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Kapitalmarktbericht 1. Quartal 2020
Die Welt nach Corona
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Kapitalmarktbericht 1. Quartal 2020
RÜCKBLICK
Wer zu Jahresbeginn behauptet hätte, dass uns ein Coronavirus binnen
weniger Monate vor die größten gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Heraus-
forderungen seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs stellen würde, wäre wohl
belächelt worden. Selbst Mitte Februar, als China bereits rund 80.000 Infizierte
und rund 3.000 Todesfälle verzeichnete, die Ausbreitung aber durch die beispiel-
lose Quarantäne gestoppt werden konnte, schien es noch so, als würde es
sich um eine regional begrenzte Epidemie handeln. Als dann am 23. Februar der
erste Todesfall in Italien gemeldet wurde, begann sich die Wahrnehmung
zu ändern. Ein rascher Ausbruch im Herzen Europas und damit eine pande-
mische Verbreitung war plötzlich kein abstraktes Risiko mehr, sondern sehr
konkrete, bedrohliche Realität.
Heute muss sich die Weltbevölkerung mit drastischen Maßnahmen ausein-
andersetzen, die noch vor wenigen Wochen unvorstellbar erschienen.
Behördlich angeordnete Quarantänen, mehrwöchige Schul-, Filial- und
Werksschließungen bis hin zu Grenzschließungen und Ausgangssperren
haben das gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben in weiten Teilen
der Welt lahmgelegt.
Aus der Befürchtung, dass damit auch der langanhaltende Wirtschaftsauf-
schwung mit Rekordbeschäftigung und niedriger Arbeitslosigkeit ein Ende
haben könnte, ist die Gewissheit geworden, dass wir uns am Beginn einer
„Am 31. Dezember 2019 wurde das WHO-Landesbüro in China über eine Häufung von Patienten mit einer Pneumonie (Lungenentzündung) unbekannter Ursache in Wuhan, einer Stadt mit 19 Millionen Einwohnern in der Provinz Hubei, China, informiert. Nach Angaben der chinesischen Behörden in Wuhan waren einige Patienten als Händler oder Verkäufer auf dem Huanan-Seafood-Markt in Wuhan tätig. Es ist der größte Seafood-Markt in Wuhan mit über 600 Ständen und 1.500 Arbeitern. Es wird berichtet, dass auch Wildtiere bzw. Organe von anderen Tieren und Reptilien auf dem Markt angeboten wurden. Derzeit wird davon ausgegangen, dass SARS-CoV-2 von Fledermäusen auf den Menschen übertragen wurde.“ (Quelle: Bundesgesundheitsministerium)
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Kapitalmarktbericht 1. Quartal 2020
RÜCKBLICK
Rezession befinden, die weitaus einschneidender sein dürfte als der Wirtschafts-
einbruch infolge der Finanzkrise. Innerhalb weniger Tage wurde der Schalter
von Expansion auf Kontraktion umgelegt. Begleitet wurde diese Entwicklung von
einem plötzlichen Kollaps des Ölpreises, der nicht nur wegen der absehbar
geringeren Nachfrage, sondern der gleichzeitig möglichen Angebotsausweitung
Russlands auf 20 US-Dollar pro Barrel (WTI) und damit um rund 60 Prozent
einbrach. Dahinter dürfte das politische Kalkül stehen, der mit wesentlich
höheren Förderkosten arbeitenden US-Fracking-Industrie den Garaus zu machen.
Die Finanzmärkte haben das Versäumte in Windeseile nachgeholt. Nahezu ohne
Unterbrechung sind die Aktienmärkte seit ihren Februar-Höchstständen
um 30 bis 40 Prozent gefallen. Besonders hart traf es Aktien aus den unmittelbar
betroffenen Branchen wie Einzelhandel, Hotel/Gastronomie, Fluggesellschaften,
Öl-und-Gas-Unternehmen, aber zunehmend auch mittelbar betroffene Sektoren
wie Immobilien, Banken, Versicherungen und Industriegüter. Die Kursverluste
dieser Titel betrugen oft mehr als 50, teilweise sogar 75 Prozent.
Dagegen fielen die Einbußen bei Titeln aus defensiven Branchen wie Konsum-
gütern des täglichen Bedarfs, Gesundheit und Technologie deutlich geringer
aus; viele dieser Titel konnten bis Ende März einen großen Teil ihrer Verluste
wieder aufholen.
Bemerkenswert war auch die extreme Volatilität, die am Nervenkostüm vieler An-
leger zerrte. Der US-amerikanische Aktienmarkt verzeichnete mit Tagesverlusten
von -12,5 Prozent und -9,5 Prozent im S&P 500 am 16. März bzw. 12. März den
zweit- und drittschlechtesten Handelstag seiner Geschichte und am 24. März
mit +9,4 sowie am 13. März mit +9,3 Prozent sein dritt- und viertbestes Tages-
ergebnis aller Zeiten. Derart volatile Börsen gab es zuletzt während der Finanz-
krise, wie der US-Volatilitätsindex verdeutlicht (vgl. Grafik 1 auf der folgenden Seite).
Der Goldpreis stieg zu Beginn der Krise auf ein Siebenjahreshoch von fast
1.700 US-Dollar je Unze, bevor er zeitweise um zwölf Prozent korrigierte.
Dieses Phänomen ist uns aus der Finanzkrise bekannt. Nach einem starken
Anstieg zu Beginn der Krise werden Goldbestände reduziert, um Zahlungs-
verpflichtungen und „Margin Calls“ zu bedienen. Anschließend dreht der Preis
wieder nach oben. In Euro gerechnet hatte der Goldpreis am 20. Februar
erstmals in der Geschichte die Marke von 1.500 Euro je Unze überschritten.
Ende des ersten Quartals kostete eine Unze 1.430 Euro.
Die Notenbanken haben auf die sich abzeichnende Rezession mit beherzten
Maßnahmen reagiert. Nahezu alle Zentralbanken der entwickelten Volkswirt-
schaften haben, sofern sie noch Spielraum hatten, ihre Leitzinsen gesenkt und
Ganze Branchen wurden hart
getroffen: Einzelhandel, Hotel/
Gastronomie, Fluggesellschaften,
Öl-und-Gas-Unternehmen, Immo-
bilien, Banken, Versicherungen
und Industriegüter.
Die Volatilität an den Börsen
war zuletzt in der Finanzkrise
ähnlich hoch.
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Kapitalmarktbericht 1. Quartal 2020
RÜCKBLICK
teilweise umfassende Anleihekäufe angekündigt. So hat die Federal Reserve
nicht nur ihren Leitzins von 1,5 bis 1,75 auf 0 bis 0,25 Prozent gesenkt, sondern
ein unbefristetes und unlimitiertes Anleihekaufprogramm beschlossen, in
dessen Rahmen seit Mitte März Anleihen im Umfang von 924 Mrd. US-Dollar
gekauft worden sind, um eine erneute Finanzkrise zu verhindern.
Bei US-Staatsanleihen kam es zu einem Absturz der Renditen auf Niveaus,
die die Vorstellungskraft von US-Investoren übertroffen haben. In den USA galt
schon eine Rendite von zwei Prozent für dreißigjährige Staatsanleihen als
absurd niedrig, impliziert sie doch ein dauerhaftes Siechtum der US-Wirtschaft.
