstaltete der ORF einen Sommer in Österreich

Programmschwerpunkttag, der am 21. Mai von 9:05 bis 23:30 Uhr ausgestrahlt wurde. Die

ausgestrahlten Sendungen sollten den Seher*innen die Vorzüge Österreichs als

Sommerurlaubsort vermitteln und zugleich ein „heimatliches Sommerfeeling in allen neun

Bundesländern in fiktionaler oder dokumentarischer Form verbreite[n]“.430 Die Sendung „Ein

Sommer in Österreich – Urlaub in Rot-Weiß-Rot“ um 20:15 Uhr war der Höhepunkt des

Programmtages. Inhaltich wurden in der Sendung pro Bundesland zwei Destinationen als

wertvolle Urlaubsziele porträtiert. Für die Moderation wurde der Ex-Skirennläufer Marcel

Hirscher engagiert.431 Die Sendung hob die Bedeutung der landschaftlichen und kulinarischen

Besonderheit Österreichs hervor. Somit zeigen sich diese beiden Faktoren, die seit Beginn der

Konstituierung des österreichischen Nationalbewusstseins eine große Bedeutung spielen, auch

in der Zeit der Covid-19 Pandemie als die einflussreichsten, identitätsstiftenden Faktoren des

österreichischen Nationalbewusstseins. Präsentiert werden diese zwei Faktoren dabei von

einem ‚typischen Österreicher‘, der sowohl geschlechter- und generationsübergreifend sehr

populär ist. Um die nationale Identität und Verbundenheit noch stärker anzusprechen, wurde in

der Sendung ein Szenenwechselbild verwendet, welches die österreichische Flagge auf

türkisem Grund zeigt, und das durch das Audiokommentar „Das ist Urlaub in Rot-Weiß-Rot“

untermalt wird. Dieser Szenenwechsel wiederholt sich durch die ganze Sendung und erreicht

durch das sich wiederholende Motiv der Österreichfahne und dem Audiokommentar eine

verstärkte Prägung der Zuseher*innen, die somit auf die Nationalfarben und den Slogan

„Urlaub in Rot-Weiß-Rot“ sensibilisiert werden.

429 Vgl. Fendrich zu Polizei-Aktion: „Bin sprachlos“. https://wien.orf.at/stories/3040243/ [01.11. 2020] 430 https://tv.orf.at/highlights/orf2/200521_ein_sommer_in_oe100.html [01. 11. 2020] 431 Vgl. ebda.

Page 116: Das österreichische Nationalbewusstsein

115

Fraglich ist noch, ob durch die gesetzten Covid-19 Maßnahmen wie die Schließung der Grenzen

zu ‚Risikostaaten‘, die Betonung von Regionalität und die Hervorhebung von Österreichs

schöner Landschaft zu einer Verstärkung des nationalen Inselbewusstsein führen.

Klar jedoch zeigt sich, dass während der Zeit von Covid-19 durch die Verwendung von Kriegs-

und Kampfmetaphern in der politischen Diskussion, das österreichische Wir-Gefühl gestärkt

werden soll. So wird „der gemeinsame Kampf gegen das Virus“ betont. Durch die Verwendung

von metaphorischen Kriegs- und Kampfkonzepten werden die Menschen auf emotionaler

Ebene erreicht, wodurch sie sich verstärkt als Teil einer Gemeinschaft, einer „Wir-Gruppe“

fühlen. Neben dieser ‚Kriegsrhetorik‘ im politischen Diskurs werden auch auf überparteilichen

Plattformen, wie oesterreich.gv.at ähnliche, jedoch etwas abgeschwächte wörtliche Strategien,

wie etwa „Gemeinsam gegen das Coronavirus“432 oder „Schau auf dich, schau auf mich.“433

verwendet. Außerdem ist auch ein Gebrauchszuwachs von Begriffen wie ‚Solidarität‘,

‚Gemeinschaft‘ und ‚Zusammenhalt‘ im Kontext der Covid-19 Pandemie zu beobachten.434

Wie sehr sich die Covid-19 Krise auf das österreichische „Wir-Gefühl“ und

Nationalbewusstsein auswirkt, wird sich aber erst zeigen, wenn es diesbezüglich Studien gibt.

