Fortschritte in der Molekularbiologie und Pathophysiologie der SchmerzentstehungNeue Aspekte für...

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E. Genth Fortschritte in der Molekularbiologieund Pathophysiologieder Schmerzentstehung

Neue Aspekte für die Schmerztherapiein der Rheumatologie

Z Rheumatol 60:401–402 (2001)© Steinkopff Verlag 2001

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EDITORIAL

Prof. Dr. E. Genth ())Rheumaklinik undRheumaforschungsinstitutBurtscheider Markt 2452066 Aachen

Schmerz ist das häufigste und fürden Betroffenen am meisten be-einträchtigende Symptom musku-loskelettaler Krankheiten. Er istdas Resultat einer Vielzahl phy-siologischer und pathophysiologi-scher Prozesse unseres körper-eigenen Alarmsystems und auf-grund seiner zentralen Funktionvon entscheidender Auswirkungauf Gesundheitszustand und Le-bensqualität. Die Mechanismender Auslösung, Fortleitung undVerarbeitung von Schmerzsig-nalen und ihre Veränderbarkeitdurch chronische Reizzuständeauf der Ebene der Nozizeptoren,der Umschaltung im Rückenmarkund im Gehirn sind vielgestaltig.

Der chronische Schmerz, seinemolekularen und physiologischenUrsachen und seine Behand-lungsmöglichkeiten war Haupt-thema von zwei wissenschaftli-chen Konferenzen, deren Beiträgein dieser Ausgabe der Zeitschriftfür Rheumatologie veröffentlichtwerden. Bei dem von G. Neeckorganisierten und moderiertenSymposion „Chronische Schmerz-

krankheiten am Bewegungssys-tem“ im Rahmen des 29. Kon-gresses der Deutschen Gesell-schaft für Rheumatologie in Aa-chen standen Fragen der Nozizep-tion, Schmerzverarbeitung sowieAntinozizeption und insbesonde-re ihre Behandlung mit Opioidenim Zentrum der Diskussion.

Die im gleichen Heft abgedruck-ten Autoreferate des von M. Schat-tenkirchner und K. Brune organi-sierten 4. Seeoner Gesprächs span-nen einen weiten Bogen der The-men von den Grundlagen der mo-dernen Schmerzphysiologie bis zuneuen pharmakologischen Ansät-zen einer rezeptor- und patho-mechanismusorientierten Thera-pie. Die Beiträge dokumentierendie erheblichen Fortschritte derSchmerzforschung auf der Ebenemolekularer Mechanismen, derSignaltransduktion und der Zell-biologie, aber auch auf der Ebeneder Analyse von Schmerzprozessenmittels moderner bildgebenderVerfahren im Gehirn.

Nozizeptive Informationenwerden auf jeder Ebene des ZNSdurch verschiedene Rezeptorsyste-me und Mediatoren moduliert.Eine wichtige Rolle kommt denN-methyl-D-aspartat-(NMDA)-Re-zeptoren und den verschiedenenOpioid-Rezeptorsystemen zu. Ins-besondere die NMDA-Rezeptorenhaben eine wesentliche Bedeutungin der Schmerzchronifizierung.

Bei der peripheren Sensibilisie-rung nozizeptiver Axone sind Sub-stanzen wie Serotonin, Bradykininund Prostaglandine beteiligt. Ver-schiedene Opioidrezeptoren mo-dulieren die Aktivität des NMDA-Rezeptorsystems. Das Kortiko-tropin-Releasinghormon dagegenwirkt auf allen Ebenen des ZNSantinozizeptiv und spielt eine we-sentliche Rolle bei stressabhängi-gen Schmerzzuständen, insbeson-dere auch bei der Fibromyalgie.

Wichtige neue Erkenntnissewurden in den letzten Jahrennicht nur für das Verständnis derunterschiedlichen Bedingungenfür Auslösung und Persistenz vonSchmerzen bei rheumatischen Er-krankungen gewonnen, sondernes wurde auch deutlich, dass dasNervensystem eine wesentlicheRolle in der Entstehung undwahrscheinlich auch Unterhaltungchronisch entzündlicher Zuständehat. Die Bedeutung von Opioidre-zeptor-vermittelten Mechanismenund auch der therapeutischenAnwendung von Opioiden in sol-chen Situationen wird in den Bei-trägen in diesem Heft dargestellt.Opioide dämpfen nicht nur dieErregbarkeit peripherer nozizepti-ver Nervenendigungen durch Mo-dulation der Kalziumströme anden spannungsabhängigen Kalzi-umkanälen, sie hemmen auch dieFreisetzung von proinflammatori-schen Substanzen wie z.B. der

