ERWARTUNGEN DES FORENSIKERS AN DIE JUSTIZ · Prof. Dr. med. Marc Graf Klinik für Forensik...

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Prof. Dr. med. Marc GrafKlinik für ForensikUniversitäre Psychiatrische Kliniken Basel

ERWARTUNGENDES FORENSIKERS

AN DIE JUSTIZ

Frühjahrsanlass ZVR

Luzern, 16. Mai 2019

Gliederung

1. Einleitung2. Aktuelle und wahrscheinliche zukünftige Entwicklungen:

a) Rollen Anforderungen an Sachverständige, BGE Fragenkatalog

b) Diagnostik, Eingangsmerkmal für Massnahmenc) Massnahmend) Risikobeurteilung

Methodik Verlaufsbeurteilung Moderne Verfahren

3. Schlussfolgerungen4. Fragen, Diskussion

Rollen: Anforderungen an Sachverständige, BGE

Rollen: Anforderungen an Sachverständige, Gemeinsamkeiten, Unterschiede ΨPsychiater: Körperliche

Untersuchung Labormedizinische

Untersuchung Körperliche Diagnosen Indikation/Wirkung von

Medikamenten Schnittstelle zu anderen

medizinischen Fachgebieten

Gemeinsam: Psychostatus Diagnostik Schuldfähigkeit Risikobeurteilung Massnahmeindikation Therapieevaluation

(Psychotherapie)

Psychologen: Leistungsdiagnostik: Intelligenz Demenz Spezifische

psychologische Diagnostik:

Persönlichkeit Paraphilien Aussageverhalten

Rollen: Anforderungen an Sachverständige, BGE1. Bger 6B_459/2013: Sowohl die Gesetzesmaterialien als auch die

bisherige bundesgerichtliche Rechtsprechung und die Lehrmeinungen tendieren dazu, dass eine "sachverständige Person" im Sinne von Art. 20 und 56 Abs. 3 StGB in aller Regel ein Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie sein muss. Es sind keine Gründe ersichtlich, weshalb von dieser Auffassung abgewichen werden sollte. … Angesichts der interdisziplinären Fragestellung ist es jedoch zulässig und erstrebenswert, dass psychiatrische Gutachter einzelne Fragen einem Psychologen (oder Psychotherapeuten) stellen oder diesen mit (testpsychologischen) Untersuchungen beauftragen (siehe dazu MAIER/MÖLLER, a.a.O., S. 148 ff.). Dabei bleibt jedoch stets der Psychiater für die Gutachtenserstattung verantwortlich. Dito BGer 6B_850/2013.Während die Aus- und Weiterbildung der Psychiater einen gewissen Qualitätsstandard gewährleistet, müsste bei nichtärztlichen Sachverständigen stets überprüft werden, ob sie im konkreten Fall die Anforderungen an die Sachkunde erfüllen.

Rollen: Anforderungen an Sachverständige, BGE2. BGE 140 IV 49 2014: Die sachverständige Person, die gestützt auf Art. 20

und 56 Abs. 3 StGB Gutachten erstellt, muss in aller Regel Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie sein (E. 2). Das kantonale Recht kann weitergehende Bestimmungen vorsehen (z.B. forensische Weiterbildung) . Anlass: Gutachten durch Rechtspsychologin

Rollen: Anforderungen an Sachverständige, BGE3. BGer 6B_265/2015: Eine Weitergabe der wesentlichen gutachterlichen

Aufgaben durch den ernannten Sachverständigen an eine Drittperson, wie sie hier vorliegt, ist mit der persönlichen Leistungspflicht des beauftragten Sachverständigen nicht (mehr) vereinbar und ohne ausdrückliche vorgängige Ermächtigung durch den Auftraggeber nicht zulässig (vorstehend E. 4.1.2).BGer 1B_553/2017: Psychologisches Gutachten nach vorgängigem psychiatrischem Gutachten ausreichend für Beurteilung der Rückfallgefahr.

4. BGer 1B_553/2017: Psychologisches Gutachten nach vorgängigem psychiatrischem Gutachten ausreichend für Beurteilung der Rückfallgefahr.