Ende März rentierten Dreißigjährige bei nur noch 1,3 Prozent, zwischenzeitlich
lagen die Renditen sogar unterhalb von einem Prozent. Zehnjährige US-Staats-
papiere rentierten zum Quartalsende bei 0,67 Prozent, ebenfalls ein bis dato
unvorstellbar niedriges Niveau. Auch die Renditen von Bundesanleihen erreich-
ten zwischenzeitlich neue Rekordtiefs, die allerdings nur geringfügig unter den
Niveaus von August 2019 lagen.
2007 2009 20132011 2015 2017 2019
20
0
40
60
CBOE* VIX
80
10
30
50
70
90
Grafik 1 Aktienmarktvolatilität so hoch wie zuletzt in der Finanzkrise – CBOE* Volatility Index (VIX)
* Chicago Board Options Exchange
Quelle: Refinitiv, Flossbach von Storch, Daten per 1. April 2020
Die historische Wertentwicklung ist kein verlässlicher Indikator für die künftige Wertentwicklung.
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Kapitalmarktbericht 1. Quartal 2020
RÜCKBLICK
Im krassen Gegensatz zu sicheren Staatspapieren verlief das Quartal bei Unter-
nehmensanleihen, insbesondere bei Titeln zweitklassiger Bonität. Analog
zum Aktienmarkt kam es hier zu deutlichen Kursverlusten, die die Renditen in
die Höhe schnellen ließen. Nachdem es selbst bei Anleihen von Schuldnern
mit ordentlicher Bonität (Investmentgrade) zu Kursrückschlägen von zwanzig
Prozent kam, kündigte die US-Notenbank ein massives Anleihekaufprogramm
an, das zu einer Erholung der Kurse führte. Diese Phase haben viele Konzerne
genutzt, um Liquidität durch die Ausgabe neuer Anleihen aufzunehmen und
sich für alle Eventualitäten zu rüsten.
Auch wir haben den Sturm an den Märkten zu spüren bekommen. Unsere
auf Diversifikation und Qualität ausgerichtete Anlagephilosophie hat sich
jedoch als guter Krisenschutz erwiesen. Im Vergleich zu den einschlägigen
Indizes konnten wir die Rückschläge deutlich begrenzen. Hierzu haben
auch Teilabsicherungen der Aktienengagements beigetragen, die vor allem
bei den aktienorientierten Multi-Asset-Mandaten das Minus auf ein Ausmaß
begrenzt haben, das eine Rückkehr in die Gewinnzone auch ohne neue
Rekordstände an den Börsen möglich macht.
-20%
-15%
-10%
-30%
-5%
0%
5%
10%
MSCIWelt-Index
inkl.Dividenden
in Euro
-19,0
MSCIEmergingMarkets
inkl.Dividenden
in Euro
Renten-IndexREXP
Goldpreisin US-Dollar
US-Dollarin Euro
S&P 500inkl.
Dividendenin US-Dollar
DAXinkl.
Dividendenin Euro
STOXXEurope 50
inkl.Dividenden
in Euro
-19,2 0,93,9-19,7 -25,0-21,8 1,6
-25%
Grafik 2 Kapitalmarktentwicklung 1. Januar bis 31. März 2020
Quelle: Bloomberg, Flossbach von Storch, Daten per 31. März 2020
Die historische Wertentwicklung ist kein verlässlicher Indikator für die künftige Wertentwicklung.
Unternehmensanleihen
verzeichneten im Gegensatz
zu Staatspapieren deutliche
Kursverluste.
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Kapitalmarktbericht 1. Quartal 2020
Wirtschaft und Gesundheit
AUSBLICK
Eine Epidemie folgt dem Verlauf einer Glockenkurve. Wie steil oder
wie breit diese Kurve ausgeprägt ist, hängt vor allem von den zu Beginn
der Ausbreitung getroffenen Maßnahmen ab. In China waren diese
rigoros. Weniger als drei Monate nach dem Ausbruch gibt es praktisch
keine Neuinfektionen mehr.
In anderen Ländern ist die Zahl der Neuinfektionen auch zwei Monate nach dem
Ausbruch immer noch hoch. In einer ersten Phase gilt es, die Ausbreitung
des Virus mit allen erforderlichen Mitteln zu begrenzen, um einen Kollaps des
Gesundheitssystem zu vermeiden. Wie weitreichend diese Mittel sein müssen,
hängt vor allem von der Kapazität des Gesundheitssystems ab. Virologen und
Gesundheitspolitiker haben hierauf eindrücklich hingewiesen und damit eine
breite Akzeptanz in der Bevölkerung für die massiven Einschränkungen der
persönlichen Freiheit erreicht. Der Erfolg des „Social Distancing“ und verbesser-
ter Hygienemaßnahmen dürfte sich in den kommenden Wochen in weiter
abflachenden Kurven der aktiven Covid-19-Fälle zeigen (vgl. Grafik 3).
Die Sterblichkeitsrate bei einer Covid-19-Erkrankung ist im Vergleich zu anderen
Virusausbrüchen der vergangenen Jahrzehnte vergleichsweise niedrig. Wenn man
die Dunkelziffer der Infizierten, aber nicht getesteten Personen berücksichtigt,
dürfte sie bei unter einem Prozent liegen. Das eigentliche Problem liegt darin, dass
5 bis 15 Prozent der Infizierten eine stationäre Behandlung benötigen, so dass
die Kapazität des Gesundheitssystems ein entscheidender Faktor für die von Land
zu Land noch sehr unterschiedlichen Mortalitätsraten ist. In Deutschland ist die
gemessene Sterblichkeit auch wegen hoher Testkapazitäten (noch) vergleichs-
weise niedrig, in Italien und Spanien dagegen relativ hoch. Es sieht derzeit so aus,
als würde die Entwicklung in Großbritannien und den USA ähnlich der in Italien
und Spanien verlaufen. Dennoch besteht die Hoffnung, dass der Höhepunkt der
Neuinfektionen Mitte April erreicht sein könnte und die Zahl der täglichen Todes-
fälle danach sukzessive sinkt. Schwer einschätzbar ist allerdings die Entwicklung
in Schwellenländern wie Indien, Brasilien oder Mexiko, in denen die Ausbreitung
noch am Beginn steht und geringere Hygienestandards, schwache Gesundheits-
systeme und räumliche Enge in den Metropolen eine Eindämmung erschweren.
In den kommenden Wochen
dürften sich Erfolge des „Social
Distancing“ und verbesserter
Hygienemaßnahmen in weiter
abflachenden Kurven der
aktiven Covid-19-Fälle zeigen.
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Kapitalmarktbericht 1. Quartal 2020
AUSBLICK
Insofern ist jede Prognose, wann die Welt das neuartige Coronavirus SARS-CoV-2
„besiegt“ haben wird, mit großen Unsicherheiten verbunden, zumal immer
die Gefahr erneuter Ausbrüche besteht. Deshalb ist die möglichst baldige Verfüg-
barkeit eines Impfstoffs von größter Bedeutung. Er würde den Menschen die
Angst vor einer erneuten Infektionswelle nehmen und damit eine Vertrauens-
basis schaffen, die für einen optimistischen Blick in die Zukunft unerlässlich ist.