432 https://www.oesterreich.gv.at/ [08.11.2020] 433 Ebda. 434 Vgl. Let’s talk about Corona. https://www.oeaw.ac.at/detail/news/lets-talk-about-corona

[08.11.2020]

Page 117: Das österreichische Nationalbewusstsein

116

9 Conclusio

Nationen zeichnen sich durch ein „Wir-Gefühl“ aus. Der subjektive Wille von Personen, einer

Nation anzugehören, wird maßgeblich von objektiven Faktoren, wie geografischen

Gegebenheiten, gemeinsamer Geschichte und gemeinsamer Sprache beeinflusst. Faktoren also,

die das Zusammenhörigkeitsgefühl einer Wir-Gruppe stärken und sie zugleich, aber nicht

notwendigerweise, von anderen Wir-Gruppen unterscheiden. Der gemeinsame Wille, einer

Nation anzugehören und die objektiven Faktoren, die die In- und Exklusion erleichtern, werden

meist im Zuge des Nationsbildungsprozesses – sprich in der weiteren Herausbildung des

nationalen Bewusstseins, durch Nationalcharaktere, Stereotype und Klischees verstärkt.

Hierbei entstehen Selbst- und Fremdbilder der Nationen, die sich wechselseitig beeinflussen.

Selbstbilder bewirken eine Anpassung der Fremdbilder und umgekehrt. Somit kommt es zu

einer ständig fortlaufenden Modifikation und Adaptierung des Nationalcharakters. Die

Entwicklung eines Nationalbewusstseins ist also ein stetiger, fortlaufender Prozess, der

abhängig von vielen inneren und äußeren Faktoren ist.

Mit dem Nationalismus kam es vor allem im 19. und 20. Jahrhundert zu einer Politisierung des

Nationsbegriff. Selbst- und Fremdbilder wurden verstärkt mit Wertungen versehen, wobei das

Selbstbild der eigenen Nation stets positiv und das Fremdbild einer anderen, fremden Nation

stets negativ, diffamierend dargestellt wurde. Diese Wertzuschreibungen wurden kultiviert und

gezielt für politische Propaganda eingesetzt und verbreitet, um einerseits das „Wir-Gefühl“, das

nationale Selbstbewusstsein und die Loyalität- beziehungsweise Opferbereitschaft der

Menschen zu stärken; andererseits um die eigenen Herrschafts- und Machtansprüche zu

legitimieren. Somit wurden Nationen nicht nur zu solchen künstlich erhoben, sondern auch als

Mittel zum politischen Zweck eingesetzt. Um das eigene Nationalbewusstsein und Selbstbild

zu fördern, griff man auf Abstammungsmythen und Nationalsymbolen wie Hymnen, Trachten,

Heldenfiguren und Flaggen zurück, oder erfand aus nur teilweise historisch belegbaren

Ereignissen den Entstehungsursprung der eigenen Nation.

Die österreichische Nation ist eine relativ junge Nation, die sich aber auf alten Werten,

Traditionen und Stereotypen, die es bereits vor einer österreichischen Nation und einem

österreichischen Nationalbewusstsein gab, stützt. Das ‚Reich‘ stand der Entwicklung eines

österreichischen Nationalbewusstsein zweimal im Weg. Einmal im Vielvölkerstaat der

Habsburger, in dem es nicht gelang, ein gesamtösterreichisches Nationalbewusstsein, welches

alle Nationalitäten des Reiches vereinigt, zu beschwören, da es dafür zu wenige

identitätsstiftende Faktoren gab und sich jedes Volk des Habsburgerreiches an einer seiner

