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Frank Heidenreich Der politische Streik gegen den Krieg und seine Bedeutung Widersprüche der kollektiven Erinnerung in der Arbeiterbewegung∗)
Helga Grebing, langjähriges Mitglied der Historischen Kommission beim
Parteivorstand der SPD, erwähnt in ihrer kürzlich erschienenen Darstel-
lung zur Geschichte der Arbeiterbewegung den Massenstreik im Januar
1918 eher beiläufig. Ihr Thema ist Friedrich Ebert, über den sie schreibt,
er hätte nicht erst in der Novemberrevolution 1918 einer Politik der
Legalität Vorrang vor Massenaktionen gegeben, sondern schon in den
Januar-Tagen. Damals habe er sich in die Streikleitung der 400.000
Groß-Berliner Munitionsarbeiter innen und -arbeiter wählen lassen, weil
er die illegalen Streiks so schnell wie möglich in ordnungsgemäße Bah-
nen lenken und beenden wollte (Grebing 2007, 66). Mehr ist über diesen
politischen Massenstreik in der jüngsten Gesamtschau1 der Geschichte
der Arbeiterbewegung in Deutschland leider nicht zu erfahren.
Richard Müller, dessen politische Bedeutung zwischen 1915 und 1920 in
den letzten zwei Jahrzehnten zunehmend in Vergessenheit geriet, ist für
Grebing nicht der Rede wert, und Emil Barth kommt wohl als Mitglied der
Revolutionsregierung im November und Dezember 1918 vor (67), nicht
aber als organisierender Kopf der Berliner Obleute. Der größte Massen-
streik gegen den Weltkrieg 1914/18 – einer von gerade vier politischen
Streiks im Deutschland des 20. Jahrhunderts – gehört nicht zu den Er-
∗ Zunächst als Tagungsreferat ausgearbeitet, erschien diese überarbeitete Fassung in dem VSA- Sammelband Streiken den Krieg. Die Bedeutung der Massenstreiks in der Metallindustrie vom Januar 1918, hrsg. von Chaja Boebel und Lothar Wentzel, Hamburg 2008, S.67-82. 1 Die letzte epochenübergreifende Arbeit stammt von Wolfgang Abendroth. Seine Vorlesungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung, 1976 bis 1978 gehalten an der Akademie der Arbeit in Frank- furt/Main, wurden posthum gedruckt. 1985 veröffentlicht, erschien diese – allerdings nur bis ans Ende der Weimarer Republik reichende – Darstellung in 3. Auflage bereits vor mehr als 10 Jahren (Abendroth 1997).
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eignissen von Rang, mit denen sich Sozialdemokraten und Gewerk-
schafter heute vertraut machen und ein Bild von ihrer Geschichte
machen sollen. Eine solche Geringschätzung des Januarstreiks hat ihre
Gründe, und diese zu kritisieren könnte auch geschichtspolitisch wirk-
sam sein.
Wenden wir uns der aufgeschriebenen Arbeitergeschichte und der kol-
lektiven Erinnerung in den Gewerkschaften und den parteipolitischen
Traditionen der Arbeiterbewegung zu. Ich beginne mit der vorherr-
schenden zeitnahen Sichtweise in den gewerkschaftlichen Organisatio-
nen 1918 und 1919. Danach werde ich Arbeiten aus sozialdemokrati-
schem und aus kommunistischem Parteikontext vorstellen sowie drei
Historiker, die zwar parteilich für die Emanzipation der arbeitenden
Menschen schreiben, aber autonom und kritisch zur damaligen Politik
der Arbeiterorganisationen. Am Ende werde ich auf die Gewerkschafts-
geschichtsschreibung zurückkommen.
Wir sind nicht beteiligt – wieso also davon sprechen?
Wie war die zeitgenössische Haltung der Gewerkschaften zum Januar-
streik? Die Resolution der Vorständekonferenz der Gewerkschaften
sozialdemokratischer Ausrichtung, die am 1. Februar 1918 tagte2, stellte
klar, dass die Gewerkschaftsleitungen diesem seit vier Tagen andauern-
den politischen Streik fern standen und daran nicht beteiligt waren. Die
Gewerkschaften würden sich auch im vierten Kriegsjahr weiter für die
Landesverteidigung einsetzen. Hatten Generalkommission und Zen-
tralvorstände seit Kriegsbeginn sämtliche Streiks öffentlich als gewerk-
schaftsschädigend verurteilt, fiel die Entschließung jetzt angesichts von
rund einer Million Streikender, darunter vieler Gewerkschaftsmitglieder,
2 Abgedruckt als Dokument Nr. 3 im Anhang des Tagungsbandes Streiken gegen den Krieg... (s. Anm. *), S.107ff..
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vorsichtiger aus – die Gewerkschaftsspitze erklärte sich gewissermaßen
für neutral.
Unter den führenden Funktionären war es besonders Alexander
Schlicke, der Erste Vorsitzende des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes
(DMV), der unverdrossen bei der alten Linie blieb. Obwohl im DMV
inzwischen eine starke Opposition gegen den Krieg und die eigene Burg-
friedenspolitik entstanden war, brachte dessen Zentralorgan Deutsche
Metallarbeiter-Zeitung Anfang März 1918 eine Erklärung des Vorstan-
des, in der es hieß, Streiks lägen nicht im Interesse der Arbeiter, sondern
in dem der Gegner Deutschlands, die den Krieg fortsetzen und die deut-
sche Volkswirtschaft treffen wollten. An die Arbeiter appellierte der DMV-
Vorstand, mit der kämpfenden Front solidarisch zu sein, im Übrigen sei
den verantwortlichen Gewerkschaftsleitungen zu folgen und nicht „den
unberufenen Beratern und den ungenannten Verfassern von Flugblät-
tern, die euch zu wilden Streiks und Putschen auffordern!“ (DMZ 1918)3
Nicht „eine Gruppe von Vertrauenspersonen“ dürfte als Streikleitung
anerkannt werden. Eben Letzteres war gerade fünf Wochen zuvor
geschehen, als die Obleute in der Berliner Metallindustrie den Massen-
streik ausgelöst und geführt hatten. In diesem historischen Kontext war
die Anspielung auf die überwiegend USPD-orientierten Obleute („Ver-
trauenspersonen“) für die Leser des Metallarbeiter-Verbandsorgans un-
missverständlich: Basisfunktionäre dürfen nicht über (politische) Streiks
entscheiden, das muss den zentralen Gremien vorbehalten sein.