50
Tage, nachdem 100 Fälle registriert worden sind
25 30 352010 15
1.000
100
100.000
10.000
China Italien Spanien Südkorea
USA Vereinigtes Königreich
Deutschland Frankreich
40
Grafik 3 Anzahl der aktiven Covid-19-Fälle – Logarithmische Skalierung
Quelle: Worldometer, Flossbach von Storch, Daten per 4. April 2020
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Kapitalmarktbericht 1. Quartal 2020
AUSBLICK
Allerdings müssen die Restriktionen bereits vorher schrittweise gelockert
werden, weil der wirtschaftliche und gesellschaftliche Schaden sonst irre-
parabel wird. Jede zerstörte Existenz bedeutet ein schlimmes Einzelschicksal.
Es ist deshalb verständlich, dass viele Menschen, vor allem Soloselbständige
und Kleinunternehmer, sich zunehmend mehr Sorgen um ihre Existenz als um
die Folgen einer Viruserkrankung machen. Wirtschaft und Gesundheit sind
eben keine Gegensätze, sondern bedingen einander. Ohne Gesundheit keine
gesunde Wirtschaft und ohne gesunde Wirtschaft keine Gesundheit. Die
Wirtschaft ist kein abstraktes Gebilde, das symbolhaft in Form eines Fabrik-
gebäudes dargestellt werden sollte, sondern die Summe aller Menschen
und ihrer Aktivitäten. Wer also den Zusammenbruch des Gesundheitssystems
verhindern möchte, darf nicht den Zusammenbruch der Wirtschaft riskieren.
Das Bruttoinlandsprodukt Deutschlands betrug im vergangenen Jahr ca.
3.440 Mrd. Euro, entsprach also einer Wertschöpfung von knapp zehn Milliar-
den Euro pro Tag. Wenn 50 Prozent der Wirtschaftsleistung entfallen, weil
Tätigkeiten verboten und Lieferketten unterbrochen werden, kostet dies nicht
nur fünf Milliarden Euro pro Tag oder knapp 150 Mrd. Euro pro Monat, sondern
gefährdet auch die Produktion lebensnotwendiger Güter und Dienstleistungen
sowie die dazugehörige Logistik (inkl. Ersatzteile, Reparaturen etc.) und damit
die Versorgung der gesamten Bevölkerung.
Hinzu kommen gesundheitliche Folgen, weil wichtige Operationen nicht
durchgeführt werden können oder Menschen an den Folgen des Shutdowns
erkranken. Isolation, Existenzvernichtung oder die Angst davor führen zu
Depressionen, Suiziden oder häuslicher Gewalt. Aus gesundheitsökonomischen
Studien weiß man, dass große Rezessionen die Lebenserwartung reduzieren.
Gerade für junge Menschen können Wirtschaftskrisen zu einer Verschlechterung
ihrer Zukunftsperspektiven und einer geringeren Lebenszufriedenheit führen.
Die verantwortlichen Politiker sind nicht zu beneiden. Sie wandeln bei der
Abwägung der zu treffenden Maßnahmen auf einem schmalen Grat. Auf
der einen Seite gilt es, die Überlastung des Gesundheitssystems zu vermeiden,
auf der anderen Seite, die mittelbaren gesundheitlichen und wirtschaftlichen
Schäden zu begrenzen. Hinzu kommt, dass die Nebenwirkungen auf Wirtschaft
und Gesellschaft exponentiell zunehmen. Die ersten Wochen lassen sich noch
leicht überstehen. Am Anfang erwischt es nur wenige Unternehmen, oft solche,
die ohnehin schon in Schwierigkeiten steckten. Mit zunehmenden Umsatzaus-
fällen bei gleichzeitig weiterlaufenden Kosten nimmt die Zahl aber rasch zu und
vernichtet auch gesunde Existenzen. Dann beginnen Lieferketten zu reißen, es
kommt zu Versorgungsengpässen und Hamsterkäufen, die sich nicht mehr nur
auf Klopapier, Nudeln und Mehl beschränken.
Wirtschaft und Gesundheit sind
keine Gegensätze, sondern bedingen
einander.
Die verantwortlichen Politiker
wandeln bei der Abwägung der zu
treffenden Maßnahmen auf einem
schmalen Grat.
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Kapitalmarktbericht 1. Quartal 2020
AUSBLICK
Die Regierungen müssen mit Lockerungsmaßnahmen beginnen, sobald die
Reproduktionsrate des Virus in der Nähe von eins liegt und sich die exponen-
tielle zu einer linearen Ausbreitung wandelt. Der Unterschied ist schon nach
einigen Wochen gigantisch. Wenn beispielsweise in Deutschland täglich
5.000 positiv getestete Neuinfizierte hinzukämen, wären dies bis Anfang Juni
300.000 neue Fälle. Mit diesem linearen Verlauf hätte das Gesundheitssystem
kein Problem. Selbst wenn zehn Prozent davon für durchschnittlich zehn Tage
ins Krankenhaus müssten, würden von diesen Patienten im Durchschnitt nur
5.000 Betten belegt. Ganz anders sieht es im Fall eines exponentiellen Verlaufs
aus. Bei einem täglichen Zuwachs von fünf Prozent (aktuell ebenfalls 5.000 Fälle)
stiege die Summe der insgesamt Infizierten im gleichen Zeitraum auf fast
1,9 Millionen. Wenn von den aktiven Fällen zehn Prozent für durchschnittlich
zehn Tage stationär behandelt werden müssten, lägen bereits Anfang Juni
gleichzeitig 70.000 Menschen im Krankenhaus, davon rund 20.000 auf der
Intensivstation und das Gesundheitssystem käme an seine Grenzen.
Eine sinkende Wachstumsrate der Neuinfektionen lässt es aber wahrscheinlich
erscheinen, dass die Regierung schon bald mit Lockerungen beginnen kann.
Mit einer als „Hammer and Dance“ bezeichneten Methode kann die Politik
schrittweise Lockerungen durchführen und ggf. wieder zurücknehmen. Dieses
auch von der Bundesregierung durchgespielte Szenario ist die einzige
Möglichkeit, das Leben wieder ans Laufen zu bringen, bevor es zu einer Kern-
schmelze der Wirtschaft und anarchischen Auswüchsen in der Gesellschaft
kommt. An diesem Punkt könnten epidemiologische Überlegungen in den
Hintergrund treten, weil der Schaden für die Menschen und die Gesellschaft
nicht mehr zu vertreten wäre.
Flankierend müssen umfassende Hilfsprogramme initiiert werden, die weit über
die bisher verabschiedeten Maßnahmen hinausgehen. Die Bundesregierung
hat pragmatisch reagiert und einen Nachtragshaushalt über 122,5 Mrd. Euro
beschlossen, der Kleinstunternehmern direkte Zuwendungen gewährt, größe-
ren Unternehmen Kreditlinien bereitstellt und das in Deutschland bereits
in der Finanzkrise erfolgreich angewandte Mittel der Kurzarbeit betont. Die an
sich sinnvolle Haftungsbeteiligung von Banken (zehn Prozent) erweist sich
unterdessen als Bremsklotz bei der Kreditvergabe. Hinzu kommt, dass sich
viele kleinere Unternehmen gar keine zusätzlichen Kredite leisten können,
weil sie nicht wissen, wie sie das Geld zurückzahlen sollen. Solounternehmer
berichten über zu viel Bürokratie bei der Beantragung der Hilfen. Auch hier
muss noch nachjustiert werden. Deshalb sind weitere Aufstockungen der
Hilfsprogramme zu erwarten. Am Ende dürften die Kosten eher bei 300 bis
400 Mrd. Euro liegen – aber die Maßnahmen sind angesichts des Ausmaßes
der Krise wohl alternativlos.
