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Immerhin: Nach einem NPD-Verbot gäbe es keine staatlich finanzierten »Gas geben«-Plakate mehr. Von Ulla Jelpke Seite 2
Immer noch: Am 11. September fin-det der Tag der Mahnung zum 21. Mal in Berlin statt. Ein Gespräch mit Hans Coppi Seite 3
Ungebremst: Neofaschisten mar-schieren in Tschechien durch Roma-Ghettos. Polizei gibt Opfern die Schuld. Von Tomasz Konicz Seite 5
Ungebrochen: »Nur bei den Parti-sanen haben wir uns gefühlt wie ein Mensch.« Ein Porträt über Fania Brantsovskaya Seite 7 jungeWelt
Die Tageszeitung
ant i fa Tageszeitung junge Welt Mittwoch,7. September 2011, Nr. 208
In Dortmund haben am 3. Septem-ber 4 000 Polizisten dafür gesorgt, daß 700 Neofaschisten erneut ih-ren »Nationalen Antikriegstag«
in der Stadt durchführen konnten. Mit Pfefferspray- und Knüppeleinsatz, Was-serwerfern und Kesseln gegen jugendli-che Nazigegner glich der Aufmarsch der Polizei einem Kriegseinsatz.
Antifaschistinnen und Antifaschisten, die dem Aufruf des bundesweiten Bünd-nisses »Dortmund stellt sich quer!« ge-folgt waren und den Aufmarsch der äu-ßerst gewaltbereiten »Autonomen Natio-nalisten« mit friedlichen Sitzblockaden verhindern und gleichsam ein Zeichen gegen Krieg und Besatzung setzen woll-ten, wurden Opfer der massiven Polizei-übergriffe. Etwa 270 Nazigegner, darun-ter ein Drittel Minderjährige, wurden in Gewahrsam genommen. Trotz stunden-langer Inhaftierung wurde ihnen sogar Wasser verweigert. Auch die Rechte der Landtags- und Bundestagsabgeordneten wurden beschnitten. Der jungen Welt liegt
ein als »vertraulich« gekennzeichnetes Schreiben des nordrhein-westfälischen Innenministeriums an Abgeordnete vor. Die Polizei Dortmund respektiere das Informationsrecht von Angehörigen der Volksvertretung ausdrücklich und möchte dies möglichst umfassend unterstützen, heißt es darin. Doch »ohne polizeiliche Begleitung ist ein Betreten abgesperrter Bereiche durch Abgeordnete aus Sicher-heitsgründen, insbesondere bei drohen-der Lageeskalation, nicht möglich«. Und tatsächlich, Parlamentarier, die mäßigend auf die Polizisten einwirken und diese von Übergriffen abhalten wollten, wurden nicht zu den Einsatzleitern durchgelassen und scheiterten meist schon an den Ab-sperrgittern. Ein persönlicher Mitarbeiter des Fraktionsvorsitzenden der Linkspartei in NRW, Wolfgang Zimmermann, wurde brutal niedergeschlagen und mußte im Krankenhaus behandelt werden. Noch aus dem Krankenhaus heraus wurde er trotz Kopfverletzungen von Polizeibeam-ten in Gewahrsam genommen.
Ein ähnlicher Kriegszustand hatte im Februar dieses Jahres in Dresden ge-herrscht. Dort war es Tausenden Antifa-schisten aber trotz massiver staatlicher Gewalt, Repression und bis dato unge-kannten Überwachungsmaßnahmen zum zweiten Mal in Folge gelungen, einen Großaufmarsch der Rechten zu stoppen. »Dortmund ist nicht Dresden« hatte ein Kommentator der Westfälischen Rund-schau unmittelbar vor dem Naziaufmarsch in Dortmund geschrieben. Er hat – für dieses Jahr - Recht behalten. Dabei hatte sich in der Stadt viel bewegt. Erstmals hatte es eine breite Zustimmung in der Dortmunder Bevölkerung für friedliche Massenblockaden gegeben. Selbst Dort-munds SPD-Oberbürgermeister sprach sich für diese Protestform aus. Allein Polizeipräsident Hans Schulze beharrte darauf, daß es sich bei der Beteiligung an Blockaden um eine Straftat handele – und setzte seine Mannen in Gang.
Doch auch die Erfolge in Dresden brauchten mehrere Jahre Vorlauf. Klar
ist: Trotz massiver staatlicher Repression, mit der sich Antifaschisten konfrontiert sehen, darf im Kampf gegen Neofaschis-mus und Krieg und für soziale Rechte kei-nen Zentimeter zurückgewichen werden. Dies zeigen nicht zuletzt die Wahlergeb-nisse von Mecklenburg-Vorpommern, wo die neofaschistische NPD trotz leichter Stimmverluste mit sechs Prozent erneut in den Landtag einzieht. Die Wahler-gebnisse, aber auch die Aktivitäten von »Autonomen Nationalisten«, NPD und sogenannten Rechtspopulisten wie von »Pro Deutschland« oder »Die Freiheit«, die zur Zeit versuchen, im Berliner Wahl-kampf zu punkten, werden auch ein The-ma beim diesjährigen Tag der Mahnung und Erinnerung sein. Dieser findet am 11. September als Aktionstag gegen Neo-faschismus, Rassismus und Krieg bereits zum 21. Mal in Berlin statt und bietet Antifaschistinnen und Antifaschisten al-ler Altersgruppen aus Ost und West die Möglichkeit zu gegenseitigem Austausch und Information.
Polizei verhindert BlockadenDortmund ist nicht Dresden: 4000 Beamte ermöglichen 700 Neofaschisten, ihren »Nationalen Antikriegstag« im Ruhrgebiet abzuhalten. Antifaschisten gekesselt, verprügelt, verhaftet. Von Markus Bernhardt
Die Bilder in diesem jW-extra zeigen Polizei-maßnahmen am 3. Sep-tember in Dortmund zur Verhinderung antifa-schistischer Proteste
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Mittwoch, 7. September 2011, Nr. 208 junge Welt 2 a n t i f a
Gas geben« heißt es kaum zwei-deutig auf Plakaten der neo-faschistischen NPD zu den Berlinwahlen am 18. Septem-
ber, die unter anderem in der Nähe des Holocaust-Mahnmals und des jüdischen Museums hängen. Auch sonst macht die Partei aus ihrer Gesinnung keinen Hehl. Der »etwas aus der Mode gekommene« deutsche Vorname, nach dem die Partei in einem Kreuzworträtsel ihrer Wahlkampf-zeitung sucht, lautet wie leicht zu erra-ten »Adolf«. Das Oberverwaltungsgericht Berlin hat dem Rundfunk Berlin-Branden-burg beschieden, einen Wahlwerbespot der NPD nicht ausstrahlen zu müssen. Der Film erfülle den Tatbestand der Volksver-hetzung und sei geeignet, den öffentlichen Frieden zu gefährden, so das Gericht. Die NPD greife darin die Menschenwürde in Berlin lebender Ausländer, insbesondere von Muslimen, an. Diese werden böswil-lig verächtlich gemacht, indem suggeriert werde, daß Ausländer stets kriminell seien und Gewalttaten gegen Deutsche begingen. Provokation ist Wahlkampfstrategie der NPD, die angesichts der extrem-rechten Konkurrenz durch die Islamhasserparteien »Pro Deutschland« und »Die Freiheit« um ihre wenigen kommunalen Mandate in der Hauptstadt bangen muß.
Das Bundesamt für Verfassungsschutz und der Bundesinnenminister sahen die NPD im Sommer in einer Krise. Die zu Jahresende 2010 publicityträchtig ange-kündigte Fusion mit der Deutschen Volks-union DVU liegt nach dem gerichtlichen Einspruch aus einzelnen DVU-Landesver-bänden vorerst auf Eis. Einen Zuwachs an aktiven Mitgliedern durch die vornehmlich aus überalterten Karteileichen bestehen-de DVU konnte sich die NPD sowieso kaum erhoffen. Die finanziell seit länge-rem angeschlagene Partei muß aufgrund eines Urteils des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg vom Mai eine Strafe von 2,5 Millionen Euro zahlen, weil sie in ihrem Rechenschaftsbericht von 2007 Gelder aus der staatlichen Parteienfinan-zierung nicht korrekt angegeben hatte. Die als aussichtsreich erachteten Landtags-wahlen in Bremen und Sachsen-Anhalt führten nicht zum Einzug in ein weiteres Landesparlament. Sollten auch die Wahlen
in Mecklenburg-Vorpommern und Berlin nicht das gewünschte Ergebnis bringen, könnten die seit langem schwelenden Rich-tungskämpfe zwischen den Krawattenfa-schisten des »sächsischen Weges« und den Straßenkämpfern aus der Kameradschafts-szene wieder heftig aufbrechen.
Doch die NPD verfügt immer noch über bis zu 7 000 Mitglieder und rund 300 vor allem kommunale Mandatsträger. Auch die Schlägertrupps in ihrem Umfeld sind weiterhin aktiv. So verzeichnete der Ver-fassungsschutzbericht zwar bundesweit ei-nen Rückgang von rechtsextremer Gewalt um 14,5 Prozent, doch in den ostdeutschen Hochburgen der Neonazis gab es demnach einen Zuwachs solcher Gewalttaten von 4,8 Prozent. Zudem ereignen sich 40 Prozent dieser Delikte in den sogenannten neuen Bundesländern, obwohl hier nur 15 Pro-zent aller Einwohner Deutschlands leben. Die NPD fördert durch ihre Hetze Gewalt-taten gegen Linke, Schwarze, Schwule, Juden und andere Bevölkerungsgruppen, warnt das Internetportal NPD-Blog.Info. »Und sie bietet Neonazis eine feste Infra-struktur, Arbeitsplätze sowie Zugang zu Informationen über Parlamente. Zudem ist die NPD fest mit rechtsextremen Subkul-
turen vernetzt – und versucht so, kulturel-len Einfluß zu erlangen. Die NPD ist daher nicht ausschließlich an Wahlergebnissen zu messen, sondern sie dient dem ›Natio-nalen Widerstand‹ als Dachorganisation.«
Der stellvertretende Vorsitzende der SPD-Landtagsfraktion von Mecklenburg-Vorpommern, Mathias Brodkorb, warnt zudem vor einer Selbsttäuschung der Par-lamentarier, die sich rühmen, die NPD in über 120 Landtagssitzungen isoliert, vor-geführt, gar »besiegt« zu haben. So gerate aus dem Blick, daß die NPD im Parlament gar nicht gewinnen will, sondern in der Feuerwehr, im Dorf, in der Schule. Denn tatsächlich hat die NPD zum Parlamenta-rismus, den sie überwinden will, ein rein taktisches Verhältnis. Sie nutzt das Par-lament als Bühne für ihre Provokationen und als Möglichkeit, an Steuergelder zur Einrichtung von Mitarbeiterstellen für ihre Kader zu kommen. Doch primär für den Parteiaufbau und die Verankerung ist eine »nationale Graswurzelarbeit« in Vereinen und Kommunen.
