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Hintergrund: Ukraine Nr. 14 / März 2014 | 1
Herausforderungen demokratischer Konsolidierung
Miriam Kosmehl
Die Misshandlung des Chefs der Nationalen Fernsehgesellschaft Pantelejmonow durch drei Abgeordne-
te der nationalistischen Partei „Swoboda“ ist nicht die erste Provokation nationalistischer Kräfte. Dis-
kreditiert sie die Übergangsregierung, an der „Swoboda“ beteiligt ist, oder gar die Majdan-Bewegung?
Am 18. März zwangen die „Swoboda“-Abgeordneten Ihor Miroschnytschenko, Andrij Illenko und Boh-
dan Benjuk den Fernsehchef, den sie in seinem Kiewer Büro bedrängten und mit der Hand ins Gesicht
schlugen, seinen Rücktritt schriftlich zu erklären.1 Sie warfen ihm vor, die Berichterstattung des staat-
lichen Ersten Fernsehkanals rund um den Majdan während Janukowytschs Amtszeit massiv manipu-
liert zu haben.
Der Parteivorsitzende „Swobodas“, Oleh Tjahnybok, kritisierte das Verhalten seiner Parteifreunde. Er
erklärte, diese würden bereitwillig auf ihre parlamentarische Immunität verzichten und sich einem
gerichtlichen Verfahren stellen. Beobachter werten dies allerdings als Heuchelei, denn nur das Parla-
ment kann die Abgeordnetenimmunität aufheben.
So sehen sich von dem medienwirksamen Video über die Misshandlung des Fernsehchefs jene bestä-
tigt, die der Kiewer Übergangsregierung und der Majdan-Bewegung Radikalismus, Faschismus und
Nationalismus vorwerfen – weil „Swoboda“, deren Hochburg der Westen der Ukraine ist, wo viele die
radikale Rechte verwurzelt sehen, in der Übergangsregierung mitwirkt und „Swoboda“-Anhänger und
Westukrainer auf dem Majdan sehr präsent waren.
1 Der Rücktritt ist nichtig; der Fernsehchef ist nach wie vor im Amt, s. offizielle Website des TV-Kanals http://1tv.com.ua/ru/faces/management/panteleymonov, Zugriff am 22.3.2014.
Hintergrund:
Ukraine
Nr. 14 / 24. März 2014
Hintergrund: Ukraine Nr. 14 / März 2014 | 2
Reaktionen in der Ukraine
Der neue ukrainische Generalstaatsanwalt Oleg Machnizkij, seinerseits Mitglied von „Swoboda“, versi-
cherte, den Sachverhalt objektiv zu untersuchen und leitete ein Strafverfahren ein. Premierminister
Arsenij Jatsenjuk von der Vaterlandspartei verurteilte das Vorgehen der Abgeordneten scharf und er-
klärte, es sei Aufgabe des Ministerkabinetts, die Arbeit der Nationalen Fernsehgesellschaft anhand
geltender Gesetze zu beurteilen.
Welche Gesetze er damit meint, blieb offen. Ein Lustrationsgesetz jedenfalls, anhand dessen Entschei-
dungsträger im Staatsdienst beurteilt werden, gibt es in der Ukraine bislang nicht. Dafür existiert seit
wenigen Wochen ein beim Ministerkabinett angesiedeltes Lustrationskomitee, das an den entspre-
chenden Gesetzentwürfen arbeite, so am 12. März Komitee-Leiter Jehor Soboljew, ein ehemaliger
Journalist und Aktivist der Majdan-Bewegung. Er beabsichtigt auch, die neuen gesetzlichen Regelun-
gen in der gesamten Ukraine öffentlich zu diskutieren. Lustration sieht er als „Instrument, ein ziviles
Land zu etablieren“.
