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Sonja Andjelkovic

Interkulturelle Teams führen

Diversität intelligent und kreativ nutzen

Sonja Andjelkovic

Interkulturelle Teams führenDiversität intelligent und kreativ nutzen

2019 Schäffer-Poeschel Verlag Stuttgart

Reihe Systemisches Management

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem, säurefreiem und alterungsbeständigem Papier

Print: ISBN 978-3-7910-4078-3 Bestell-Nr. 10257-0001 ePDF: ISBN 978-3-7910-4070-7 Bestell-Nr. 10257-0150 ePub: ISBN 978-3-7910-4071-4 Bestell-Nr. 10257-0100

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Verviel-fältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

© 2019 Schäffer-Poeschel Verlag für Wirtschaft · Steuern · Recht GmbH www.schaeffer-poeschel.de service@schaeffer-poeschel.de

Umschlagentwurf: Goldener Westen, Berlin Umschlaggestaltung: Kienle gestaltet, Stuttgart Lektorat: Dr. Sonja Hilzinger, Berlin Zeichnungen: Thomas Andjelkovic

März 2019

Schäffer-Poeschel Verlag Stuttgart Ein Unternehmen der Haufe Group

VII

Für meinen Sohn Adrian, dessen wohlwollende Gelassenheit im Umgang mit allen Kulturen dieser Erde mir das Herz erwärmt.

Für meine Tochter Saphira, deren flammende Leidenschaft für das Erforschen der Welt meinen Geist beflügelt.

Für meinen Sohn Tigran, dessen vorbehaltlose Nähe zu Men-schen unabhängig von ihrer Herkunft meine Seele erfüllt.

Für Euch hat sich alles gelohnt.

IX

Inhaltsverzeichnis

1 Wozu ein neues Buch zu interkulturellem Management? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1

2 Was ist Kultur und wozu brauchen wir sie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13

3 Kulturdimensionen und der globale Süden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213.1 Sprache und Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213.2 Religion und Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 523.3 Exkurs: Ex Oriente Lux – Der Islam zwischen Mystik

und Ablehnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 633.4 Tradition und Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 743.5 Identität und Herkunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 833.6 Migration und Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 863.7 Die Bedeutung von Heimat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 903.8 Bildung und Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 943.9 Relevante Rituale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98

4 Interkulturelles Management im 21. Jahrhundert: Grundlagen und Konzepte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1034.1 Interkulturelle Kompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1034.2 Neuere Forschung zur Interkulturalität

und ihre Relevanz für das Management . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1084.2.1 Fuzzy Cultures . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1104.2.2 Konstruktiv-positive Interkulturalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1114.2.3 Der kreativ-reflektierte Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1124.2.4 Assimilation? Integration? Marginalisierung?

Akkulturationsstrategien nach Berry . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1144.3 Ausgewählte Kulturkonzepte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1174.3.1 Third Culture Kid (TCK) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1194.3.2 Bikulturalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1204.3.3 Transkulturalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121

5 Intelligent führen – Interkulturalität nutzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1235.1 Interkulturalität und Gefühle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1235.2 Gefühle und Verhalten bei der Begegnung

mit dem »Fremden« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1285.3 Kulturschock auf beiden Seiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1305.4 Widersprüchliche Gefühle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135

X Inhaltsverzeichnis

5.5 Kulturelle Disharmonie als Chance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1385.6 Humor und Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140

6 Ko-kreatives interkulturelles Management gestalten – aber wie? . . . . . . . 1456.1 Auf der Ebene der Organisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1506.2 Auf der Ebene der Person . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1556.2.1 Ambiguitätstoleranz – bitte was? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1566.2.2 Interkulturelle Persönlichkeitsentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1576.2.3 Perspektivwechsel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161

7 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167

8 Handlungsorientierter Methodenkoffer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1698.1 Klarheit durch Focusing . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1698.2 Das innere Team . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1728.3 Sensitive Recording Device . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1748.4 Aus-Mustern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1758.5 Teamentwicklung mit GFK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1778.6 Systemische Planung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180

9 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183

Die Autorin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189

1 Wozu ein neues Buch zu interkulturellem Management?

Natürlich gibt es zahllose Bücher zum Thema. Die meisten sind schlau, gut recherchiert, manche von sehr klugen Köpfen geschrieben, die sich jahrelang nur damit beschäftigen. Bisher habe ich eine Menge sehr interessanter Modelle und Konzepte gesehen, die mir jedoch in der tatsächlichen interkulturellen Situation als Erklärung und praktische Hilfestellung nicht ausreichen. Was mir fehlt, sind Antworten auf die Fragen: Wie gehe ich damit um, wenn mir eine Verhaltens-weise oder Ausdrucksform einer Kultur begegnet, die ich ablehne? Woher weiß ich, warum ich sie ablehne, und was mache ich mit diesen Gefühlen? Wie kann ein positiver Umgang mit unterschiedlichen Kulturen gelingen, und was können ich und mein Team dafür tun? Und was passiert, wenn uns das nicht gelingt?

Fragen wie diese sind für mich und andere Führende, mit denen ich gespro-chen habe, Kernfragen für den Umgang mit Interkulturalität.

Ein Auslöser für das Buch ist meine persönliche Geschichte und ein weiterer waren die Geflüchteten, die Leib und Leben riskieren, um in einer neuen Welt, einer neuen Kultur ein besseres Leben zu führen, und die Reaktionen darauf, die sowohl von überwältigender Empathie und Hilfsbereitschaft zeugen als auch von Aggression und Gewaltbereitschaft. Wie kommen all diese Gefühle zustande? Und wie kann man darüber sprechen, ohne in eine politische Ecke gesteckt zu werden?

Ich beginne daher sehr persönlich, anhand meiner eigenen Migrations- und Kulturgeschichte.

Es war einmal …Ich bin Deutsche mit Migrationshintergrund, wie es so schön heißt. Bis ich das geworden bin, war es ein langer Weg.Als Kind war ich nie eine von den cool kids mit teuren Kleidchen und Klavier­unterricht, die ihre Sommerferien auf dem Ponyhof in Ostfriesland oder an der italienischen Adria verbrachten. Ich hatte auch keine echte Barbie (nur ein billiges Imitat mit harten Plastik­ statt biegsamen Gummibeinen, weil meine Eltern den Wert von Markenspielzeug nicht kannten) und im Wohnzimmer gab es eine Schrankwand, in der Bierkrüge mit Zinndeckeln (ein Ausdruck der Integrationsambitionen meiner Eltern?), aber eben auch der gute, haus­gebrannte Pflaumenschnaps in der Plastikflasche standen − anstatt antiker Möbel und Wände voller Bücher wie zu Hause bei den Bildungsbürger­Kids, die ich beneidete und bewunderte.

1 Wozu ein neues Buch zu interkulturellem Management?1 Wozu ein neues Buch zu interkulturellem Management?

1 Wozu ein neues Buch zu interkulturellem Management?2

Die Wohnung meiner Kindheit roch immer nach Paprika und Knoblauch oder manchmal auch nach Dosenravioli, je nachdem, ob meine Eltern (die immer malocht haben, um in der Heimat ein schönes Zuhause aufzubauen und irgendwann hinzuziehen) Zeit hatten zu kochen oder eben nicht. Meist kochten sie am Wochenende oder wenn Besuch da war. Jugo­Besuch. Lärmender Jugo­Besuch, bei dem viel gefuttert, getrunken und geraucht wurde, neben laufendem Fernseher und Balkan­Turbofolk­Musik. Ich bin manchmal einfach auf dem Sofa eingeschlafen, während die Erwachsenen bis morgens über irgendetwas debattierten. Ich kann mich nur noch an das Gemurmel erinnern, an die leiser werdenden Stimmen, während ich in den Schlaf glitt. Bei den deutschen Freund*innen roch es nach Kaffee, Kuchen und Wasch­mittel, bei den Hippieeltern nach Vollkornbrot, gewachsten Holzdielen und Räucherstäbchen. Fein war das Meissner­Porzellan der Oma, Gemälde an den Wänden und Jazzplatten. Die Eltern und ihre Gäste verhielten sich immer so wie Adlige, sie aßen mit abgespreiztem kleinem Finger. Es wurde gediegen gelacht und über Kunst und Literatur gesprochen. Da ich nicht viele deutsche Freund*innen hatte, war mir nicht bewusst, ob das typisch deutsch war oder nicht. Ich hielt es für erstrebenswert und cool. Uncool war, dass ich durch mein Anderssein wenig Beliebtheit genoss, zumin­dest fand ich den Anschluss an die Kultur meiner Freund*innen nicht so schnell. Beim Spielen beispielsweise war ich immer der Hund und die anderen waren die Prinzessinnen. Wenigstens war ich als Hund nett und treu, während die Prinzessinnen sich in ihrem Spiel zickig bekriegten. Es ging beim Spielen um Macht und Durchsetzungsvermögen. Ich hatte wenig Einfluss auf das Spiel, also hielt ich mich raus und bellte und hechelte. Wadenbeißen – nein, das fiel mir nicht ein. Ob ich je gefordert hätte, eine Prinzessin zu sein? Nicht in meinen kühnsten Träumen! Denn ich hatte etwas zu verheimlichen. Etwas, was nie­mand erfahren durfte, was aber zutage treten würde, wenn ich mich in den Vordergrund drängen würde. Sie ahnen es bereits. Dieses Etwas war … meine Kultur. Natürlich nannte ich es als Kind nicht so. Dieses unfassbare Andere, das mich nicht dazugehören ließ, aber in dessen Schatten ich mich getrost verstecken und mir eine eigene Welt erschaffen konnte. Diese Welt konnte mir keiner nehmen, verändern, zerstören oder mich demütigen. In meinem Versteck brütete ich ein Biotop an Phantasien aus, die mir das Überleben zwischen den wohlgeratenen, erfolgreichen deutschen Kindern garantierten und mir mein Selbstbewusstsein zumindest zum Schein aufbauten. Dabei half mir meine libanesische Freundin mit ihren vielen Brüdern (die Zahl ist mir entfallen), die aus den einfachsten Verhältnissen stammte und in der Nachbarschaft wohnte. Auch sie war unbeliebt, weil sie nie etwas durfte, etwas dick war, weil sie zwei Jahre in der Schule wiederholt hatte und ihr ein Damen­