Sprache und Kultur ähnlichen Nation orientierte. Die ‚Deutsch-Österreicher*innen‘ hatten aber

Page 118: Das österreichische Nationalbewusstsein

117

als einziges Volk nach dem Zerfall der Habsburger Monarchie ihren identitätsstiftenden Faktor,

der sie von den ‚Reichsdeutschen‘ unterschieden hatte, verloren, wohingegen alle anderen

ehemalig auf habsburgischem Gebiet lebenden Völker ihre nationale Präferenzen einnehmen

konnten. Der nach dem Ende des Ersten Weltkrieges durch den Friedensvertrag von Saint

Germain festgelegte Staatsname „Republik Österreich“ wurde von den – sich in einer

Identitätskrise wähnenden – Österreicher*rinnen als Schmach empfunden. Der Großteil der

österreichischen Bevölkerung bezweifelte, dass ein kleinstaatliches Österreich ein sinnvolles

und bedeutendes Dasein haben könnte. Der Weg aus der Identitätskrise und zugleich den

bedeutenden identitätsstiftenden Faktor sah man im Deutschtum. Österreich könne nur als ein

Teil einer großen Deutschen Kulturnation den Weg in die Bedeutungslosigkeit vermeiden. Die

Rückbesinnung und Hervorhebung der eigenen ‚vaterländischen‘ Werte und Traditionen kam

zu spät und konnte jenem, zuvor durch „entösterreichern[den]“435 dem Deutschtum

hingewandten Lehrplänen, eingepflanzten deutschnationalen Bewusstsein der

Österreicher*innen nicht mehr entgegenwirken, welches schließlich den Anschluss 1939 an

Hitler-Deutschland ermöglichte. Mit dem Anschluss war Österreich nicht nur seiner Identität

beraubt, es existierte als solches nicht mehr. In den Jahren von 1939 bis 1945 war Österreich

als Ostmark ein Teil des Deutschen Reiches. Doch obwohl der Staat Österreich nicht mehr

existierte, waren noch Spuren eines österreichischen Bewusstseins und Selbstverständnisses

vorhanden. Diese zeigten sich im Exil, im Widerstandskampf und auch latent etwa bei

Sportveranstaltungen wie Fußballspielen. Nach den erschütternden Erfahrungen, die die

Österreicher*innen als Teil eines Reiches erlebten, kam es zu einer Abkehr der

Großraumvorstellungen. Die kriegsgebeutelte Bevölkerung sehnte sich nach einer sicheren

Heimat. Als solches konnte das kleinstaatliche Österreich nun von den Österreicher*innen

akzeptiert werden. Doch was einer eigenständigen Nation Österreich und einem

österreichischen Nationalbewusstsein noch im Weg stand, war einerseits die Verbindung zu

Deutschland und andererseits die Besatzung der Alliierten Mächte. Für das erste Hindernis

wurde Österreich bereits mit der Moskauer Deklaration im Jahr 1943 ein Lösungsweg

vorgegeben, welcher entscheidend für die Zukunft des Landes war. Mit dem Wortlaut der

Moskauer Deklaration, der Österreich als erstes Opfer Nazideutschlands bezeichnete, wurde

der Grundstein für die Wiederherstellung Österreichs als freien Staat gelegt. Indem Österreich

die von den Siegermächten zugespielte Opfer-Rolle annahm, war eine Voraussetzung

geschaffen, die die Entwicklung des österreichischen Nationalbewusstseins maßgeblich

435 LEUTHNER Karl, Zit. nach HEER Friedrich, Der Kampf um die österreichische Identität, Wien/Köln/Graz.

1981. S. 341. IN: BRUCKMÜLLER Ernst, Symbole österreichischer Identität zwischen „Kakanien“ und

„Europa“. Wien. 1997. S. 34.