Das Thema Lustration, also die Frage,
ob und nach welchen Maßstäben Mit-
arbeiter staatlicher Strukturen auf ihre
politische Belastung überprüft werden,
so dass der mit der Majdan-Bewegung
angestrebte Systemwechsel tatsäch-
lich stattfindet, beschäftigt die ukrai-
nische Zivilgesellschaft. Selbstjustiz
hat hier allerdings keinen Platz. Jour-
nalisten und Majdanaktivisten forder-
ten, den am Übergriff beteiligten
Swoboda-Abgeordneten ihr Mandat zu
entziehen, damit ihre politische Im-
munität sie nicht vor Strafverfolgung
schützt.
Provokation mit Tradition
Schon vor der Misshandlung des Fernsehchefs haben „Swoboda“-Abgeordnete bewusst provoziert.
2010 besuchte Iryna Farion, seit Oktober 2012 für „Swoboda“ im ukrainischen Parlament, einen Lem-
berger Kindergarten und „erklärte“ russischen Kindern vor laufenden Kameras, wie man ihre Namen
‚richtig‘ auf Ukrainisch sage. Im Rahmen der Kampagne „Mehr Engagement für die Landessprache“
verurteilte sie die Russifizierung ukrainischer Namen. Am selben Tag wurde der Beitrag ins Internet
gestellt und bestätigte auf allen TV-Kanälen, auch den russischen, die scheinbare Ausländerfeindlich-
keit der ukrainischen Opposition.
Für den ersten großen Skandal sorgte bereits 2004 der heutige Parteichef Tjahnybok, damals noch als
Mitglied der Fraktion „Nascha Ukraina“ des dann dritten ukrainischen Präsidenten Juschtschenko:
Tjahnybok rief dazu auf, „die Ukraine endlich den Ukrainern“ zu überlassen und „gegen ‚Moskals‘ (ab-
fällig für Russen), Deutsche, Juden und sonstiges Gesindel“ zu kämpfen. Auch dies geschah vor lau-
fenden Kameras – und diskreditierte das Parteienbündnis, welches die Orange Revolution auf die Bei-
Foto: Taisia Stezenko, Korrespondent.net / Studenten auf dem Majdan
Hintergrund: Ukraine Nr. 14 / März 2014 | 3
ne gestellt hatte. Die „Nascha-Ukraina“-Fraktion schloss Oleg Tjahnybok daraufhin wegen antisemiti-
scher Äußerungen aus.
Einschätzungen jüdischer Organisationen und ukrainischer Menschenrechtsgruppen
Wie sind die genannten anti-russischen und anti-semitischen Äußerungen und Handlungen zu bewer-
ten?
Josef Sissels, Vorsitzender des Vereins Jüdischer Gemein-
den und Organisationen in der Ukraine und stellvertreten-
der Vorsitzender des „World Jewish Congress“, der seit 25
Jahren Antisemiten und Neonazis im postsowjetischen
Raum beobachtet, weist darauf hin, dass es in Russland
mehr neofaschistische Gruppen gibt als in der Ukraine und
sie aggressiver auftreten. „Eine besondere Gefahr geht von
‚Swoboda‘ nicht aus. Wir beobachten sie seit Anfang der
90er Jahre, als sie noch ‚sozial-nationale Partei der Ukrai-
ne‘ hieß. Die Rechte in der Ukraine ist sehr schwach und
zersplittert. Ihre Demagogie ist theoretisch, in ihren
Handlungen sind sie weit weniger gefährlich als ähnliche
Parteien im Westen. ‚Swoboda‘ redet mehr, als sie tut.“
Auch Arkady Monastyrsky vom Jüdischen Forum der Ukra-
ine sieht nicht, dass von Rechtsradikalen eine große Ge-
fahr ausgeht, selbst wenn über sie viel geredet wird, und
obwohl er anmerkt: „Vor nicht allzu langer Zeit sind eine
Reihe von kleinen Gruppen entstanden. Sie heißen Drei-
zack oder benennen sich nach Stepan Bandera. Für uns
Juden, selbst wenn wir nach dem Krieg geboren sind, klin-
gen diese Namen nicht gerade angenehm, denn damit ist
die Kollaboration der Ukrainer bei der Judenvernichtung
durch die Nazis verbunden.“
Renommierte Menschenrechtsgruppen des Landes, etwa die Ukrainische Helsinki-Union und die
“Menschenrechtsgruppe Charkiw“, rufen dazu auf, „Ruhe zu bewahren und die in den Medien verbrei-
teten Panik-Aussagen über die Antisemitismus-Situation im Lande kritisch zu betrachten“.