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bart wuchs. Sie hatte keinen fancy stuff wie Puppen oder Gesellschaftsspiele. Sie hatte überhaupt keine Spielsachen (geschweige denn Bücher), sondern kümmerte sich um ihre Brüder – und um mich. Meine, vielleicht auch ihre Kultur, hatte etwas Hoffnungsloses und gleichzeitig Verheißungsvolles. Ich wusste, eines Tages würde ich mich retten, mich über alles erheben, ich würde nie wieder Hund spielen müssen. Ich würde die Kaiserin und nicht nur die Prinzessin sein. Im Warten auf diesen Tag vergingen die Jahre meiner Jugend in Westberlin, das damals eine sehr lebhafte alternative Szene hatte, es gab Zivildienst statt Bundeswehr, eine Mauer für Graffiti und viele Demonstrationen gegen Pershing­ Raketen unter dem Motto »Petting statt Pershing«. Dann kamen die Wende, der Zusammenbruch des Ostblocks und der Jugoslawien­Krieg. Vor meinen Augen zerfiel in brutalster Art und Weise meine imaginierte Multikulti­ Heimat. Ich musste nun mit meiner Kultur hinaustreten in die reale Welt. Wo ich auch hinging, ich wurde zum Krieg befragt, musste hilflos eingestehen, keine Ahnung zu haben, wie das passieren konnte, und betonen, dass ich doch aber hier in Deutschland lebte und damit nichts zu tun hätte. Als dann ein guter Freund mich 1991 nach meiner vorerst letzten Reise nach Jugoslawien mit dem Satz »Na, kommste grad aus dem Schützengraben?« begrüßte, fasste ich eine Entscheidung. Ich beantragte erfolgreich die deutsche Staatsangehörigkeit. Nun war ich jemand, der dazugehören sollte zu einer neuen, nicht zerfallenen Kultur. Ich war nicht mehr schuld an einem Krieg, nicht verantwortlich für Erklärungen über Kriegsverbrechen. Meine Einbürgerungsurkunde nahm ich damals tränenreich entgegen. Warum ich geweint habe, weiß ich nicht mehr genau. Aus verschwiemelter patriotischer Rührung oder einfach nur aus Erleichterung über den deutschen Pass, der mein Jugo­Dasein beendet hat und mit dem man wunderbar ohne Visaauflagen reisen konnte (was mir vorher verwehrt war). Wahrscheinlich eher Letzteres. Und trotzdem habe ich mein Leben lang im inneren Transit gelebt, dem Gefühl, nirgends wirklich anzukommen und Heimat und Zugehörigkeit zu verspüren, Einbürgerung hin oder her – ich habe mich unentschlossen zwischen unter­schiedlichen kulturellen Stühlen bewegt. Oder auf ganz anderen Stühlen gesessen. Vielleicht liegt es daran, dass ich in einem Land geboren bin, das es nicht mehr gibt (Jugoslawien), dessen Multikulturalität mir jedoch einen gewis­sen Stolz entlockte, und aufgewachsen bin in einer Stadt, die es so auch nicht mehr gibt (Westberlin) – ebenfalls ein kultureller Mikrokosmos. Ich hatte trotz der verschiedensten kulturellen Einflüsse immer die Not, mich zu entscheiden, wo ich denn nun hingehörte. Mein Umfeld forderte dies von mir und ich beugte mich dem Druck. So ging und geht es sicherlich vielen Migrantinnen und Migranten. Entscheide dich, gehörst du in das Ausländer/Gastarbeiter­Milieu der Malocher oder in das

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politische Szene­Milieu Westberlins, so der Tenor meines deutschen Kontextes. »Bist du Deutsche? Oder gehörst du zu uns?« fragte jedes Jahr zur Urlaubszeit meine Familie im serbischen Dorf. Diese Frage hatte immer eine Wertung: Was ist besser, die oder wir? Während also die einen eher wissen wollten, welcher sozialen Schicht ich mich zugehörig fühlte, wollten die anderen wissen, zu welcher Kultur ich gehöre. Der Zerfall Jugoslawiens machte nun die Wahl erst recht schwierig, denn ich sollte nun plötzlich noch etwas Drittes sein, was es bisher in meiner Jugo­Familie gar nicht gab: Serbin. Während all das, was meine Herkunft betraf, immer eine Last war, war das Zweite, also die Zugehö­rigkeit zu Berlin und der dortigen Kultur, so etwas wie eine heimliche Lieb­schaft, die mit zunehmendem Alter zu einer öffentlich sichtbaren Beziehung wurde – und zwar über Berlin hinaus. Der Fall der Mauer, das geeinte Deutschland und gleichzeitig der Zerfall Jugo­slawiens halfen mir dabei, mich in Deutschland zu verorten. Ähnlich geht es sicherlich derzeit vielen Geflüchteten, die ziemlich genau wissen, dass sie niemals zurückkehren werden, weil ihr Herkunftsland bis zur Unkenntlichkeit zerstört ist. Auch sie werden sich früher oder später umorientieren und immer mehr von der Herkunftskultur entfernen. Auch wenn es mindestens eine Gene­ration dauert. Bis dies soweit war, neigte ich dazu, mir meine Identität aus einzelnen Puzzleteilen zusammenzustellen. Hilfreich waren neben meiner Primärfamilie meine Lehrerinnen und Lehrer, Eltern anderer Kinder, das Ambi­ente Westberlins und der Zeitgeist der Achtzigerjahre, als wir alle noch dach­ten, die Welt geht unter. Die Welt steht noch, aber die Suche nach der Herkunft, der Zukunft und der kulturellen Identität hat in mir Bruchstellen, Verwachsun­gen, Wucherungen verursacht und kuriose Blüten getrieben. Eine davon ist, dass ich besser über mich lachen und andere so sein lassen kann, wie sie eben sind. Wer weiß, welchen Suchprozess die hinter sich oder noch vor sich haben. Eine andere ist die Einsicht, dass man nicht unbedingt etwas findet, wenn man es sucht. Manchmal kommt es einfach so zu einem. Und manchmal eben nicht. Und? Ist das vielleicht das Ende der Welt? Nein, ganz gewiss nicht. Ich habe akzeptiert, dass alles, was mit Kultur und interkultureller Kompetenz zu tun hat, ein Lernprozess ist, der wohl ein Leben lang dauert. Auch bei mir.Um ehrlich zu sein, zweifle ich an meiner Fähigkeit zur interkulturellen Kompe­tenz. Indizien dieses Mangels lassen sich an meinem Verhältnis zu meiner Her­kunftskultur erkennen: Ich hege ein deutliches Unverständnis für die ständige Völlerei meiner serbischen Verwandten. Gegen deren vehementes Aufdrängen gebratener Schweinelendchen habe ich mich teilweise mit physischer Gewalt wehren müssen. Auf der anderen Seite haben sie meine uneingeschränkte und vielleicht sogar unangemessene Bewunderung für die fatalistische Feierlaune, die zu jeder möglichen und unmöglichen Gelegenheit zur Schau gestellt wird. Belgrad scheint zu Recht das neue Balkan­Ballermann zu werden. Der Sohn

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meines Cousins feierte seinen achtzehnten Geburtstag mit 300 Leuten, zwei Tage lang! Völlig unvorstellbar nach meinen Maßstäben. Irgendwie ist das alles weit weg von mir und trotzdem auch schmerzhaft nah. Für eins fühle ich mich sehr dankbar: Ich hatte als Kind Einblicke in eine andere Kultur, als Erwachsene in viele Kulturen und immer wieder die Chance, heraus­gefordert zu werden und daran zu wachsen und letztlich auch darüber zu schreiben.Tja, hätten meine Mitschülerinnen gewusst, dass ich eines Tages ein solches Buch schreiben würde, hätten sie mich vielleicht doch Prinzessin spielen lassen.

Die Katze ist jetzt aus dem Sack: Dieses Buch ist ein lebendiges und persönliches Buch, das sowohl die aktuelle Debatte um Integration, Flüchtlinge, die Bedeutung von Heimat und Familie einbindet, aber auch praktisch umsetzbare Hinweise zum Umgang mit Teammitgliedern aus anderskulturellen Kontexten liefert. Wir brauchen dringend einen konstruktiven und offenen Umgang mit dem Thema; diesen vermisse ich manchmal sowohl in der öffentlichen Debatte als auch in der Management-Literatur. Ich möchte neue Wege im interkulturellen Management beschreiten, indem ich erfrischende Perspektiven zu diesem Thema eröffne und einen ganzheitlicheren Ansatz nutze, um zu erläutern, wie wir ganz praktisch mit Menschen unterschiedlicher Kulturen im Arbeitskontext umgehen und diese Diversität kreativ nutzen können. Daher ist dieses Buch kein herkömmliches Sachbuch, sondern ein Buch, das aufregen und anregen, fesseln, beflügeln, zum Lachen und Kopfschütteln bringen und wenn möglich auch ein wissendes Rau-nen erzeugen soll. Sie sollen es idealerweise schnell durchlesen können, weil Sie es nicht weglegen mögen. Und von da an für dieses Thema brennen.

Es ist ein Buch, das viele biografische Einsprengsel enthält. Und es ist unfertig und nicht makellos. Wie eine Wand mit Kaffeekleksen. Ja, man könnte die Kleckse überpinseln, damit die Wand glatt und weiß erscheint. Aber irgendwie erinnern sie einen auch an den lustigen Sonntagmorgen, als man über den Teppich stolperte und einem die Kanne aus der Hand glitt und die schönen Muster hinterließ. Mit anderen Worten: Ich wollte kein trockenes Fachbuch schreiben, sondern eines, das berührt, das gefühlvoll ist. Interkulturalität ist nämlich kein aalglattes, auf Scheitel gekämmtes Business. Es ist eng an eine einzigartige Gefühlswelt gebunden. Des-halb möchte ich mit meinen selbst erlebten Geschichten, die Sie hier lesen werden, den gefühlvollen und humorvollen Weg zur Auseinandersetzung mit Kultur und Führung unterstreichen. Meiner Meinung nach ist dieser nämlich der pragma-tischste und direkteste Weg erfolgreicher interkultureller Zusammenarbeit.

»Gut schreiben reicht nicht. Man muss auch böse schreiben.« (Paoli 2018, S. 110) Das Buch beißt ab und an. Ich polarisiere bewusst. Eine neutrale Haltung

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in Bezug auf das Thema des Buches gibt es für mich nicht; jede und jeder wird das Buch aus einem nicht neutralen Beweggrund lesen wollen. Bitte nehmen Sie nicht alles wortwörtlich. Das Buch ist unheilig und es ist auch bestimmt nicht immer zitierfähig. Das ist nun mal das Los von bewegenden Büchern.

Sicherlich schließt es nicht jede Literaturlücke im interkulturellen Manage-ment. Das ist nicht mein Anspruch. Vielmehr möchte ich etwas dazu beitragen, dass interkulturelle Führung offener und positiver diskutiert wird. Im Übrigen gibt es kaum Forschung in diesem Bereich. Daher hat das Buch einen pilothaften Charakter wegen des Stils, in dem es geschrieben ist, wegen des Inhalts und wegen der Praxisorientierung. Ich versuche nicht, es besser zu wissen oder zu belehren. Weil ich es nicht besser weiß! Ich versuche keine Standards zu etablie-ren oder neue Theorien zu generieren. Dazu bin ich zu pragmatisch und das Thema liegt mir zu sehr am Herzen, als dass ich es intellektuell zerlegen möchte (wenn, dann nur ein bisschen). Die Erkenntnisse im Bereich interkulturelle Füh-rung, die ich in diesem Buch verarbeite, habe ich in 20 Jahren Erfahrung als inter-nationale Beraterin, Erwachsenenbildnerin, Coach, Moderatorin und Forscherin gewonnen. Ich erzähle unerhörte und kuriose, selbst erlebte Geschichten aus fra-gilen, krisengeschüttelten Ländern, wo wir selten oder gar nicht hinkommen, aber aus denen Menschen gerade zu uns fliehen, und ich spreche das direkt an, was man gern ausschließt (das wäre dann meine Interpretation des obigen Zitats von Paoli). Ich suche nach der gefühlvollen und kreativen Perspektive auf Kultur und Interkulturalität, besonders im Arbeitskontext und ganz besonders in Bezug auf Kulturen des Südens, in denen ich mich seit zwei Jahrzehnten bewege. Mir geht es also in diesem Buch nicht um die Führung eines Teams von Schwed*in-nen, Niederländer*innen und Deutschen, auch wenn das auch schon einiges an Anforderungen an uns stellt. Ich möchte auf die Zusammenarbeit mit Menschen aus Kulturen schauen, die uns entfernter sind, deren Weltsicht der unseren fremd ist, deren Ethik der unseren (zumindest auf den ersten Blick) kaum nahesteht. Der Arbeitstitel für diese Kulturen ist Kulturen aus dem globalen Süden, sprich Afrika und Nahost, erweitert um islamisch-geprägte Kulturen. Interkulturalität wird erst dann spannend, wenn sie an unseren Überzeugungen rüttelt und wenn uns vielleicht auch ab und an unwohl ist.