Nach Kriegsende war die offene Konfrontation über „wilde“ Antikriegs-
streiks vom Standpunkt der Gewerkschaftsleitungen überflüssig. Nun
begann im überwiegenden Teil der Gewerkschaftspresse das Beschwei-
gen der Massenstreiks vom Januar 1918. Das Organ der Generalkom-
3 Abgedruckt als Dokument Nr. 7 im Anhang des Tagungsbandes Streiken gegen den Krieg... (s. Anm. *), S.138-140.
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mission der Gewerkschaften bezeichnete Anfang 1919 in einer Rück-
schau das Jahr 1918 als „eines der bedeutungsvollsten in der Ge-
schichte des deutschen Volkes“ (CorrGK 1919, 1). Zu dieser Bedeutung
hatte allerdings die dramatische Zuspitzung des Kampfes um Krieg und
Frieden Anfang 1918 offenkundig nichts beigetragen, der Rückblick
erwähnte den politischen Massenstreik mit keinem Wort. Überhaupt
kamen in dem Text Arbeiter und Gewerkschaften als geschichtswirksam
Handelnde nicht vor. Das Jahr- und Handbuch des Deutschen Metallar-
beiter-Verbandes, das im Frühjahr 1919 in der Verantwortung noch des
alten, ein halbes Jahr später abgewählten Vorstands erschien, vermit-
telte einen ähnlich unwirklichen Eindruck vom Jahr des Kriegsendes und
der Revolution. Im allgemeinpolitischen Teil seines Berichts verkürzte
der DMV-Vorstand das Jahr kurzerhand auf die zwei Monate November
und Dezember (DMV 1918, 1-7). – Die Politik der sozialdemokratischen
Gewerkschaften im Krieg bestimmte ihre Geschichtspolitik nach dem
Krieg: Ein Streik gegen den Krieg und die offizielle gewerkschaftliche
Burgfriedenspolitik konnte nicht positiv erinnert werden. Es galt zu
vergessen.
Der große Januarstreik brachte nichts … als Schaden für die SPD
Die sozialdemokratisch ausgerichtete Geschichtsschreibung musste sich
noch anderen Fragen stellen. Ein Standardwerk zur Parteigeschichte,
inzwischen in acht Auflagen im Parteiverlag erschienen, ist die Kleine
Geschichte der SPD 1848 bis 2002 von Heinrich Potthoff und Susanne
Miller. Der erste Hauptteil (von den Anfängen bis 1945) stammt von
Heinrich Potthoff, in den 1950er Jahren wissenschaftlicher Mitarbeiter
am Wirtschaftswissenschaftlichen Institut des DGB, Vorläufer des heuti-
gen WSI. Er fragt nach der Erosion sozialdemokratischer Hegemonie in
der Arbeiterschaft, nach der unsicher gewordenen Integration der Ar-
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beiter durch die mehrheitssozialdemokratische Politik im Krieg. In den
Streiks vom Frühjahr und Sommer 1917 sowie vom Januar 1918 zeigte
sich, „wie sehr die Mehrheitssozialdemokraten an Einfluss unter den
Arbeitern verloren hatten.“ (Potthoff/Miller 2002, 79) Die Bedeutung des
„großen Januarstreiks“ (82) bestimmt Potthoff vom Standpunkt der SPD
in der Perspektive ihrer Regierungsfähigkeit. Der Verlauf des Streiks
interessiert nicht weiter, die Streikbewegung selbst bleibt im toten Winkel
der Parteigeschichte. Aufschlussreich auch, dass Potthoff Richard Müller
nicht als zentrale Figur in den Streiks während des Krieges behandelt,
sondern ihn erst im Kontext des Reichsrätekongresses im Dezember
1918 als eine treibende Kraft des linken Flügels der USPD vorstellt.
Susanne Miller, lange Zeit führende Parteihistorikerin der SPD, steuerte
zum vierbändigen Lern- und Arbeitsbuch deutsche Arbeiterbewegung
den 30 Seiten umfassenden Baustein „Der Erste Weltkrieg und die Spal-
tung der Arbeiterbewegung“ bei (LERN 1988, Bd. 2, 301-334). Im Kon-
text der Fraktions- und Parteispaltung fragt Miller nach den Ansätzen von
Zusammenarbeit der verschiedenen sozialdemokratischen Richtungen.
Während des Krieges hätten SPD und USPD nur ein Mal kooperiert –
nach dem Ausbruch des Massenstreiks im Januar, als Vertreter beider
Arbeiterparteien zusätzlich in den Aktionsausschuss aufgenommen wur-
den. Sie nennt die beruflich hochqualifizierten Revolutionären Obleute,
die „zumeist der USPD angehörten“ (311), als Initiatoren und Organi-
satoren der Berliner Streiks. Zwar resümiert Miller die Streiks bloß als
„Niederlage der Arbeiter“, ohne ihrer mittelbaren Wirkung bis in die
Revolution vom November nachzugehen, aber die Unterschiede ihrer
Sicht wie auch der Arbeit von Friedhelm Boll über Friedensstrategien der
SPD (Boll 1980) zu Potthoffs Darstellung in der – von Miller mitverfass-
ten – Kleine Geschichte der SPD sind unübersehbar.
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Schließlich sei noch ein Blick in eine populär geschriebene Ebert-Biogra-
fie des früheren Leiters der Abteilung Studienförderung der FES gewor-
fen, die in mehreren Auflagen im SPD-Parteiverlag erschien. Peter-
Christian Witt beginnt seine Erörterung der Januarstreiks von 1918 mit
der Feststellung, dass schon die politisch motivierten Streiks des Jahres
1917 für die Mehrheitssozialdemokratie erhebliche Gefahren in sich bar-
gen (Witt 1992, 85). Aktionen wie der Januarstreik bedrohten ihre Politik
doppelt, weil sie nach der USPD-Gründung Ostern 1917 den Rückhalt
der SPD in der sozialdemokratischen Arbeiterschaft in Frage stellten und
bei den bürgerlichen Parteien den Eindruck erzeugen konnten, die SPD
sei als Verhandlungspartner genau so wenig ernst zu nehmen wie als
Gegner. Bei Witt steht eindeutig der Gesichtspunkt der Repräsentanz
von Arbeiterinteressen in der Politik der SPD im Vordergrund. Die
soziale Bewegung von Arbeiterinnen und Arbeitern in den Betrieben
gefährdete diese Vertretungs- bzw. Stellvertretungsbeziehung. Deshalb
trat Ebert zusammen mit seinen Parteifreunden Otto Braun und Philipp
Scheidemann in die Streikleitung ein, sobald die Stimmung im Kreis der
Obleute es erlaubte.