Eine Analyse der Grünen-nahen Hein-rich-Böll-Stiftung zu »Nazis in Parlamen-ten« widerlegt die von Parteienforschern nach rechten Wahlerfolgen routinemäßig verkündete Einschätzung, die NPD stütze sich vornehmlich auf Protestwähler, die den etablierten Parteien einen Denkzettel verpassen wollten. In Sachsen etwa habe sich eine »relativ gefestigte Wählerschaft der NPD herausgebildet«, die zwischen vier und sechs Prozent liegt. Dort, wo die Nazis bereits einmal bei Wahlen gut ab-schnitten, konnten sie weitere Wahlerfolge verbuchen, die von Skandalen ihrer Man-datsträger oder parteiinternen Streitigkei-ten kaum beeinflußt wurden. Das zeigt sich deutlich in Sachsen, wo die NPD 2009 das zweite Mal in Folge in ein Landespar-lament einzog und die Zahl ihrer kommu-nalen Mandate kontinuierlich von acht im Jahr 1999 auf 74 im Jahr 2009 steigern konnte.
Während die Partei auf Plakaten »Kri-minelle Ausländer ausweisen« fordert, höhnt die antifaschistische Comicfigur »Storch Heinar« auf Plakaten in Mecklen-burg-Vorpommern »Kriminelle Inländer einweisen«. Dies bezieht sich auf das Vor-strafenregister vieler NPD-Funktionäre.
So verurteilte das Amtsgericht Bergen den NPD-Direktkandidaten für den Wahlkreis Rügen 1, Tony Lomberg, im August zu 14 Monaten Haft auf Bewährung wegen gefährlicher Körperverletzung. Weitere Verfahren gegen Lomberg wegen Land-friedensbruchs und Körperverletzung sind laut einem NDR-Bericht anhängig. We-nige Tage vor Lomberg war NPD-Lan-desvorstandsmitglied Sven Krüger wegen erwerbsmäßiger Hehlerei und illegalem Waffenbesitz zu über vier Jahren Haft ver-urteilt worden. Der Abbruchunternehmer, bei dem die Polizei ein Maschinengewehr, eine Pistole und Munition fand, hatte trotz zahlreicher Vorstrafen bis zur Anklageer-hebung für die NPD im Kreistag von Nord-westmecklenburg gesessen.
Die Hoffnung auf eine Selbstzerstörung der NPD ist unrealistisch. Dazu trägt auch die staatliche Beihilfe für die Neonazis bei. Die NPD kommt nicht nur in den Ge-nuß der staatlichen Parteienfinanzierung, sondern sie kann sich auch auf ein dichtes Netzwerk von Verfassungsschutzagenten in ihren Reihen stützen. Offiziell sollen die V-Männer lediglich Informationen sammeln, doch wie nicht zuletzt das erste NPD-Verbotsverfahren 2003 ergab, han-delt es sich hier vielfach um Nazihetzer, die von Steuergeldern finanziert aktiv den Aufbau der Nazipartei vorantreiben. 2003 gehörte jeder sechste Funktionär der NPD dem Verfassungsschutz an, so daß das Bundesverfassungsgericht der Partei eine »mangelnde Staatsferne« bescheinigte, an der das Verbot scheiterte. Während die Innenminister von CDU/CSU mit ihrer Weigerung, die V-Leute des Geheimdien-stes in den NPD-Gremien abzuschalten, weiterhin ein NPD-Verbot sabotieren, wird ein solches von einer Mehrheit der Bun-desbürger befürwortet. Ein NPD-Verbot würde die Neonazis nicht vom Erdboden verschwinden lassen, doch es würde die faschistische Szene erheblich schwächen. Ihre Demonstrationen ließen sich leichter verbieten, da sie dann nicht mehr dem Parteienprivileg unterliegen. Ein Verbot würde deutlich machen, daß Faschismus eben keine normale Meinung ist. Und es würden keine Steuergelder mehr für menschenverachtende Hetze wie die »Gas geben«-Plakate in Berlin geben.
Staatlich subventioniertDie NPD ist in einer Krise, doch sie bleibt die legale Dachorganisation des »Nationalen Widerstands«. Nur ein Verbot kann Steuergelder für »Gas geben«-Plakate stoppen. Von Ulla Jelpke
Die NPD nutzt das Par-lament als Bühne für ihre Provokationen und als Möglichkeit, an Steu-ergelder zur Einrichtung von Mitarbeiterstellen für ihre Kader zu kom-men. Doch primär für den Parteiaufbau und die Verankerung ist eine »nationale Graswurzel-arbeit« in Vereinen und Kommunen.
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Übernahmeattacke
Der spanische Baukonzern ACS steht
bei Hochtief kurz vor dem Ziel.
Beschäftigte nur VerhandlungsmasseDioxinfettBehörden durchsuchen Betriebe eines
Futtermittelherstellers. Warnung
vor Eierkonsum
RohstoffstreitProbebohrungen bestätigen ein riesiges
Gasfeld vor den Küsten Libanons
und Israels. Von Joachim GuilliardPressefreiheitEin linker Hamburger Sender klagte
erfolgreich gegen die Durchsu-
chung seiner Redaktionsräume25
3
Kommunismus wirkt, in der
Bundesrepublik 2011 reicht
die bloße Vokabel. Am Mon-
tag veröffentlichte jW unter dem Titel
»Wege zum Kommunismus« einen Ar-
tikel der Linksparteivorsitzenden Gesi-
ne Lötzsch. Sie nimmt am kommenden
Sonnabend im Rahmen der von jW und
zahlreichen Organisationen in Berlin
veranstalteten Rosa-Luxemburg-Konfe-
renz an einer Podiumsdiskussion unter
dem Titel »Wo bitte geht’s zum Kom-
munismus? Linker Reformismus oder
revolutionäre Strategie – Wege aus dem
Kapitalismus« teil. Der Beitrag diente
der Vorbereitung auf die Debatte, an der
auch die Betriebsratsvorsitzende Katrin
Dornheim, die DKP-Vorsitzende Bet-
tina Jürgensen, Claudia Spatz von der
Antifa Berlin, das frühere RAF-Mit-
glied Inge Viett für die Radikale Linke
sowie die Bundestagsabgeordnete Ulla
Jelpke (Die Linke) als Moderatorin teil-
nehmen. Die Anwesenheit Inge Vietts
hatte bereits am Dienstag den innenpo-
litischen Sprecher der CDU-Fraktion
im Berliner Abgeordnetenhaus, Robbin
Juhnke, veranlaßt, in der stark rechtsla-
stigen Wochenzeitung Junge Freiheit
von »Skandal« zu sprechen (siehe auch
jW vom 5. Januar). Am Dienstag abend
setzte die Internetseite Spiegel online
auf die bräunliche Postille eins drauf
und verkündete: »Linke-Chefin erklärt
Kommunismus zum Ziel der Partei.«
Autor Stefan Berg hält auch »das Um-
feld der Veröffentlichung« für einen
»Skandal«: Der Text, den er falsch als
Vorabdruck einer Rede bezeichnet,
stehe im »Marxistenblatt junge Welt«.
Berg empörte sich: »Mit der gleichen
Selbstverständlichkeit, mit der Lötzsch
über den Kommunismus spricht, ver-
gißt sie dessen Blutspur.«
Am Mittwoch meldete Bild die Spie-
gel-Enten auf Seite eins, Welt online
phantasierte eine Zeitlang von »dem
DKP-Vorsitzenden« als Teilnehmer der
Diskussion – dann brachen im Politik-
betrieb alle Dämme. CDU-Generalse-
kretär Hermann Gröhe warf Lötzsch
eine »skandalöse Kommunismussehn-
sucht« vor. CSU-Generalsekretär Alex-
ander Dobrindt sekundierte, die Politi-
kerin stehe »außerhalb unserer Verfas-
sung«. Die Linkspartei müsse nun un-
bedingt wieder flächendeckend in ganz
Deutschland vom Verfassungsschutz
beobachtet werden. Der Leiter der Ge-
denkstätte Berlin-Hohenschönhausen,
Hubertus Knabe, fand den Lötzsch-Text
»schmerzlich und unerträglich« für die
Opfer des Kommunismus und forderte
Lötzsch auf, ihre Teilnahme an der Ro-
sa-Luxemburg-Konferenz abzusagen.
Aus der eigenen Partei kam u. a. das
etwas irrlaufende Statement des Ber-
liner Landesvorsitzenden Klaus Lede-
rer: »Wir haben Gesine Lötzsch bislang
nicht als eine Vorsitzende erlebt, die die
Linke in eine kommunistische Partei
umwandeln will. Wir gehen davon aus,
daß die vollständige Rede von Gesine
Lötzsch uns keinen Grund geben wird,
unsere Ansicht zu ändern.« Argumen-
tationsstark äußerten sich auch SPD-
Größen mit Bundestagsfraktionschef
Frank-Walter Steinmeier an der Spitze:
»Ich faß’ mir an den Kopf«.