Führen interkultureller Teams − Teil der UnternehmenskulturFühren interkultureller Teams ist keine Gleichmacherei. Es geht nicht darum, jemanden so hinzubiegen, dass er oder sie so wird wie wir (das ist sowieso nicht möglich, trotzdem versuchen wir es). Aber es geht auch nicht darum, alles zu relativieren, was Menschen aus anderen Kulturen in unseren Teams sagen und tun und uns selbst zu dekonstruieren. Es gibt eine Rahmenhandlung, die die Zusammenarbeit und die Führung interkultureller Teams vorgibt. Diese ist die

3.3 Exkurs: Ex Oriente Lux – Der Islam zwischen Mystik und Ablehnung 63

ben Sie ruhig einige Ihrer Gedanken auf und reflektieren Sie sie regelmäßig. Nutzen Sie diese Überlegungen, um bei der Führung interkultureller Teams immer auch aufmerksam mit religiösen Gefühlen – Ihren eigenen und denen der Mitarbeitenden – umzugehen.

3.3 Exkurs: Ex Oriente Lux – Der Islam zwischen Mystik und Ablehnung

Beim Thema Islam gibt es so gut wie keine Neutralität. Jeder und jede hat eine Meinung dazu, zumindest ein Gefühl dafür. Die inneren Bilder schwanken zwi-schen Sindbad, dem Seefahrer, und Darstellungen sich lasziv räkelnder Haremsda-men, feisten, skrupellosen Ölscheichs und der nächsten Fußball-WM in Katar. Daneben Bilder marodierender Scharen geifernder Fundamentalisten, die US-Flag-gen verbrennen, achtjährige Mädchen mit Greisen verheiraten und islamischen Terror verbreiten. Zu allem Überfluss hat uns in Deutschland ausgerechnet unser Ex-Nationalspieler, Muslim und politisch angezweifelter und vielleicht auch scheinheiliger Mesut Özil dazu gebracht, die Integrationsdebatte weiter zu befeu-ern. Doch das ist eine andere Geschichte, die jedoch sicherlich – neben anderen Attributen und Bekenntnissen, die in unserer Kultur wichtig sind − auch etwas mit der religiösen Zugehörigkeit des Fußballers zum Islam zu tun hat. Kurz gefasst: Unser Verhältnis zum Islam schwankt zwischen Ablehnung und Faszina-tion. Seit den Anschlägen auf die Twin Towers in New York ist der Islam in ein noch negativeres Licht gerückt. Früher fanden wir ihn nur rückständig und haben es nicht für Wert befunden, uns damit zu beschäftigen. Heute finden wir ihn gefährlich und beschäftigen uns deshalb mehr damit. Mittlerweile haben viele Menschen nicht-islamischer Herkunft Halbwissen über islamische Gesellschaf-ten. Ich werde jedoch als Islamwissenschaftlerin nicht müde darauf hinzuweisen, dass es den Islam so nicht gibt und dass wir vorsichtig mit dem umgehen müssen, was wir aus den Medien über ihn erfahren, da wir nur selektive Informationen bekommen, die, mit entsprechenden Metaphern überfrachtet, unsere Wahrneh-mung noch weiter verkleistern.

Ich möchte hier auf einige Aspekte in Bezug auf Islam eingehen, die für die Zusammenarbeit mit Muslim*innen vielleicht von Belang sind. Sicherlich gilt dies nicht für alle Muslim*innen, aber ich pauschalisiere absichtsvoll, auch wenn mir bewusst ist, dass Stereotype nicht immer zielführend sind. Viele Aspekte nehme ich auch nicht auf, weil das sonst den Rahmen des Buches sprengen würde.

Ich bin aber auch kein Fan davon, alles zu relativieren und zu individualisie-ren. Denn die Konsequenz wäre, dass dann gar nichts und niemand mehr kritisiert

3.3 Exkurs: Ex Oriente Lux – Der Islam zwischen Mystik und Ablehnung

3 Kulturdimensionen und der globale Süden64

werden kann. Dass es nicht falsch oder richtig, normal oder abweichend, objektiv oder subjektiv gibt. Dadurch wird selbst das Infrage-Stellen infrage gestellt. (Paoli 2018, S. 61) Ich möchte allerdings Dinge infrage stellen können, damit ich sie ver-arbeiten und verstehen, eventuell sogar integrieren und daran persönlich und pro-fessionell wachsen kann, und ich ermuntere Sie ebenfalls dazu, Ihre eigenen Urteile zum Thema Islam infrage zu stellen und bei diesem Prozess weder sich selbst noch das Thema überzubewerten. Es ist schließlich, wie schon gesagt, nur ein Aspekt von vielen.

In Bezug auf Islam stellen wir immer wieder dieselben Fragen, auf die uns gefälligst jeder Mensch, der aus der besagten Region kommt, Antworten geben soll: Ist der Islam schwulenfeindlich? Gelten Menschenrechte im Islam etwas? Warum positionieren sich Muslim*innen nicht deutlicher gegen Terror? Passt der Islam zu Deutschland? Die Fragen sind aus unserer Perspektive berechtigt. Inte-ressanterweise frage ich das gar nicht bei meinen Besuchen im Sudan, in Irak oder Afghanistan, aber die Leute wollen immer im vorauseilenden Gehorsam erklären, dass sie nicht zu der Sorte Muslim*innen gehören, die man so im Fern-sehen sieht. Und die Erklärungen fallen sehr unterschiedlich aus, je nachdem mit wem ich spreche.

Die Skala der Empfindungen ist also groß (sowohl bei uns als auch bei den Muslim*innen), wenn es um Islam geht. Das heißt, auch der Interpretations-Spiel-raum dessen, was passiert, wenn wir im Team mit Muslim*innen zu tun haben, ist kaum pauschal festzumachen. Nun ist Muslim*in nicht gleich Muslim*in. Genauso wie nicht jede*r Deutsche ein*e Christ*in ist. (Was übrigens viele gläu-bige Muslim*innen irritiert, da sie sich kaum vorstellen können, dass es Men-schen gibt, die nicht an Gott glauben.)

Ich habe viele muslimische Freund*innen mit diversen Hintergründen: Man-che sind Akademiker*innen, andere sind weniger gebildet; Frauen und Männer, junge und alte, arme und reiche, Muslim*innen mit unterschiedlicher sexueller Orientierung, solche, die praktizieren, und solche, die es nicht tun. Beim großen Eid-al-Adha-Fest (das ist das Fest, das einige Wochen nach Ende des Ramadan gefeiert wird) muss ich jedes Mal überlegen, wem meiner Freund*innen ich Glückwünsche schicke und wer davon irritiert wäre, weil er oder sie nicht religiös ist und gar nicht gefastet hat. Meine kurdischen Freunde im Irak lachen mich aus, wenn ich aus Respekt vor dem Alkoholverbot im Islam auf meine religions-in-kompatiblen Champagner-Pralinen hinweise, die ich als Gastgeschenk mitbringe, und laden mich grinsend zu einem Glas Chardonnay am Abend ein. Daher kann ich Ihnen nur zurufen: Die islamische Welt ist extrem divers und zumindest in den Städten leben viele tolerante bzw. säkulare Muslim*innen. Viele legen isla-mische Vorschriften modern aus oder eben gar nicht, je nach Bildungsstand oder Interesse, und trotzdem begreifen sie sich als Muslime. Ich kann nicht behaupten,

3.3 Exkurs: Ex Oriente Lux – Der Islam zwischen Mystik und Ablehnung 65

dass die Menschen in den Ländern, in denen der Islam als Religion zahlenmäßig überwiegt, allzu viel gemeinsam haben. Genauso wenig oder viel wie Menschen mit anderer sozio-kultureller Prägung.

Im Kontakt mit Muslim*innen habe ich keinen normativen oder affirmativen Anspruch, ich möchte nichts rechtfertigen, beurteilen oder verurteilen, sondern versuche meinen beobachtenden Blick offen zu halten. Diese Offenheit garan-tiert mir, dass ich Dinge wahrnehme, die ich sonst mit meinen Affekten zukleis-tern würde, wodurch ich nicht mehr in der Lage wäre, mir eine solide Meinung zu bilden.

T I P P :

Emotionen zu Ihrer WeltsichtKennen Sie das? Sie hören etwas, empören sich sofort, denn es verstößt gegen Ihren Anstand, Ihre Moral, Ihre Werte, und schieben die Person, die den Stein des Anstoßes ins Rollen gebracht hat, ins Aus. Sie hören nicht zu, interessieren sich nicht für die Argumentation, die aus Ihrer Perspektive haarsträubend ist, und rennen letztlich davon, verlassen die Kommunikation, meist mit dem Gefühl, das Gespräch sei unter Ihrer Würde.Was aber, wenn Sie dablieben? Sich das ganze Argumentationswerk mal an ­hören würden, und erst dann, wenn Sie alles gut verstanden und hinterfragt haben, beschließen, dass Sie mit dieser Person nicht mehr sprechen wollen?Versuchen Sie das einmal und beobachten Sie dabei, wie in Ihnen die Emotio­nen aufsteigen. Geben Sie den Emotionen erst einmal nicht nach. Versuchen Sie, die innere Spannung zu halten, ohne ihr nachzugeben. Sie werden merken, dass sich so nicht nur das Verständnis für andere Weltsichten stärkt, sondern dass Sie selbst viel klarer werden im Hinblick auf Ihre eigenen Weltsichten und Motive für ein bestimmtes Verhalten.

Als Islamwissenschaftlerin habe ich eine starke Affinität zum islamisch-geprägten Raum, in dem ich als Beraterin seit 15 Jahre beruflich unterwegs bin. Ich habe in diesen Jahren so viele unterschiedliche Erfahrungen gemacht, dass dieses Buch nicht ausreichen würde, sie zu beschreiben.

Der Islam hat eine lange Geschichte und blickt auf ca. 1500 Jahre zurück. Im islamisch-geprägten Raum, der hauptsächlich von Nordafrika bis nach Asien reicht, gibt es unterschiedliche Ausprägungen des Islam. Deshalb ist es auch schwierig, von einem Islam zu sprechen. Auch gibt es kein Oberhaupt wie den Papst, der zu allen muslimischen Gläubigen sprechen würde und ihnen eine ein-zige Richtschnur bieten könnte. Vielmehr gibt es unterschiedliche Auffassungen dessen, was eine gläubige Muslimin oder ein gläubiger Muslim zu tun und zu

3 Kulturdimensionen und der globale Süden66

lassen hat. Dies liegt unter anderem an unterschiedlichen Rechtsschulen im Islam, die sich ab dem neunten Jahrhundert ausgebildet haben, sowie an Einflüs-sen aus anderen Religionen und Kulturen, in denen sich der Islam ausbreitete, unter Einbettung dessen, was kulturell vorlag. In den Ländern, wo sich der Islam als eine starke gesellschaftliche Strömung etabliert hat, wurden die vorgefunde-nen Kulturen integriert und eine individuelle Prägung entwickelt. So gibt es bei-spielsweise einen afrikanisch-animistisch geprägten Islam, der je nach Region eigene Details der Glaubensausübung behält, oder einen asiatisch-buddhistisch geprägten Islam, der Elemente anderer Religionen mit aufgegriffen hat. Man erkennt das sehr schön an der Architektur der Moscheen. Dass man hierzulange sehr wenig über den Moscheen-Bau weiß, liegt an der historischen Rivalität zwi-schen Islam und Christentum, die weit in die Geschichte zurückreicht. Es fing vermutlich im Jahr 732 mit dem Angriff eines muslimischen Heeres auf Spanien und der Eroberung weiterer Gebiete bis nach Frankreich an. Was folgte, waren sieben Jahrhunderte ständiger Kriege im Namen der Religionen (Frishman und Khan 2002, S. 11). Im 15. Jahrhundert wurden die Muslim*innen aus dem katho-lischen Spanien wieder vertrieben. Das markierte das Ende der muslimischen Vorherrschaft in einigen Teilen Europas.