Witt sieht Eberts Absicht nicht allein darin, Ruhe und Ordnung herzu-
stellen sowie die Fortführung des Kriegs zu ermöglichen. Auf dem Spiel
stand auch das Ansehen der SPD bei vielen Streikenden, die in der SPD
noch ihre Partei sahen. Die tatsächlichen Subjekte des Antikriegsstreiks
bleiben auch bei Witt ungenannt, da sie für die Politik von Krieg und
Frieden nicht zuständig sind. Ebert interessierte die Konkurrenz der
USPD, die Gefahr des Machtzuwachses zugunsten der Unabhängigen.
Mit Ebert denkt Witt: Der Streik musste schnell beendet werden,
„weil das (…) Ziel des Streiks, die Herbeiführung des Friedens, sich … durch
keinen Streik erreichen ließ, ja weil er [Ebert] der Überzeugung war, dass ein
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Streik in Deutschland eher anstachelnd auf die Gegner wirken und die deutsche
Position bei einem Friedensschluss schwächen musste.“ (Witt 1992, 87)
Insofern waren Eberts Ablehnung der Revolution und die formelle Betei-
ligung der SPD an der letzten kaiserlichen Regierung im Oktober 1918
durchaus folgerichtig.
Wir waren die Avantgarde! (oder: gerade an uns hat es gefehlt)
In der Geschichtsauffassung der parteikommunistischen Tradition in der
Arbeiterbewegung haben die Antikriegsstreiks in Österreich-Ungarn und
in Deutschland Anfang 1918 einen größeren Stellenwert als in der
sozialdemokratischen Parteigeschichte. Die Hauptaussagen stehen in
zwei miteinander verknüpften Kontexten, erstens: die russische Oktober-
revolution und die Januarstreiks, zweitens: die Spartakusgruppe und die
Januarstreiks. In der Illustrierte Geschichte der deutschen Revolution,
1929 im Internationalen Arbeiterverlag erschienen und im Zuge der APO
1970 nachgedruckt, findet sich ein vier Seiten langer Abschnitt mit der
Überschrift „Brest-Litowsk und der Januarstreik“. Die Propaganda der
Bolschewiki bei den Brester Verhandlungen mit der deutschen Delega-
tion „hatte starken Erfolg. In Österreich und in Deutschland kam es zu
gewaltigen Streikbewegungen.“ (Revolution 1929, 161) Hier wird eine
zentrale These der KP-Historiografie formuliert, die auch in den folgen-
den Jahrzehnten präsent bleibt: Ein entscheidender Impuls für die Anti-
kriegsstreiks ging von der sozialistischen Oktoberrevolution aus. Hier soll
nicht die Antithese behauptet werden, aber Russland wirkte anders. Der
„russische Faktor“ bestand weniger in der Ausstrahlung des Beginns
einer proletarischen Revolution. Weit stärker wirkten im Dezember 1917
und im Januar 1918 gerade bei Arbeitern die wachsende Ungeduld, mit
der man zunächst das greifbar erscheinende Kriegsende im Osten er-
wartete, und die Enttäuschung und Wut über die erkennbar auf Siegfrie-
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den setzende (und nicht der Friedensresolution des Reichstags folgen-
de) Position der deutschen politischen und militärischen Führung.
Anders als in späteren Jahrzehnten findet sich in den KP-Publikationen
der 1920er Jahre eine relativ zurückhaltende und realistische Bewertung,
welchen Einfluss die Spartakusgruppe auf die Streikbewegung besaß.
Die Illustrierte Geschichte beschreibt Spartakus vor und unmittelbar nach
dem KPD-Gründungsparteitag am Jahresende 1918 als eine schwache,
zerstrittene Organisation (442f.). So wird auch nachvollziehbar, dass von
den Aktivitäten der Spartakusgruppe im Januar 1918 überhaupt keine
Rede ist (161). Das änderte sich grundlegend im Geschichtsbild von
KPD/SED/DKP nach 1948. Nun wurde Spartakus zu einem Subjekt der
Januarstreiks von 1918 erhoben, eines politischen Massenstreiks, den
die achtbändige Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung mit Recht
als „die größte Friedensaktion der deutschen Arbeiterklasse während
des ersten Weltkriegs“ (AB 1966, Bd. 3, 33) charakterisiert. Die letzten
Streikvorbereitungen und der Ausbruch der Januarstreiks in Berlin
werden in dem parteioffiziellen Werk so erzählt: „Die Spartakusgruppe
schlug dem Aktionsausschuss der revolutionären Obleute vor, dem
Beispiel der österreichischen (…) Arbeiter zu folgen. Sie riefen für den
28. Januar 1918 unter den Losungen `Nieder mit dem Krieg! Nieder mit
der Regierung!´ zum politischen Massenstreik auf.“ (28) Ein gemein-
samer Aufruf von Spartakusgruppe und Obleuten also?
Die Fußnotenziffer im Text genau hinter dem obigen Zitat verweist auf
den Dokumententeil und verknüpft den Vorgang der Ausrufung und
inhaltlich die Losungen des Streiks in Berlin mit einer einzigen Quelle,
dem am 25. Januar anonym verbreiteten Flugblatt der Spartakusgruppe.
Dieser Flugblattaufruf stammte einzig von der Spartakusgruppe, die
Obleute waren an ihm nicht beteiligt. Sie als Mitinitiatoren der Streik-
bewegung zu bezeichnen, erscheint daher geradezu als Großzügigkeit
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der Darstellung. Den Lesern, die mehr nicht zu wissen bekommen, muss
die Spartakusgruppe zum Hauptakteur der „größte(n) Friedensaktion“
der deutschen Arbeiterklasse geraten, während die betrieblichen Metal-
lerfunktionäre in die zweite Reihe des Geschehens gehören, denen bei
nüchterner Betrachtung der abgedruckten Quelle (des Spartakus-
Flugblatts) nicht einmal die Rolle eines Co-Subjekts zukommt.