Gesine Lötzsch kommentierte die
Aufwallungen in einer Presseerklä-
rung: »Der wutschnaubende Verriß
meines junge Welt-Beitrages durch den
Spiegel zeigt, wie verunsichert das Esta-
blishment ist, wenn es um Alternativen
zum kapitalistischen System geht.« Sie
habe die Fragestellung der Podiumsdis-
kussion aufgegriffen, plädiere für linke
Reformen und einen demokratischen
Sozialismus nach den Ideen Rosa Lu-
xemburgs.
u Siehe auch Seite 8
Berliner Senat weiterhin hilflos
Keine Lösung für S-Bahn-Krise in Sicht. Vertragskündigung ausgeschlossen
Vor ihrem Treffen mit Spit-
zenmanagern der Berliner S-
Bahn und ihrer Konzernmut-
ter DB AG hat Berlins Verkehrsse-
natorin Ingeborg Junge-Reyer (SPD)
am Mittwoch ihre Forderung nach
»grundsätzlichen Antworten« bekräf-
tigt. Das Unternehmen müsse endlich
plausibel darlegen, wie künftig chao-
tische Zustände und der Ausfall eines
Großteils des Wagenparks vermieden
werden könne, so Junge-Reyer. Auch
verlange sie eine Aussage über weite-
re Entschädigungen für die Fahrgäste.
Eine Kündigung des noch bis Ende
2017 laufenden Verkehrsvertrages mit
der Bahn-Tochter lehnte die Politike-
rin ab. Da es sich um ein technisches
Unikat handle, gebe es »bundesweit,
ja europaweit niemanden, der diese
Leistung bringen könnte«, betonte
die Senatorin. Ähnlich äußerte sich
Brandenburgs Verkehrsminister Jörg
Vogelsänger (SPD), dessen Bundes-
land von dem eingeschränkten Ange-
bot der S-Bahn ebenfalls stark betrof-
fen ist. »Eine Kündigung würde gar
nichts bringen«, sagte der Minister
am Mittwoch in Potsdam. Es fehle
eine »kurzfristige Alternative«. Wie
seine Berliner Amtskollegin kündigte
Vogelsänger eine baldige Entschei-
dung darüber an, ob ein Teil des S-
Bahn-Netzes ausgeschrieben wird.
Wegen der langen Vorlaufzeiten bei
der Entwicklung und Produktion neu-
er Züge, müßte dies noch in diesem
Jahr geschehen, um ab Dezember 2017
umgesetzt werden zu können. Zu-
nächst würden alle Möglichkeiten für
finanzielle Sanktionen ausgeschöpft
werden. Das gelte ebenso für den Re-
gionalverkehr, wo in diesem Winter
ebenfalls so viele Züge wie noch nie
ausgefallen seien. Die S-Bahn wird
auch eines der Themen auf einer für
Montag anberaumten Konferenz der
Landesverkehrsminister sein.
Das Unternehmen kündigte der-
weil an, vier vor einigen Tagen einge-
stellte Verbindungen ab dem heutigen
Donnerstag wieder zu bedienen. Al-
lerdings sind auch dann nur maximal
300 der für einen Normalbetrieb not-
wendigen 550 Viertelzüge einsatzfä-
hig. (dapd/jW)
junge Welt wird herausgegeben von 1 088
Genossinnen und Genossen (Stand 28.12.10).
Informationen: www.jungewelt.de/lpg
junge WeltDie Tageszeitung
www.jungewelt.de
Utopische Kassiber
Der Jugendstil wird oft als »reine Kunst«
präsentiert, seine soziale Inspiration
vergessen. Ein vielseitiger Konstrukteur
war der belgische Architekt Victor Hor-
ta, der heute vor 150 Jahren geboren
wurde Seiten 10/11
Gegründet 1947 · Donnerstag, 6. Januar 2011 · Nr . 4 · 1 ,30 Euro · PVSt A11002 · Entgelt bezahlt
Rebellenführer
festgenommen
Manila. Philippische Sicherheits-
kräfte haben einen hochrangigen
Kommandeur der kommunisti-
schen Rebellen festgenommen.
Nach Ablauf eines 19tägigen Waf-
fenstillstands in der Weihnachts-
zeit hätten Polizisten und Soldaten
ein Dorf südlich von Manila
gestürmt, teilten die Behörden am
Mittwoch mit. Tirso Alcantara, An-
führer der Neuen Volksarmee auf
den Hauptinsel Luzon, sei bei der
Festnahme am Dienstag abend ver-
letzt worden. Er habe seine Waffe
ziehen wollen, deshalb hätten die
eingesetzten Elitesoldaten auf ihn
geschossen. (dapd/jW)
Leiharbeit erreicht
Millionengrenze
HaMburg/berlin. In diesem Jahr
werden in der BRD mehr Leihar-
beiter beschäftigt sein als je zuvor.
»2011 wird die Zeitarbeitsbranche
erstmals die Millionengrenze bei
den Beschäftigten überschreiten«,
sagte der Präsident des Bundes-
verbands Zeitarbeit (BZA), Volker
Enkerts, dem Hamburger Abend-
blatt (Mittwochausgabe). Dem-
nach arbeiteten im Oktober 2010
bundesweit 923 000 Menschen in
der Branche, rund 100 000 mehr
als vor der Krise. Die Branche
rechnet in diesem Jahr mit deutli-
chem Wachstum. DGB-Vorstands-
mitglied Claus Matecki erklärte,
dies bedeutete für viele Leiharbeit-
nehmer »nichts als einen Rekord
an Lohndumping«. Zeitarbeiter
verdienten rund ein Drittel weniger
als Stammbeschäftigte, manch-
mal sogar nur die Hälfte. Matecki
forderte deshalb erneut, im Arbeit-
nehmerüberlassungsgesetz das
Prinzip »gleicher Lohn für gleiche
Arbeit« verbindlich festzulegen.
Die Politik müsse handeln, bevor
die Grenzen für Arbeitnehmer aus
den mittel- und osteuropäischen
Ländern am 1. Mai fallen. (AFP/jW)
u Siehe Kommentar Seite 8
9
Ein Gespenst geht umDer jW-Artikel der Linksparteivorsitzenden Gesine Lötzsch bringt den bundesdeutschen
Mainstream zum Tanzen. Politik und Medien in Aufruhr. Von Arnold Schölzel
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junge Welt Mittwoch, 7. September 2011, Nr. 208 3a n t i f a
Am 11. September wird in Berlin der »Tag der Erinnerung und Mah-nung – Aktionstag gegen
Rassismus, Neonazismus und Krieg« zum 21. Mal begangen. Welche Be-deutung hat der Gedenktag für Sie persönlich?
Dieser Tag ist bis in meine frühesten Kindheitserinnerungen mit meinen Eltern verbunden. Ich habe sie nie bewußt ken-nengelernt. Sie sind wegen ihres Wider-stands gegen das Naziregime zum Tode verurteilt und in Berlin-Plötzensee hin-gerichtet worden. Am zweiten Sonntag im September wurde seit 1945 der Opfer des Faschismus (OdF) gedacht. In den frühen Nachkriegsjahren wohnten meine Großeltern mit mir in einer Laube, an der eine kleine Tafel angebracht war, die an meine Eltern erinnerte. Dort versammel-ten sich an dem OdF-Tag dann Menschen, sie brachten Blumen und schauten mich traurig an. Später habe ich an den großen Kundgebungen auf dem Bebelplatz teil-genommen, fühlte mich etwas verloren – eingerahmt von den großflächigen Bil-dern der ermordeten Widerstandskämpfer sowie der Parteiführung der SED mit dem überstrahlenden Motto »Das Vermächtnis der antifaschistischen Widerstandskämp-fer ist erfüllt«.
Was empfinden Sie, wenn Sie zum Tag der Mahnung durch die Berli-ner Straßen gehen und etwa NPD-Wahlplakate mit der Aufschrift »Gas geben« oder die antimusli-mischen und rassistischen Plakate von »Pro Deutschland« sehen?
Es ist wahrlich eine Schande. Die Ber-liner VVN-BdA hat Strafanzeige gegen den auf den NPD-Plakaten abgebilde-ten Udo Voigt, Vorsitzender der Partei, wegen Volksverhetzung gestellt. Vor dem Hintergrund der vielfach dokumen-tierten antisemitischen Einstellung von Herrn Voigt und anderen NPD-Funk-tionären und der damit einhergehenden Leugnung des Holocaust sehen wir in diesem Plakat eine Verhöhnung der To-ten der Gaskammern von Auschwitz und Treblinka.
Mit großer Sorge und Empörung erle-ben wir, wie sich im Wahlkampf der NPD Haßtiraden und Gewalt gegen politische Gegner und Migranten bündeln. Zum Wahlkampfteam gehören Neonazis, die in den letzten Monaten mit Übergriffen und Anschlägen, so auch auf die Galerie Olga Benario in Neukölln oder auf das »Anton-Schmaus-Haus« der Falken in Rudow, von sich reden machten.
»Pro Deutschland« und die angebli-che Bürgerrechtspartei »Die Freiheit« verbreiten unter dem Deckmantel von
Bürgerrechten und Islamkritik nur eines – Rassismus.
Die antimuslimische Hetze der soge-nannten Rechtspopulisten als auch von Neonazis schließt oftmals an den Rassismus der gesellschaftlichen Mitte an. Was sind die Gegenkon-zepte der VVN-BdA?
Mitglieder unseres Verbandes sind im Bündnis »Rechtspopulismus stoppen!« aktiv, das mit Aktionen und Publikatio-nen an die öffentlichkeit tritt. Mit zahl-reichen Initiativen, Organisationen und Parteien und mit vielen Berlinerinnen und Berlinern und versuchen wir, die öffentlichen Auftritte von Neonazis und Rechtspopulisten zu blockieren und be-gleiten sie mit lautstarkem Protest. In einem Flyer mit einer hohen Auflage hat unsere Vereinigung außerdem aufgeru-fen, dem rassistischen Wahlkampf von neonazistischen und rechtspopulistischen Parteien entschlossen und phantasievoll zu begegnen. Ihre menschenverachtende Propaganda gehört nicht auf Infotische und in die Briefkästen, sondern auf dem
schnellsten Weg in die blaue Tonne.Der Tag der Mahnung richtet sich gleichermaßen gegen Neonazis-mus und Krieg. Wie aktuell ist der Schwur von Buchenwald »Nie wie-der Krieg! Nie wieder Faschismus« heute noch?
