Die Konstitution der Borate

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316 Zeitschrift fur anorganische und allgemeine Chemie. Band 193. 1930

Die Konstitution der Borate Von FRIEDRICH L. HARN

Uber die Konstitution der Borate veroffentlicht E. WIBERG Vor- stellungen l), die elektronentheoretische Anschauungen mit Formel- bjldern vereinigen, wie sie vor ALFRED WERNER ublich waren. 5 Bor- und 6 Sa,uerstoffatome in langer Kette miteinander verknupft, (im Pandermit muBten es gar 10 + 11 sein), das weicht von allen jetzt ublichen Vorstellungen uber die Konstitution von Komplexverbin- dungen und Polysauren so weit ab, da13 es wohl stichhaltiger begrundet sein mii13te.

Vor dem Erscheinen der WIBERG’SChen Arbeit hatten mich Be- obachtungen uber das Verhalten der Borsaure beim Titrieren zu ganz bestimmten Vorstellungen uber die Konstitution der Borate gebracht ; Durchsicht der Literatur ergab dann, daB Anschauungen, die sich von den meinigen nur in wenigen, aber nicht ganz unwesentlichen Punkten unterscheiden, schon von P. H. HERMANNS z, und von H. MENZEL (mit HERMANNS) 3, vertreten worden sind. WIBERG lehnt diese Vorstel- lungen ab mit der Begrundung, daB sie die Hydratationsstufen der Polyborate nicht erklaren; ich glaube, daB er hierin irrt.

Die Grundtatsache der gesamten Boratchemie, der jede Kon- stitutionstheorie vor allem gerecht werden mu13 und die WIBERG nicht berucksichtigt, ist die folgende: Die groBe ganze Mannigfaltigkeit der kristallisierten Borate verschwindet restlos in Lijsungen der Saure oder ihrer Salze; alle Losungen entsprechen in allen ihren Eigenschaften den Bquivalenten Gemischen von Metaborat mit Saure oder Metaborat mit Lauge. Die Polyborate mussen also in ihrem Verhaltnis zum Mono- borat durch Formeln ausgedruckt werden, die den Ubergang vom einen ins andere m i n d e s t e n s so leicht erscheinen lassen wie den Ubergang vom Chromat zum Dichromat und umgekehrt. Mehr noch: Obwohl aus wa13riger Liisung die Abscheidung eines normalen Salzes der drei-

1) E. WIBERG, Z. anorg. u. allg. Chem. 191 (1930), 43. 2) P. H. HERMANWS, Z. anorg. u. allg. Chem. 142 (1925), 95. 3, H. MEWZEL u. P. H. HERMANNS, Z. anorg. u. allg. Chem. 166 (1987), 90.

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basischen ,,Ortho"-Saure erhalten werden kann, namlich Mg,(BO,),. 9H,O, verhaIt sich in allen homogenen Losungen die Borsaure durchaus wie eine nur einbasische Saure. Nicht die geringste Richtungsanderung in der Volumen-Potential-Kurve zeigt bei allmahlichem Laugenzusatz die Absattigung der zweiten und der dritten Stufe an, und nur aus dem Ausbleiben dieser Richtungsanderungen und aus dem Verhalten der freien Saure und des primiiren Salzes (also des ,,Meta"-Borates) gegenuber Reagenszusatzen konnten neuerdings Werte fur die hoheren Dissoziationskonstanten der Borsaure abgeleitet werdenl) ; bis jetzt hatten sie sich jeder Messung, je selbst jeder Schatzung entzogen.

Eine Strukturchemie der Borate mu13 also davon ausgehen, daf3 in verdunnter Losung, gleichgultig ob frei oder gebunden, Ortho- borsaure oder gar Polyborsauren nur in unmeBbar kleiner Menge vor- handen sind und dal3 die Abscheidung von festen Ortho- oder Poly- boraten nur durch die Loslichkeitsverhaltnisse und die praktisch zeit- lose Nachbildung der ausgeschiedenen Salze bedingt sein kann. Wenn aber in wa13riger Losung, und gerade in verdunnter, die ,,Meta"-Bor- saure unbedingt vorherrscht, dann ist von ihr zu vermuten, da13 sie nicht die wasserarmste, sondern gerade die wasserreichste aller denk- baren Formen ist, und so wird man unmittelbar zur Annahme der Tetra-hydroxyborsaure H[B( OH),] als Formelbild der wahren, ein- basischen Borsaure gedrangt. Damit ist, wie z. T. schon HERMANNS und MENZEL betont haben, der AnschluS an eine Reihe wohlbekannter Stoffe hergestellt : Die Bor-fluorwasserstoff-saure H[BFJ die Tetra- alkoxy-borsauren H[B(OR),], zu denen auch die Salicylo- und Brenz- catechino-borsauren zu rechnen sind 2, ; man vergleiche hierzu auch die systematischen Untersuchungen von H. MEERvvEI~'.~)