Vielleicht ist es das kollektive Gedächtnis, das in uns wachgerüttelt wird, wenn wir mit dem Islam in Kontakt kommen? Die Schönheit und Grazie der Architektur ist jedenfalls nicht das Erste, woran wir denken.

Selbstverständlich bekennen sich alle muslimischen Gläubigen zu demselben Kern: dem Koran, ihrem heiligen Buch, sowie zu den fünf Säulen des Islam: das Gebet, das fünfmal am Tag zu vollziehen ist, das Bekenntnis zu dem einen Gott und seinem Propheten Mohammed, zur Einhaltung des Fastenmonats Ramadan, der Durchführung der Pilgerfahrt nach Mekka und der Almosengabe an Bedürf-tige. Unterschiedlich wird es bereits bei der Auslegung einzelner Vorschriften sowie der Anerkennung von Überlieferungen. Auch dies liegt unter anderem daran, dass der Islam einen großen Interpretationsspielraum lässt, um die not-wendigen Anpassungsleistungen an die Moderne zu erbringen.

Manche Muslim*innen, die sehr nah an der Schrift argumentieren, würden mir hier widersprechen. Sie würden sagen, dass der Islam unveränderlich sei und der Mensch kein Recht hätte, Vorschriften zu hinterfragen. Andere Muslim*in-nen, die eine liberale Einstellung zur Religion haben, würden den Islam gar nicht erst mit der Moderne in einem Satz unterbringen wollen. Sie führen ein quasi säkulares Leben, respektieren jedoch die Religion als eine Basis ihrer Kultur. Sie würden beispielsweise zum Ramadan nicht öffentlich Speisen und Getränke kon-sumieren, jedoch würden sie unbeaufsichtigt essen und trinken. Auch wenn Alkohol für muslimische Gläubige verboten ist, habe ich nicht wenige kennenge-lernt, die sich gerne mal einen Schluck genehmigen und dabei auch kein schlech-

3.3 Exkurs: Ex Oriente Lux – Der Islam zwischen Mystik und Ablehnung 67

tes Gewissen haben. Dies wird natürlich nicht laut herumposaunt, da die Reak-tion des Umfeldes auf Alkoholkonsum in der Regel negativ ausfällt und man in Bezug darauf konfliktscheu ist.

Junge Leute haben Beziehungen vor der Ehe, neben der Ehe. Beide Geschlech-ter. Ohne, dass sie einander beschuldigen oder moralisieren. All das geschieht natürlich heimlich, aber in einer sehr lebendigen Parallelwelt. Es macht auch wenig Sinn, Konflikte in Kauf zu nehmen; stattdessen versuchen viele Muslim*in-nen, die ich kenne, ihr Privatleben für sich zu behalten. Damit gehen sie unange-nehmen Fragen bzw. Zweifeln an ihrer Integrität vonseiten ihrer Familie oder ihrem eigenen kulturellen Kontext aus dem Weg.

Sind Sie jetzt überrascht? Ich war es. Besonders bei jüngeren Muslim*innen ist mir aufgefallen, dass diese sich nicht auf Religion reduzieren lassen wollen. Sie finden es frustrierend, dass sie ständig gegen Stereotype ankämpfen müssen. Viele kennen ihre religiösen Vorschriften auch nur sehr marginal. Sie orientieren sich an Eltern, Großeltern oder anderen Verwandten, wenn es um die Ausübung der Religion geht, sie sind auch häufig nicht auskunftsfähig warum, weshalb, wieso etwas im Islam so ist und nicht anders. Sie werden damit unseren Erwar-tungen in Deutschland in keiner Weise gerecht, da wir davon ausgehen, dass ein Muslim oder eine Muslimin bestens Bescheid weiß über die eigene Religion. Das kommt daher, dass wir es gewohnt sind, Dinge zu hinterfragen, sie zu diskutie-ren, zu informieren und zu evaluieren − z. B. kaufen wir Gegenstände aufgrund von Kaufbewertungen oder Test-Berichten und sind markenbewusst (wenn wir es uns leisten können, manchmal auch ohne dass wir es uns leisten können). Wir sind uns unserer Wahlmöglichkeiten bewusst und meist haben wir zu allem eine Meinung, die wir nicht selten mit erhobenem Zeigefinger kundtun. Es kommt daher nicht selten auch zu Missverständnissen in der Kommunikation mit Mus-lim*innen. Wir gehen viel zu oft davon aus, dass diese ihren Glauben reflektiert und hinterfragt haben bzw. eine eigene Verortung dazu gefunden haben. Und wir haben eine gewisse Erwartungshaltung, die störend einem ausgewogenen Ver-hältnis zu Muslim*innen im Weg steht.

Selbstverständlich gibt es auch muslimische Gläubige, die ihre Religion öffent-lich vertreten und sich an die allgemein bekannten religiösen Vorschriften halten. Diese lehnen auch die Aufweichung religiöser Gebote komplett ab. Globalisierte Kultur ist ihnen nicht geheuer, die Einflüsse durch soziale Medien, US-amerikani-sche Serien, Mode-Trends und Bildung westlicher Ausprägung lehnen viele dieser strenggläubigen Muslim*innen deshalb ab, weil sie berechtigt fürchten, dass althergebrachte Kultur sich verändern wird. Sie haben recht: sie tut es. Es gibt kein Zurück mehr und die Traditionen sind bereits in Auflösung begriffen.

3 Kulturdimensionen und der globale Süden86

Give me the hook or the ovationIt’s my world that I want to have a little pride inMy world and it’s not a place I have to hide inLife’s not worth a dam’Til you can say I am what I am«

Auch wenn Identität sich aus vielen unterschiedlichen Bestandteilen zusammen-setzt, so ist die Herkunft eine sehr wesentliche Größe darin. Migration und die Einflüsse anderer Länder und Kulturen prägen nicht nur die Identität, sondern auch das Bild der eigenen Herkunft und Zukunft.

3.6 Migration und Kultur

»Wenn jemand eine Reise tut, dann kann er was erzählen; Drum nahm ich meinen Stock und Hut, Und tät das Reisen wählen.« (Claudius 1998)

Kaum etwas verändert einen Menschen und seine Kultur so sehr wie Reisen in andere Länder. Eine Reise, wie es das Zitat oben andeutet, die man antritt, um etwas Neues zu erleben und Spannendes zu Hause zu erzählen, ist im Fall von Migration vermutlich nicht die primäre Motivation. Wir reisen freiwillig, aber wir migrieren meist unfreiwillig. Ich lasse einmal aus, warum und wieso und unter welchen Bedingungen wir migrieren. Diese sind vielfältig und individuell. Häufig ist die Migration wirtschaftlich bedingt, aus politischen Gründen, in Zukunft sogar des Klimawandels wegen, aber natürlich auch der Liebe wegen, der Bildung wegen etc. Je nachdem, welche Perspektive man einnimmt, kann man Migration ablehnen oder befürworten. Man kann damit Politik machen und wirtschaftliche Vor- und Nachteile haben. Tatsache ist, Migration gehört zum Menschen und das wird sich auch so schnell nicht ändern, im Gegenteil, wir können davon ausge-hen, dass Migration das Thema Nummer eins sein wird in den kommenden Jahr-zehnten. Also macht es Sinn, sich damit auseinanderzusetzen.

Migration verändert das Selbstverständnis enorm. Dabei gibt es häufig ex -treme Ausschläge. Das eine Extrem ist ein komplettes Abwenden von der eigenen Kultur oder eine starke Hinwendung dazu. Ich behaupte, dass die meisten Men-schen, die migriert sind, moderat mit dem Thema Kultur umgehen. Extreme Aus-schläge, ausschließliches Hinwenden zur eigenen Kultur gibt es, aber sie sind eher die Ausnahme. Es kommt stark darauf an, welchen Einflüssen Zugezogene ausgesetzt sind.

3.6 Migration und Kultur

3.6 Migration und Kultur 87

Ein interessantes Beispiel sind Deutsche im Ausland.Da ich viel unterwegs bin, höre ich immer wieder Witze und Bemerkungen

über das mangelnde deutsche Selbstbewusstsein. Wir haben in Deutschland ein Problem mit den Begriffen »Stolz« (es gibt kaum ein Volk, das nicht irgendwie stolz ist auf sich selbst und die Vorväter und -mütter), »Nation« (die Franzosen können sich »grande nation« nennen und kein*e Deutsche*r stört sich daran), »Volk« (je nachdem, wer »wir sind das Volk« ruft und wie und in welcher Epoche, wird es schwierig für Deutsche, das Wort neutral zu benutzen). Es gibt sicherlich noch viele andere Wörter, die in der deutschen Kultur geschichtlich kompromit-tiert sind. Manche werden zu Unrecht diskreditiert und bei manchen muss man eben differenzieren, wer sie zu welchem Zweck (miss)braucht.

Interessanterweise verhalten sich Deutsche im Ausland oft anders als zu Hause. Wenn sie keine Biertrinker sind, trinken sie eventuell welches im Ausland; wenn sie keinen Fußball mögen, aber »unsere Jungs« spielen, schauen plötzlich alle zusammen Fußball und finden Gefallen daran, sich schwarz-rot-goldene Streifen ins Gesicht zu malen. (Das ist auch in Deutschland selbst mittlerweile etabliert.) Das Desaster der letzten WM hatte übrigens weitreichende Konsequen-zen für mich.

Apropos Fußball …Irak im Juli. 46 Grad, flimmernde Hitze, absolut windstill. Heute fahre ich von Erbil nach Sulaimaniya, in den Osten Kurdistans. Mein in Tarnfarben gekleide­ter, freundlich grinsender Fahrer blinzelt mir kurz über die Sonnenbrille hinweg zu und stellt sich vor. Mohammad, willkommen in Kurdistan. Aus Sicherheits­gründen überprüfe ich Namen, Kennzeichen und Telefonnummer. Stimmt, er ist es, also einsteigen bitte. Während er meinen Koffer in den Kofferraum wuch­tet, klettere ich in den Landcruiser. Endlich wieder etwas kühler. Beim Losfah­ren greift Mohammad in das Kühlfach: »Willst du eine Flasche Wasser? Ist kalt.« Ich greife zu und kühle mir erst einmal die Stirn. »Unsere Reise dauert etwa drei Stunden. Bitte halte deinen Pass immer bereit, für die Checkpoints.« Alles klar. Ich greife schon mal zu meiner Tasche. Im Rückspiegel beobachtet mich Mohammad, wie ich den Pass herausnehme. »Bist du Deutsche?« »Ja.« »Oh, das tut mir leid«, sagt er mit leiser und mitfüh­lender Stimme, »ihr seid ja leider in der WM gescheitert.« Oh nein, denke ich, jetzt kommt das. Wie peinlich. Warum es mir peinlich ist, weiß ich selbst nicht genau. Irgendwie wäre ich besser drauf gewesen, wenn die Deutschen nicht ausgeschieden wären. Das Spiel gegen Schweden hatten sie ja knapp gewon­nen. Daraufhin hatten viele meiner Freunde in der Region Whatsapp­Nachrich­ten mit Gratulation geschickt: »Ohne Deutschland ist die WM langweilig.«