Substanz P an den peripherenNervenendigungen und führen zueiner Hemmung der Vasodilatati-on. Opioidartige Substanzen wer-den von Immunzellen im Rahmender Entzündung gebildet. Unterden Bedingungen der Entzündungkönnen solche Substanzen anOpioidrezeptoren von Nervenen-digungen gelangen. Tierexperi-mentelle Untersuchungen habenzeigen können, dass Kappa-Opio-idrezeptoragonisten potente anal-getische und antientzündliche Ef-fekte haben. Intraartikulär appli-ziertes Morphin hat entzündungs-hemmende Effekte auch bei derchronischen Polyarthritis. Hierfehlen noch größere Studien zurBestimmung des Stellenwertskonventioneller Opioide in derTherapie insbesondere schwererVerläufe der rheumatoiden Ar-thritis. Die Entwicklung neuerOpioid-Analgetika in Form peri-pherer �- und �-Agonisten fürorale und intravenöse Anwendungkönnte ein weiteres Anwendungs-feld eröffnen.

Die Chronifizierung vonSchmerzzuständen ist ein weitereswichtiges Problem. Verschiedeneneuronale Mechanismen derSchmerzsensibilisierung und-chronifizierung sindnebenverhal-tensabhängigen Faktoren in vielenSituationen beteiligt und könnenzu gravierenden Folgeproblementraumatischer oder entzündlicherKrankheiten führen. Die genauereKenntnis neuronaler Chronifizie-rungsmechanismen z.B. durchHemmung der NMDA-Rezeptor-

Aktivität ermöglicht neue An-sätze der medikamentösen Behand-lung und Prävention chronischerSchmerzzustände.

Die Schmerzursachen und -me-chanismen selbst bei definiertenentzündlich-rheumatischen Er-krankungen sind oft vielgestaltig.Neben entzündungsbedingtenSchmerzen am Ort der Entzün-dung kommen Schmerzen durchentzündungsbedingte Gelenkschä-den und muskuläre Fehlbelastun-gen hinzu. Beispielsweise entste-hen bei entzündlich-rheumati-schen Erkrankungen, insbesonde-re bei der rheumatoiden Arthritis,beim SLE und beim Sjögren-Syn-drom signifikant häufiger chro-nische Schmerzzustände im Sinneeiner Fibromyalgie, die mit denbisherigen Methoden der medika-mentösen Schmerztherapie nurunzureichend zu beeinflussensind.

Für die Rheumatologie ergebensich aus der Umsetzung vorhan-dener schmerztherapeutischer In-strumentarien wesentliche Aspek-te. Zwar ist das WHO-Stufensche-ma der analgetischen Therapiefür die Rheumatologie bishernicht evaluiert, die Verwendungvon Opioiden nimmt jedoch ne-ben den nichtsteroidalen Anti-rheumatika einen zunehmendenRaum ein. Wir sind sicherlichvon der Verfügbarkeit eines idea-len Schmerzmittels noch weit ent-fernt. Die Beiträge in diesem Heftzeigen jedoch die Ansätze einerrationalen und empirischen Stra-tegie zur Entwicklung neuer Arz-

neimittel für bestimmte Schmerz-zustände. Die weitere Entwick-lung in den kommenden Jahrenlässt erwarten, dass nicht nurneue Therapieprinzipien und Sub-stanzen in die klinische Praxis Ein-zug halten, sondern dass bezüglichdes Einsatzes von Kombinationenverschiedener Schmerzmittel fürunterschiedliche komplexe Prob-leme differenzierte Therapiestra-tegien zur Verfügung stehen. Inder Praxis hat die Kombinationverschiedener pharmakologischerTherapieprinzipien für unter-schiedliche Schmerzproblemelängst Eingang gefunden. In derheutigen Rheumatologie ist dieKombinationstherapie zur Be-handlung der chronischen Poly-arthritis mit Basistherapeutika,Glukokortikoiden und anderenSubstanzen tägliche Praxis. DieKombinationstherapie hat sich zueiner zunehmend wichtigen The-rapiestrategie in der Vermeidungvon Krankheitsfolgen entzünd-lich-rheumatischer Erkrankungenentwickelt. Auf der Grundlage dermodernen molekularbiologischenund pathophysiologischen Er-kenntnisse über die Beteiligungunterschiedlicher Mechanismender Nozizeption und der Regulati-on nachfolgender neuronaler Ak-tivität öffnet sich für die Rheu-matologie ein zunehmend wei-teres Feld der differentiellen The-rapie rheumatischer Schmerzenund Entzündungszustände undauch der gezielteren Kombinati-onstherapie für verschiedene Si-tuationen.

402 Zeitschrift für Rheumatologie, Band 60, Heft 6 (2001)© Steinkopff Verlag 2001

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