Mit einer als „Hammer and Dance“
bezeichneten Methode könnte die
Politik schon bald mit Lockerungen
beginnen.
Es sind weitere Aufstockungen der
staatlichen Hilfsprogramme zu
erwarten – aber die Maßnahmen
sind angesichts des Ausmaßes
der Krise wohl alternativlos.
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Kapitalmarktbericht 1. Quartal 2020
AUSBLICK
Tabelle 1 Fiskalpolitik: „All in“ – Umfang der bereits beschlossenen Covid-19-Rettungspakete
Quelle: Flossbach von Storch, Daten per 31. März 2020
Land/Verbund Umfang Rettungspaket Ausgewählte Maßnahmen im Detail Sonstiges
Deutschland 156 Mrd. Euro bzw. 4,5 % des BIP.
So hoch ist die geplante Schulden-
aufnahme zur Finanzierung des
Nachtragshaushalts.
– 55 Mrd. Euro, um flexibel auf die weitere
Entwicklung der Pandemie reagieren zu können.
– 50 Mrd. Euro für die Unterstützung von Klein-
unternehmen.
– Zudem wurden die Regelungen zum Kurz-
arbeitergeld flexibilisiert. Kostenpunkt: ein
zweistelliger Milliardenbetrag.
Zusätzlich zu dem massiven, defi-
zitwirksamen Rettungspaket hat
die Bundesregierung ihre Garantien
deutlich aufgestockt. So wurde etwa
der Garantierahmen für auslandsbe-
zogene Gewährleistungen zuletzt
um 357 Mrd. Euro auf 822 Mrd. Euro
angehoben.
Europäische Union (EU-27)
Der für 2020 veranschlagte EU-
Haushalt ist mit knapp 169 Mrd. Euro
bzw. 1,2 % des EU-BIP relativ gering.
Insofern scheint das Potenzial der
EU, eigenständig ein großes „Ret-
tungspaket“ bereitzustellen, zu-
nächst gering – der EU-Haushalt darf
nämlich keine Schulden machen.
Der Umfang von SURE, einem EU-weiten Kurzarbei-
tergeld, ist mit 100 Mrd. Euro hingegen beträchtlich,
denn SURE wird durch umfangreiche Garantien der
Mitgliedstaaten gewährleistet. Über den Weg der
„Vergemeinschaftung“ kann letztlich auch die EU
volumenmäßig hohe Summen bewegen, um im
Rahmen dieses Instruments umfangreiche Darle-
hen an notleidende Mitgliedstaaten auszureichen.
Darüber hinaus hat die EU am
23. März die Ausweichklausel
aktiviert, die es Mitgliedstaaten
vorübergehend ermöglicht,
von den haushaltspolitischen
Anforderungen im europäischen
fiskalpolitischen Rahmen abzu-
weichen.
Italien Mit 25 Mrd. Euro an unmittelbaren
Corona-Hilfen bzw. 1,4 % des
italienischen BIP hat das Rettungs-
paket im Land mit den europaweit
meisten Infizierten einen bislang
überschaubaren Rahmen.
– Ca. 10 Mrd. Euro werden zur Beschäftigungs-
bzw. Einkommenssicherung aufgewendet,
z.B. in Form eines „Elterngelds“ für 12 Tage in
Höhe von 50 % der letzten Bezüge.
– Rund 3 Mrd. fließen in das Gesundheitssystem
bzw. den Katastrophenschutz, unter anderem
zur Beschaffung zusätzlicher Beatmungsgeräte.
Die Aktivierung der Ausweich-
klausel durch die EU ermöglicht
die Umsetzung weiterer,
milliardenschwerer Programme
in Italien. Die angespannte
Situation in Italien legt nahe,
dass man von dieser Option
Gebrauch machen wird.
Vereinigtes Königreich
Mit mehr als 60 Mrd. GBP (rund
3 % des BIP) hat das Vereinigte
Königreich bereits enorme
Aufwendungen zur Überwindung
der Coronakrise angekündigt.
– Mehr als 30 Mrd. GBP an Steuerzahlungen wurden
bereits bis Ende des Jahres gestundet.
– Kleinunternehmer werden mit bis zu 25.000 GBP
für bspw. Pachtzahlungen subventioniert.
– Bis zu 7 Mrd. GBP zusätzlich fließen über 4 Mio.
Haushalten über das Sozialhilfesystem zu.
Ähnlich wie z. B. Deutschland
arbeitet man auch im Vereinigten
Königreich mit einer massiven
Ausweitung von Staatsgarantien.
Mit sofortiger Wirkung beschloss
man staatliche Garantien in Höhe
von 330 Mrd. GBP bzw. 15 % des BIP.
USA Die USA liegen beim möglichen
Umfang des Rettungspakets
unangefochten an der Spitze. Das
beschlossene Rettungspaket
kann auf einen Gesamtumfang
von über 2 Billionen US-Dollar
bzw. gut 9 % des BIP ansteigen.
– 500 Mrd. US-Dollar können über den Erwerb von
z.B. Unternehmensschulden oder Kommunal-
anleihen an Liquidität zugeführt werden.
– 100 Mrd. US-Dollar fließen an die Erbringer
medizinischer Dienstleistungen, insbesondere
Krankenhäuser.
– Ebenfalls ein dreistelliger Milliardenbetrag dürfte
in Form von Helikoptergeld direkt an Millionen
US-Bürger ausgeschüttet werden.
Die US-Präsidentschaftswahlen
finden voraussichtlich am
3. November 2020 statt. Trump
wird alles in seiner Macht
stehende tun, um die Weichen
auf Wiederwahl zu stellen –
notfalls auch ein weiteres
Konjunkturpaket schnüren.
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Kapitalmarktbericht 1. Quartal 2020
AUSBLICK
Auch andere Länder werden nachlegen müssen. In Italien, Spanien,
Frankreich und Großbritannien zeichnet sich eine tiefe Wirtschaftskrise ab,
die Hilfsprogramme von hunderten Milliarden Euro erfordert, weit mehr
als bislang in Aussicht gestellt wurde.
Die US-Regierung hat Unterstützungen im Umfang von zwei Billionen
US-Dollar angekündigt, um Unternehmen, Arbeitnehmern und Arbeitslosen
zu helfen, was angesichts des schwach ausgeprägten sozialen Sicherungs-
systems in den USA kaum ausreichen dürfte. In der Woche bis zum 3. April
reichten 6,6 Millionen Amerikaner einen Antrag auf Arbeitslosenunter-
stützung ein, zehnmal so viele wie zu Spitzenzeiten in der Finanzkrise. Da
sich die USA in einem Wahljahr befinden und der Präsident die Prosperität
des Landes als Maßstab für seinen Erfolg definiert hat, wird er nicht kleckern,
wenn weitere Hilfspakete erforderlich sind, um den Absturz wenigstens
zu begrenzen. Am Ende dürfte es zu einem fiskalpolitischen „All in“ der
US-Regierung kommen.
Dies dürfte für fast alle Staaten gelten. Haushaltsdisziplin hat angesichts
des Ernsts der Lage, wie in Kriegszeiten, keine Priorität. Die Haushaltsdefizite
werden dramatisch ansteigen, wenn explodierende Ausgaben auf implodie-
rende Einnahmen treffen.