Page 119: Das österreichische Nationalbewusstsein

118

beeinflusste. Mit der Einnahme der Opfer-Rolle distanzierte sich Österreich nicht nur von den

deutschnationalen Tendenzen, sondern erreichte auch einen Sonderstatus bei den alliierten

Besatzungsmächten, der für die Entnazifizierung, die ‚re-orientation‘ und den Verhandlungen

um den Staatsvertag entscheidend war. Die Abgrenzung zu Deutschland und dem Deutschtum

war ein wesentlicher Schritt, um ein österreichisches Nationalbewusstsein zu fördern. Der

Kampf gegen eine Vereinnahmung durch Ost- und Westmächte und das Ringen um die

Entnazifizierung und die Rückgewinnung der Souveränität Österreichs förderten den

österreichischen Zusammenhalt und das österreichische „Wir-Gefühl“. Dabei ist das

österreichische Nationalbewusstsein ohne die Einnahme der Opfer-Rolle und den Prozess der

Entnazifizierung nicht denkbar, da die Gründung des Staates mit dieser einherging. Die

Behauptung gegen die alliierten Besatzungsmächte, die Errungenschaft des Staatsvertrages und

die Erlangung einer anerkannten Neutralität stellen die Meilensteine des österreichischen

Bewusstseins dar. Deshalb wird die Entstehung des österreichischen Nationalbewusstseins um

das Jahr 1955 festgemacht. Seitdem lässt sich auch empirisch ein österreichisches

Nationalbewusstsein nachweisen, welches sich seit den 1960er Jahre stetig konsolidierte und

spätestens nach 1970 unbezweifelbar vorhanden ist, wie aus der folgenden Tabelle entnehmbar

ist.

Abbildung 3: Nationalbewusstsein in Österreich (angegeben in Prozent), 1956-2009

Page 120: Das österreichische Nationalbewusstsein

119

Die Festigung des österreichischen Nationalbewusstseins spiegelt sich auch im internationalen

Vergleich im stark ausgeprägten Nationalstolz der Österreicher*innen wider.

Abbildung 4:Nationalstolz der Österreicher (angegeben in Prozent), 1973-2009

Die oben abgebildete Tabelle verdeutlicht, dass der Nationalstolz der Österreicher*innen seit

1973 konstant hoch ist. Wenn man die Ergebnisse der beiden Antwortmöglichkeiten „sehr

stolz“ und „ziemlich stolz“ addiert, so ergibt sich, dass durchgehend etwa 90 Prozent der

Befragten stolz darauf sind, Österreicher*innen zu sein.

Dabei wies die Bewertung der einzelnen Gegenstände des österreichischen Nationalstolzes in

der Zeit zwischen 1980 und 2004 Schwankungen auf. So änderte sich die Bedeutung des Sports

und der Politik als Merkmale für den Nationalstolz.

Abbildung 5: Stolz auf österreichische Leistungen (angegeben in Prozent), 1980-2004

Page 121: Das österreichische Nationalbewusstsein

120

So waren die Österreicher*innen 1980 noch vermehrt stolz auf die Leistungen der Politik, dieser

Stolz nahm jedoch 2004 deutlich ab. Dagegen waren die Österreicher*innen im Jahr 1987 auf

die Leistungen im Sport weniger stolz als im Jahr 2004, in dem der Sport zu einem der

wichtigsten Merkmale des österreichischen Nationalstolz avancierte.436 Dies zeigt sich auch in

Auswertungen des International Social Survey Programme, aus den Jahren 1995 und 2003/4,

bei denen der Sport jenes Merkmal war, auf das die Österreicher*innen am meisten stolz

waren.437 Einzig Kunst und Kultur sowie die landschaftliche Schönheit blieben konstant

bedeutende Merkmale des österreichischen Nationalstolz und bilden darüber hinaus neben den