Für uns ist der Schwur hochaktuell. Deutschland ist wieder ein kriegführen-des Land, wo doch von Deutschland nie wieder Krieg ausgehen sollte. Wir spre-chen uns gegen die Werbung der Bundes-wehr an Schulen aus. Wir engagieren uns für Kriegsflüchtlinge, so fordern wir ein Aufenthaltsrecht für die Roma aus dem Kosovo. Die VVN ist aktives Mitglied der Friedensbewegung. Wir setzen uns für eine aktive Friedenspolitik, den Rückzug der Truppen aus Afghanistan, den Stopp aller Rüstungsexporte und eine umfassen-de Abrüstung ein. Wir müssen uns aber die Frage stellen, wie wir wieder antimi-litaristische und pazifistische Positionen in der Bevölkerung stärken können. Die Friedensbewegung hat an Ausstrahlung verloren. Wenn im gesellschaftlichen Diskurs der Krieg zu einer kaum wider-sprochenen Handlungsmaxime geworden ist, dann ist lautstarker Protest unbedingt notwendig.
Was werden in diesem Jahr die Schwerpunktthemen des Tages der Mahnung sein?
Der Tag beginnt in diesem Jahr mit ei-
ner Erinnerung an die Kreuzberger Op-fer des Faschismus. Der Kundgebung vor dem Rathaus Kreuzberg um 11 Uhr in der Yorckstraße schließt sich ein antifaschi-stischer Fahrradkorso an mit Stopp an Orten von Verfolgung und Widerstand. Er endet am Mahnmal für die Herbert-Baum-Gruppe am Lustgarten. Dort er-wartet die Besucher zwischen Dom und Alter Nationalgalerie (Bodestraße) von 13 bis 19 Uhr ein abwechslungsreiches Pro-gramm mit Diskussionen mit Zeitzeugen, Lifemusik, Talks, Begegnungen, Essen und Trinken.
Worum geht es in diesem Jahr bei der Podiumsdiskussion?
Das Thema lautet »Deutschland schafft mich ab«. Ab 15 Uhr wollen wir thema-tisieren, inwieweit sich in den aktuellen Debatten um »Integration« die Lebens-wirklichkeit von Einwanderergeneratio-nen in der angeblichen Mehrheitsge-sellschaft in Deutschland widerspiegelt, inwieweit sie von offenen und verdeck-ten Ressentiments, von Rassismus und Ausgrenzung benachteiligter Gruppen geprägt ist. Warum soll sich wer, wohin, unter was einordnen oder unterordnen? Nicht zuletzt möchten wir auch über den »neuen« deutschen Rassismus reden, der von »Pro Deutschland« über Sarra-zin bis in Teile der Wählerschaft aller anderen Parteien zu reichen scheint. Interview: Markus Bernhardt
» A m z we i t e n S o n n t ag i m S e p t e m b e r . . . «Berlin: Der Tag der Mahnung bündelt Erinnerungsarbeit mit dem Widerstand gegen Neofaschismus und Militarisierung. Ein Gespräch mit Hans Coppi
Hans Coppi ist Landesvorsitzender der Ber-liner Vereinigung der Verfolgten des Nazire-gimes – Bund der Antifaschisten (VVN-BdA),
http://berlin.vvn-bda.org Das Programm zum Tag der Mahnung, am 11. September im Lustgarten, steht unter
www.tag-der-mahnung.de
u Erklärung der Bundestagsabge-ordneten Ulla Jelpke und Eva Bulling-Schröter (beide Die Linke) zum bayerischen Internetportal gegen »Linksextremismus«
Während CSU-Generalsekretär Alexander Dobrindt das Verbot der Partei Die Linke
fordert, bläst sein Parteifreund Landesin-nenminister Joachim Herrmann mit dem neuen Internetportal www.bayern-gegen-linksextremismus.bayern.de zur Jagd auf Linke und Antifaschisten.
Die Website orientiert sich schon rein äußerlich am bereits länger bestehenden
Webportal der Staatsregierung gegen Rechtsextremismus. Damit wird im Rahmen des Extremismusansatzes eine Gleichsetzung von antifaschistischen Linken mit Neonazis vorgenommen. Diese ideologisch motivierte unwissen-schaftliche Gleichsetzung ignoriert, daß seit 1990 rund 140 Menschen von Neona-zis und Rassisten ermordet wurden und nicht etwa von Linken.
Wie zu Hochzeiten des Kalten Krieges wird vor der Unterwanderung demokrati-scher Organisationen durch »Linksextre-misten« gewarnt. Es wird beklagt, daß es mit dem Thema »Antifaschismus« immer wieder gelingt, »Bündnisse und Partner
bis weit in die Mitte der Gesellschaft hin-ein für gemeinsame Veranstaltungen zu gewinnen.« (…) Bürgerinnen und Bürger werden zur Denunziation vermeintlicher »Linksextremisten« bei den Behörden aufgefordert, Städte und Gemeinden sollen nicht mehr mit »extremistisch beeinflußten« Bündnissen gegen Rechts zusammenarbeiten. Als gefährlicher »Ex-tremist« diffamiert wird namentlich etwa der 78jährige Holocaust-Überlebende Ernst Grube, weil er sich in der Verei-nigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN-BdA) engagiert. Die staatliche Anti-Antifa-Seite zeigt bereits erste Fol-gen. So wurde das »Coburger Aktions-
bündnis gegen rechtsradikale Aktivitä-ten« (CArA) aufgrund seiner Auflistung aus einem Jugendzentrum geworfen.
(…) Der Applaus von Rechtsaußen ist ihr gewiß: »Es ist ein kleines politisches Erdbeben, das sich in Bayern dieser Tage ereignet«, jubelt etwa die extrem rechte, demokratiefeindliche Zeitung Junge Freiheit.
Dagegen erklären wir: Antifaschis-mus ist nicht kriminell, sondern Bürger-pflicht. Und extremistisch ist nicht der Antikapitalismus, sondern das kapita-listische System mit seinen Millionen Toten durch Hunger, Ausbeutung und Kriege.
www.bulling-schroeter.dewww.ulla-jelpke.de
Dokumentiert: AntifAschismus ist nicht kriminell, sonDern Bürgerpflicht
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Mittwoch, 7. September 2011, Nr. 208 junge Welt 4 a n t i f a
Großdemonstrationen und Mas-senblockaden gegen Neonazis zählen zu den wenigen prak-tischen Erfolgserlebnissen, die
außerparlamentarische Linke zur Zeit in Deutschland verbuchen können. Sind doch Generalstreiks gegen eine massenfeindli-che Wirtschafts- und Sozialpolitik oder gar gegen eine aggressive Außenpolitik schlicht verboten, und ein Großteil der arbeitenden Bevölkerung ist gründlich eingeschüchtert.
Wären »Verschwörungstheorien« nicht tabu, dann wäre der Gedanke, die neona-zistische NPD könnte nur deshalb noch erlaubt und vom Verfassungsschutz mit aufgebaut worden sein, um linke Kräfte zu binden und vom Widerstand gegen die Regierungspolitik abzuhalten, vielleicht gar nicht so weit hergeholt. Sicher ist, daß das Verbotsverfahren gegen die NPD 2003 an ihrer »fehlenden Staatsferne« und der zu aktiven Rolle der V-Leute des Inlands-geheimdienstes in ihren Reihen scheiterte. Seither stoßen Antifaschisten mit ihrem Anspruch, Neonazis »keinen Fußbreit« zu gewähren, mehr und mehr an ihre Grenzen. Viele sind es leid, immer nur reagieren zu sollen und merken, daß der Kampf gegen Neonazis allein kein überzeugendes Pro-gramm ist.
»Nazis sind einfach richtig ekelhaft.
Das findet ja eigentlich jeder vernünftige Mensch«, sagt Michael Kronawitter. Der langjährige Antifa-Aktivist kommt aber ins Grübeln, wenn es um Bündnispartner geht, die zwar diese Wahrnehmung der klassi-schen Neonazis teilen, aber letztendlich ein System vertreten, das ständig Menschen nach Herkunft und Leistungsfähigkeit sortiert und ausgrenzt. Gemeint sind zum Beispiel Funktionsträger der SPD und der Grünen, die zu Regierungszeiten das Tabu deutscher Kriegseinsätze im Ausland bra-chen und mit der Einführung der Hartz-IV-Gesetze Sozialabbau betrieben. »Wer vom Kapitalismus nicht reden will, der soll auch vom Faschismus schweigen«, zitiert Krona-witter den Philosophen Max Horkheimer.
Was bedeutet es, mit Bündnispartnern solcher Parteien moralisch zu argumentie-ren und das gesellschaftliche Klima auszu-klammern, in dem sich Jugendliche nach rechts entwickeln? Zeit für eine Strategie-diskussion, die hier und da schon begon-nen hat. So zum Beispiel unter dem Motto »Gegen Krieg und Faschismus?! – Heraus-forderungen an die radikale Linke« am 23. August in der Ladengalerie der jungen Welt in Berlin. Eingeladen waren der Bundes-vorsitzende der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschisten (VVN-BdA), Heinrich Fink, Michael Kro-
nawitter und der 2008 aus der Dortmunder Neonaziszene ausgestiegene Holger Han-sen, heute in der linken Gruppe »Zusam-men Kämpfen« in Berlin aktiv.
Seine Anwesenheit sorgte für Zwischen-rufe, weil er nicht sofort als »Nazi-Aus-steiger« vorgestellt worden war. Weder er selbst noch jW-Autor Markus Bernhardt, der die Veranstaltung moderierte, hatten jedoch vorgehabt, dies zu verschweigen. Vielmehr war von Anfang an geplant, daß Holger Hansen über Innenansichten aus der Neonaziszene berichten sollte – wie er es auch schon 2008 in einem Interview getan hatte, das im »Netz gegen Nazis« veröffent-licht wurde. In der jW-Ladengalerie nahm er Stellung zur vordergründigen Antikriegs-haltung der »Autonomen Nationalisten«, die aus seiner heutigen Sicht unehrlich ist, da sie sich nur gegen die Kriegspolitik an-derer Länder und den Einsatz deutscher Soldaten für »fremde Interessen« richte, was keinen Bruch mit deutschen Groß-machtphantasien bedeute. Ein Vertreter der »antideutschen« Strömung sagte dazu nur: »Du hast deine Meinung ja nicht groß än-dern müssen.« Die Provokation zielte dar-auf ab, daß auch die Gruppe »Zusammen Kämpfen« die Kriegspolitik der USA und Israels ablehnt, was aus »antideutscher« Sicht eine Gleichsetzung mit Neonazis
rechtfertigt, die etwa zum »nationalen An-tikriegstag« in Dortmund aufrufen. Mar-kus Bernhardt erinnerte daran, daß Hansen unter Polizeischutz umziehen mußte, weil seine Exkameraden versucht hatten, seine Wohnung zu stürmen.