Im Nachrichtenkanal des TV-Senders „1+1“ sagte der Rabbiner Moshe-Reuven Azman am 20. März,
nach der Annektierung der Krim, „die ganze Ukraine sei vereinigt“. Das ist von Bedeutung, weil der als
kremlnah geltende Religionsführer noch vor einigen Wochen in westlichen Medien mit der Aussage
zitiert worden war, er sehe Juden in der Ukraine gefährdet.
Inszenierte Provokationen?
Der Kultur- und Politikwissenschafter Taras Wozniak, der in seiner Heimatstadt Lemberg symbolisch
„Russische Tage“ initiiert hat, an denen er die Lemberger Bürger dazu aufrief, nur Russisch zu spre-
chen, ist darüber hinaus der Ansicht, „Swoboda“ werde gezielt zur Diskreditierung politischer Rivalen
Foto: hadashot.kiev.ua. / Josef Sissels
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eingesetzt. Als Beispiel führt er die Misshandlung des Fernsehchefs an, die seiner Meinung nach die
allgemeine Empörung über die russische Annektierung der Krim am selben Tag in Grenzen halten soll-
te.
Wozniak sieht als weiteres Beispiel für gesteuerte Akti-
onen einen Fackelzug in Kiew am 1. Januar 2014 und
die Aufhebung des unter Präsident Janukowytsch einge-
führten Sprachengesetzes am ersten Arbeitstag des
Parlaments nach der Flucht von Wiktor Janukowytsch
am 23. Februar. Der Fackelzug, der visuell an Nazi-
Aufmärsche der dreißiger Jahre erinnerte, fand trotz der
Bitten anderer Oppositioneller statt, auf diese Aktion
angesichts der schwierigen Lage zu verzichten. Die Auf-
hebung des Gesetzes führt Wozniak auf eine Initiative
„Swobodas“ zurück. Das Gesetz, das die russische Spra-
che (und andere Minderheitensprachen) aufwertete,
hatte wenig praktische Bedeutung. Die Rücknahme war
aber ein polarisierendes Signal, das gerade russisch-
sprachige Ukrainer verschreckte. Der Parlamentspräsi-
dent und amtierende Präsident Turtschynow hat dage-
gen zwischenzeitlich sein Veto eingelegt.
Verantwortungsvolle Regierungsführung
Die genannten Beispiele machen deutlich, welche Verantwortung die neue Übergangsregierung gerade
im Hinblick darauf trägt, integrativ zu wirken und glaubwürdig eine „einheitliche ethnokulturelle und
politische Gemeinschaft zu formen“ (Andreas Kappeler). Über ihr Vorgehen abschließend zu urteilen,
ist noch zu früh.
Die Auswahl des Ministerkabinetts ist eine gezielte Zusammenstellung von Berufspolitikern (der erste
Vizepremierminister Jarema, der Kabinettsminister Semerak, der Innenminister Awakow), Fachleuten
(der Wirtschaftsminister Scheremeta, der Außenminister Deschtschitzja,2 der Minister für Regionen
und Vizepremierminister Groisman) und anerkannten Experten und Aktivisten der Majdan-Bewegung
(etwa der Bildungsminister Kwit und der Gesundheitsminister Musij). Unter den Ministern sind Ukrai-
ner der russischen, armenischen und jüdischen Minderheiten.