Da die Meinungsbildung und das Vorgehen der Berliner Obleute nicht
erörtert und nicht nachvollziehbar gemacht werden, ist umgekehrt die
Verbindung zu dem tatsächlich wichtigsten Subjekt der Streikaktion
– den Obleuten – für die Leser nicht herstellbar. Ein Kunstgriff der histo-
rischen Darstellung nimmt die Tatsache des Spartakus-Flugblatts und
schreibt ihm eine Wirkung zu, die es nicht hatte. Denn praktisch aus-
schlaggebend für den Streikbeginn war der Aufruf der Obleute der
Berliner Metallindustrie; er erfolgte mündlich, im Anschluss an eine ihrer
Versammlungen und nicht per Druckschrift oder Handzettel. Vorberei-
tung und Auslösung des Streiks waren eindeutig nicht das Werk der
Spartakusgruppe. Sie verlangte und unterstützte die Antikriegsstreiks
sehr entschieden mit publizistischen Mitteln und nach Kräften, aber ihre
Kräfte waren schwach und in den Betrieben und Streikorganen kaum
verankert, wie das zu Ulbrichts Zeiten entstandene Geschichtswerk an
anderer Stelle ausdrücklich einräumt (AB 1966, Bd. 3, 33).
Diese Konstruktion von Arbeitergeschichte wird im Kern bis ans Ende
der DDR beibehalten. Auch Ingo Materna, dem wir die wichtige dreibän-
dige Edition von Akten und Dokumenten zu den Groß-Berliner Arbeiter-
und Soldatenräten in der Revolution 1918/19 mitverdanken, überbetont
die Bedeutung von Spartakus. Die Gruppe habe „die Massen für den
Streik mobilisiert und die Bewegung vorangetrieben“ (Berliner AB 1987,
Bd. 2, 14), nur sei sie noch keine selbstständige einheitliche Arbeiter-
partei gewesen. Immerhin wurde seit den späten 1970er Jahren die
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USPD als ein den Januarstreik fördernder Akteur wenigstens erwähnt,
etwa mit dem Verweis auf das Flugblatt der USPD-Reichstagsfraktion
vom 10. Januar (Novemberrevolution 1978, 26 u. 30f.).
Dennoch blieb die Darstellung auf den Spartakusbund fokussiert: „Die
Spartakusgruppe schlug vor, den politischen Massenstreik … zu begin-
nen.“ (Berliner AB 1987, Bd. 2, 11) Und: „Die Spartakusgruppe hatte
entscheidenden (Hervorhebung d. Verf.) Anteil an der Auslösung des
Kampfes …“ (Novemberrevolution 1978, 31) Wenn die SED behauptete,
der Januarstreik „widerspiegelte den mobilisierenden Einfluss der
Großen Sozialistischen Oktoberrevolution“ (33), überzeichnete sie das
russische Vorbild erheblich. Richard Müller erhielt in der kommunisti-
schen Parteigeschichtsschreibung erhielt den Status eines halben Ver-
räters. Müller habe als Leiter der Obleute und Vorsitzender der Streik-
leitung in Berlin darauf gedrängt, dass die Streikleitung durch Parteiver-
treter auch der SPD erweitert wurde. „Damit gewannen (…) erklärte
Gegner des Streiks maßgeblichen, verhängnisvollen Einfluss auf den Ak-
tionsausschuss, der somit keine wirkliche Streikleitung werden konnte.“
(Berliner AB 1987, Bd. 2, 11) Heute wissen wir ziemlich genau, wie be-
grenzt der Einfluss der drei SPD-Vertreter war und wer in der Streiklei-
tung die Entscheidungen vorbereitete und traf.
Die These vom „Verrat der SPD“ im Januarstreik kann hier nicht näher
behandelt werden. Sieht man davon ab, dass sie generell für das Begrei-
fen von Arbeitergeschichte nichts leistet und im konkreten Fall den inne-
ren Zusammenhang zwischen der Interessenlage in der Arbeiterschaft
und der sozialdemokratischen Politik in Krieg und Revolution nicht
aufklären kann, ist sie vor allem funktional für die Austragung des
Gegensatzes von Kommunistischer Partei und Sozialdemokratie in der
Arbeiterbewegung und damit von parteipolitischen Sonderinteressen
bestimmt. Sicher: Die sozialdemokratische Mehrheit im Krieg steht bei
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genauer Analyse recht blamiert da. Dennoch sollten wir uns nicht
vordergründig mit moralischen Urteilen zufrieden geben. Die SPD verriet
weder Arbeiterinteressen, wie die kommunistische Tradition es sah, noch
das Interesse der Nation, wie die Rechte in ihren Angriffen im Vorfeld
und während des Landesverratsverfahrens gegen Friedrich Ebert 1924
glauben machen wollte.
Arthur Rosenberg, Arno Klönne, Wolfgang Abendroth, Peter von Oertzen
Die sozialdemokratische und die kommunistische Interpretation des
Antikriegsstreiks im Januar 1918 ähneln sich, wo es um die Rolle der
Streikenden selbst geht: Die Arbeiter, so die einen, hätten im Januar
1918 besser auf uns Sozialdemokraten gehört. Nein, verlautet die an-
dere, sie wären besser uns revolutionären Spartakisten gefolgt. Partei-
geschichte dominiert und verdrängt die Geschichte der Bewegung, der
Arbeitenden selbst.
Eine frühe parteiunabhängige Darstellung des Massenstreiks im Januar
1918 findet sich bei Arthur Rosenberg, dessen Buch Entstehung der
Weimarer Republik 1928 in erster Auflage erschien. Auf zehn Seiten
behandelt er den politischen Massenstreik im Januar und Februar 1918.
Er gibt Teile des Aufrufs der USPD-Reichstagsfraktion vom 10. Januar
wieder, der als Flugblatt verbreitet wurde:
„Es ist keine Zeit zu verlieren. Nach all den Schrecken und Leiden droht neues
schwerstes Unheil unserem Volke, der gesamten Mehrheit. Nur ein Frieden
ohne Annexionen und Kontributionen, auf der Grundlage des Selbstbestim-
mungsrechts der Völker, kann uns davor retten. Die Stunde ist gekommen, eure
Stimme für einen solchen Frieden zu erheben! Ihr habt jetzt das Wort!“
(Rosenberg 1961, 184; im vorletzten Satz zit. nach Boll 1980, 242)
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Die Partei der Unabhängigen wendete sich an das Volk – die Lage sei
dringlich, die Stunde seines Handelns gekommen – , ohne zum Streik
ausdrücklich aufzurufen. „Ob und in welcher Form jetzt die Arbeitermas-
sen ihre Stimme erhoben, lag im Ermessen der Arbeiter selbst“, so
Rosenberg.
Organe des am 27. Januar beschlossenen Massenstreiks waren nicht
politische Parteien der Arbeiter, weder die USPD noch der einflusslose
Spartakusbund (181, 184); es waren die Delegierten aus den Betrieben.