Von hier aus entwickeln sich die Konstitutionsformeln der ubrigen Monoborsauren und der Polyborate aus folgenden Annahmen, die sich einerseits aus der Chemie der in ihrer Struktur s i che r b e k a n n t e n K o m p l e x b o r s a u r e n ergeben, anderseits sich mit dem decken, was ganz a l lgemein i n de r Chemie d e r P o l y s a u r e n a n e r k a n n t ist.

1. Bor ist dreiwertig, d. h. die Verbindungen BF,, B(OH),, B,O, usw. sind neutrale Molekule.

2. Bor kann als Zentralatom eines Komplexes dreizghlig oder vierzahlig sein, d. h. es kann 3 oder 4 einzahlige Liganden wie -F', -OH', -OR', -0" (siehe unter 4!), allgemein - X oder -Y" binden; je

1) Gemeinsam mit R. KLOCKMANN, Z. phys. Chem., im Druck. 2) Literatur bei HERMANNS, Anm. 2. 3, H. MEERWEIN, Lieb. Ann. 455 (1927), 227.

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zwei einzahlige Liganden kiinnen durch einen zweizahligen wie -’O-R-0’- (Rest einer Oxysaure oder eines Diols) oder -’O-0’- (Rest des H,O,) ersetzt sein. - Die Ladung des entstehenden Komplexes, also die Basizitat der entstehenden Saure ist gleich der Summe der Ladungen der Liganden vermindert um 3.

3. Polyborate entstehen so, da13 -X’ oder -Y” Anionen niederer Borsauren sind.

4. Sauerstoff ist ein zweiwertiger, aber nur einzahliger Ligand, cl. h. das aweifach negativ geladene Sauerstoffion besetzt am Zentral- atom stets nur e k e Koordinationsstelle. - Unterschied gegen HER- MATU’KS und MENZEL, die den Sauerstoff zwei Koordinationsstellen besetzen lassen. Erstens ware dies ohne jedes Analogon in der gesamten Komplexchemie und zweitens muate man d a m in den Orthoboraten das Bor als sechszahlig annehmen, wofur jede Berechtigung fehlt, SO-

lange niclit andere Verbindungen mit, sechszahligem Bor: wie etws [B( -fO-R-O’-)3]’’f bekannt sind.

Konstitution der Borat-lonen I& [B(OHhI’ M o n o b o r a t e

‘ I , - H,O!l + H,O

- 11. - H’ I [OB(OH),]’ z? [O,EOH]” F? rfm,I’’ + 1% + H.

I1 TI1 - B,O I A f H,O

Y l

_ _ _ _ _ - - I b [BO,]’

I V a [OB[B(OH),],]” IV [OB[OB( OH),]3]” T e t r a b o r a t e

Per b o r a t e

Surnmenforrneln der Sauren Ia HBO,.2H,O I HBO,.H,O (Ib HBO,)

Va HB,O,. 8H,O V HB50,*4K,0 V b HB,O, . 2 H,O Vc HB50,.H,0 V d HB,O, Ve H,B,OS. 3 N,(3

IVa H2B40, * 6H,O IV H2B,0,. 3H,O

VIa, b, c HBO, * H20

Die Anionen der danach moglichen Monoborsauren zeigen die Formeln 1-111 der Tabelle. Urn 1 Mol armer en Wasser als die Tetra-

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hydroxy-borsaure I a ist das ebenfalls einwertige Ion I, mit dem die zwei- und dreiwertigen Ionen I1 und I11 in einem dureh die Wasser- stoffionen-Konzentration beherrschten Gleichgewicht stehen. Die Sauren dieser Ionen haben alle die Summenformel H,BO, , stellen also tautomere Formen der ,,Ortho“-Borsaure dar. Das zentrale Roratom ist in ihnen dreizahlig, wie auch in den Alkoholverbindungen der all- gemeinen Formel H[O”-B(-’O-R-O’-)], wie diese diirften sie nur schwache Sauren sein; dies oder die nur allmahlich erfolgende Um- wandlung der niederbasischen in die hoherbasischen Formen erklart den vollig kontinuierlichen Verlauf der Neutralisationskurve.