„Swoboda“ stellt vier Minister: den dritten Vize-Premierminister Oleksandr Sytsch, den amtierenden
Verteidigungsminister Igor Tenjuch und die Minister für die Ressorts Agrarpolitik und Umwelt Ihor
Schwaika und Andrij Mohnik. Oleh Tjahnybok selbst lehnte ein Regierungsamt ab, kündigte aber seine
Präsidentschaftskandidatur für die voraussichtlich am 25. Mai stattfindende Wahl an.
Zu urteilen, die Regierungsbeteiligung von „Swoboda“ oder der beschriebene gewaltsame Übergriff der
Parlamentarier auf den Fernsehchef würden die Übergangsregierung oder gar die Majdan-Bewegung
diskreditieren, wäre unangemessen pauschal. Weder haben die „Swoboda“-Minister den Vorfall gut
geheißen, noch gibt es für ein solches Vorgehen mehrheitlichen Rückhalt in der Gesellschaft. Im Ge-
2 Der Außen-, wie auch der Verteidigungsminister, sind kommissarisch, weil der Präsident sie ernennen muss.
Foto: www.ji-magazine.lviv.ua. / Taras Vozniak
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genteil ist die Zustimmung für „Swoboda“ merklich zurückgegangen, nachdem das Feindbild „Partei
der Regionen“ an Bedeutung verloren hat. Bei der Parlamentswahl im Oktober 2012 erzielte die Partei,
die sich an der parteiübergreifenden „Vereinigten Opposition“ gegen die „Partei der Regionen“ betei-
ligte, noch einen landesweiten Wahlerfolg in Höhe von 10,44 Prozent.3 Heute ist fraglich, ob sie über-
haupt noch ins Parlament käme: Die Prognosen liegen zwischen 4,3 und 6,5 Prozent und sind damit
stark rückläufig. Tjahnybok würde als Präsidentschaftskandidat nach Umfragen von Ende Febru-
ar/Anfang März nur Werte zwischen 1,7 und 3,6 Prozent erreichen.
Gleichwohl sollten die Regierenden nationalistische Provokationen als Warnung sowie als Erinnerung
verstehen: Es ist enorm wichtig, die bislang in der ukrainischen Politik häufig dominanten (und popu-
listisch genutzten) Ausschläge zwischen Extremen wie „antiukrainisch“ und „antirussisch“ zu durch-
brechen, wenn das Land eine stabile, demokratische Zukunft haben soll. Politiker, Vertreter der Zivil-
gesellschaft und Experten sollten deshalb konstruktiv auf die Verständigung und Vereinigung ver-
schiedener gesellschaftlicher Kräfte in der Ukraine hinwirken, kurzfristig mit mehr Präsenz in den
massiv Provokationen ausgesetzten Ost-Oblasten (Gebieten), langfristig etwa mit einer neuen Regio-
nalpolitik, die lokalen Regierungs- und Verwaltungseinheiten mehr Freiraum gibt und horizontale Zu-
sammenarbeit von Gemeinden unterstützt.
Radikale Bewegungen und gewaltsame Übergriffe sind auch in der Zukunft nicht auszuschließen, un-
abhängig davon, wer sie organisiert. Sie dürfen nicht bagatellisiert werden, und es gilt in jedem Ein-
zelfall ohne Vorverurteilung zu untersuchen, auf wen Übergriffe – antisemitische, antiukrainische,
antirussische und andere – zurückgehen. Leider ist der Einsatz bezahlter Provokateure ein weit ver-
breitetes Phänomen, das schwer einzudämmen ist und die Lage verkompliziert.
Zweifellos war auch ukrainisch-nationalistische Rhetorik auf dem Majdan gegenwärtig, und insge-
samt hat die Majdan-Bewegung die nationale Identität gestärkt. Auch bei den anti-kommunistischen
Bewegungen der Wendezeit in Polen und im Baltikum hat Ethno-Nationalismus erheblich zur Mobili-
sierung beigetragen, sich aber im Laufe der Zeit durch kluge und zivile Politik abgeschwächt. Eine
solche Entwicklung ist der ukrainischen Politik ebenfalls zu wünschen, nachdem ihre kritische, immer
wacher werdende Zivilgesellschaft beeindruckend für europäische Werte gekämpft und dafür mit fast
hundert Menschenleben gezahlt hat.