In der Eurozone liegt die Staatsverschuldung derzeit mit 84 Prozent des
Bruttoinlandsprodukts rund 15 Prozentpunkte über dem Niveau zu Beginn
der Finanzkrise im Jahre 2008. Insbesondere in schwer betroffenen Ländern
wie Italien und Spanien werden die Haushaltsdefizite deutlich ansteigen,
zumal im Sommer erhebliche Einbußen im Tourismus drohen. Aber auch
Deutschland wird die Krise stark treffen, da die Automobilindustrie lange
brauchen wird, um sich zu erholen und jetzt auch noch der zuletzt starke
Konsum einbricht.
Um das mögliche Ausmaß der Krise auf die Staatsverschuldung aufzuzeigen,
haben wir verschiedene Szenarien für die Entwicklung der Haushaltsdefizite
und den Rückgang der Wirtschaftsleistung gegenübergestellt. Angesichts
der großen Prognoseunsicherheit haben wir das Basisszenario etwas breiter
aufgefächert (beige unterlegt). Zum Vergleich haben wir die Werte für das
Defizit und den Rückgang des Bruttoinlandsprodukts während der Finanzkrise
2008/09 markiert. Die Defizitannahmen für Ende 2020 basieren auf den sich
heute abzeichnenden Mehrausgaben und Mindereinnahmen des laufenden
Jahres. Für die Wirtschaftsentwicklung 2020 haben wir einen leichten Rückgang
im ersten Quartal, einen tiefen Einbruch im zweiten und ein immer noch
schwaches drittes Quartal unterstellt (jeweils im Vergleich zu 2019). Im vierten
Am Ende dürfte es zu einem
fiskalpolitischen „All in“ in fast allen
betroffenen Staaten kommen.
Wir erwarten einen leichten
Rückgang der Wirtschaftsleistung
im ersten Quartal, einen tiefen
Einbruch im zweiten und ein immer
noch schwaches drittes Quartal,
bevor die Wirtschaft im vierten
Quartal wieder das Niveau des Vor-
jahresquartals erreichen könnte.
12
Kapitalmarktbericht 1. Quartal 2020
AUSBLICK
Tabelle 2 Szenarien für die Staatsschuldenquote per Ende 2020: Eurozone
Bruttostaatsverschuldung 2019 in Prozent des BIP: 84 %
Tabelle 3 Szenarien für die Staatsschuldenquote per Ende 2020: Italien
Bruttostaatsverschuldung 2019 in Prozent des BIP: 133 %
Nominales Wirtschaftswachstum
in 2020
Haushaltsdefizit 2020 in Prozent des BIP
-4 % -6 %* -8 % -10 % -12 % -14 % -16 % -18 %
0 % 88 % 90 % 92 % 94 % 96 % 98 % 100 % 102 %
-2 % 90 % 92 % 94 % 96 % 98 % 100 % 102 % 104 %
-4 %* 91 % 93 % 95 % 97 % 99 % 101 % 103 % 105 %
-6 % 93 % 95 % 97 % 99 % 101 % 103 % 105 % 107 %
-8 % 95 % 97 % 99 % 101 % 103 % 105 % 107 % 109 %
-10 % 97 % 99 % 101 % 103 % 105 % 107 % 109 % 111 %
-12 % 99 % 101 % 103 % 105 % 107 % 109 % 111 % 113 %
Nominales Wirtschaftswachstum
in 2020
Haushaltsdefizit 2020 in Prozent des BIP
-4 % -6 %* -8 % -10 % -12 % -14 % -16 % -18 %
0 % 137 % 139 % 141 % 143 % 145 % 147 % 149 % 151 %
-2 % 140 % 142 % 144 % 146 % 148 % 150 % 152 % 154 %
-4 %* 143 % 145 % 147 % 149 % 151 % 153 % 155 % 157 %
-6 % 146 % 148 % 150 % 152 % 154 % 156 % 158 % 160 %
-8 % 149 % 151 % 153 % 155 % 157 % 159 % 161 % 163 %
-10 % 152 % 154 % 156 % 158 % 160 % 162 % 164 % 166 %
-12 % 155 % 157 % 159 % 161 % 163 % 165 % 167 % 169 %
* Vergleichswert in der Finanzkrise
Quellen: Flossbach von Storch, Daten per 31. März 2020
Szenarioanalyse Flossbach von Storch. Die tatsächliche Entwicklung kann von den hier getroffenen Annahmen abweichen.
13
Kapitalmarktbericht 1. Quartal 2020
AUSBLICK
Tabelle 4 Szenarien für die Staatsschuldenquote per Ende 2020: Deutschland
Bruttostaatsverschuldung 2019 in Prozent des BIP: 59 %
Tabelle 5 Szenarien für die Staatsschuldenquote per Ende 2020: USA
Bruttostaatsverschuldung 2019 in Prozent des BIP: 106 %
Nominales Wirtschaftswachstum
in 2020
Haushaltsdefizit 2020 in Prozent des BIP
-4 %* -6 % -8 % -10 % -12 % -14 % -16 % -18 %
0 % 63 % 65 % 67 % 69 % 71 % 73 % 75 % 77 %
-2 % 64 % 66 % 68 % 70 % 72 % 74 % 76 % 78 %
-4 %* 65 % 67 % 69 % 71 % 73 % 75 % 77 % 79 %
-6 % 66 % 68 % 70 % 72 % 74 % 76 % 78 % 80 %
-8 % 68 % 70 % 72 % 74 % 76 % 78 % 80 % 82 %
-10 % 69 % 71 % 73 % 75 % 77 % 79 % 81 % 83 %
-12 % 71 % 73 % 75 % 77 % 79 % 81 % 83 % 85 %
Nominales Wirtschaftswachstum
in 2020
Haushaltsdefizit 2020 in Prozent des BIP
-4 % -6 % -8 % -10 % -12 % -14 %* -16 % -18 %
0 % 110 % 112 % 114 % 116 % 118 % 120 % 122 % 124 %
-2 %* 112 % 114 % 116 % 118 % 120 % 122 % 124 % 126 %
-4 % 115 % 117 % 119 % 121 % 123 % 125 % 127 % 129 %
-6 % 117 % 119 % 121 % 123 % 125 % 127 % 129 % 131 %
-8 % 119 % 121 % 123 % 125 % 127 % 129 % 131 % 133 %
-10 % 122 % 124 % 126 % 128 % 130 % 132 % 134 % 136 %
-12 % 125 % 127 % 129 % 131 % 133 % 135 % 137 % 139 %
* Vergleichswert in der Finanzkrise
Quellen: Flossbach von Storch, Daten per 31. März 2020
Szenarioanalyse Flossbach von Storch. Die tatsächliche Entwicklung kann von den hier getroffenen Annahmen abweichen.
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Kapitalmarktbericht 1. Quartal 2020
AUSBLICK
Quartal sollte die Wirtschaft wieder das Niveau von 2019 erreichen können,
wozu auch Nachholeffekte aus den Vorquartalen beitragen. Eine V-förmige
Entwicklung, die rasch wieder auf den alten Wachstumspfad mündet, können
wir uns aufgrund der tiefen Spuren, die die Krise schon jetzt hinterlassen hat,
kaum vorstellen.
Selbst eine deutliche Erholung der Wirtschaft in den kommenden Jahren
würde die Staatsschuldenquoten kaum wieder auf das Vorkrisenniveau
sinken lassen. Im Gegenteil, die Krise wird sich auch langfristig noch negativ
auf die Staatshaushalte auswirken, die zusätzlich noch mit steigenden
Ausgaben durch den demographischen Wandel belastet werden. Auch
deshalb ist die jüngere Generation von der aktuellen Krise langfristig am
stärksten betroffen.