Weitere Wortmeldungen aus dem Publi-kum richteten sich gegen die Doppelmoral, mit der auf Aussteiger wie Hansen mit dem Finger gezeigt, aber Kriegsbefürwortung bei Bündnispartnern toleriert werde.
Heinrich Fink, der bei Kriegsende zehn Jahre alt war, betonte von Anfang an die Untrennbarkeit von Antifaschismus und Kriegsgegnerschaft heute. Als abschrecken-des Beispiel nannte er die Mobilmachung für den Kosovo-Krieg 1999, auf den der damalige Grünen-Außenminister Joschka Fischer seine Getreuen mit der Parole »Nie wieder Auschwitz« eingeschworen hatte. Von einer »humanitären Mission« war da-mals die Rede. Später stellte sich heraus, daß ein angeblich von Serben eingerichte-tes Konzentrationslager in einem Stadion in Pristina nie existiert hatte. Die WDR-Dokumentation »Es begann mit einer Lüge – Deutschlands Weg in den Kosovo-Krieg« von Jo Angerer und Mathias Werth kam für die Opfer der NATO-Bomben, die an-geblich ein zweites Auschwitz verhindern sollten, zu spät.
Quo vadis, Antifa? Herausforderungen an die radikale Linke: Über fragwürdige Bündnispartner und den Umgang mit Aussteigern aus der rechten Szene diskutierten Aktivisten in der jW-Ladengalerie. Von Claudia Wangerin
Die in Berlin aktive militante Neonaziszene geriert sich im Wahlkampf als eine Art Bür-gerwehr. So ruft ausgerechnet
Sebastian Schmidtke, stellvertretender Lan-desvorsitzender der NPD und Kandidat sei-ner Partei für die Wahlen am 18. September auf der Landesliste, für den 11. September zu einer Kundgebung unter dem Motto »Si-cherheit durch Recht und Ordnung« auf.
Schmidtke gilt als Bindeglied zwischen NPD, militanten Kameradschaften und »Autonomen Nationalisten« in Berlin. In den vergangenen Monaten hat er mehrfach rechte Aufmärsche angeführt, bei denen es zum Teil, wie im Mai in Kreuzberg, zu mas-siven Angriffen seitens der Neofaschisten
auf Gegendemonstranten kam. Die NPD will nun auf die Debatte um angezündete Fahrzeuge in der Hauptstadt aufspringen, die seit geraumer Zeit von CDU und FDP als Wahlkampfthema mißbraucht wird, um mit »Law and Order«-Parolen zu punk-ten. »Linkskriminelle Brandstifter« wür-den »einen Wettbewerb« veranstalten und »sogenannte Bonzenkarren anzuzünden«, konstatieren die Neofaschisten, bleiben da-für jedoch jeglichen Beweis schuldig.
Tatsächlich militante Aktivitäten sind hingegen seit Monaten der extremen Rech-ten zuzuordnen. Erst Ende Juni kam es verstärkt zu Anschlägen gegen linke Ein-richtungen und Treffpunkte, bei denen die Neonazis auch den Tod ihrer Opfer in Kauf
nahmen. So verübten sie in nur einer Nacht insgesamt fünf Brandanschläge, die sich unter anderem gegen das Anton-Schmaus-Haus der SPD-Jugendorganisation Die Fal-ken in Neukölln und den Antifa-Laden Red Stuff in Kreuzberg richteten. Alle von den rechten Gewaltexzessen betroffenen Perso-nen, Ladenlokale und Treffpunkte hatten gemeinsam, daß sie zuvor auf der Internet-seite des »Nationalen Widerstand Berlin« als antifaschistisch geoutet wurden.
Allerdings währte auch die Freude der Neofaschisten über einen neuen Treff-punkt im Bezirk Lichtenberg in der Lück-straße nicht lange. Nachdem Antifaschi-sten die Adresse des Ladens bekannt ge-macht hatten, waren Fensterscheiben und
Fassaden des Hauses Anfang September mit Farbbeuteln eingedeckt worden. Ei-nen Tag später kündigte der Vermieter den Rechten. Er sagt, er habe nicht ge-wußt, wen er sich ins Haus geholt habe.
Die rechte Szene verfügt noch über die Bundesgeschäftsstelle der NPD in Köpe-nick, die in Schöneweide gelegene Kneipe »Zum Henker« und den in unmittelbarer Nähe dazu befindlichen Laden »Hexogen«, der auch von Schmidtke betrieben wird. Lars Laumeyer, Sprecher der Antifaschisti-schen Linken Berlin (ALB), kündigte ge-genüber junge Welt an, daß Berlins Antifa-schisten keine Ruhe geben würden, bis die Treffpunkte der extremen Rechten allesamt geschlossen seien. Markus Bernhardt
Braune Ordnungshüter Berliner Neonazis wettern im Wahlkampf gegen brennende Autos. Gegner mobilisieren gegen Treffpunkte der Rechten
www.antifa.de
Die Jenny Marx Gesellschaft – Rosa Luxemburg Stiftung Rheinland-Pfalz und regionale Initiativen laden ein zur
T a G u n GDie neuen Rechten in Europa zwischen Neoliberalismus und Sozialrassismus
Dienstag, 1. November 2011, 10–18 uhr, Bürgerhaus Mainz-Kastel (Wiesbaden)Zehnthofstr. 41, 55252 Mainz-KastelVormittagsplenum: – Europäischer Rechtspopulismus – Gemeinsames und unterschiede, Dr. Sven Schönfelder, Vechta – Warum ist Sarrazin mit seiner sozialrassistischen Demagogie so erfolgreich? Prof. Dr. Christoph Butterwegge, Köln – neoliberalismus als Rahmenbedingung für die Entfaltung des Rechtspopulismus, Dr. Katrin Reimer, BerlinWorkshops: – Rechtspopulisten in Europa – Sozialer nährboden für rechte Bewegungen – Medialer Rechtspopulismus – Pro-Bewegung/antiislamismus – Rechtspopulist Berlusconi und kein Ende?Schlusspodium: Gegenstrategien linker und demokratischer Kräfte – Patrick Bahners, Frankfurt/M – Richard Gebhardt, aachen – alexander Häusler, Düsseldorf, – VertreterIn der französischen Gewerkschaften – VertreterIn der SP der niederlande – VertreterIn eines Bündnisses gegen Rechts – Moderation Dr. Thomas Wagner, Berlin
ANMELDUNG: JMG-RLS Rheinland-Pfalz, neckarstr. 25, 55118 Mainz, E-Mail: oberhaus@rosalux.de, Tel.: 0 61 31/6 27 47 03
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junge Welt Mittwoch, 7. September 2011, Nr. 208 5a n t i f a
Am 26. August spielten sich im tschechischen Rumburk pogromartige Szenen ab. Hunderte aufgebrachte De-
monstranten versuchten, einige von Ro-ma bewohnte Häuser in der rund 11 000 Einwohner zählenden nordböhmischen Stadt zu stürmen. Zuvor hatten sie eine Kundgebung gegen Neonazis gesprengt. Diese war von der lokalen Gliederung der tschechischen Sozialdemokraten (ČSSD) organisiert worden. Auch Roma sollten daran teilnehmen. Die Veranstal-tung war eigentlich zur Entschärfung der schwelenden Konflikte in der verarmten Region gedacht. An die 1 500 Menschen hatten sich auf dem Marktplatz von Rum-burk versammelt.
Die Menge buhte den Vertreter des ČSSD gleich nach Beginn seiner Anspra-che aus. Mitglieder der lokalen rechts-extremen Organisation »Bürgerlicher Widerstand« (Občanský odpor) drängten sich in den Vordergrund. Ein kahlgescho-rener bulliger Anführer kletterte auf die Bühne und riß das Mikro an sich. Mit einer hetzerischen Rede, die stellenweise durch stürmischen Beifall unterbrochen wurde, stachelte er die Menge gegen die Minderheit der Roma auf. Die ČSSD erklärte die Kundgebung nach wenigen Minuten für beendet. Die Einpeitscher des »Bürgerlichen Widerstandes« blie-ben und dominierten fortan die Versamm-lung.
Rechte entern KundgebungKurz nach der Ansprache der Rechtsex-tremisten zog ein großer Teil der Kund-gebungsteilnehmer zu den von Roma bewohnten Häusern in der Stadt. Sie um-zingelten die Gebäude und bewarfen sie mit Steinen und anderen Gegenständen. Polizeikräfte schritten erst ein, als der auf-gebrachte Mob versuchte, in die Häuser einzudringen. Schon Tage zuvor waren Spezialeinheiten der Polizei aus Prag in
die nordböhmische Region Šluknovský výběžek verlegt worden, um auf die zu-nehmenden Spanungen in der Region zu reagieren.
Die Ausschreitungen Ende August ha-ben eine Vorgeschichte. Bei Auseinander-setzungen zwischen Tschechen und Roma hatte es in den Monaten zuvor etliche Ver-letzte gegeben. Laut tschechischen Me-dienberichten sollen Roma bei zwei Vor-fällen in Rumburk und in der Stadt Nový Bor Gruppen von Tschechen angegriffen haben. Die Polizei stufte die nächtlichen Auseinandersetzungen vor einer Disko-thek in einer Spielbar als »rassistisch mo-tivierte Straftaten« ein, die ausschließlich von den Roma provoziert worden sein sollen. Der konservative tschechische Mi-nisterpräsident Petr Necas sprach sich in Reaktion auf die Vorfälle für ein hartes Durchgreifen aus: »Wenn ein Verbrechen rassistische Motive aufweist, muß die Strafe besonders rigoros sein.« Die Mas-senschlägereien in Nordböhmen seien »genauso gefährlich wie das Werfen von Brandflaschen in Häuser mit schlafenden Menschen.«
Aufmärsche in Roma-GhettosDer tschechische Regierungschef spielte damit auf die Brandanschlagsserie an, der sich die Roma in Tschechien seit mehreren Jahren ausgesetzt sehen. Bei inzwischen mehr als 20 solchen Attacken sind mehrere Roma teilweise schwer ver-letzt worden. Neben dieser Anschlags-serie propagieren die tschechischen Neonazis Aufmärsche in den Roma-Ghettos, um hierdurch weitere Ausein-andersetzungen zu provozieren. Die Na-ziformation »Arbeiterpartei der Sozialen Gerechtigkeit« (DSSS - Dělnická strana sociální spravedlnosti) hat für den 10. September eine weitere Demonstration in Nový Bor angekündigt, um die in Nordböhmen herrschenden Spannungen weiter zu schüren.