Sport die wichtiges identitätsstiftenden Merkmale für das österreichische

Nationalbewusstsein.438 Dies geht auch aus aktuelleren Studien, wie jene von Kragolnik und

Sperl zum Österreichbild von Jugendlichen im Jahr 2018 hervor.439 Des Weiteren

veranschaulicht die Untersuchung von Kragolnik und Sperl, dass, obwohl das österreichische

Nationalbewusstsein stabil ist, sich dessen Merkmale und Faktoren im Laufe der letzten 40

Jahre verändert haben. Die Kultur- und Naturlandschaft stellt bis heute einen konsistenten

identitätsstiftenden Faktor da, während andere Faktoren und Ereignisse über die Zeit und durch

Modernisierungsprozesse, Veränderungen der Art der Wissensvermittlung und der

Kommunikation entweder an Bedeutung für das österreichische Nationalbewusstsein verloren

haben oder durch andere ersetzt worden sind. So haben die Sozialpartnerschaft und die

Neutralität, als die mit der Nation Österreich assoziierten Begriffe, seit den 2000er Jahren und

für die heutige Schülergeneration wenig bis keine Relevanz für das österreichische

Nationalbewusstsein. Medien spielen bei diesem Prozess dabei eine immer größere Rolle. Die

Schüler*innen kennen zwar die alten tradierten Stereotype, jedoch wirken diese sich kaum auf

deren Österreichbild aus. Hierbei stützen sie sich überwiegend auf aktuelle Informationen und

Geschehnisse.

Mit der Modernisierung und der voranschreitenden Vernetzung wird auch die Abgrenzung

einer Nation zur anderen weniger signifikant, womit auch die Merkmale, die einen

Nationalcharakter bilden, immer weniger werde und an Bedeutung verlieren.

436 Vgl. ULRAM Peter A., Vortrag: Pride and Prejudice. Charts. Twenty-Ninth GSA Annual Conference.

September 29 – October 2, 2005. Milwaukee, Wisconsin. 2005. S. 18. 437 Vgl. Datensatz ISSP (International Social Survey Programme) 1995 – Nationale Identität. et.

Datensatz ISSP (International Social Survey Programme) 2003/2004 – Nationale Identität/Staatsbürgerschaft. 438 BRUCKMÜLLER Ernst, Nation Österreich. Kulturelles Bewußtsein und gesellschaftlich-politische Prozesse.

Böhlau Verlag, Wien/Köln/Graz. 1996. S. 93. – S. 94. 439 Vgl. ECKER / SPERL (Hrsg.), Österreichbilder von Jugendlichen. Zum Einfluss audiovisueller Medien. New

academic press, Wien. 2018. S. 102. et. S. 107. – S. 112.

Page 122: Das österreichische Nationalbewusstsein

121

Charakteristisch für das österreichische Nationalbewusstsein ist eine Unsicherheit und eine

gespaltene Haltung zum Selbstbild der Österreicher*innen, das durch den Waldheimskandal

Ende der 1980er das erste Mal mit großer medialer Wirksamkeit offenbart wurde. Auch in der

kontroversen Regierungsangelobung von Schüssel I kam diese Spaltung erneut zum Vorschein.

Die Auseinandersetzung und die Verarbeitung des Nationalsozialismus ist auch gegenwärtig

notwendig, da es diesbezüglich noch immer Haltungsdifferenzen in der Österreichischen

Gesellschaft herrschen, die sich auch auf das gemeinsame Nationalbewusstsein und das

österreichische „Wir-Gefühl“ auswirken. Man denke etwa an die Präsidentschaftswahl

(Hofer/Van der Bellen) von 2015 zurück, in der der geführte Wahlkampf das Land zu spalten

drohte beziehungsweise der diese diskrepanten Werthaltungen der Österreich*innen erneut

offenbarte. Ebenso kontrovers wurde das Öffnen der Grenzen für Flüchtlingen aus dem

syrischen Krieg im Jahr 2015 debattiert, die ebenfalls zu einer Spaltung der österreichischen