„Die Bedeutung der Obleute lag darin, dass sie immer die Stimmungen
und Wünsche der Massen in den Betrieben getreu wiedergaben.“ „Der
Arbeiterrat steht im Januarstreik an Stelle der Gewerkschaft (…).“ (185)
Räterussland war nicht das Modell, das die Obleute zu übertragen
suchten. „In Deutschland waren 1918 die Räte die Organisationsform der
Massenbewegung, aber nicht mehr. Mit der Sowjetverfassung hat der
Arbeiterrat des Januarstreiks nichts zu tun.“ (186)
Wie sieht Rosenberg die Ergebnisse des Januarstreiks? Aufs erste hatte
die Oberste Heeresleitung mit der Niederwerfung des Streiks gesiegt;
unter den Besiegten waren die Arbeiter, die USPD, aber auch die SPD
und die übrigen Parteien der Reichstagsmehrheit. Ferner: „Der Januar-
streik zeigte, dass der deutsche Staatsorganismus todkrank war.“ (187)
Er hatte der Militärdiktatur öffentlich bescheinigt, dass sie nach dreiein-
halb Kriegsjahren die Arbeitnehmerschaft gegen sich hatte. Schließlich
bot der Januarstreik für die Arbeiter, die weiter Frieden und Demokratie
verlangten, „eine bedeutsame Lehre.“ Sie glaubten „nach ihren Erfahrun-
gen im Januar nicht mehr daran, dass die Reichstagsparteien ihnen aus
dem Krieg und aus der Militärdiktatur heraushelfen würden. Sondern sie
verließen sich nur auf ihre eigene Kraft und auf eine bessere Gelegen-
heit, als der Januar 1918 sie geboten hatte.“ (189) Rosenberg resümiert
in Metaphern des Theaters: Der Massenstreik vom Januar 1918 war die
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„Generalprobe“ (181) für die Novemberrevolution, mit anderen Worten
der „zweite Akt dieser direkten Massenaktion“ (189), auf den als dritter
Akt die Revolution vom November folgte.
In seinen Buch Die deutsche Arbeiterbewegung orientiert Arno Klönne
sich vor allem an Arthur Rosenberg und an Richard Müller. Wie Rosen-
berg betont er, die Massenbewegung der Arbeiter gegen den Krieg ver-
lief „ohne die traditionellen Organisationen der Arbeiter“ (Klönne 1983,
146). Noch im Streikende gaben die Arbeiter das Heft nicht aus der
Hand, riefen die sozialdemokratischen Gewerkschaftsleitungen nicht um
Hilfe. Zustimmend zitiert Klönne Richard Müller:
„Um keinen Preis durfte der Generalkommission die Möglichkeit geboten wer-
den, als Retter in der Not zu erscheinen. Es hatte einen langen, harten und
zähen Kampf gekostet, um der Generalkommission das Vertrauen der Masse
zu entziehen.“ (148; zit. nach Richard Müller 1924, 110)4
Im Streikabbruch sieht Klönne nicht bloß die Niederlage, sondern den
Ausgangspunkt neuer Kämpfe. „Die Arbeiter fühlten sich nicht geschla-
gen, sondern als Kämpfer, die den Rückzug antreten, um mit stärkerer
Kraft vorzustoßen.“ (Klönne 1983, 146) Was sich im Januar 1918 erst
angedeutet hatte, blieb in der Folge „als Drohung wirksam, nämlich die
Umwälzung der politischen Strukturen Deutschlands durch eine selbst-
ständige demokratische Bewegung, getragen in der Hauptsache von
aktiven Teilen der Industriearbeiterschaft.“ (148) Klönne bilanziert die
Bedeutung des Streiks über den Tag hinaus. Im Januar 1918 „lag prak-
tisch der Beginn der Revolution in Deutschland; durch die Erfahrungen
des Streiks wurde den Arbeitern klar, dass nur der Umsturz des politi-
schen Systems zur Durchsetzung ihrer Forderungen übrig blieb.“ (146)
4 Zit. nach dem 17. Kapitel aus Richard Müllers 1924 erschienenen Band 1 seiner Geschichte der deutschen Revolution, abgedruckt als Dokument Nr. 1 im Anhang des Tagungsbandes Streiken gegen den Krieg... (s. Anm. *), hier: S.93f.
14
Auch Wolfgang Abendroth rückt die Betriebsobleute der Berliner Metall-
arbeiter als Handelnde in den Mittelpunkt unserer Aufmerksamkeit. Sie
waren die Organisatoren des Kampfes (Abendroth 1997, 158) und be-
wahrten ihre Unabhängigkeit nicht nur gegenüber SPD und Gewerk-
schaftsleitungen, sondern auch in ihrem Verhältnis zur USPD. Die Spar-
takusgruppe erwähnt er, wo es um den Januarstreik geht, mit keiner
Silbe – sie war kein Träger der Bewegung, kein nennenswertes Subjekt.
Deutlicher als die meisten Historiker, die nicht in erster Linie Gewerk-
schaftsgeschichte schreiben, unterstreicht Abendroth die gewerkschaft-
liche Verankerung der Streikbewegungen von April 1917 und Januar
1918, nämlich im DMV. Falsch ist seine Behauptung, die Gewerkschafts-
führung sei in Berlin der Streikleitung beigetreten (161).
Eine problematische Nachwirkung sieht Abendroth darin, dass der
Januarstreik antigewerkschaftliche, linksradikale Haltungen verstärkte:
„Da sich die geschlagenen Arbeiter betrogen fühlen – (…) auch durch
die Gewerkschaftsführung … – , breiten sich nun antigewerkschaftliche
Stimmungen zum Teil irrationalster Art auch unter diesen revolutionären
Kadern aus, die nur noch auf das Prinzip der Räte setzen.“ (ebd.)
Abendroths Kritik zielt sowohl auf Teile der USPD-Linken als auch des
Spartakusbundes.
Die Organisationsform und die Form politischer Praxis des Berliner
Obleute-Kreises hat vielleicht am genauesten Peter von Oertzen unter-
sucht, von dem eine der wichtigsten Arbeiten über die betrieblichen Ar-
beiterräte 1918/19 stammt (von Oertzen 1976). Die Gruppe der Obleute
entwickelte sich aus Funktionären des Berliner Metallarbeiter-Verban-
des, die mit der Burgfriedenspolitik ihrer Gewerkschaft nicht einverstan-
den waren (72). Den Kern bildeten 50 bis 60 Betriebsdelegierte, die
ihrerseits einen Kreis von Vertrauensleuten um sich sammelten (74). Die
Obleute waren eine „reine Arbeiterorganisation“; sie waren „im Grunde
15
nichts anderes als die Organisation der Arbeitermassen selbst. Wenn sie
in Aktion treten wollten, dann stand ihnen als Mittel nur Massenstreik und
Demonstration zur Verfügung, also spezifische außerparlamentarische
Kampfformen.“ (73) Weder USPD noch Spartakusgruppe besaßen im
Allgemeinen einen unmittelbaren Einfluss auf die Betriebsbelegschaften.