3 Kulturdimensionen und der globale Süden88

Stimmt. Ich hatte schon für das Finale bei uns im Garten das Public Viewing organisiert. Und jetzt das. »Ach, lass gut sein«, sage ich zu Mohammad und winke enttäuscht ab. »ich will nicht darüber sprechen.« Wir fahren kurz nach der Ausfahrt aus Erbil an den ersten Checkpoint. Kurdi­sche Soldaten, die Peschmerga, stehen dort, bewaffnet und aufmerksam kon­trollieren sie Autos und Menschen. »Ausweis bitte.« Ich reiche meinen Pass durch den Fensterschlitz. Der Mann schaut darauf, dann auf mich, dann auf Mohammad. »Sie ist Deutsche?« fragt er Mohammad, irgendwie ungläubig. Mohammad bestätigt. Ich wundere mich und denke, na hoffentlich lässt er mich durch. Gibt es irgendein Sicherheitsrisiko? Ist etwas vorgefallen und ich komme nun nicht weiter? Gestern hatte ich abends noch einige Hubschrauber wahrgenommen, die einen Einsatz in Kirkuk geflogen haben. Hat seine Frage damit zu tun? Nun schaut er mich wieder an. Sein Blick ist fragend. »Also das mit der WM und eurem Team, das ist ja wirklich ziemlich dumm gelaufen«, übersetzt mir Mohammad. Der Peschmerga schiebt sich näher ans Fenster, um meine Reaktion zu sehen. Ich fasse es nicht! Er erwartet einen Kommentar zu dem jämmerlichen Abschneiden der deutschen Fußballmannschaft!? Ich lasse Mohammad über­setzen, dass ich darüber sehr traurig bin, aber nichts weiter kommentieren möchte oder kann. Er lässt sich nicht abschütteln. »Wird Jogi als Trainer blei­ben?« fragt er noch einmal neugierig nach und bleibt dicht am Wagen stehen, um uns am Weiterfahren zu hindern, aber Mohammad macht deutliche Anzei­chen, dass es Zeit ist, weiterzufahren. Endlich weg. Beim nächsten Checkpoint allerdings das gleiche Spiel. Diesmal unterbricht Mohammad den Peschmerga rüde, als dieser einen Klagegesang auf die deut­sche Mannschaft anheben will, und macht ihm klar, dass mit mir kein Fußball­ Gespräch anzufangen ist. Ich bin ihm unendlich dankbar und sinke seufzend vor Erleichterung in meinen Sitz zurück. In Suleimaniya angekommen, instal­liere ich mich kurz im Hotel, um dann gleich zu einem Abendessen zu fahren. Bevor ich mich an den Tisch setze, stelle ich mich den Anwesenden vor: »Guten Abend, mein Name ist Sonja Andjelkovic, ich komme aus Deutschland und über die Fußball­WM möchte ich nicht sprechen!«

Meine emotionale Reaktion wäre sicherlich anders ausgefallen, wenn ich in Deutschland gewesen wäre. Vermutlich viel gleichgültiger. Eigentlich bin ich über-haupt kein Fußball-Fan. Aber plötzlich stehe ich in der Fremde für eine Fußball-mannschaft, für ein Land, für eine Nation. Deutsche, die ins Ausland migrieren, sind häufig »deutscher« als Deutsche hierzulande, u. a. weil die Umgebung es so erwartet. Es ist nicht einfach, sich diesen Erwartungen zu entziehen, wer es den-noch versucht, muss damit rechnen, trotzdem in Stereotypen gefangen zu sein. Als

3.6 Migration und Kultur 89

Beraterin im Ausland wird häufig von mir erwartet, dass ich auf alles, was in Deutschland passiert oder auch nicht passiert, Antworten gebe, immer die Lösung aller Probleme der Welt weiß, vielleicht auch den einen oder die andere rette.

Das liegt daran, dass Deutschland in der Wahrnehmung anderer für bestimmte Werte steht, z. B. für Wissen, Qualität, Perfektion(ismus), aber auch Pünktlich-keit, Genauigkeit, Sachlichkeit. Wenn ich dann passen muss, entsteht eine Form zwischenmenschlicher Irritation, die ich als störend empfinde, weil sie mich drängt, mich doch an die Erwartungen der anderen anzupassen.

Umgekehrt werden auch bei uns Menschen aus anderen Kulturkreisen zu der Politik ihres Landes oder zu sozialen Missständen und Konflikten befragt und sol-len sich äußern. Die deutsche Journalistin und Schriftstellerin Hatice Akyün beschrieb ihre Erfahrung mit der Erwartungshaltung anderer an ihre Kenntnisse über die Türkei mit der folgenden Metapher:

»Sobald ich unter Leuten bin, werde ich mit Fragen über die Türkei bombar-diert. Das ist wie bei Ärzten, die auch auf keiner Party sein können, ohne dass jemand sagt: Fühl mal, ich habe hier eine Beule, was soll ich tun?« (Akyün 2016, S. 60)

Wir reagieren oft verwundert, wenn wir keine Antworten bekommen, weil die Befragten keinen Bezug zur Frage herstellen können oder eben einfach selbst

Quelle: Thomas Andjelkovic

Abb. 18: Das mit der WM …

3 Kulturdimensionen und der globale Süden90

keine Antwort darauf wissen. Irgendwie fühlen sie sich auch falsch, denn die anderen schätzen sie als nicht zugehörig und fremd ein. Es entsteht ein Rechtfer-tigungsdruck. Warum bin ich hier und nicht woanders? Welches Motiv hatte ich oder hatten meine Eltern eigentlich hierherzukommen? Und wer bin ich jetzt? Daneben entsteht manchmal sogar das Gefühl von Scham, dass man Fragen über die vermeintliche eigene Heimat nicht beantworten kann, und auch Wut, dass man auf dieselbige festgenagelt wird.

Die derzeitige Debatte, ob es rassistisch ist, jemanden, der offensichtlich anders aussieht als die Mehrheitsgesellschaft, zu fragen, wo sie oder er her-kommt, zeugt von Hilflosigkeit. Wir sind noch nicht daran gewöhnt, dass jemand aussehen kann wie ein Ghanaer und trotzdem Deutscher ist. Das braucht noch zwei Jahrzehnte. Und wir kennen leider zu viele Beispiele aus den Medien von Leuten, die in der dritten Generation in Deutschland sind und behaupten, sie wären Türken – umgekehrt wieder andere, die denselben Menschen absprechen, Deutsche zu sein und wenn, dann nur welche mit Migrationshintergrund. Es ist ein Kuddelmuddel. Ich habe dazu eine ganz persönliche, nicht repräsentative Meinung: Ich habe nichts dagegen, wenn man mich fragt, wo mein Name her-kommt, und wenn man mich zu dem Land, in dem ich geboren bin, etwas fragt. Wenn ich es weiß, gebe ich bereitwillig Auskunft, wenn nicht, dann eben nicht. Wo ist das Problem? Man könnte ja mit der Herkunft auch ganz entspannt umge-hen, statt alles mit einem Label zu versehen. Migration ist Teil aller Kulturen; Kul-turen werden durch Migration gemacht. Überall, wo jemand neu hinkommt, ent-steht etwas neu. Da, wo sich jemand niederlässt, entsteht Heimatgefühl. Ein türkischer Freund von mir antwortete auf die Frage »Wo ist deine Heimat?« mit »Kreuzberg«. Kreuzberg ist ein Bezirk in Berlin und keine Stadt oder ein Land. Es ist die Zuordnung zu einer Kiezkultur, die er als Heimat bezeichnet, weil er dort so sein kann, wie er möchte. Für den Essayisten Christian Schüle ist Heimat da, »wo der Mensch sich selbst gehört« (Schüle 2017, S. 61).

3.7 Die Bedeutung von Heimat

Die Heimat gewinnt an Bedeutung. Das ist nicht zuletzt erkennbar am neu ent-standenen Bundesministerium, das auch »Heimatministerium« im Namen trägt. Heimat ist gar nicht gut angesehen bei manchen Bundesbürger*innen, bei ande-ren sehr wohl. Warum nur gehen die Gemüter so stark auseinander, wenn es um Heimat geht? Um dieser Frage etwas genauer nachzugehen, habe ich mich einmal bei Twitter umgesehen. Was haben Leute getweetet, als klar wurde, dass es dieses Ministerium geben würde? Hier ein paar Beispiele:

3.7 Die Bedeutung von Heimat

4 Interkulturelles Management im 21. Jahrhundert: Grundlagen und Konzepte112

gerichteter, bewusster Prozess sein soll. Das ist er aus meiner Erfahrung mit der Führung interkultureller Teams gerade nicht, und wenn er dies ist, so habe ich das bisher als Manipulation und nicht als Verhandlung erlebt. So wie hier Verhandeln verstanden wird, exkludiert es die gesamte Bandbreite der (unberechenbaren) Gefühle, die uns in jeder – auch in der interkulturellen – Begegnung bestimmen, sowie den grundsätzlichen Wunsch nach Zugehörigkeit und Angenommen-Sein. (Andjelkovic 2017)

Wenn wir jedoch Verhandeln etwas anders definieren, dann wird ein Schuh daraus. In meinem Buch »Verhandlungen intuitiv und ergebnisorientiert gestal-ten« (2017) gehe ich auf eine neue Verhandlungskultur ein. Im Bereich Führen interkultureller Teams erscheint mir diese von mir definierte Verhandlungskultur geeigneter als die vorherrschende, von Eigeninteressen geleitete: Ich plädiere dafür, Verhandeln als einen Weg der Empathie statt der Machtdemonstration zu verstehen und zu praktizieren. Ziel des Verhandelns sollte ein Weg in eine neue, solidarischere Zivilisation sein, statt eines Kräftemessens um Gewinnmaximie-rung. Vielleicht idealistisch − und dennoch ein sehr praktischer Ansatz, der auch auf die Ausbildung einer konstruktiv-positiven Interkulturalität anwendbar ist. Daraus entwickelt sich ein dritter Ansatz für das Führen interkultureller Teams: der kreativ-reflektierte Ansatz.

4.2.3 Der kreativ-reflektierte Ansatz

Mein Ansatz geht davon aus, dass Kollaboration in interkulturellen Teams stark zunehmen wird (wenn nicht gar in zehn Jahren die Regel und nicht die Aus-nahme darstellen wird) und dass wir uns noch flexibler, noch offener und noch veränderungsbereiter aufstellen müssen, um Unternehmen erfolgreich zu führen. Der kreativ-reflektierte Ansatz geht davon aus, dass wir in stärkerem Maße als bisher die kollektive Kraft von Teams nutzen, Entscheidungen gemein-sam statt hierarchisch treffen und Innovation und Kreativität stärken müssen. Die Rolle der Führenden interkultureller Teams wird immer mehr eine moderie-rende Rolle sein, deren Hauptaufgabe es ist, einen safe space für interkulturelle Teams herzustellen. Das erfordert eine Kultur des Feedbacks, der Reflexion und konstruktiven Konfliktfähigkeit. Ein safe space ermöglicht Teams, sich offen und konstruktiv auszutauschen, ohne Angst vor Abwertung. Das persönliche Reflexions- und Kommunikationsvermögen aller Personen im Team ist gefragt, denn alle Mitglieder im Team sind für das Gelingen interkultureller Zusammen-arbeit wichtig.

Die folgenden Prinzipien des kreativ-reflektierten Ansatzes orientieren sich an der Philosophie des Helfens von Edgar Schein (Schein 1990) und sind meines

4.2 Neuere Forschung zur Interkulturalität und ihre Relevanz für das Management 113

Erachtens sowohl für eine neue Verhandlungskultur als auch für das Führen inter-kultureller Teams relevant. Sie stellen die Grundpfeiler des safe space dar.