Rollen: Anforderungen an Sachverständige, BGE5. 6B_835/2017: Keine unzulässige Delegation liegt nach der

Rechtsprechung beispielsweise vor, wenn der mit der Begutachtung betraute Klinikdirektor die Aufarbeitung der Aktenlage und die Erhebung der biografischen Anamnese einem fachlich qualifizierten Mitarbeiter überliess, der Gutachter selber jedoch die Befunde erarbeitete und die Beurteilung vornahm. Das Zusammentragen der Aktenlage und die Anamnese sind zwar Teile eines psychiatrischen Gutachtens, doch bilden sie nicht den Kern eines solchen (Urteil 6B_989/2017 vom 20. Dezember 2017 E. 2.5). Der Sachverständige darf bei der Begutachtung zudem nicht nur Fachärzte für Psychiatrie und Psychotherapie, sondern auch psychologische oder weitere Fachpersonen als Hilfspersonen beiziehen. Angesichts der interdisziplinären Fragestellung ist es gemäss der bundesgerichtlichen Rechtsprechung zulässig, dass psychiatrische Gutachter einzelne Fragen einem Psychologen oder Psychotherapeuten stellen oder diesen mit testpsychologischen Untersuchungen beauftragen. … Der Beizug von Hilfspersonen ist im Gutachten transparent zu machen.

Rollen: Anforderungen an Sachverständige, BGE. Getroffene und weitere Massnahmen.1. Transparenz: Detaillierte Darstellung einleitend im Gutachten, wer, mit

welcher Qualifikation, hat was gemacht und weshalb. Im Zweifel vorgängig Rücksprache mit Auftraggeberin.

2. Strukturierte Weiter- und Fortbildung: 8.3.2028 Änderung der Statuten der SGFP > Gründung Sektion forensische Psychologie

möglich. 28.2.2019 an der GV Aufnahme der ersten Psychologinnen und Psychologen als

ordentliche Mitglieder in die SGFP > Ausarbeitung eines Curriculums welches zu einem Fachtitel der SGFP für Psychologen führt:

Klinische WB in anerkannter WB-Stätte Theoretische WB (Umfang ca. CAS) Supervidierte Gutachten und Therapien Wissenschaftliche Arbeit Theoretische und praktische Prüfung

3. CAS Forensische Psychiatrie und Psychologie– Staatsanwaltsakademie, juristische Fakultät Uni Luzern– Aktuell 2. Durchgang– 6 Blöcke à 3 Ausbildungstage, 60 % Jus, Dozenten aus Praxis und Akademie

Rollen: FragenkatalogFragenkatalog SGFP/SSK4.4. Ist die Anordnung einer stationären therapeutischen Massnahme im Sinne von Art. 59-60 StGB, einer ambulanten Behandlung im Sinne von Art. 63 StGB oder mehrerer Massnahmen im Sinne von Art. 56a StGB zweckmässig? Ist nur eine stationäre Behandlung geeignet, der Gefahr weiterer Straftaten zu begegnen oder genügt auch eine ambulante Behandlung? Welche Möglichkeiten der praktischen Durchführbarkeit der Massnahme gibt es?

Art. 56a:1Eine Massnahme ist anzuordnen, wenn:a. eine Strafe allein nicht geeignet

ist, der Gefahr weiterer Straftaten des Täters zu begegnen;

Verhältnismässigkeit Eignung (Zwecktauglichkeit) Erforderlichkeit Zweck-Mittel-Relation

Bsp. Massnahme Art. 59 StGB stationär oder Art. 63 ambulant

Behandlungsqualität und -Intensität

stationär: höhere Frequenz, Sozialtherapie, multiprofessionell

Sicherung

ambulant: Erhalt soziales Netz,Transfer, Übungsfeld, spezifische Angebote

stationär: Sicherheit, Monitoring direkt

ambulant: Erprobung, Bewährung, Monitoring indirekt

Diagnostik, Eingangsmerkmal für Massnahmen

• «schwere psychische Störung» als Eingangsmerkmal für Art. 56 und 63 StGB

• Neue Forderung: «nicht die Täter mit einer Diagnose Behandeln, sondern die gefährlichen».

Diagnostik, Eingangsmerkmal für Massnahmen

N = 732Federally incarcerated sex offenders, CanadaFollow-up mean 11.7 years

Diagnostik, Eingangsmerkmal für Massnahmen

• «schwere psychische Störung» als Eingangsmerkmal für Art. 56 und 63 StGB

• Neue Forderung: «nicht die Täter mit einer Diagnose Behandeln, sondern die gefährlichen».