Die hohen Staatsschulden zwingen die Notenbanken, ihre ultralockere
Politik praktisch endlos fortzusetzen. Mit breit angelegten Wertpapierkäufen
in Höhe von über einer Billion Euro bis Ende 2020 hat die EZB sofort reagiert
und den Anlegern die Angst vor möglichen Staatspleiten genommen
(vgl. Tabelle 6). Als Hüter des Euro und Staatsretter der letzten Instanz wird
sie wohl auch bald die Fesseln des Kapitalschlüssels abstreifen, d.h. die
selbstauferlegten Grenzen für den Kauf von Anleihen einzelner Mitglieds-
staaten aufheben. Damit ist eine Insolvenz von Euro-Staaten auch ohne
Corona-Bonds, die ohnehin eher ein Zeichen der Solidarität wären, nicht
zu erwarten. Die Schuldentragfähigkeit der Euro-Staaten ist dank Null-
und Negativzins und des Rückhalts der EZB bis auf weiteres gesichert.
Auch die US-Notenbank befindet sich inzwischen im All-in-Modus. Der Leitzins
wurde auf das Rekordtief von 0 bis 0,25 Prozent gesenkt. Zusätzlich kauft
die Fed Staats-, Hypotheken- und Unternehmensanleihen in nie gekanntem
Ausmaß. Allein vom 25. März bis 1. April waren es insgesamt mehr als
500 Mrd. US-Dollar (inkl. Notfallkredite), wodurch sich die Bilanzsumme auf
5,8 Billionen Dollar aufblähte. Damit wächst die US-Notenbankbilanz derzeit
noch schneller als während der Finanzkrise.
Die jüngere Generation wird durch
steigende Staatsschulden von
der aktuellen Krise langfristig am
stärksten betroffen sein.
Die US-Notenbankbilanz wächst
derzeit noch schneller als während
der Finanzkrise.
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Kapitalmarktbericht 1. Quartal 2020
AUSBLICK
Tabelle 6 Geldpolitik: „All in“ – Die expansive Ausrichtung der Notenbanken am (vorläufigen) Höhepunkt
Quelle: Flossbach von Storch, Daten per 31. März 2020
Notenbank Leitzinsen Wertpapierkäufe Sonstiges
Bank of Japan Seit Februar 2016 liegt die „Interest
Rate Applied to the Complementary
Deposit Facility“ bei -0,1 %.
Am 16. März 2020 wurden die jährlichen Wert-
papierkäufe teilweise angepasst: Umgerechnet
rund 100 Mrd. Euro an Aktien-ETFs, etwa
30 Mrd. Euro an Corporate Bonds und Staats-
anleihen im Wert von mehr als 600 Mrd. Euro
sollen jedes Jahr gekauft werden – schon heute
hält die Bank of japan etwa 4 Billionen Euro an
japanischen Staatspapieren.
Als weiteres Element ihrer Geld-
politik greift die Bank of Japan auf
die „Yield Curve Control“ zurück.
Sie kontrolliert die Zinskurve und
hält das Renditeniveau 10-jähriger
japanischer Staatsanleihen bei 0 %.
Bank of England
Die „Bank Rate“ wurde mit
Beschluss vom 19. März 2020
auf das rekordtiefe Niveau von
0,1 % abgesenkt.
Der Wertpapierbestand von 445 Mrd. GBP wird
gemäß Notenbankentscheid vom 19. März
überwiegend mit Staatsanleihen um weitere
200 Mrd. GBP aufgestockt. Das Portfolio in Höhe
von 645 Mrd. GBP entspricht rund 30 Prozent
des Bruttoinlandsprodukts, das das Vereinigte
Königreich in 2019 erwirtschafte.
Daneben wird dem Bankensystem
massiv Liquidität in Form eines
neu aufgelegten „Term Funding
Scheme“ bereitgestellt. Über dieses
können sich Banken für einen
Vierjahreszeitraum günstig Liquidi-
tät sichern, die etwa in Höhe
der „Bank Rate“ verzinst wird.
Europäische Zentralbank
Seit März 2016 liegt der Haupt-
refinanzierungssatz bei 0,00 %.
Die Einlagefazilität wurde
im September 2019 auf -0,5 %
reduziert.
Das „Pandemic Emergency Purchase Programme“
mit einem Volumen von 750 Mrd. Euro wird
günstige Refinanzierungskonditionen für Europas
Staaten sicherstellen. Inklusive weiterer Program-
me will die EZB im Jahr 2020 Wertpapiere
im Gegenwert von über 1 Billion Euro kaufen.
Dank „TLTRO III“ können sich
Europas Banken für einen Drei-
jahreszeitraum zu Negativzinsen
zwischen -0,25 % und -0,75 %
refinanzieren. Die mögliche
Gesamtkreditaufnahme im
Rahmen des Programms beträgt
3 Billionen Euro.
Federal Reserve
Die „Federal Funds Target Rate“
wurde im März um insgesamt
150 Basispunkte auf 0,00 % bis
0,25 % abgesenkt.
Am 15. März 2020 kündigte die US-Notenbank
umfangreiche Wertpapierkäufe in Höhe von
700 Mrd. US-Dollar in den kommenden Monaten
an. Nur acht Tage später billigte man quasi
„unbegrenzte“ Käufe von US-Staatsanleihen sowie
von hypothekenbesicherten Wertpapieren
(MBS). In den drei Wochen bis zum 1. April wurde
der Bestand an US-Staatsanleihen und MBS
bereits um 838 bzw. 86 Mrd. US-Dollar aufgestockt.
Mit Programmen wie der „Com-
mercial Paper Funding Facility“,
„Primary Credit Dealer Facility“
und „Money Market Mutual Fund
Liquidity Facility“ begegnet die
Fed möglichen Liquiditätseng-
pässen an den Finanzmärkten.
16
Kapitalmarktbericht 1. Quartal 2020
AUSBLICK
Der Trend vom stationären zum Onlinehandel erhält einen weiteren Schub,
nachdem viele Menschen diese Einkaufsform erstmals oder intensiver als
früher nutzen. Der stationäre Einzelhandel verliert weiter an Boden, Insolven-
zen werden durch Rettungskredite oft nur aufgeschoben. Das Mietniveau
von Geschäftsimmobilien geht zurück. Auch das Freizeitverhalten wird
verstärkt online stattfinden. Weniger Massenveranstaltungen, mehr
Online-Gaming. Die „Shared Economy“ wird gebremst. Wer in ein fremdes
Auto einsteigt, fragt sich, ob ein Virus mitfährt.
Möglicherweise werden wir zukünftig sogar eine neue Trennlinie durch
die Geschichte ziehen. So wie wir es seit über 70 Jahren mit der Vor- und
Nachkriegszeit handhaben, könnte es dann eine Zeit „vor Corona bzw. 2020“
und „nach Corona“ geben. Sicher ist, dass die durch die Corona-Pandemie
ausgelösten Ereignisse noch lange nachwirken werden.
Die Welt danach wird nicht mehr die alte sein.