Prinzip 1: Interkulturell kreativ-reflektiert zu handeln bedeutet, sich gegen-seitig zu unterstützenWir haben ein Bewusstsein darüber, wer wir kulturell sind, und übernehmen Ver-antwortung für das, was wir über uns lernen, indem wir es regelmäßig reflektie-ren. Wir bemühen uns, die anderen zu verstehen und offen für ihre Sicht der Welt zu sein. Dafür ist es wichtig, die unterschiedlichen Wirklichkeiten zu entschlüs-seln, zu verstehen und in sich arbeiten zu lassen, ohne sich von Vorurteilen, Kli-schees und eigenen Wünschen blenden zu lassen. Fokus der Interaktion sollte ein reziproker Unterstützungsprozess sein, der Zeit braucht und viel Geduld. Einan-der gegenseitig zu unterstützen ist ein kontinuierlicher Akt und muss nachhaltig weiterverfolgt werden. Es gilt nur so viel wie nötig und so wenig wie möglich auf Hierarchien und Positionen Wert zu legen. So kann das nötige Vertrauen im Team entstehen.

Prinzip 2: Interkulturell kreativ-reflektiert zu handeln bedeutet, in der Gegen-wart präsent zu seinWir sollten uns nicht ausschließlich von vergangenen Erfahrungen leiten lassen, sondern der Gegenwart eine Chance geben, uns neue Erfahrungen zu ermögli-chen. Das trifft auch auf interkulturelle Erfahrungen zu. Häufig stehen negativ interpretierte interkulturelle Situationen im Weg herum und verhindern Offenheit für ein neues, positiveres Erlebnis. Selbst die Zukunft hat eine geringere Bedeu-tung im Vergleich zur Gegenwart, auch wenn sie uns hilft, ein Ziel vor Augen zu haben. Veränderungen finden immer im Jetzt statt; Bewusstsein wächst in jedem Moment, den wir bewusst erleben. Dafür müssen wir wieder spüren lernen, unsere Gefühle besser wahrnehmen lernen und diese dann auch wieder loslas-sen, sodass wir immer wieder bereit sind für eine neue Erfahrung. Das hilft dabei, Fehlschläge besser wegzustecken, und ist die stärkste Kraft gegen quälende Selbstzweifel. In der Gegenwart präsent zu sein, ermöglicht immer wieder einen Neuanfang.

Prinzip 3: Interkulturell kreativ-reflektiert zu handeln bedeutet, zu wissen, dass jede Handlung (und Nicht-Handlung) Folgen hatGanz im Sinne des Kommunikationswissenschaftlers und Philosophen Paul Watz-lawick bedeutet dieses Prinzip, dass jedes passive oder aktive Verhalten in einer interkulturellen Begegnung Folgen hat. Und dass diese Folgen nicht einschätzbar, nicht kalkulierbar und berechenbar sind. Wir können daher schwer beurteilen, was Ursache, was Wirkung ist und wie das alles zusammengehört.

4 Interkulturelles Management im 21. Jahrhundert: Grundlagen und Konzepte114

Prinzip 4: Interkulturell kreativ-reflektiert zu handeln bedeutet, zu erken-nen, dass ich nicht weißWir sollten uns unser Nicht-Wissen und unsere Nicht-Kompetenz in interkultu-rellen Situationen eingestehen. Das setzt Kräfte frei, gibt die Chance, noch einmal genauer zu betrachten, welche anderen Möglichkeiten es gibt, auf eine Situation zu reagieren. Außerdem macht es uns ein Stück weit demütig und bescheiden − Tugenden, die sehr hilfreich sind, um eine interkulturell kompetente Persönlich-keit zu entwickeln. (Andjelkovic 2017) Außerdem befördert es Humor und Gelas-senheit, was ich für wesentlich erachte, um in ambivalenten Situationen nicht zu verzweifeln.

Laut Barmeyer und Davoine bedarf es zur Umsetzung eines konstruktiv-posi-tiven Ansatzes von Interkulturalität begünstigender Faktoren auf der organisatio-nalen, strukturellen, prozessualen, individuellen und akteursbezogenen Ebene. (Barmeyer und Davoine 2016)

Eventuell ist der kreativ-reflektierte Ansatz mit seinen vier Prinzipien ein Bei-trag zur Konkretisierung dessen, was mit dem Begriff »begünstigend« gemeint ist.

4.2.4 Assimilation? Integration? Marginalisierung? Akkulturationsstrategien nach Berry

Integrations- und Assimilationsprozesse passieren nicht spontan, in Integrations-kursen oder durch einen Wechsel der Staatsangehörigkeit. Sie erfordern manch-mal Blut, Schweiß und Tränen und sind die Arbeit von Generationen. »Zum Glück spürt die dritte Generation diese Zerrissenheit nicht mehr so stark. Meine Eltern haben vor Türkeireisen immer gesagt: Wir fahren in die Heimat. Ich habe gesagt: Wir fahren in die Türkei. Und meine Tochter sagt: Wir fahren in den Urlaub.« (Akyün 2016, S. 60)

Das Zitat steht meiner Meinung nach für astreine Assimilation. In der dritten Generation von Einwander*innen nach Deutschland hat die Herkunft keine iden-titätsstiftende Bedeutung mehr. Bei meinen Kindern ist es ebenso. Sie fühlen sich als Deutsche und das finde ich gut. Deutschsein bedeutet für sie, Gesellschaft positiv mitzugestalten, in Deutschland und anderswo. Sie interessieren sich für die Welt und fühlen sich überall da wohl, wo die Jugendkultur ihrer ähnlich ist: Rap, Kunst, Demokratie, gesundes Essen, Metropolen. Sie fühlen sich daher in Paris, Rom, New York, Berlin wohl. Doch zu Hause fühlen sie sich in Berlin und sind richtige Lokalmatadore, trotz globaler Präferenz.

Dass sie es sind, liegt sicherlich an dem Schalter, den ich bereits sehr früh umgelegt habe, um nicht zwischen zwei Stühlen sitzenzubleiben, sondern mich überall bewegen zu können. Meine Sandwichposition in unserem Familienbe-

5 Intelligent führen – Interkulturalität nutzen

Mit intelligenter Führung im Kontext von Interkulturalität meine ich, die Zeichen einer kulturellen Wende im Bereich Personalführung in Unternehmen und Orga-nisationen zu erkennen und positiv zu interpretieren, daraus Schlüsse für Hand-lungen zu ziehen und diese Handlungen gemeinsam zu vollziehen. Was es dazu braucht, ist interkulturelle Intelligenz. »Interkulturelle Intelligenz ist eine spezi-elle Form der Intelligenz. Sie existiert parallel zu emotionaler und sozialer Intelli-genz und besteht aus folgenden Bestandteilen:1. Kognition: das (Fakten-)Wissen um kulturelle Gegebenheiten sowie Fachkom-

petenzen.2. Metakognition: die Fähigkeit, kontinuierlich die eigene Situation zu analysie-

ren, das eigene Verhalten zu überdenken und neu erworbenes mit altem Wis-sen in Beziehung zu setzen und dazuzulernen.

3. Motivation: Man muss überhaupt erfolgreich interkulturell kommunizieren wollen.

4. Verhaltensdisponibilität: Theoretisch Durchschautes muss auch in die Tat umgesetzt werden können. Von herausragender Bedeutung ist in diesem Zu-sammenhang das impression-management, d. h. die Fähigkeit, den Eindruck, den man selbst auf andere macht, zu identifizieren und kontrollieren zu können.

5. Entwicklungscharakter: Persönlichkeitseigenschaften und Umweltbedingun-gen, die sich positiv oder negativ auf die individuelle Disposition zu kulturel-ler Intelligenz auswirken können.« (Barmeyer 2012, S. 77–78)

Wie entwickeln Sie nun diese fünf Kriterien der interkulturellen Intelligenz? Im Folgenden gebe ich dazu Anregungen.

5.1 Interkulturalität und Gefühle

Es gibt keine Kultur ohne Gefühle. Und keine kulturelle Begegnung lässt uns kalt. Welche Gefühle wir in welcher Situation empfinden, ist individuell unterschied-lich und oft nicht nach außen hin wahrnehmbar. Wir reden nicht darüber, erst recht nicht im beruflichen Kontext, unter anderem deshalb, weil wir uns mit unse-ren Gefühlen oft nicht sonderlich gut auskennen.

5 Intelligent führen – Interkulturalität nutzen5 Intelligent führen – Interkulturalität nutzen

5.1 Interkulturalität und Gefühle

5 Intelligent führen – Interkulturalität nutzen124

Wir fühlen und denken aufgrund von früh in unserem Leben festgelegten Mustern. Während des Erwachsenwerdens verdichten sich diese Muster zu einer Weltsicht. Alle Erfahrungen werden dann mit diesem Muster abgeglichen und steuern unsere Orientierung und unser Verhalten in der Welt. Dies geht sogar so weit, dass wir die Wirklichkeit selektiv und auf Emotionen basierend wahrneh-men. Mit anderen Worten: wir konstruieren unsere Wirklichkeit. Wir reagieren daher auf interkulturelle Begegnungen nicht immer objektiv und der jeweiligen Situation angemessen.

Es sind also nicht nur kontextuelle oder externe Faktoren, die interkulturelle Interaktionen bestimmen, sondern es ist eine eigene innere, meist habitualisierte Systematik, mit der wir Begegnungen bewerten. Diese Bewertung wird wie eine Schablone über Interaktionen gelegt, sodass wir nur noch das Muster nachmalen müssen, um zu handeln. Das Resultat ist, dass wir uns in ähnlichen Situationen immer ähnlich verhalten. Wer beispielsweise überwiegend gute Erfahrungen mit Brasilianer*innen gemacht hat, wird auf Begegnungen mit Brasilianer*innen posi-tiv reagieren, weil er oder sie sich auf alte, positive Erfahrungen berufen kann. Umgekehrt werden Menschen mit eher negativen interkulturellen Erfahrungen mit Brasilianer*innen, noch bevor sie auf deren Kultur treffen, eine negative Attitüde an den Tag legen und für positive Erlebnisse weniger offen sein. Nietzsche drückt diese Haltung sehr anschaulich in einem Gedicht aus:

»Der UnfreieEr steht und horcht: was konnt ihn irren?Was hört er vor den Ohren schwirren?Was war‘s, das ihn darniederschlug?Wie Jeder, der einst Ketten trug,Hört überall er − Kettenklirren.« (Nietzsche 2010, S. 29)

Dies passiert nicht, weil wir böse, grundsätzlich intolerant oder unwillig wären zu lernen, sondern weil wir unsere emotionalen Gewohnheiten noch nicht zur Genüge reflektiert bzw. das negative Erlebnis nicht verarbeitet haben. Wir haben uns dem »emotionalen Lernen« (Arnold 2010, S. 119) noch nicht zugewandt.

Emotionales Lernen erfordert, dass wir unsere Gefühle verstehen. Als Allererstes sollten wir wissen, dass unsere Gefühle unsere sind, zu uns

gehören. Andere mögen sie zwar auslösen, aber sie verursachen sie nicht. Es ist ungleich einfacher, anderen die Verantwortung für das, was wir fühlen, unterzu-jubeln. Auch wenn ein*e Andere*r schuld ist − irgendwie gehen wir bei dieser Schuldzuweisung nicht nur zu dem- oder derjenigen innerlich auf Distanz, son-dern auch zu uns selbst. Das spüren Sie an einer inneren Verhärtung, die sich teil-weise auch in Ihrem Körper manifestiert. Auch wenn uns das nicht guttut, wir tun

5.1 Interkulturalität und Gefühle 125

dann alles, um dieses Gefühl des Rechthabens zu festigen, um ja so bleiben zu dürfen, wie wir sind. Dabei sind wir selbst dafür verantwortlich, wie es uns geht, und sonst niemand. Wenn wir das verstanden haben, werden wir zu selbstver-antwortlichen und emotional reifen Persönlichkeiten.