Die elfköpfige Streikleitung in Berlin bestand nur aus revolutionären
Obleuten. „Dass noch je drei Vertreter der SPD und der USPD zur
Streikleitung hinzugezogen wurden, war … unerheblich; die Führung der
Streiks lag eindeutig bei den Obleuten.“ (75) Die Obleute waren bei ihrer
Belegschaft weithin anerkannt als betriebliche Arbeitervertreter, nicht als
(USP-) Parteipolitiker. Von Oertzen stellt die unmittelbare Verknüpfung
von Führung und Masse im Januarstreik 1918 heraus:
„Die Obleute geben in einer Facharbeiterversammlung das Signal, die Fach-
arbeiter veranlassen in den Betrieben die Niederlegung der Arbeit, die Beleg-
schaften wählen ihre Vertreter, die in einer Versammlung die ursprünglichen
Initiatoren zu Leitern des Streiks bestimmen.“
In dieser Form von Arbeiterpolitik liegt nach Peter von Oertzen die nach-
wirkende, weitreichende Bedeutung des Januarstreiks. In der Streik-
aktion werden „wesentliche Grundzüge des Rätesystems sichtbar. Nach
dem Schema der Berliner Streikleitung von Januar/Februar 1918 sind,
mit geringfügigen Abweichungen, in der Revolution [im November 1918/
d. Verf.] zahlreiche Arbeiterräte gebildet worden.“ (75f.)
Die Praxis der Obleute während des Kriegs zeigte keimförmig die Bedin-
gungen und Möglichkeiten und Grenzen der Rätebewegung, ihre Gren-
zen. Der Gegensatz zur traditionellen SPD-Politik konnte schärfer kaum
sein.
„Die sozialdemokratischen Parteivertreter betrachteten den Streik nicht als eine
Aktion der Arbeiterschaft als solcher. Die Arbeiter als solche waren für sie keine
handlungsfähigen Subjekte. Handlungsfähig, und das heißt damit auch hand-
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lungsberechtigt, waren in ihren Augen einzig und allein Partei- und Gewerk-
schaftsorganisationen; ihnen oblag auch die Führung der unorganisierten
Masse.“ (76)
Die Rätebewegung, erkennt von Oertzen richtig, musste in Konflikt gera-
ten mit der Vereinstradition der deutschen Arbeiterbewegung, und „in
diesem Gegensatz liegt ein wesentlicher Grund ihres Scheiterns“ (78).
Nochmals: die Gewerkschaften – unterschiedliche Sichtweisen
Was aber ist der gewerkschaftlichen Geschichtsbetrachtung nach 1949 –
in der alten BRD und bis heute – über den Januarstreik von 1918 zu ent-
nehmen? Einschlägig sind das von Klaus Schönhoven verfasste Haupt-
kapitel in dem 1987 im gewerkschaftseigenen Bund-Verlag erschienenen
Band Geschichte der deutschen Gewerkschaften von den Anfängen bis
1945, Heinrich Potthoffs Freie Gewerkschaften 1918-1933 sowie zuletzt
die Monographie Kleine Geschichte der Gewerkschaften in Deutschland
von Michael Schneider (Forschungsinstitut der FES), 2000 in zweiter
Auflage erschienen. Außerdem sind heranzuziehen Fritz Opels Arbeit
über den DMV in Ersten Weltkrieg und der vom Vorstand der IG Metall
zuletzt 1991 herausgegebene Erinnerungsband 100 Jahre Industrie-
gewerkschaft 1891 bis 1991. Meine Frage lautet: Welche Bedeutung
wird der damaligen Antikriegsbewegung der Arbeiterinnen und Arbeitern
zugemessen, wie werden die Lage und das Handeln der Gewerkschaf-
ten gesehen und gewertet?
Schönhoven betont sozialen Protest und betriebliche Organisation als
wichtige Momente der Streikbewegung. Eine wachsende Protesthaltung
in der heterogenen Arbeiterschaft – besonders bei Frauen und Jugend-
lichen, aber auch bei qualifizierten Facharbeitern – führte zu Streiks, die
ihren Höhepunkt im Januar 1918 erreichten (Schönhoven 1987, 273f.).
„Gerade bei den Massenstreiks der Berliner Rüstungsarbeiter … stellten
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sich Arbeiterausschüsse an die Spitze der Bewegung, die über langjäh-
rige Erfahrungen in der praktischen Gewerkschaftsarbeit verfügten (…).“
(276) Kennzeichnend waren die basisnahe, betriebsbezogene Konflikt-
austragung, selbstständige Arbeitskampfführung und direktdemokra-
tische Legitimation durch aktive Meinungsbildung auf der Ebene der
Belegschaften. Ohne Beschönigung bemerkt Schönhoven zur Lage der
Gewerkschaftsapparate, sie hätten 1917/18 erheblich an Autorität ver-
loren und kein Rezept mehr anzubieten gehabt. Bis zum Sturz der
Monarchie blieben die Gewerkschaften „Gefangene ihrer eigenen
Strategie“ (277), die darin bestand, für ihre patriotische Pflichterfüllung
politisch-rechtliche und soziale Gegenleistungen einzufordern. Eine
Sackgasse, aus der es kein Entrinnen gab? Wer und was trieb denn in
den Gewerkschaften dazu, Patriotismus nicht anders als im Burgfrieden
mit der kaiserlichen Regierung und den Unternehmern zu praktizieren?
Die Gewerkschaftspolitik im Ersten Weltkrieg hinterfragt Schönhoven
nicht auf die ihr zu Grunde liegenden Interessen und Kräfteverhältnisse;
sie erscheint letztlich alternativlos, schicksalhaft.
Heinrich Potthoff berührt die Januarstreiks in seiner Gewerkschafts-
geschichte der Weimarer Republik im Abschnitt „Räte und Betrieb“.