• Verständlich aus Perspektive Vollzug.• Forderung negiert normativen Aspekt des Massnahmerechts.• Je ausgeprägter psychisch krank ein Straftäter, umso erfolgreicher

die Behandlung bezüglich Verminderung des Rückfallrisikos.• Ressourcen: Ca. 50 % der ca. 6’000 Gefängnisinsassen leiden an

einer dissozialen Persönlichkeitsstörung.• Wer soll all diese mit welchen Qualifikationen behandeln?

Stationäre Massnahmen Art. 59Anordnungen und Entlassungen, Anteil1984 bis 2017

Stationäre Massnahmen Art. 59Anordnungen und Entlassungen, Anteil5 Jahre verschoben, 1989 bis 2017

Verwahrungen Art. 641984 bis 2017

Insassenbestand Verwahrte nach Altergruppe

Risikobeurteilung: Methodik

Klaus P. Dahle 2010

Nomothetische (statistische) Verfahren

Normwerte Static-99 (www.static99.org)

«Mit dem Begriff der «narrativen Verzerrung» beschreibt Taleb (2008) die Tendenz des Menschen, sämtliche Ereignisse und Wahrnehmungen verstehbar machen zu wollen. Entsprechend dieser Neigung streben Menschen dazu, jede wahrgenommene Situation in sich logisch werden zu lassen, und insbesondere Experten/-innen – im Fall der Kriminalprognose Gutachter/-innen und ihre Auftraggeber/-innen – perfektionieren dieses genuine psychische Bedürfnis, indem sie für noch so ausgefallene, spezielle und oftmals höchst seltene Ereignisse vermeintlich zwangsläufige logische Erklärungsmodelle liefern.»

«Deliktmechanismus» ≠ «Delikthypothese»

Fehlerquellen

Ankereffekte (Bsp. Englich 2006: Playing dice with criminal sentences)

Basisraten

Bsp. DrogenschnelltestAutolenker unter

Drogen Summe

- +

Test- 40 5 55

+ 10 45 45

Summe 50 50 100

Bsp. DrogenschnelltestAutolenker unter

Drogen Summe

- +

Test- 72 1 73

+ 18 9 27

Summe 90 10 100

Vollendete vorsätzliche Tötungsdelikte CH 1990 bis 2014

Bundesamt für Statistik 2015

Rückfall-BasisratenRezidivraten > 50 %

SVG, Drogen, homosexuelle Pädophilie

Rezidivraten 25 – 50 %Körperverletzung, Eigentum, Exhibitionismus, heterosexuelle Pädophilie

Rezidivraten 10 – 25 %Raub, Brandstiftung, Vergewaltigung, sexuelle Nötigung

Rezidivraten 3 – 10 %Inzest, Gewaltdelikte bei Pädophilie

Rezidivraten < 3 %Mord und Totschlag

Müller und Nedopil, 2017

PCL-SV =0,887HCR-20+3 =0,919SVR-20 =0,888

Zahlen für VRAG (Rossegger et al. 2009, Review):0.54 bis 0.86 für Gewalttäter

Fehlerquellen

Ankereffekte (Bsp. Englich 2006: Playing dice with criminal sentences)

Basisraten

Risikokommunikation Numerisch vs. nicht-numerisch Klar numerisch, aber korrekt!

Rückfallwahrscheinlichkeit

Rückfallwahrscheinlichkeit

Wirksamkeit Therapie von SexualstraftäternVerfahren

Schmucker und Lösel 2008

Trefferquote Lügenaufdecken von Laien

Bond und DePaulo 2006

Trefferquote Lügenaufdecken nach Berufsgruppe

Aamodt und Custer 2006

Die zwei Beurteilungs-/Denksysteme

implizit: dehr schnell assoziativ unwillkürlich

explizit: langsam prozessual kontrolliert

Explicit Implicit Sexual Interest Profile

homosexuelle (♂ > ♀) pädosexuelle Präferenz

Art. 140 StPO

1 Zwangsmittel, Gewaltanwendung, Drohungen, Versprechungen, Täuschungen und Mittel, welche die Denkfähigkeit oder die Willensfreiheit einer Person beeinträchtigen können, sind in der Beweiserhebung untersagt.

2 Solche Methoden sind auch dann unzulässig, wenn die betroffene Person ihrer Anwendung zustimmt.

Erwartungen des Forensikers an die Justiz:

Eine kritische und kompetente Auseinandersetzung mit dem Beweis

des Sachverständigengutachtens.

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