Die an der Grenze zu Deutschland ge-legene und sozioökonomisch rückstän-dige Region Šluknovský výběžek ver-zeichnet seit längerem einen verstärkten Zuzug von Roma, die aus anderen Teilen Tschechiens herausgedrängt werden und in Nordböhmen besonders niedrige Miet-kosten vorfinden.
Der ehemalige sozialdemokratische
Ministerpräsident Jiri Paroubek verweist auf die Tatsache, daß im Gefolge der Reform der Sozialhilfe viele Roma-Fa-milien in Tschechien enorme Kürzun-gen hinnehmen mußten und teilweise im ersten Quartal dieses Jahres überhaupt keine Mittel erhielten: »Es geht darum, eine Situation zu schaffen, in der die Armen nicht mehr zum Diebstahl flüch-ten müssen«, so Paroubek. Die Arbeits-losigkeit unter den Roma ist aufgrund
der allgegenwärtigen Benachteiligung dieser Minderheit bereits auf weit mehr als 50 Prozent angestiegen. Amnesty International beklagte im Mai die »Se-gregation« im tschechischen Schulwe-sen, bei der Roma nahezu geschlossen in schlechteren »Roma-Schulen« oder in Einrichtungen für behinderte Kinder un-tergebracht würden. Roma machen rund zwei Prozent der tschechischen Bevölke-rung aus.
Pogrome gegen RomaRassistische Hetze eskaliert in nordböhmischer Region Šluknovský výběžek. Neonazis in Tschechien machen Jagd auf Minderheit. Von Tomasz Konicz
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Sascha Stanicic legt dar, inwiefern Sarrazin eine Kampfschrift
nicht nur gegen MigrantInnen und Moslems, sondern gegen
die sozialen Interessen der Lohnabhängigen als Klasse vorge-
legt hat. Er erhellt den Hintergrund der Integrationsdebatte,
zeigt, wie sich Rassismus und Sozialabbau bedingen, und ent-
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Mittwoch, 7. September 2011, Nr. 208 junge Welt 6 a n t i f a
Vom 12. bis 16. September ver-handelt der Internationalen Ge-richtshof (IGH) in Den Haag über eine Klage der BRD ge-
gen Italien, um Entschädigungsansprüche von Opfern des Faschismus abzuwehren. Das Verfahren ist letztlich das Ergebnis schwerer Versäumnisse Deutschlands. Ent-schädigung haben immer nur solche Op-fer erhalten, die ausreichend öffentlichen Druck machen konnten. Das waren zuletzt die Zwangsarbeiter, die mit Klagen vor US-Gerichten drohten, weswegen die Bundes-regierung Ende der 1990er Jahre schließlich einem Stiftungsgesetz zustimmte, das für Zehntausende Betroffene insgesamt fünf Milliarden Euro bereitstellte. Ausgeschlos-sen blieben Kriegsgefangene, die Zwangs-arbeit leisten mußten. Strittig war aber der Fall der sogenannten Italienischen Militä-rinternierten (IMI): Das waren Soldaten, die nach dem Ausscheiden Italiens aus dem Bündnis mit Nazideutschland interniert und denen ausdrücklich die Rechte von Kriegsgefangenen abgesprochen worden waren. Nachdem ihre Klagen vor deut-schen Gerichten gescheitert waren, haben italienische Gerichte in den letzten Jahren entschieden, daß Deutschland zu Entschä-digungen verpflichtet sei.
Im Haager Verfahren geht es außer-dem um Betroffene bzw. Hinterbliebene von Wehrmachtsmassakern. In Italien ha-ben deutsche Truppen vor allem im Jahr 1944 äußerst brutale Abschreckungs- und Vergeltungsaktionen durchgeführt, da ihr Rückzug von Partisanenverbänden immer stärker gestört wurde. Tausende Zivilisten wurden getötet, Entschädigungen sind von Deutschland aber nie gezahlt worden. Hin-
zu kommt eine Gruppe griechischer Klä-ger aus dem Dorf Distomo: Dort hatte die SS am 10. Juni 1944 fast alle Bewohner umgebracht. In Griechenland erhielten sie 28 Millionen Euro Entschädigung zuge-sprochen. Die Vollstreckung dieses Urteils streben sie nun in Italien an.
In keinem dieser Fälle will Deutschland zahlen. Man habe im Jahr 1961 eine »Globa-lentschädigung« über 40 Millionen D-Mark an Italien überwiesen, und das müsse rei-chen, argumentiert die Regierung. Italieni-sche Gerichte haben deswegen angeordnet, was im Falle zahlungsunwilliger Schuldner üblich ist: Die Pfändung deutschen Staats-eigentums in Italien. Betroffen sind Grund-stücke, Häuser, unter Umständen auch Gel-der der Deutschen Bahn.
Gegen diese Rechtsprechung geht die Bundesregierung nun vor dem Internatio-nalen Gerichtshof vor. Im Gegensatz zum Obersten Italienischen Gerichtshof pocht sie darauf, der Grundsatz der »Staaten-immunität« müsse auch bei schwersten Kriegsverbrechen gelten. Bei ihrer Klage erhält sie stillschweigende Unterstützung der italienischen Regierung. Beide wissen: Wenn Bürger das Recht erhalten, einen aus-ländischen Staat wegen massiver Verbre-chen zu verklagen, dann beträfe dies auch ihre gegenwärtige Kriegspolitik.
BRD fordert FreibriefInternationaler Gerichtshof verhandelt über deutsche Kriegsverbrechen. Bundesregierung geht juristisch gegen Opfer des Faschismus vor. Von Ulla Jelpke
Weitere Informationen: www.nadir.org/nadir/ initiativ/ak-distomo/
Sie haben sich gemeinsam mit drei weiteren Töchtern anti-faschistischer Widerstands-
kämpfer mit dem Appell »Hinter-bliebene von NS-Opfern fordern ihr Recht« an die Öffentlichkeit gewandt. Um wen geht es?
Es geht um die Probleme der zweiten und dritten Opfergeneration, die Kinder und Enkel von zumeist politisch Verfolg-ten und Widerstandskämpfern. Viele von ihnen litten unter den Maßnahmen, die gegen ihre Eltern ergriffen wurden. Sie kamen als Kinder in Nazi-Familien zur »Umerziehung«, wurden in den Schulen diskriminiert oder in Heime gesperrt. Ich selbst konnte nur überleben, weil mich mutige Menschen in Frankreich als jü-disches Kind versteckten, während mei-
ne Eltern verfolgt wurden. Nach dem Krieg wurde meiner Familie als ehema-ligen Emigranten viele Jahre die deutsche Staatsbürgerschaft verwehrt. Mit dem Kalten Krieg waren unsere Familien ja erneut von Verfolgung betroffen.
Inwiefern?Man muß sich mal die Situation in jener Zeit vorstellen, in der viele von uns Kinder und Jugendliche waren. In der Bundesre-publik konnten Eliten der Nazizeit aus Wirtschaft, Militär und dem Staats- und Terrorapparat des Naziregimes, darunter Justiz, Gesundheitswesen, Polizei und Geheimdienste, wieder tätig werden, Ein-fluß nehmen und dabei weiterhin gegen
Antifaschisten vorgehen. Ärzte aus der Nazi-Zeit wurden wieder als Gutachter eingesetzt, um die Entschädigungsrechte der oft politisch, rassisch und religiös Ver-folgten in Zweifel zu ziehen. Ehemalige Gestapobeamte fanden in der Polizei der BRD wieder Verwendung, und man setz-te sie auch ein, um die demokratischen Rechte der Verfolgten erneut anzutasten. Organisationsverbote führten zur Bestra-fung der Widerstandskämpferinnen und -kämpfer, während Naziorganisationen wie die NPD sich ungehindert entfalten konnten. Berufsverbote wurden gegen die Kinder von Antifaschisten ausgespro-chen, und unser Versammlungsrecht wur-de eingeschränkt.
Sie fordern Wiedergutmachung und Rehabilitierung. Wie kann diese
aussehen?Das ist sehr unterschiedlich. Wer aus ei-nem Hause kam, in dem die Erwachsenen sowohl unter Hitler wie unter Adenauer politisch verfolgt wurden, der hatte oft di-rekt materielle Nachteile, denn den Eltern wurden die Entschädigungen zum Teil wieder aberkannt. Es geht aber nicht nur um materielle Nachteile; der Widerstand der Eltern wurde nicht anerkannt, das heißt die Kinder waren weiterhin Außen-seiter.
An wen richten sich Ihre Forderun-gen?
Zunächst an die öffentlichkeit und die Medien. In vielen europäischen Ländern gibt es Organisationen der »Kinder des Holocaust«. In Deutschland gibt es das nicht. Die »Kinder des Widerstandes« sind kein Thema. Das liegt auch daran, daß wir lange geschwiegen haben. Das wollen wir ändern.
Hat Ihr Appell schon Gehör gefun-den?
Der Bundeskongress der VVN-BdA im April in Berlin hat sich einstimmig unse-ren Forderungen angeschlossen. Es sol-len Treffen von Opfern der Kinder- und Enkelgeneration stattfinden. Dort werden wir uns weiter austauschen. Alarmiert hat uns jetzt ganz aktuell die Tatsache, daß in Bayern vom Innenminister ein Portal gegen Linksextremismus ins Netz gestellt wurde, mit dem Opfer des Faschismus und damit ihre Hinterbliebenen an den Pranger gestellt werden sollen. Die VVN in Bayern soll die Gemeinnützigkeit ver-lieren. Dagegen müssen wir uns wehren.
Wichtig sind auch die Freundeskrei-se von Gedenkstätten, denn dort besteht leider die Tendenz, die Hinterbliebenen aus der Gedenkarbeit auszugrenzen. Wir lassen uns aber nicht beiseite schieben.