Daher ist es notwendig, in der Führung interkultureller Teams eine doppelte Perspektive auf das Thema Gefühl zu haben. Einerseits erzeugen wir jeweils unsere individuelle Wirklichkeit, deren wir gewahr werden sollten, damit sie uns nicht stets aufs Glatteis veralteter Reaktionsmuster führt; andererseits können wir als Führungskräfte einen erheblichen Einfluss auf Emotionslernen innerhalb der Organisation haben, indem wir Mitarbeitenden Gelegenheit bieten (und diese auch selbst in Anspruch nehmen), eigene emotionale Bearbeitungsmechanismen zu reflektieren. Sie, als Führungskraft, bestimmen daher zum großen Teil mit, ob die Bedingungen in Ihrem Unternehmen durch eine geeignete Atmosphäre und eine vertrauensvolle Kooperation gegeben sind, um Selbstreflexion und Hand-lungsmotivation zu fördern. Im Methodenkoffer finden Sie hierzu einige Übungen.

Nur so viel sei hier schon gesagt: Interkulturelle Teams brauchen die Heraus-bildung einer emotionalen Reife, um Diversität nutzbringend einsetzen zu kön-nen. Mit Reife meine ich die Fähigkeit, mit Krisen, Konflikten, Erfolgen, Freude, Teamdynamik und kulturellen Befindlichkeiten so umzugehen, dass das Team weiterhin arbeitsfähig und motiviert ist. Dafür wird man Durststrecken, unbeant-wortete Fragen, Frustration und Ängste ebenso durchleben müssen wie Euphorie, Leichtigkeit und Flow. Alles Gefühle, über die es sich gerade in interkulturellen Teams zu reflektieren lohnt. Wie sonst soll bei zunehmender Komplexität, steigen-der Unsicherheit und in global verschwimmenden Arbeitskontexten ein Team geführt werden, wenn nicht über die Stärkung emotionaler Resilienz? Diversität ist eine kreative Ressource, wenn sie emotional intelligent eingebracht wird, und zwar sowohl auf der Ebene der Organisation als auch auf der Ebene der Person. Die Erkenntnis, dass Gefühle eine gestalterische und kreative Kraft haben, ist bekannt. Kein*e Künstler*in erschafft sein oder ihr Kunstwerk ohne Gefühle; Kre-ativität ist auf sie angewiesen. Und dennoch sind Gefühle in der Wirtschaft erst in der letzten Zeit wohl eher salonfähig geworden, während man sie bisher als stö-rend, unprofessionell und der sachlichen Gestaltung von Unternehmensabläufen als nicht dienlich eingeordnet hat. Professionalität und Gefühl gehörte in der Ver-gangenheit nicht zusammen. Schaut man sich jedoch die letzten Jahre an, so sind immer mehr Publikationen entstanden, die die Berücksichtigung von Gefühlen im Management legitimieren. Es wurde deutlich, dass der Erfolg eines Unternehmens ganz entscheidend davon abhängt, wie die Führungskraft mit Gefühlen umgeht und ob sie in der Lage ist, Mitarbeitende für eine gemeinsame Sache zu begeistern.

In »Führung von Mitarbeitern. Handbuch für erfolgreiches Personalmanage-ment« (Rosenstiel et al. 2014), dem Klassiker zur Personalentwicklung, wird die

5 Intelligent führen – Interkulturalität nutzen126

soziale Kompetenz von Führungskräften in nahezu jedem Kapitel betont. Die Führungskraft von morgen braucht starke kommunikative Fähigkeiten, eine kooperative Haltung sowie mehr Sensibilität und Menschenkenntnis, da persön-liche Beziehungen zu Mitarbeitenden für Personalmanagement an Bedeutung gewinnen werden. Des Weiteren brauchen Sie Überzeugungskraft, Fehlertole-ranz, Lernfreudigkeit und eine hohe Kongruenz zwischen dem eigenen Reden und Handeln, um als Vorbild wirken zu können.

All dies sind enorme Herausforderungen, wenn man bedenkt, dass interkultu-relle Teams sehr heterogen sind, unterschiedliche Herangehens-, Arbeits- und Sichtweisen haben und ihre emotionale Bindung zu ihrer Arbeit und zum Unter-nehmen nicht gleich stark ist. (Regnet 2014) Den notwendigen Kompetenzen liegt eine emotionale Reife zugrunde, die eine Führungskraft auf dem Weg in die unter-nehmerische Zukunft entwickeln muss. Diese emotionale Reife erleichtert intelli-gente Führung und ermöglicht es Ihnen, mit schnellen Veränderungen, heteroge-nen Teams und Unsicherheiten umzugehen.

In diesem Zusammenhang ist es wichtig, kurz auf Empathie einzugehen.Empathie ist die »Fähigkeit, sich in Gefühle, Gedanken und Absichten anderer

Menschen hineinzuversetzen, um dadurch die Einstellungen und Verhaltenswei-sen des anderskulturellen Gegenübers folgerichtiger zu verstehen und zu inter-pretieren. Empathie erleichtert allgemein den Aufbau persönlicher Beziehungen und trägt zu Perspektivenübernahme bei. Für Interkulturalität ist bedeutend, dass Empathie zu Perspektivwechsel führt, somit zu einer intensiven Beschäftigung mit dem anderskulturellen System beiträgt und dadurch erst ein angemessenes, vom Gegenüber akzeptiertes Verhalten ermöglicht. Insofern ist Empathie eine wichtige Eigenschaft sozialer und interkultureller Kompetenz und kann als ein wesentliches Kriterium von Intelligenz gewertet werden. Zu unterscheiden ist die authentische Empathie von der funktionalen; Letztere kann manipulativ verwen-

Quelle: Thomas Andjelkovic

Abb. 22: Führungskraft von morgen

5.1 Interkulturalität und Gefühle 127

det werden, um auch im interkulturellen Kontakt bestimmte, mitunter persönli-che Ziele zu erreichen.« (Barmeyer 2012, S. 50) Empathie schließt auch Zuhören ein. Eine intelligente Führungskraft nutzt die Zeit für Gespräche, hört zu und ver-steht. »Aber ich höre doch zu!« Klar. Nur was oder wen hören Sie wirklich? Betrachten Sie den Menschen mit einem offenen Herzen, mit allen Sinnen? Bemer-ken Sie seine Verlegenheit, seine verhohlene Freude, seine nagenden Befürchtun-gen und seine stillen Hoffnungen? Hören Sie, was er oder sie sagt, oder hören Sie Ihr eigenes Echo? Leider ist es häufig Letzteres. Empathie bedeutet nicht, in Mit-leid zu zergehen oder sich in Aktionismus zu stürzen. Je schneller Sie diesem Impuls in Ihnen, der Situation, in der eine Person steckt, und die sie unglücklich macht, nachgeben, desto weniger achten Sie deren Schmerz und nehmen ihr die Chance, stark zu sein. Empathie hat man mit Anderen, aber auch mit sich selbst, daher ist sie »also auch Kern dessen, was unser Eigenes ist. Wenn aber dieses Eigene verachtet und als nicht zu uns gehörig abgespalten werden muss, kann sich auch die Empathie nicht frei entwickeln. Unsere Fähigkeiten, mit anderen mitzufühlen, verkümmern. Der Prozeß, durch den das Eigene zum Fremden wird, verhindert also, daß Menschen sich menschlich begegnen − mit Anteilnahme, Einfühlungsvermögen und gegenseitigem Verstehen. Und so wird die Abstraktion zur Basis unserer Beziehungen.« (Gruen 2015, S. 20)

Empathisches Führen von interkulturellen Teams bedeutet, sich den Gefüh-len, Lebenserfahrungen und Geschichten der Mitarbeitenden auszuliefern. Nicht wegzugehen, nicht aufzugeben und zusammenzubrechen, wenn Sie Lebensge-schichten hören, die furchtbar sind. Aber auch nicht alles zu bejubeln, was Ihnen Ihre Mitarbeitenden erzählen. Übertünchen Sie Äußerungen über die Kultur nicht, gehen Sie darauf ein, fragen Sie nach. Was ist damit gemeint? Wie äußert sich die Person? Was macht sie für einen Eindruck? Und wie geht es Ihnen damit?

Diese Fragen dienen der Reflexion – einer absolut notwendigen Kompetenz für Führung allgemein!

Sollten Sie Geflüchtete eingestellt haben, ist durchaus anzunehmen, dass Sie Menschen vor sich haben, deren Erfahrungen Sie niemals machen werden und mit denen Sie sich kaum werden identifizieren können. Deren Werdegang kann für Sie daher sehr abstrakt wirken und dennoch kann Sie eine heiße Welle der Empathie erfassen, mit der Sie schwer umgehen können.

Ich kenne das Gefühl von Ohnmacht im Angesicht des Elends von Menschen-rechtler*innen, die aus ihren Ländern fliehen, um nicht an der Folter im Gefäng-nis zu sterben, und dafür in Kauf nehmen, ihre Kinder nie wiederzusehen. Ich kenne das Gefühl von Wut und Verzweiflung im Angesicht von Menschen, die durch Kriege Haus und Arbeit verloren haben und mittellos sind oder einfach nur Menschen, die jemanden lieben, den sie nicht lieben dürfen, weil auf Homosexu-alität die Todesstrafe steht. Wenn sich eine*r Ihrer Mitarbeitenden Ihnen gegen-

5 Intelligent führen – Interkulturalität nutzen128

über so öffnet, dann bedeutet Empathie für Sie, nicht den Blick woandershin zu richten, sondern den Blick zu erwidern, auch wenn es schwer auszuhalten ist. Und gleichzeitig sind genau solche Menschen häufig felsenfest und resilient. Empathie für sie bedeutet nicht, dass Sie mit ihnen weinen und bekräftigen, wie schrecklich das alles ist. Im Hier und Jetzt aufmerksam und bei der Interaktion sein, trifft Empathie für mich am besten.

Empathie bedeutet noch etwas anderes auf der gesellschaftspolitischen Ebene, nämlich die Erschaffung von Chancen. Wenn Sie Führungskraft eines interkultu-rellen Teams sind, bemühen Sie sich um Chancengleichheit, indem Sie Ihrem Team die Möglichkeit geben, sich zu verwirklichen: jedes Individuum für sich und das Team als Ganzes.

Denn wenn die Gesellschaftsstruktur, aber auch die Unternehmensstruktur die Verwirklichung einer subjektiv gewünschten Identität verhindert, weil sie einem Menschen einen Platz in der Gesellschaft zuweist, der keinerlei Möglichkeit zur Erfüllung dieser Identität gibt, so kann sich die Person in eine Phantasieidentität flüchten. Das kreiert eine Diskrepanz zwischen der tatsächlich gelebten Identität und dem, was man wirklich will, und kann über einen längeren Zeitraum hinweg Spannungen erzeugen. Um mit den Spannungen besser klarzukommen, legt sich die Person eine »zweckgebundene Identität« zu, die nicht wirklich emotional in ihr verankert ist. (Berger et al. 2016, S. 183–184) Damit fühlt sie sich in sich selbst fremd und in ihrem Team und in der sie umgebenden Gesellschaft. Das Gefühl des Fremdseins steht der Interkulturalität sehr im Weg. Führungskräfte tun daher gut daran, die kreativen Potenziale anderskultureller Menschen im Team zu erkennen und den Mitarbeitenden die Freiheit zu geben, sie einzubringen.

5.2 Gefühle und Verhalten bei der Begegnung mit dem »Fremden«

Was ist ein »Fremder«? Der marokkanische Schriftsteller und Psychotherapeut Tahar Ben Jelloun diskutiert in dem Buch »Papa, was ist ein Fremder?« mit seiner kleinen Tochter über Rassismus und beantwortet ihre Fragen in kindgerechter und berührender Art und Weise. Als sie ihn fragt, was ein Fremder sei, antwortet er: »Der Wortstamm ›fremd‹ bedeutet sowohl ›von weit her‹ als auch ›nicht dazu-gehörig‹. Ein Fremder kommt also aus der Ferne, aus einem anderen Land, manch-mal auch nur aus einer anderen Stadt oder einem anderen Dorf. Und ein Fremder ist kein Angehöriger der Familie, des Klans oder des Stammes. Wenn heute jemand sagt, dass ihm etwas ›fremd‹ sei, dann meint er damit, dass es sehr anders ist als das, was man jeden Tag sieht, dass es demnach irgendwie ungewöhnlich ist, aus

5.2 Gefühle und Verhalten bei der Begegnung mit dem »Fremden«

6.2 Auf der Ebene der Person 155

wirklich fähig sein, die Handlungsmotive, Gefühle und Gewohnheiten anderer Menschen ohne strenges Urteil wahrzunehmen.