„Koalition der Vernunft in Fragen der Vergangenheitspolitik“
Die Aufklärung über und gegebenenfalls die strafrechtliche Verfolgung von Verletzungen der Bürger-
und Menschenrechte gilt zu Recht als eine wesentliche Voraussetzung für die Entwicklung und Konso-
lidierung demokratischer Strukturen. Wie diese schwierige Aufgabe jeweils angegangen wird, ist von
Land zu Land verschieden. Ob über gesamtgesellschaftliche Dialoge, speziell dafür eingerichtete Be-
hörden oder „Wahrheits- und Versöhnungskommissionen“, ist dabei zweitrangig. In der Ukraine gibt es
über die Formen dieser - für die Herausbildung ihrer eigenen nationalen Identität erforderlichen -
notwendigen Prozesse (noch) keine Einigkeit.
3 Für Vjatscheslav Lichatschev, der für den Euroasiatischen Jüdischen Kongress politischen Extremismus beobachtet, waren die „Swoboda“-Wähler vom Oktober 2012 keine Anhänger rassistischer, antisemitischer oder nationalistischer Ideologien, sondern sie wählten Swoboda, weil jede Stimme für Swoboda eine sichere Stimme gegen die Regierungspartei war. „Swobo-da“ war zunächst vor allem in den Lokal- und Regionalwahlen im Oktober 2010 in den drei westlichen Oblasten (Gebieten) der Ukraine – Lemberg, Ternopil (hier vorgezogene Wahlen 2009) und Iwano-Frankiwsk – erfolgreich. Gleichwohl urteilen Kommunalpolitiker etwa aus Lemberg, dass nicht die konkreten Belange der Kommunen im Fokus der Partei stünden, sondern die Verteidigung der ukrainischen Nation gegen die „antiukrainische“ Politik, damals der zunächst als russland-freundlich wahrgenommenen Regierungspartei „Partei der Regionen“.
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Bundespräsident Joachim Gauck hat, als ehemaliger
Leiter für die Erforschung der Unterlagen des Minis-
teriums für Staatssicherheit, im Zusammenhang von
„Vergangenheitspolitik“ auf ein einleuchtendes – die
schwierigen und hochemotionalen Prozesse überla-
gerndes – Leitmotiv hingewiesen: „Koalition der Ver-
nunft“. Diese ist der ukrainischen Gesellschaft zu
wünschen – aber natürlich ist sie ganz besonders
schwierig, wenn unter Einsatz von Stereotypen im-
mer wieder die Gegenwart manipuliert wird.
Die geopolitische Komponente
Timothy Snyder, Autor von „Bloodlands“, stellt fest:
„Selbstverständlich ist es wichtig, aufmerksam ge-
genüber der Bewegung der extremen Rechten in der
ukrainischen Politik und Geschichte zu sein. Sie hat
noch immer ernst zu nehmende Präsenz, auch wenn
sie weniger bedeutend ist, als die extreme Rechte in
Frankreich, Österreich oder den Niederlanden. Dabei
ist es das [alte] ukrainische Regime, das antisemi-
tisch ist, und nicht die Opposition, etwa wenn es
den eigenen Sicherheitskräften erklärt, die Oppositi-
on sei von Juden organisiert. Mit anderen Worten, die [alte] ukrainische Regierung warnt sich selbst
vor jüdischen Opponenten – und uns, dass ihre Widersacher Nazis sind.“
Ähnlich hält es die Kremlführung, und die vom Kreml verordnete Propaganda russischer Medien, die
gerade im russischsprachigen Osten und Süden der Ukraine genutzt werden, addiert sich als wesentli-
ches Problem zu den innenpolitischen Herausforderungen, die jede neue ukrainische Regierung bewäl-
tigen muss.