Interview: Jan Greve
Der Aufruf »Hinterblie-bene von NS-Opfern for-dern ihr Recht« wurde von den Töchtern antifa-schistische Widerstands-kämpfer Alice Czyborra (Gingold), Traute San-der (Burmester), Inge Trambowsky (Kutz) und Klara Tuchscherer (Scha-brod) initiiert. Er kann unter http://www.nrw.vvn-bda.de/texte/0821_ hinterbliebene_ns_for-dern.htm gelesen und unterstützt werden
» W i r l a s s e n u n s n i c h t b e i s e i t e s c h i e b e n «Kinder und Enkel von Widerstandskämpfern fordern ihr Recht. Ein Gespräch mit Alice Czyborra
Alice Czyborra ist die Tochter der Wider-standskämpfer Peter und Ettie Gingold
Traditionelle Protestveranstaltung des Ostdeutschen Kuratoriums für Verbänden e. V.
3. Oktober 201110 bis 12.30 Uhr, UCI-Kinowelt, Berlin-Friedrichshain,
Landsberger Allee 54
Die Würde des Menschen ist unantastbarGegen die Verletzung der Menschenrechte
in der Bundesrepublik DeutschlandPolitiker, Journalisten, Künstler und betroffene
Bürger erheben ihre Stimme.Das Kinderensemble „Sadako“ begleitet die
Veranstaltung künstlerisch.
Eintrittskarten (4 Euro) ab sofortTel. 030 / 29 78 46 30 – Fax 030 / 29 78 36 30 –
E-Mail: info@okv-ev.de
Öffentlicher Verkauf ab 6. SeptemberDienstag und Donnerstag von 10 bis 12 Uhr in der
Geschäftsstelle des OKV, ND-Gebäude, Franz-Mehring-Platz 1, Raum 630, und den Geschäftsstellen von GRH, ISOR und GBM
zu den bekannten Geschäftszeiten
GBM
Wer kämpft, kann auch gewinnen!
Die große Unterstützung vieler Tausender Menschen aus dem In- und Ausland, die groß-zügigen Spenden, die zahlreichen Proteste und die kontinuierliche Teilnahme an den drei Kundgebungen in Ziegenhals haben es möglich gemacht:
Wir haben die gesamte Ausstellung der Ernst-Thälmann-Gedenkstätte in Ziegenhals wieder zurück!
Dieses Etappenziel konnten wir gemeinsam erreichen, weil wir unser Ringen für ein würdiges Gedenken an Ernst Thälmann und seine Kampfgenoss/-innen fortsetzten. Jetzt widmen wir uns dem authentischen Ort.
Und: Wir suchen als Übergang eine Ausstellungsmöglichkeit in und um Berlin! Es werden ca. 20–30 qm benötigt. Gut erreichbar und öffentlich zugänglich sollte dieser Ort sein.
Dafür und zur Weiterführung unseres Kampfes sind wir auf Spenden angewiesen.
Spendenkonto: Kto-.Nr.: 3302254 BLZ: 12070000 Bank: Deutsche Bank
Freundeskreis „Ernst-Thälmann-Gedenk-stätte“ e.V. Ziegenhals
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junge Welt Mittwoch, 7. September 2011, Nr. 208 7a n t i f a
Ab 1929 wurden die Ausein-andersetzungen in Berlin zwischen Faschisten und Angehörigen der gespalte-
nen Arbeiterbewegung immer alltägli-cher. Insbesondere die Geschichte der Sturmabteilungen (SA) der NSDAP ist eine Chronik zunehmender und systema-tischer Gewalt. Opfer war in erster Linie die Arbeiterbewegung, aber auch Juden waren regelmäßiges Ziel von Übergrif-fen und Attacken.
Gauleiter für Berlin war der spätere Propagandaminister Joseph Goebbels. Er hatte die Richtung vorgegeben: »Der Kampf muß und wird mit Brachialgewalt durchgefochten. Und das ist gut so«. Ab 1929 gingen die NSDAP und ihr bewaff-neter Arm dazu über, auch die traditionell roten Arbeiterviertel ins Visier zu neh-men.
Hoffen auf die PolizeiDie Reaktionen der Nazigegner auf die Verschärfung der Situation waren sehr unterschiedlich. Das sozialdemokratische Reichsbanner lehnte direkte Konfronta-tionen mit der SA ab. Die SPD-Mitglieder vertrauten vielfach auf das staatliche Ge-waltmonopol, weil die Polizei in Preußen unter der Führung ihrer Partei stand. Als nach dem Mord an zwei Sozialdemokra-ten im Prenzlauer Berg im Januar 1931 die Emotionen hochkochten und sich eine spontane Einheitsfront mit den Kommuni-sten vor Ort ergab, setzte die Parteizeitung auf Ruhe und Besonnenheit. »Die Vergel-tungsparole ist sinnlos«, so Der Vorwärts. Der moderne Klassenkampf könne nicht
geführt werden nach den Regeln und mit den Mitteln der »albanischen Blutrache«. Als die Sozialdemokratie 1932 durch den Preußenputsch entmachtet wurde, war es mit dem Schutz durch die Polizei, der schon in den Monaten zuvor meist wir-kungslos war, gänzlich vorbei.
Auf kommunistischer Seite gab es kei-ne Illusionen in eine Polizei, die regel-mäßig gegen kommunistische Demon-stranten von der Schußwaffe Gebrauch machte. Doch die Fehleinschätzung, die soziale Revolution stehe unmittelbar be-vor, verhinderte eine realistische Analyse der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse. Aber es entstanden wichtige Organisa-tionen wie der Kampfbund gegen den Faschismus und die Antifaschistische Ak-tion, die den Abwehrkampf gegen die SA auf breiter Basis führen sollten. Das größ-te Problem war, daß kaum sozialdemokra-tische Arbeiter für diese Organisationen gewonnen werden konnten.
Übergriffe auf »Sturmlokale«Dennoch waren die Berliner Arbeiter-viertel kein leichtes Pflaster für die SA. In den kommunistischen Parteizeitun-gen wurden Adressen ihrer Treffpunkte mit dem Hinweis »Selbstverteidigung ist das Recht von jedem, der angegrif-fen wird« veröffentlicht. An den Haus-wänden bekannter SA-Mitglieder klebten Outingplakate, einige Faschisten trauten sich erst im »Sturmlokal«, ihre Uniform anzuziehen. So mancher Laden mußte schließen, nachdem er von »der Kommu-ne« in Trümmer gelegt worden war.
1930 verzeichneten die Faschisten ra-
sante Erfolge, die Mitgliederzahlen der SA stiegen an und damit auch ihr Selbst-bewußtsein und ihre Durchschlagskraft. Immer häufiger wurden Überfälle auf be-kannte Mitglieder kommunistischer Or-ganisationen verübt, aber auch viele Un-beteiligte, die die SA fälschlicherweise für »Rote« hielt, wurden erdolcht oder er-schossen. Die Methoden der antifaschisti-schen Arbeiterbewegung, die zunächst er-folgversprechend aussahen, liefen immer häufiger ins Leere. Die SA konnte sich festsetzen – auch in ehemals traditionell roten Vierteln. Es entstand ein Netz aus »Sturmlokalen«, das für die ständige Prä-senz von Faschisten in den Kiezen sorgte.
Cliquen mischen mitEine große Rolle im Widerstand gegen das Erstarken der Faschisten und bei den Auseinandersetzungen und Prügeleien auf der Straße spielten »wilde Cliquen« von Jugendlichen zwischen 17 und 21 Jah-ren. Oft gab es personelle Überschneidun-gen von kommunistischen Jugendgrup-pen mit den Cliquen, denen die Politik der KPD aber meistens »zu politisch« war. Die vielfach arbeitslosen und un-angepaßten Jugendlichen gerieten schon durch ihre Lebenssituation in Konflikt mit der staatlichen Fürsorge, der Polizei und den Nazis. Inspiriert unter anderem durch Wanderringe, hatten sie aber auch ihre festen Regeln. Durch diese Schnitt-menge der Lebenswelten waren viele Jugendliche sowohl Mitglieder in den
wilden Cliquen als auch in kommunisti-schen Gruppen. Oder sie wechselten ihre Organisation, je nachdem, wo sie sich gerade besser aufgehoben fühlten. Die Grenze zur organisierten Kriminalität war bei einigen der wilden Cliquen fließend, gleichzeitig wußte die KPD, daß sie sich auf der Straße meist auf deren Mitglieder verlassen konnte.
Neben gut geplanten Angriffen auf SA-Treffpunkte, die meist von etwas älteren und bewährten Mitgliedern des verbo-tenen Roten Frontkämpferbunds (RFB) durchgeführt wurden, entwickelte sich so auch ein regelrechter Kleinkrieg, der durch diese eher wilden Gruppen geführt wurde und in dem auf beiden Seiten zahl-reiche Personen starben. Diese Ausein-andersetzungen führten so weit, daß das Zentralkomitee der KPD im November 1931 eine Resolution erließ, indem jeg-licher Form des »individuellen Terrors« verurteilt wurde: »Wer sich von den Fein-den des Proletariats sein Verhalten diktie-ren läßt, wer den faschistischen Provoka-tionen nachgibt, (...) ist des Namens eines Kommunisten unwürdig«. Statt direkter Gewalt sollte eine breite antifaschistische Kampagne mit Streiks und anderen Ak-tionen den Naziterror stoppen. Doch die-se gut gemeinte Intervention erschien den Protagonisten auf der Straße kaum an-wendbar: »Wir pfeifen was darauf, wenn wir von SA-Leuten ermordet werden und am Tage unserer Beisetzung ein kleiner Teil der Proleten einen halbstündigen Proteststreik durchführt, worüber sich die SA amüsiert, daß sie so billig dabei weg-kommt«, empörten sich kommunistische Gruppen.
Antifa im DilemmaAls sich aufgrund der ZK-Resolution die Mitglieder des verbotenen RFB, der ver-botenen Roten Jungfront und einige der wilden Cliquen dennoch einige Monate lang zurückhielten, kam die SA schnell wieder in die Offensive. Ein Dilemma. Militärisch war der Konflikt nicht zu gewinnen, doch bedeute das Stillhalten ebenfalls einen Machtgewinn für die Fa-schisten.
Zwischen 1929 und dem 30. Januar 1933 starben so in Berlin mindestens 25 Menschen auf seiten der Arbeiterbewe-gung, allein in der ersten Hälfte des Jahres 1932 waren es in Preußen 86. Die Gesamt-zahl der Toten ist bis heute unbekannt. Nach dem 30. Januar 1933 wurde es be-deutungslos, in welcher der zahlreichen antifaschistischen Gruppierungen die Protagonisten gewesen waren: Die SA rächte sich brutal an ihren aus Straßen-schlachten und der Nachbarschaft ausrei-chend bekannten Gegnern.