Gesellschaft führte. Einerseits zeigten sich die Österreicher*innen solidarisch und hießen sie

willkommen, andererseits fürchteten andere eine durch die Flüchtenden ausgehende Bedrohung

ihres Wertesystems. Beide Haltungen resultieren in einem gespaltenem Selbstbild, welches das

„Wir-Gefühl“ unterminiert. Wiederum erfährt dieses „Wir-Gefühl“ durch überindividuelle

Krisen wie etwa der Covid-19 Pandemie oder der am 2. November 2020 verübte Terroranschlag

in Wien eine Stärkung.

Page 123: Das österreichische Nationalbewusstsein

122

10 Bibliografie

10.1 Literatur

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Page 125: Das österreichische Nationalbewusstsein

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10.2 Onlinequellen

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https://www.market.at/market-aktuell/details/fpoe-in-der-regierung-eine-oesterreichische-entscheidung-und-

kein-fall-fuer-internationale-

proteste.html?fbclid=IwAR23Gu64sm_5WR4p8Wo5wY443b2i8mI5mDIKmhjjGwfq-9IT-gARyFMHTSA

https://www.oesterreich.gv.at/ [08.11.2020]

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Gedenktag-gegen-Gewalt-und-Rassismus/14018655 [21.10.2020]

Let’s talk about Corona. https://www.oeaw.ac.at/detail/news/lets-talk-about-corona [08.11.2020]

MUTSCHLECHNER Martin, Probleme und Potenziale eines Vielvölkerstaates.

https://www.habsburger.net/de/kapitel/probleme-und-potenziale-eines-vielvoelkerstaates [09.04.2020]

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TRIBUTSCH Silvia / ULRAM Peter, 1918, 1938, 2008: Geschichte im Spiegel der Forschungsergebnisse von

GfK Austria. GFK Austria, Politikforschung. 2008. https://images.derstandard.at/20080312/1918-1938-2008.pdf

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Was ist ein Erinnerungsort? https://www.uni-oldenburg.de/geschichte/studium-und-

lehre/lehre/projektlehre/regionale-erinnerungsorte/was-ist-ein-erinnerungsort/ [03.05.2020]

10.3 Datensätze

Datensatz ISSP (International Social Survey Programme) 1995 – Nationale Identität.

Datensatz ISSP (International Social Survey Programme) 2003/2004 – Nationale Identität/Staatsbürgerschaft.

Page 126: Das österreichische Nationalbewusstsein

125

11 Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: ÖVP Wahlplakat, 1949

http://www.bildarchivaustria.at/Pages/ImageDetail.aspx?p_iBildID=15870246

Abbildung 2: Robert Menasses Kommentar auf Facebook

https://www.derstandard.at/story/2000120231259/robert-menasse-heftige-kritik-an-gernot-bluemel-kommentar-

geloescht

Abbildung 3: Nationalbewusstsein in Österreich (in Prozent), 1956-2009

TRIBUTSCH Svila / ULRAM Peter A., Kleine Nation mit Eigenschaften. Über das Verhältnis der Österreicher

zu sich selbst und zu ihren Nachbarn. Molden Verlag, Wien. 2004. S. 60.

Abbildung 4:Nationalstolz der Österreicher (angegeben in Prozent), 1973-2009

TRIBUTSCH Svila / ULRAM Peter A., Kleine Nation mit Eigenschaften. Über das Verhältnis der Österreicher

zu sich selbst und zu ihren Nachbarn. Molden Verlag, Wien. 2004. S. 61.

Abbildung 5: Stolz auf österreichische Leistungen (angegeben in Prozent), 1980-2004

ULRAM Peter A., Vortrag: Pride and Prejudice. Charts. Twenty-Ninth GSA Annual Conference. September 29

– October 2, 2005. Milwaukee, Wisconsin. 2005. S. 18.