Daneben ist noeh das alte ,,Meta“-Boration [BO,]’ denkbar (Ib). Zu der Annahme, daB es in waBriger Ldsung von Borsaure oder ihren Salzen vorhanden ist, liegt kein Grund vor, ebensowenig scheint es primar als Ligand im Komplex kristallisierender Polyborate vor- zukommen, nur bei kraftiger Entwasserung von diesen bildet es sich.

Indem nun I a oder I an Stelle von Hydroxyl, I1 an SteIIe von Sauerstoff in diese Formeln tritt, entstehen die Formelbilder aller denkbaren Polyborate; unter IV und V sind fur sie einige der moglichen Tetra- und Pentaborate angegeben. Zu beachten ist, da13 Va bis Vd einbasisch sind, wahrend Ve der dreibasischen Saure des Boronatro- calcits zugehort.

Als wichtigsten, eigentlich einzigen Gegensatz gegen die Formu- lierungen nach HERMANNS-MENZEL und fur die seinigen macht WI- BERG geltend, daB sie die Hydratationsstufen der Polyborate besser erklare. Das trifft kaum zu; ganz sicher gilt es nicht fur die von mir vorgeschlagenen Formeln. Weder unmittelbar aus waBriger Losung noch durch ge l in d e s Entwassern wird irgendein Borat erhalten, dessen Wassergehalt unter dem von diesen Formeln geforderten ist ; vielfach entspricht er genau den Formelii oder es treten bei stufenweiser Ent- wasserung die Hydratstufen dieser Formeln auf. Um von den vielen moglichen wenigstens einige Beispiele zu erwahnen : Calcium-,,meta- borat‘‘ Ca(B0,),-4H20 ist das Salz nach Formel Ia , mit 2H,O iiach Formel I. Der Formel V, MeB5O,.2H,O entsprechen die Salze von K, NH,, T1’ und Guanidin; das Rubidiumsalz enthalt 5 Mol Wasser und verliert davon eins schon bei looo, weitere drei erst bei 140O. Das Calciumsalz mit 4Mol Wasser ist bei 1400 noch bestandig und verliert 3 Mol Wasser bei 182O (siedendes Anilin). Oder, was WIBERG als besonders beweiskraftig fur seine Formulierungen ansieht : Natrium- pentaborat krystallisiert mit 10 Mol Wasser, das ware Va und 2 Mol Wasser beim Kation, fur ein Natriumsalz gewiB keine unwahrschein-

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liche Annahme. Bei gelindem Entwassern geht der Gehalt auf 4 Mol H,O zuruck (V), sohwerer werden zwei weitere Mol Wasser abgegeben (Vb), noch schwerer das vorletzte (Vc) und erst iiber 2000 das letzte (Vd).

Die hoheren Polyborate, Hexa, Okto, Deka, entstehen, indem die Anionen niederer Polyborate als Liganden in die Formeln unter I eintreten.

Ein weiterer Vorzug dieser Formulierungen ist, daI3 sie das Auf- treten von Perboraten verschiedenartigen Reaktionsvermogens selbst- verstiindlich machen; die Verbindungen unter VIa und VIb einersehs und unter TIC anderseits stellen zwei durchaus verschiedene Typen von Perboraten dar und sind vollkommen den Formeln fur die ein- faclien Borate und fur die Borate mit organischen Komplexteilen an- gepal3t. Es ist nach ihnen auch ohne weiteres verstandlich, daI3 Natriumperborat, NaBO3.4H,O, vermutlich der Formel VIa ent- sprechend mit 2 Mol Wasser am Kation, 3 3101 Wasser leicht abgibt (VIb), das letzte aber nur unter Zersetzung verliert.

Zusam menf assu ng

Die groBe Mannigfaltigkeit der einfachen Borate, Polyborate und Komplexborete kann durch einheitliche Formeln dargestellt werden, die durchaus der iiblichen Formulierung von Komplexen und Isopoly- sauren entsprechen. Die Annahme langer Atomketten ist nicht not- wendig; sie muBte deshalb, sollte sie glaubhaft erscheinen, entweder wie in der organischen Strukturchemie durch Isomeriebeobachtungen oder durch Bontgenaufnahmen gestutzt wertlen.

Frankfurt a. M., Chemisches Insti td der Universitat.

Bei der Redaktion eingegangen am 19. September 1930.

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