Hartes Pflaster in BerlinAntifaschistischer Selbstschutz in der Weimarer Republik: Kommunisten, Sozialdemokraten und Jugend-Cliquen wehrten sich gegen Übergriffe der SA, aber fanden nicht zu einer geschlossenen Abwehrfront zusammen. Von Johannes Fülberth
Johannes Fülberth ist Hi-storiker und lebt in Ber-lin. Er hat ein Buch über den Umgang der Justiz mit Naziüberfällen und Antifa-Aktionen in der Weimarer Republik ver-öffentlicht: »… wird mit Brachialgewalt durch-gefochten. Bewaffnete Konflikte mit Todesfolge vor Gericht – Berlin 1929 bis 1932/1933«, Köln 2011, Papy Rossa-Verlag, 154 Seiten, 14 Euro
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Mittwoch, 7. September 2011, Nr. 208 junge Welt 8 a n t i f a
Es war Anfang September vor 70 Jahren, als ein litauischer Polizist in der Wohnung der Familie Jo-cheles stand und sie aufforderte,
binnen 30 Minuten ins neu errichtete Ghet-to von Vilnius überzusiedeln. Im Herbst hatte die damals 19jährige Fania mit dem Studium an der Uni anfangen wollen, um Lehrerin zu werden. Statt dessen wurde sie zur Kämpferin: Erst im Ghetto, danach bei den Partisanen, und heute kämpft sie für die Erinnerung an den Holocaust und den jüdischen Widerstand. Erst vorige Woche war sie wieder in Berlin, um darüber zu berichten.
Mit 17 war sie ins belorussische Grod-no gegangen, um dort am Pädagogischen Institut zu studieren. Zwei Jahre blieb sie dort. Sie trat dem Komsomol bei; mit Re-ligion hatte ihre Familie ohnehin nie viel im Sinn, koscheres Essen und regelmäßige Synagogenbesuche hatte es nie gegeben. Während ihrer Abwesenheit veränderte sich ihre Heimatstadt radikal: Vilnius, nach dem Ersten Weltkrieg von Polen annektiert, wurde im September 1939 an Litauen zu-rückgegeben – eine Folge des Ribbentropp-Molotow-Paktes. Im August 1940 erfolgte der Anschluß Litauens an die UdSSR. Die Familie Jocheles atmete auf, schien doch die faschistische Bedrohung aus Deutsch-land nun abgewendet. Im Juni 1941 kam Fania zurück nach Vilnius. Als wenig spä-ter die Wehrmacht angriff, scheiterte ein Fluchtversuch im Chaos, die Familie wurde von den Deutschen überholt. Die wußten zum Glück nichts von Fanias Komsomol-mitgliedschaft, denn als »jüdische Bolsche-wistin« wäre sie eine der ersten auf der Todesliste gewesen.
Hinaus in die WälderIm Ghetto begann der Kampf: Die Bewoh-ner machten Dächer, Kanäle und Wand-durchbrüche zu Schmuggelwegen, um Lebensmittel hineinzubringen. Sie kämpf-ten um ihre Kultur, gründeten Chöre, eine Bibliothek, ein Theater. Manchmal kamen deutsche Offiziere zu den Aufführungen: »Sie konnten heute einen Saxophonisten hören und ihn morgen nach Ponar schik-ken« – dort befand sich Litauens größte Vernichtungsstätte (litauischer Ortsname: Paneriai). Fania fand rasch den Weg in die Vereinigte Partisanenorganisation (FPO), in der sich Anfang 1942 Zionisten, Bundisten und Kommunisten zusammengeschlossen hatten. Ihre Angehörigen schmuggelten Waffen und sogar eine Druckmaschine ins Ghetto, um Plakate und Flugblätter herzu-stellen. Ihr Anführer war Itzak Witenberg, der als Kommunist auch Verbindungen »nach draußen« hatte. Fania lernte in tie-fen Kellern den Umgang mit Schußwaffen. »Die erste Zeit waren wir überzeugt, daß wir im Ghetto kämpfen müssen«, um es gegen die Räumung durch die Nazis zu verteidigen, erzählt sie. Der Plan scheiterte. Im Juli 1943 wurde Witenberg verraten. Die Deutschen forderten seine Auslieferung und drohten mit der Bombardierung des Ghettos. Als die FPO zum Aufstand rief, stieß sie auf die Ablehnung der verängstig-
ten Bewohner. Witenberg stellte sich selbst und wurde schon nach wenigen Stunden ermordet. »Danach haben wir angefangen, herauszugehen in die Wälder.«
Kampf um die WürdeAm 23. September 1943, nur drei Tage vor der endgültigen Liquidierung des Ghettos, flüchtete die junge Frau gemeinsam mit ei-ner Genossin. Bei strömendem Regen ver-fehlten sie ihren Weg und passierten Dörfer, die als »nicht sicher« galten, in denen es also Denunzianten und Kollaborateure gab. Plötzlich waren deutsche Soldaten vor ih-nen. »Weitergehen war gefährlich, aber um-kehren wäre verdächtig gewesen«. Ein jun-ger Pole erkannte ihre Lage und ließ sie in einer Scheune übernachten. »Wir haben die Nacht nicht geschlafen. Was hatten wir ge-tan? Wir sind aus dem Ghetto geflohen und haben uns in die Hände eines Menschen begeben, den wir nicht kannten.« Morgens kam der Mann wieder, brachte Milch und Brot und führte sie in den Rudnicker Wald.
Dort, ungefähr 40 Kilometer außerhalb von Vilnius, stießen sie zur »Rächer«-Bri-gade, die bald auf 100 Kämpfer anwuchs. Bei den Partisanen lernte sie ihren spä-teren Ehemann Michail Brantsovsky ken-
nen. Fast alle waren Juden, dennoch spricht Fania Jocheles-Brantsovskaya lieber von einer »sowjetischen« Brigade. Das Lager bestand aus halb in die Erde eingegrabenen Unterständen. Es gab ein Badehaus, sogar eine Art Krankenhaus: »Unser Arzt war ein Medizinstudent im vierten oder fünften Semester«. Zur Bekämpfung des Vitamin-mangels kochten die Partisanen einen Sud aus Tannennadeln.
»Wir haben unsere menschliche Würde gewollt«, beschreibt Brantsovskaya das wichtigste Anliegen der Brigade: Im Ghetto hätten die Juden nicht wie Menschen leben können, in Paneriai nicht wie Menschen sterben. »Nur bei den Partisanen haben wir uns gefühlt wie ein Mensch«. Und dafür gekämpft: »Wenn man gewußt hat, daß die Deutschen in der und der Richtung fahren«, dann wurden Brücken gesprengt, Gleise aufgerissen oder Telefonmasten umge-stürzt. Jeder Schuß auf einen deutschen Soldaten war für sie damals ein Akt der Vergeltung für den Tod ihrer Liebsten.
Ehrung von FaschistenBis 1990 arbeitete sie im Statistischen Zentralamt in Vilnius. Als sie Rentnerin wurde, gewann Litauen seine Unabhän-gigkeit zurück. Für die verbliebenen Ju-den ist das ambivalent: Einerseits gibt es wieder ein aktives jüdisches Leben, ein Holocaust-Museum wurde gegründet. An-dererseits »gibt es seit der Unabhängigkeit keine Erinnerung mehr an die Partisanen«. Von der Sowjetunion hatte Brantsovska-ya mehrere Orden erhalten, später kamen Auszeichnungen durch westliche Bot-schaften hinzu. Aber: »Die Frage nach einem litauischen Orden stellt sich nicht.« Wenn es um aktuelle Politik geht, ist sie eher kurz angebunden. Heute heißt es, die Partisanen hätten die Bevölkerung be-raubt. »Aber damals haben uns sehr viele Menschen geholfen. Ohne sie hätten wir nicht kämpfen können.« Heute heißt es, die Partisanen seien alle Kommunisten gewesen. »Aber viele sind später nach Is-rael gegangen. Das haben Kommunisten doch nicht gemacht«. Sie selbst hat nie ans
Emigrieren gedacht, wenn sich auch ihre kommunistische Überzeugung allmählich an den sowjetischen Realitäten abschliff.
Das unabhängige Litauen stützt sich mit seinem nationalistischen Nachholbedarf unverhohlen auf faschistische Kollabora-teure und macht den Holocaust zu einer Fußnote der Geschichte. Umso bedeutsa-mer ist Brantsovskayas heutiger Kampf: Sie engagiert sich in der Vereinigung der ehemaligen Ghettobewohner, sie arbeitet in der Bibliothek des Jiddischen Instituts. »Ich gehe mit den Studenten ins Ghet-to, nach Ponar, zum Partisanen-Lager, ins Museum«. Warum nimmt sie das auf sich? »Das ist meine Pflicht, für die, die leben sollten, welche nicht mehr aufstehen und nicht mehr reden können«, sagt sie. »Die Menschen müssen wissen, was gewesen ist.«
Neben Nachfolgern jüdisch-litauischer Auswanderer kommen auch viele Inter-essierte aus Deutschland. Ihnen vermit-telt Brantsovskaya ihre Lehre aus der Geschichte: Der Mensch muß um seine Würde kämpfen. »Wir brauchen uns für unseren Kampf nicht zu schämen. Wir sind stolz, daß Menschen diesen Kampf geführt haben.«
»Wir sind stolz auf unseren Kampf«Die jüdische Litauerin Fania Jocheles-Brantsovskaya über den Widerstand im Ghetto, bei den Partisanen und im unabhängigen Litauen. Von Frank Brendle
Nur bei den Partisanen haben wir uns gefühlt wie ein Mensch. Wenn man gewußt hat, daß die Deutschen in der und der Richtung fahren, dann wurden Brücken gesprengt, Gleise aufge-rissen oder Telefonma-sten umgestürzt.
Die Angaben sind teil-weise einem Projekt zur jüdischen Ahnenfor-schung (eilatgordinlevi-tan.com) entnommen. Sämtliche Zitate stam-men aus einem Inter-view, das der Autor in Vilnius geführt hat.
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