Basisvertretungen wie die DMV-Obleute oder Arbeiterräte, wie sie
erstmals im April 1917 gebildet worden waren, besetzten durch selbst-
ständige Aktionen „ein bisher von den Zentralverbänden nur unzu-
reichend erschlossenes Feld.“ (Potthoff 1987, 160) Hinzu kam 1916 ein
Hilfsdienstgesetz, das in den Betrieben die Bildung nicht-gewerkschaft-
licher Interessenvertretungsorgane (Arbeiterausschüsse) vorschrieb.
Den Gewerkschaften habe sich, so Potthoff, seit Kriegsbeginn zuneh-
mend das Problem gestellt, wen sie in den Betrieben, in der Arbeit-
nehmerschaft eigentlich noch repräsentierten. In der Tat: 1914 zählte die
sozialistische Gewerkschaftsrichtung in Deutschland 2,5 Millionen Mit-
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glieder – dreieinhalb Jahre später stellten sich große Teile der Arbeiter-
klasse, und darunter viele Mitglieder und Funktionäre des DMV, die
Frage, ob Arbeiterpolitik überhaupt noch Gewerkschaften brauche. Ob
die dramatische Situation der Gewerkschaften womöglich mit den Defizi-
ten ihrer zentralistischen Verbandsorganisation und mit ihrer politischen
Gesamtstrategie im Krieg zusammenhing, ist für Potthoff kein Erkennt-
nisobjekt. Er beschreibt ohne zu kritisieren und die innergewerkschaft-
lichen Konflikte offen zu legen.
Michael Schneiders Standardwerk wird etwas deutlicher. Er sieht in der
unveränderten Strategie des „Burgfriedens“ im Krieg den entscheiden-
den Grund für Krise und Demobilisierung der Gewerkschaften. Die Teil-
nehmer der Massenstreiks im Januar 1918, von der Burgfriedenspolitik
der Gewerkschaften abgestoßen, schlossen sich den revolutionären Ob-
leuten an (Schneider 2002, 139). Skeptisch beurteilt er die Rückwirkung
der Streiks in den gewerkschaftlichen Organisationen. „Der direkte prak-
tische Erfolg war nicht allzu groß; auch zeichnete sich kein Einfluss auf
die Grundlinie der gewerkschaftlichen Politik ab. Allenfalls indirekt wirkte
sich der Massenprotest aus (…).“ (ebd.) Immerhin habe der Januarstreik
eine starke politische Mobilisierung innerhalb und außerhalb der Ge-
werkschaften erreicht. Über die behaupteten indirekten Wirkungen würde
man gerne mehr erfahren.
Schauen wir zum Abschluss nach, wie der DMV bzw. die IG Metall
Erfahrungen aus diesem Massenstreik zusammenfassten. In seiner
Schrift Der DMV während des ersten Weltkrieges und der Revolution
fragt Fritz Opel, enger Mitarbeiter von Otto Brenner, dem 1. Vorsitzenden
der IG Metall von 1956 bis 1972, genauer nach der Rolle der Gewerk-
schaften. Gegen deren Ziele und Absichten bereiteten die betrieblichen
Obleute in der Metallindustrie den Streik vor. Er galt ihnen als ein Mittel
der politischen Demonstration, nicht als ein Kampf um die Staatsmacht
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(wie der Spartakusbund propagierte). Die organisierende Funktion der
Obleute und die Bildung einer Streikleitung in Berlin mit Vertretern der
beiden sozialdemokratischen Parteien zeigten, so Opel, „dass die Ge-
werkschaftsleitung in Gefahr war, jegliche Autorität bei den Arbeitern zu
verlieren, wenn sie sich gegen die Bewegung stellte.“ (Opel 1980, 71)
Tatsächlich lehnten die Obleute im Verlauf des Streiks Angebote der
Generalkommission zu vermitteln strikt ab. Am Ende der Streikwoche –
als klar war, dass die Streikziele (noch) nicht durchgesetzt werden konn-
ten – waren es die Obleute (nicht die Generalkommission oder Friedrich
Ebert), die den Streik abbrachen. Sie wollten den offiziellen Gewerk-
schaftsrepräsentanten „nicht die Rolle eines Retters in der Not zuerken-
nen, nachdem sie einen langjährigen Kampf geführt hatten, die Massen
dem Einfluss der Gewerkschaftsführung zu entziehen und zu selbststän-
digem Handeln zu bringen.“ (ebd.)
Darstellung und Wertung der Januarstreiks von 1918 in dem Band
100 Jahre Industriegewerkschaft 1891 bis 1991 folgen im Wesentlichen
der Interpretation Fritz Opels. Auch in der Selbstdarstellung der IG Metall
ist die Rede von der „großen Streikbewegung des Jahres 1918, an deren
Spitze wiederum [wie im April 1917/d.Verf.] die Vertrauensleute der Ber-
liner Metallarbeiter standen.“ (100 Jahre IG 1991, 190) Beide Veröffent-
lichungen gehen den internen Auseinandersetzungen im DMV nach den
Januarstreiks nach. In den scharfen Kontroversen, die durch Artikel in
der Metallarbeiter-Zeitung zwischen März und Sommer 1918 noch zuge-
spitzt wurden, sei offenbar geworden, dass nun eine Mehrheit der Mit-
glieder und Funktionäre die Politik des Vorstandes ablehnte (193).
Auch wenn der Streik abgebrochen werden musste – die in den Januar-
tagen manifest gewordene Krise der Gewerkschaften setzte sich fort,
und der DMV als größte Einzelgewerkschaft war längst auf dem Weg
eines Strategiewechsels. Fritz Opel macht anders als Michael Schneider
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deutlich, dass die Massenstreiks während des Kriegs jene Teile der
Gewerkschaften stärkten, die ein anderes Konzept von Gewerkschaft
unterstützten. Die politischen Antikriegsstreiks veränderten die Kräftever-
hältnisse in verschiedenen Gewerkschaftsverbänden, was sich vor allem
in der politischen Umorientierung des DMV 1918/19 niederschlug.
Gewerkschaftsgeschichtsschreibung heute wird sich an Standards mes-
sen müssen, die Fritz Opel besonders da setzte, wo es ihm um das Be-
greifen des selbstständigen Handelns der Menschen in der Geschichte
und um das kritische Hinterfragen von Gewerkschaftspolitik ging. Um
heute ein realistisches, auf eingreifendes Handeln orientiertes Verständ-
nis dieser Massenstreikbewegung zu gewinnen, werden die Beiträge von
Klönne, Abendroth und von Oertzen unbedingt zu berücksichtigen sein.