Aus Kremlsicht bedroht eine nach demokratischen Grundsätzen gut funktionierende Ukraine das eige-
ne Herrschaftssystem. Deshalb ist man bemüht, die Majdan-Bewegung und die neue Regierung in
Kiew zu diskreditieren. Josef Sissels, der als Dissident zu Sowjetzeiten sechs Jahre im Gefängnis saß,
sagt, dass dies im Westen am sichersten mit dem Vorwurf des Antisemitismus funktioniere. „Putin hat
drei Ängste: Dass NATO-Raketen an Russlands Grenze auftauchen, dass der Majdan auf den Roten
Platz in Moskau übergreift und dass Russland zerfällt wie einst die Sowjetunion. Deswegen lässt er
mit viel Geld und Helfern im Westen die Lüge über den angeblichen Faschismus in der Ukraine in
westlichen Medien verbreiten. Die russischen Geheimdienste, Diplomaten und Vereinigungen der rus-
sischen Landsleute arbeiten an diesen Lügen und der Diskreditierung mit.“
Amelia Glaser, Professorin für russische Literatur an der San Diego Universität und Autorin von „Jews
and Ukrainians in Russia’s Literary Borderlands: From the Shtetl Fair to the Petersburg Bookshop“,
beschreibt es so: „Es ist sehr komfortabel für Wladimir Putin, wenn er alle Protestler als rechts, anti-
semitisch und ethnische Unterdrücker charakterisieren kann, vor allem, wenn der Antagonismus ge-
genüber den Juden nachweislich dem Westen der Ukraine in die Schuhe geschoben werden und Russ-
land so als Sicherheitsgarant im Osten präsentiert werden kann.“
Plakat: Eliash Strongowski,
https://www.facebook.com/revplakat / Gemeint ist, dass die
Protestler die ukrainischen Politiker und Oligarchen (Geldsäcke)
geistig überholt haben
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Perspektiven in einer freiheitlichen Gesellschaft?
Gerade in schwierigen Majdan-Phasen war in nationalistischen Kreisen die Neigung gegenwärtig, sich
als Westukraine von den Ost-Oblasten (Gebieten) abzuspalten. Aber die Majdan-Bewegung verfolgt
inzwischen eine andere Stoßrichtung: hin zu einem geeinten, vielfältigen Land und einer selbstbe-
stimmbaren Zukunft, basierend auf demokratisch-rechtsstaatlichen Grundsätzen. Es gibt viele Anzei-
chen, dass die ukrainische Gesellschaft den begonnenen Brückenbau fortsetzen möchte. Spätestens
seit den Enthüllungen über das von exzessiver Korruption geprägte Leben des Ex-Präsidenten Januk-
owytsch sind viele Ukrainer motiviert, aktiv mitzuwirken, wenn es darum geht, eine neue, bessere
Ukraine aufzubauen und die Hauptschwächen der politischen Kultur, die Verflechtung von Politik,
Wirtschaft, Korruption und Clan-Strukturen, zu beheben.
Die jüngsten tiefgreifenden Erfahrungen im Kontext des Majdan geben Anlass zu Hoffnung. Bürger
ganz unterschiedlicher Herkunft sind die staatliche Allmacht und Manipulation von oben leid und
bereit, sich zu engagieren und Kontrolle auszuüben, weil sie ihre Zukunft in einer freiheitlichen Ge-
sellschaft sehen.
In einem offenen Brief wandte sich eine Gruppe ukrainischer jüdischer Führer am 4. März an Präsident
Putin: „Die Juden der Ukraine, wie alle ethnischen Gruppen, sind nicht komplett einig in ihrer Meinung
über das, was im Land passiert. Aber wir leben in einem demokratischen Land und können es uns leis-
ten, unterschiedlicher Meinung zu sein.“
Miriam Kosmehl ist Projektleiterin der FNF für die Ukraine und Belarus.
Impressum
Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit (FNF)
Bereich Internationale Politik
Referat für Querschnittsaufgaben
Karl-Marx-Straße 2
D-14482 Potsdam
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