Konsum/Einzelhandel
Die Welt nach der Corona-Krise
Das Jahr 2020 wird einen besonderen Platz in den Geschichtsbüchern
einnehmen. Die in Friedenszeiten einmaligen Absagen sportlicher Groß-
veranstaltungen wie der Olympischen Spiele, der Fußball-Europameister-
schaft und des Tennisturniers von Wimbledon werden als weiße Flecken
in der Sportgeschichte zurückbleiben. Nationale Notstände und die Auf-
hebung der parlamentarischen Demokratie in einem EU-Land wie Ungarn,
die Wiedereinführung von Grenzkontrollen im Schengenraum, weitrei-
chende Einreiseverbote vieler Staaten auf der Welt, vor allem aber die bis
dato in westlichen Demokratien undenkbaren Einschränkungen der per-
sönlichen Freiheit werden noch in Jahrzehnten eng mit dem Jahr 2020
verbunden sein.
17
Kapitalmarktbericht 1. Quartal 2020
AUSBLICK
Der in vielen Ländern bereits weit fortgeschrittene Trend zum bargeldlosen
Zahlen dürfte sich durch den zunehmenden Online-Konsum und die
hygienischen Vorteile des kontaktlosen Zahlens (ohne Eingabe eines PINs)
nun auch in Deutschland beschleunigen.
Die Menschen werden ihre Intensität zu reisen und die Art, ihren Urlaub zu
verbringen, überdenken. So wie die Anschläge des 11. September ein-
schneidende Sicherheitskontrollen zur Selbstverständlichkeit gemacht
haben, werden wir uns daran gewöhnen, vor dem Betreten eines Kreuz-
fahrtschiffes die Temperatur messen und ggf. einen Abstrich machen zu
lassen. Statt eng gedrängt mit Fremden im Flugzeug sitzen wir lieber im
Kreis unserer Familie oder allein im Auto. Das Risiko, im Ausland festzusitzen,
weil irgendwo ein Virus auftaucht und die Grenzen zugemacht werden,
schwingt unterschwellig mit. Die Ströme chinesischer Touristen fließen
dünner, die europäischer Besucher in China auch. Nicht nur aus Angst
vor Viren, sondern auch vor einem drakonischen Überwachungsstaat, der
Menschen mit erhöhter Temperatur einfach in Quarantäne steckt.
Das Homeoffice mag sich für manche als Himmel auf Erden erwiesen haben.
Für andere wiederum als Ort der sozialen Vereinsamung und mangelnder
Produktivität. Wir haben gelernt, dass es auch von zu Hause geht, aber auch,
dass einem die Decke auf den Kopf fallen kann und dass das Homeoffice
kein Ersatz für die kommunikative Atmosphäre eines Büros ist. Dennoch wird
das Heim als Zweitarbeitsplatz an Gewicht gewinnen.
Die Corona-Krise hat uns gelehrt, was wir unbedingt brauchen und was
nicht. Viele Geschäftsreisen sind überflüssig, oft geht es auch per Video-
konferenz. Das Internet ist noch wichtiger als Klopapier. Die digitale Infra-
struktur wird aufgerüstet, wahrscheinlich verfügt Deutschland schon in
einigen Jahren über ein funklochfreies, schnelles Mobilfunknetz. Unterneh-
men werden ihre digitale Infrastruktur als strategisches Asset sehen und
Investitionen in diesen Bereich verstärken.
Die Krise hat Menschen ihre Verletzlichkeit vor Augen geführt. Ohne eine eiser-
ne Reserve kann man von heute auf morgen auf dem Trockenen sitzen. Dies dürf-
te zunächst zu Zurückhaltung bei der Anschaffung nicht unbedingt benötigter
langlebiger Wirtschaftsgüter (neues Auto) führen. Dies gilt auch für Unterneh-
men, deren Lenker die Erfahrung machen mussten, dass man eine Durststrecke
nur dann überwinden kann, wenn das Unternehmen über genügend Substanz
und Liquidität verfügt und nicht unter einem hohen Schuldenberg ächzt.
Bargeld und
kontaktloses Bezahlen
Tourismus
Arbeitsplatz
Digitalisierung
Ersparnisse
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Kapitalmarktbericht 1. Quartal 2020
AUSBLICK
Die existentiellen Sorgen vieler Kleinunternehmer in der aktuellen Krise
sind allen, die mit dem Weg in die Selbstständigkeit liebäugeln, eine
Warnung. Beamte müssen sich auch in Wirtschaftskrisen keine Sorgen
über ihr Gehalt machen, selbst wenn sie während eines „Shutdowns“
gar nicht arbeiten können. Ein sicherer Job bei Vater Staat wird für viele
junge Menschen attraktiver.
Man wäscht sich öfter die Hände und scheut den Löffel am Buffet.
Begrüßungsgesten fallen distanzierter aus. Umarmungen werden auf
den engsten Freundeskreis beschränkt und große Menschenansammlun-
gen vermieden.
Im Kampf gegen den Terrorismus sind Überwachungskameras so selbst-
verständlich wie Straßenlaternen geworden. Das gleiche könnte für das
Tracken von Handys und die Gesichtserkennung gelten, wenn der Gesund-
heitsschutz als Motiv dient.
Die Corona-Krise wird die Konflikte zwischen den beiden Weltmächten
USA und China eher verschärfen als beilegen.
Die mittelbaren Kosten der Pandemie bürden der jüngeren Generation
eine enorme Schuldenlast auf. In Verbindung mit dem demographischen
Wandel wird dies zu weiter steigenden demotivierenden Abgaben- und
Steuerbelastungen führen. Warum reinklotzen, wenn unterm Strich kaum
noch etwas übrigbleibt?
Die Umverteilung nimmt zu. Deutlich höhere Steuern auf Einkommen und
Vermögen sind ein politischer Reflex auf die Gefährdung des Wohlstands brei-
ter Bevölkerungsschichten. Unternehmer, die durch die Corona-Krise bereits
gelitten haben, dürfen kaum mit Nachsicht rechnen. Das gilt auch für Immo-
bilienbesitzer, deren Eigentumsrechte weiter eingeschränkt werden könnten.
Die Staaten werden versuchen, überlebenswichtige und strategische Güter
vermehrt im Inland zu produzieren, um die Abhängigkeit von grenzüber-
schreitenden Lieferketten und einzelnen Staaten zu vermindern. Die globale
Arbeitsteilung wird in einigen Bereichen zurückgedreht. Der Staat wird
seinen Einfluss auf die Wirtschaft, insbesondere auf strategisch wichtige
Branchen und Unternehmen, ausdehnen. Der globale Kampf um Atem-
schutzmasken ist ein trauriges Beispiel.
Risikofreudigkeit
Hygiene
Kontakte
Datenschutz/Überwachung
Geopolitik
Generationenkonflikt
Sozialpolitik
Wirtschaftspolitik
19
Kapitalmarktbericht 1. Quartal 2020
AUSBLICK
Spätestens jetzt ist es amtlich: Die Zentralbanken sind für immer dazu
verdammt, die Zinsen tief zu halten. Nur so lässt sich die Schuldenlast der
Staaten erträglich halten. Die Notenbanken werden als Retter und
Investoren der letzten Instanz gezwungen, alles zu tun, um einen Kollaps
des Finanzsystems zu vermeiden. Damit etabliert sich der Moral Hazard
als fester Bestandteil der Finanzmärkte.
Die Inflation kehrt zurück. Die Liquiditätsschwemme der Fiskal- und Geld-
politik trifft auf durch die Wirtschaftskrise geschrumpfte Kapazitäten.
Die Rückverlagerung von Produktionskapazitäten aus dem Ausland kehrt
die Kostenvorteile der Globalisierung teilweise um und erhöht die
Produktionskosten der betroffenen Güter. Dies könnte mittelfristig zu
steigenden Konsumentenpreisen führen.