Was vom Januarstreik vor allem ausging, waren politische Lernprozesse
bei den vielen, die dabei waren. Die Betriebsvertrauensleute der Metall-
industrie, die Frauen und Jugendlichen in den Betrieben machten neue
Erfahrungen in diesem politischen Demonstrationsstreik und gingen ver-
ändert in die Auseinandersetzungen im November 1918. Streik, erfolg-
reiche Mobilisierung, aber auch der notwendige Rückzug verhalfen
vielen Beteiligten zu der für sie neuartigen Überzeugung, dass ohne
Sturz der Regierung und des politischen Systems weder Frieden noch
innenpolitische Reformen zu erreichen waren. Arno Klönne hatte eine
praktische Beziehung im Sinn: Die Novemberrevolution 1918, sie be-
gann im Januar.
* * *
Grundlage dieses Textes war ein Vortrag auf einer Tagung der IG Metall, die zum Thema Streiken gegen den Krieg – die Bedeutung der Massenstreiks in der Metall-industrie vom Januar 1918 im Rahmen der Veranstaltungsreihe FORUM POLITISCHE BILDUNG am 25. und 26. Januar 2008 in der Bildungsstätte Berlin stattfand. In über-arbeiteter Fassung ist dieser Beitrag zusammen mit vier weiteren und acht Dokumen-ten in dem Tagungsband gleichen Titels abgedruckt, der im VSA-Verlag erschien (ISBN 978-3-89965-320-5) und im Buchhandel zum Preis von 10,80 € erhältlich ist.
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Autorenangabe
Heidenreich, Frank, geb. 1956; Gewerkschaftsmitglied seit 1976 (GEW, IG Metall).
Studium der Politischen Wissenschaften und der Geschichte an der FU Berlin, Pro-
motion zum Dr. phil. mit einer Untersuchung zur Arbeiterkulturbewegung (als Buch
erschienen 1995 im Böhlau-Verlag unter dem Titel Arbeiterkulturbewegung und
Sozialdemokratie in Sachsen vor 1933). Gewerkschaftssekretär und seit 1991 päda-
gogischer Mitarbeiter an der Bildungsstätte Berlin der IG Metall. Mitglied bei Attac.
Literatur:
100 Jahre Industriegewerkschaft 1891 bis 1991. Vom Deutschen Metallarbeiter-Verband
zur Industriegewerkschaft Metall, hrsg. vom Vorstand der IG Metall. Köln 1991 (zit. 100
Jahre IG).
Abendroth, Wolfgang, Einführung in die Geschichte der Arbeiterbewegung. Von den Anfän-
gen bis 1933. 3. Aufl., Heilbronn 1997.
Boll, Friedhelm, Frieden ohne Revolution? Friedensstrategien der deutschen Sozialdemo-
kratie vom Erfurter Programm 1891 bis zur Revolution 1918. Bonn 1980.
Correspondenzblatt der Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands, 29. Jg.,
Berlin 1919 (zit. CorrGK) – hier: Nr. 1 vom 4.1.1919, S.1-4, Rückblick auf das Jahr 1918.
Der Deutsche Metallarbeiter-Verband im Jahre 1918, Jahr- und Handbuch, hrsg. vom
Vorstand des DMV. Stuttgart 1919 (zit. DMV 1918).
Deutsche Metallarbeiter-Zeitung, hg. vom Vorstand des DMV, 36. Jg., Stuttgart 1918
(zit. DMZ) – hier: Nr. 10 vom 9.3.1918, Ihr sollt selbst entscheiden!
Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung (in acht Bänden), hg. vom Institut für Marxis-
mus-Leninismus beim ZK der SED, Bd. 3 (von 1917 bis 1923). Berlin (Ost) 1996 (zit. AB).
Geschichte der revolutionären Berliner Arbeiterbewegung, Bd. 3 (von 1917 bis 1945),
hrsg. von der Bezirksleitung der SED. Berlin (Ost) 1987 (zit. Berliner AB).
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Grebing, Helga, Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Von der Revolution 1848 bis
ins 21. Jahrhundert. Berlin 2007.
Illustrierte Geschichte der Deutschen Revolution. Berlin 1929 (zit. Revolution).
Illustrierte Geschichte der deutschen Novemberrevolution 1918/1919, hg. vom Institut für
Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Berlin (Ost) 1978 (zit. Novemberrevolution).
Klönne, Arno, Die deutsche Arbeiterbewegung. Geschichte – Ziele – Wirkungen.
3. Aufl., Köln 1983.
Lern- und Arbeitsbuch deutsche Arbeiterbewegung. Darstellung – Chroniken – Dokumente
(4 Bde). 2. Aufl., Bonn 1988 (zit. LERN).
Miller, Susanne, Burgfrieden und Klassenkampf. Die deutsche Sozialdemokratie im Ersten
Weltkrieg. Düsseldorf 1974.
Oertzen, Peter von, Betriebsräte in der Novemberrevolution. Eine politikwissenschaftliche
Untersuchung über Ideengehalt und Struktur der betrieblichen und wirtschaftlichen
Arbeiterräte in der deutschen Revolution 1918/19 (= Internationale Bibliothek, Bd. 93).
2. Aufl., Bonn-Bad Godesberg 1976.
Opel, Fritz, Der Deutsche Metallarbeiter-Verband während des ersten Weltkrieges und der
Revolution (= Schriftenreihe der Otto Brenner Stiftung, Bd. 20). 4. Aufl., Köln 1980.
Potthoff, Heinrich, Freie Gewerkschaften 1918-1933. Der Allgemeine Deutsche
Gewerkschaftsbund in der Weimarer Republik. Düsseldorf 1987.
Potthoff, Heinrich, und Susanne Miller, Kleine Geschichte der SPD 1848-2002.
8. Aufl., Bonn 2002.
Rosenberg, Arthur, Entstehung der Weimarer Republik. Frankfurt/Main 1961.
Schneider, Michael, Kleine Geschichte der Gewerkschaften. Ihre Entwicklung in Deutschland
von den Anfängen bis heute. 2., überarb. Aufl., Bonn 2000.
Schönhoven, Klaus, Die Gewerkschaften als Massenbewegung im Wilhelminischen Kaiser-
reich 1890 bis 1918. In: Geschichte der deutschen Gewerkschaften von den Anfängen bis
1945. Köln 1987, S.169-278.
Witt, Peter Christian, Friedrich Ebert. Parteiführer – Reichskanzler – Volksbeauftragter –
Reichspräsident. 3., überarb. Aufl., Bonn 1992.
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