Kommunikation ist der Garant dafür, dass die subjektive Wirklichkeit intakt bleibt. Denn die subjektive Wirklichkeit ist, wenn sie unbesprochen bleibt, irgend-wann obsolet. Das Reden hilft einem, Konturen zu erschaffen über das Erlebte und es dadurch in der Realität zu ankern. Somit haben Gespräche auch eine »wirklichkeitskonstruierende Macht« (Berger et al. 2016, S. 164–165). Wenn sich die subjektive Wirklichkeit auflöst, dann sind wir »Einheitsbrei« und lernen nicht mehr, sondern gehen im sozial erwarteten Verhalten unter. Die Konturen der Organisation, die mit interkulturellen Teams agiert, müssen auch als solche sicht-bar sein, und zwar nach innen und nach außen.

6.2 Auf der Ebene der Person

»Ich kenne mancher Menschen SinnUnd weiß nicht, wer ich selber bin!Mein Auge ist mir viel zu nah −Ich bin nicht, was ich seh und sah.Ich wollte mir schon besser nützen,Könnt’ ich mir selber ferner sitzen.Zwar nicht so ferne wie mein Feind!Zu fern sitzt schon der nächste Freund −Doch zwischen dem und mir die Mitte!Erratet ihr, um was ich bitte?« (Nietzsche 2010, S. 27)

Woran es vielen mangelt, ist ein gesundes Maß an Selbsterkenntnis, wie aus dem obigen Gedicht hervorgeht. Selbsterkenntnis und interkulturelles Bewusstsein jedoch gehören zusammen. Das Transzendieren der eigenen Kultur ist nicht mög-lich ohne die Auseinandersetzung mit sich selbst. (Hall 1989) Wenn Sie in der Lage sind, interkulturelle Erfahrungen als Augenöffner zu nutzen, dann bekom-men Sie eine neue Perspektive auf sich selbst und haben die Chance, sich weiter-zuentwickeln. Umgekehrt, je mehr Sie sich weiterentwickeln, desto kompetenter können Sie Diversität in Ihrem Unternehmen als Kreativitätsmotor etablieren. Möglichkeiten zur Selbsterkenntnis bieten sich quasi überall. Wie wir gesehen haben, kann die genaue Betrachtung der Sprache, die Sie nutzen, warum Sie sie nutzen, mit welcher Bedeutung Sie manche Worte verknüpfen, ein Weg sein, um sich selbst im Kontext von Interkultur-Situationen besser kennenzulernen und eigene Reaktionsmuster zu verstehen. Aber auch Ihr Umgang mit Nähe und Dis-

6.2 Auf der Ebene der Person

6 Ko­kreatives interkulturelles Management gestalten – aber wie?156

tanz, mit Gefühlen und Gedanken kann Ihnen wertvolle Hinweise geben, wer Sie sind und wie Sie agieren. All dieses und noch vieles mehr bietet sich zur vertie-fenden Reflexion an.

Sie müssen für den Selbsterkenntnisprozess Energie und Zeit aufbringen – das ist nicht immer so einfach im beruflichen Alltag. Im Methodenkoffer habe ich Ihnen hierzu einige hilfreiche Übungen zusammengestellt, die Sie auf den Weg bringen werden.

Selbsterkenntnis ist im interkulturellen beruflichen Kontext kein Selbstzweck. Sie dient der besseren, leichteren und kreativeren Führung interkultureller Teams. Hierfür sind meines Erachtens drei Dimensionen der persönlichen Entwicklung notwendig: das Entwickeln von Ambiguitätstoleranz, die Offenheit und Fähigkeit zur Selbsterfahrung und der Wille und die Lust zum Perspektivwechsel. Ein Wert, den ich als Basis diesen drei Dimensionen zuordne, ist das Bekenntnis dazu, dass wir durch die Selbstentwicklung zu einem großen Ganzen, nämlich der Weiter-entwicklung der Gesellschaft, in der wir leben, beitragen wollen und sollen.

6.2.1 Ambiguitätstoleranz – bitte was?

Ambiguitätstoleranz ist die »Fähigkeit und Bereitschaft, Mehrdeutigkeiten, Wider-sprüche und Ambivalenz in ungewissen Situationen und Handlungswesen zu ertragen, ohne sich unwohl zu fühlen oder aggressiv zu reagieren. Die betroffene Person bleibt − obwohl sie ein anderskulturelles Verhalten oder eine interkultu-relle Situation nicht versteht − handlungs- und arbeitsfähig. Ambiguitätstoleranz wird als eine wesentliche Eigenschaft interkultureller Kompetenz angesehen.« (Barmeyer 2012, S. 22)

Dieser Definition stimme ich hundertprozentig zu. Wenn uns etwas in inter-kulturellen Situationen nützt, so ist das Ambiguitätstoleranz. Wie kann man diese ausbilden?

Führungskräfte müssen zwangsläufig über Ambiguitätstoleranz verfügen. Diese Qualität ist in jedem Bereich zunehmend gefragt. Im Berufsalltag einer Füh-rungskraft gibt es ständig Gelegenheiten, irritierende Erfahrungen zu sammeln. Eine reflektierende Haltung ermöglicht es, dass Sie nicht aufgeben und Ihren Job an den Nagel hängen, sondern diese Erfahrungen reflektieren und in Ihre Interak-tionen mit einbauen. Ein neurotisches Festhalten an der eigenen Meinung und Weltsicht verhindert Flexibilität und Lernen und die Ausbildung der Ambigui-tätstoleranz. Systematische Selbstbetrachtung hingegen eröffnet uns den Zugang zu unseren emotionalen Mustern und zu der uns innewohnenden Empathie.

Ich kenne nicht viele Menschen mit einer hohen Ambiguitätstoleranz, aber die, die ich kennenlernen durfte, hatten folgendes gemeinsam. Sie waren

6.2 Auf der Ebene der Person 157

y neugierig und offen, ohne anbiedernd zu wirken y nicht wertend, sondern aufmerksam beobachtend und gelassen y nicht fordernd, sondern akzeptierend und hingebungsvoll y positiv gestimmt, »wird schon irgendwie« y sensibel für die Situation und den Kontext sowie für die eigenen Bedürfnisse

und die der Beteiligten y gefühlvoll, ohne sich von ihren Emotionen übermannen zu lassen y lernend und nicht belehrend y gebend, ohne sich zu verausgaben.

Schauen Sie sich die Liste an und haken Sie an den Stellen ab, an denen Sie mei-nen, dass Sie diese Qualität zum großen Teil verwirklicht haben. Wo keine Haken sind, könnten Sie sich fragen, warum nicht und wie Sie sich absichtsvoll in Situ-ationen begeben könnten, um diese Qualität zu erlernen. Aber suchen Sie sich Erlebnisse und nicht nur Bücher, Vorträge oder Konferenzen! Erlebnisse produ-zieren Emotionen; durch deren Beobachtung und Transformation werden Sie zunehmend weniger ihren Ängsten und Ihrem Unwohlsein in der Unsicherheit ausgeliefert sein – ambiguitätstoleranter also.

6.2.2 Interkulturelle Persönlichkeitsentwicklung

Für Persönlichkeitsentwicklung braucht es Wollen und Können. Ohne Persönlich-keitsentwicklung kann es keine interkulturelle Führung geben, die erfolgreich umgesetzt wird. »Wasch mich, aber mach mich nicht nass« − diese sprichwört-liche Haltung funktioniert hier nicht. Sie müssen schon Ihre Abgründe erforschen und archäologische Ausgrabungen betreiben, um Ihre Prägungen ans Tageslicht, sprich in Ihr Bewusstsein zu holen und bearbeitbar zu machen. Dafür brauchen Sie neben der Bereitschaft und einer guten Begleitung durch eine*n Coach auch Geduld und Disziplin.

Sobald die Versteinerungen aus alten Zeiten vor Ihnen liegen, werden Sie sie sorgfältig entstauben und zusammensetzen und sich entweder darüber amüsieren oder sich grämen. Die Gefühle, die Sie bei Prozessen der Persönlichkeitsentwick-lung überkommen, lassen sich nicht immer so einfach aushalten. Ich rate Ihnen, lassen Sie Ihren Gefühle Platz, aber halten Sie sie nicht fest. Atmen Sie einfach weiter, wissend, dass es vergeht und wieder ein neues Gefühl entstehen wird. Es ist wirklich irrwitzig: Loslassen erfordert viel mehr Kontrolle als Festhalten!

»Der einzige Weg ist deshalb: Selbststeuerung, Kontrolle über uns selbst!« (Cnyrim 2016, S. 17)

Die Autorin

Sonja Andjelkovic, Jg. 1970, ist Islamwissenschaftlerin; Aus- und Weiterbildungen u. a. in Organisations- und Personalentwicklung, Coaching, Konflikt- und Krisen-management, Flüchtlingsrecht und Migration, Gender Mainstreaming und humanitärer Hilfe.

Sie ist Trainerin für Interkulturalität und Teambuil-ding, Organisations- und Strategieberaterin sowie Mo-deratorin für Politikdialoge in Entwicklungs- und Schwellenländern. Seit 20 Jahren berät sie internatio-nale Organisationen, Regierungen, Akteure in Zivilge-

sellschaft und Wirtschaft in der Planung und Umsetzung von Projekten und Pro-grammen der internationalen Zusammenarbeit. Sie forscht und berät zu den The-men gute Regierungsführung, Flüchtlinge, soziale Kohäsion und Integration, Bildung und nachhaltige Entwicklung. Ihr besonderer Schwerpunkt sind Krisen- und Konfliktländer, vor allem Länder des Nahen und Mittleren Ostens. Im Rahmen ihres Beratungsinstituts »Rootsfactory Consulting Network« (www.rootsfactory.de) führt sie neben ihren internationalen Projekten auch Trainings, Beratungen, Vorträge und Moderationen zu den Themen interkulturelle Kompetenz mit Schwer-punkt islamisch-geprägte Kulturen in Deutschland durch.

Des Weiteren ist die Autorin Vorstandsvorsitzende des Vereins Business Makes Sense e. V., der sich zum Ziel gesetzt hat, Wirtschaft, Politik und Gesell-schaft anhand gemeinsamer Initiativen für eine nachhaltige globale Zukunft stär-ker zusammenzuführen. Als Vorsitzende von intercultures public e. V. i. Gr. en-gagiert sie sich für Diversität und Interkulturalität in Deutschland. Sie ist Preisträgerin des Erfinderinnenpreises für das beste Geschäftsmodell 2017 sowie des »Research to Market Challenge«-Preises der FU Berlin 2017 für »Afara Acade-mic Publishing«, einer Initiative zur Publikation von wissenschaftlichen Arbei-ten aus Afrika und Nahost.

Ihr erstes Buch »Verhandlungen intuitiv und ergebnisorientiert gestalten – Wer nicht verlieren will, muss fühlen« erschien 2017 im Schäffer-Poeschel Verlag.

Die Autorin steht für Lesungen, Vorträge oder Diskussionen gern zur Verfü-gung und freut sich über Kontaktaufnahme zum Thema dieses Buches unter kontakt@sonja-andjelkovic.de

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