Wir lernen gerade, was wirklich wichtig ist im Leben. Familie, Freunde,
Gesundheit, ein Dach über dem Kopf, ein wertgeschätzter Job, die
Versorgung mit allem Lebensnotwendigen und der Schutz unserer
Umwelt. Der Shutdown hat dem Klima eine Atempause verschafft.
Er verdeutlicht aber auch, dass es ohne prosperierende Wirtschaft nicht
geht und Klima- und Umweltziele nur durch Innovationen und neue
Technologien erreicht werden können.
Diese Auflistung ist weder vollständig noch wird sie punktgenau eintreffen.
Als ziemlich sicher dürfen ein erhöhter Staatseinfluss (und Staatsschulden),
mehr Regulierung und eine größere Risikoaversion erwartet werden. Aber
es gibt auch Chancen. So gewinnt z.B. die Digitalisierung endlich die ihr
gebührende Bedeutung und könnte einen neuen Wachstumsschub auslö-
sen. Sie erhöht die Effizienz, trägt zum Klimaschutz bei und eröffnet neue
Chancen für Unternehmen und Menschen. Auch andere Sektoren, wie
Diagnostik, Medizintechnologie und Pharmazeutik, dürften profitieren.
Geldpolitik
Inflation
Prioritäten
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Kapitalmarktbericht 1. Quartal 2020
Als wir vor zwanzig Jahren erstmals von einem Kunden mit der Strukturierung
und Verwaltung eines großen Vermögens beauftragt wurden, spürten wir eine
große Verantwortung, die weit über das hinausging, was wir bis dato mit dem
Begriff Vermögensverwaltung verbunden hatten. Uns wurde klar, dass es
hier nicht nur um das Managen eines Portfolios ging, mit dem banalen Ziel,
einen Index zu übertreffen, sondern dass die Aufgabe im wahrsten Sinne des
Wortes existenzieller Natur war.
Das Studium historisch einschneidender Phasen der Wirtschafts- und Börsen-
geschichte und der damit verbundenen Pleiten, Crashs und Pannen hatte
uns geholfen, den eigenen Erfahrungsschatz, der soeben durch das Platzen
des Technologiebooms erweitert wurde, zu bereichern. Insofern hatte
die Erkenntnis, dass der erste Blick immer den Risiken gelten sollte, auch
etwas Zeitgenössisches.
Wenn man aber nur auf die Risiken schaut, lässt sich kein Vermögen erhalten,
geschweige denn vermehren, schon gar nicht unter Berücksichtigung
von Steuern und Inflation. Wenn man vor lauter Angst keinen Mut hat zu
investieren, begibt man sich in eine gefährliche Sackgasse, an deren Ende
ein noch größerer Verlust stehen kann. Diese Erfahrung haben uns die
Zeiten hoher Inflation gelehrt, als Millionen von Menschen den Wert ihrer
Ersparnisse dahinschmelzen sahen. So wurde das Abwägen von Chancen
und Risiken zu einem Mantra unserer Anlagephilosophie, das unsere Arbeits-
weise bis heute prägt.
Für klassische Portfoliomanager, die den Erfolg ihres Handelns durch einen
Vergleich mit einem bestimmten Börsenindex messen, ist dies eine unge-
wohnte Sichtweise. „Risikolose“ Anlagen wie Geldmarktfonds oder Kontogut-
haben können langfristig sehr wohl riskant sein; risikoreiche Anlagen wie
Aktien langfristig durchaus „sicher“. Es kommt darauf an, wie umfassend man
den Risikobegriff definiert. Die Portfoliotheorie macht es sich da einfach.
Anlagen, deren Preishistorie Schwankungen aufweist, gelten als riskant: Je mehr
ANLAGESTRATEGIE
„Den Sieg kann erwarten, wer alles gut vorbereitet – das nennen die Leute Glück. Eine sichere Niederlage steht dem bevor, der es versäumt, die nötigen Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen, das nennen die Leute Pech.“Roald Amundsen
Wenn man vor lauter Angst keinen
Mut hat zu investieren, könnte
am Ende ein noch größerer Verlust
stehen.
21
Kapitalmarktbericht 1. Quartal 2020
ANLAGESTRATEGIE
die Kurse in der Vergangenheit geschwankt haben, als umso riskanter gilt die
Anlage. Anlagen, deren Preise nicht geschwankt haben, gelten dagegen als
sicher. Diese Risikointerpretation hat dem US-Ökonomen Harry Markowitz 1990
den Nobelpreis eingebracht und Millionen Menschen ein Vermögen gekostet.
Die Corona-Krise lehrt uns, dass Anlagen mit einer sicheren Vergangenheit
durchaus eine unsichere Zukunft haben können. Die aus portfoliotheoretischer
Sicht nahezu unmöglichen Wertverluste vieler Anlagen wurden in den ver-
gangenen Wochen bittere Realität. Viele nur in der Theorie funktionierende
Wertsicherungskonzepte haben Mitte März, als die Verluste an den Aktien-
märkten bereits über dreißig Prozent betrugen, Aktien verkauft. Betroffen sind
laut WirtschaftsWoche auch hunderttausende Riester-Sparpläne, die nun
nur noch in Anleihen investiert sind und damit die Verluste weitgehend fest-
geschrieben haben. Auch sogenannte Roboadvisor, die das Geld ihrer Kunden
vollautomatisiert anlegen, handelten ähnlich prozyklisch. Wer die Verantwor-
tung für das Vermögen Dritter übernimmt, darf sich nicht hinter (pseudo-)
wissenschaftlichen Methoden verstecken, sondern muss Risiken und Chancen
mit der Umsicht eines Kaufmanns abwägen. Die Frage lautet: Was kann schief
gehen, und wie kann ich das Vermögen vor nachhaltigen Verlusten schützen,
ohne damit die langfristigen Ertragspotenziale aufs Spiel zu setzen?
Auch Vermögen haben ein Immunsystem
So wie Menschen verfügen auch Vermögen bzw. Wertpapierportfolios über
ein Immunsystem, das ihnen Widerstandskraft gegen exogene Schocks, die
aus heiterem Himmel kommen, verleiht. Was zeichnet ein gutes Immunsystem
aus? Das Portfolio sollte klug diversifiziert sein, die einzelnen Titel sollten
ein attraktives Verhältnis von Qualität und Wert aufweisen und liquide genug
sein, um genügend Handlungsspielraum zu gewähren. Unter Qualität ver-
stehen wir die Höhe und Sicherheit der zukünftigen Zahlungsströme und die
Substanz (Solvenz) der Anlage. Der Wert bemisst, wie viel davon noch nicht
im Preis enthalten ist.
Die vergangenen Wochen waren für viele Anlagen ein extremer Qualitätstest.
Selbst vermeintlich sichere Geschäftsmodelle wurden durch den Corona-
Shutdown infrage gestellt, zahlreiche Dividendenausschüttungen, aber auch
Mietzahlungen, wurden gestrichen. Eine Delle im Geschäftsverlauf der Unter-
nehmen kann, einem unangenehmen Schnupfen ähnlich, temporärer Natur
sein. Handelt es sich aber um dauerhafte Werteinbußen, die durch die Corona-
Krise ausgelöst oder beschleunigt worden sind, so liegt der Vergleich mit einem
schweren viralen Infekt nahe, der langfristige Folgen für die Gesundheit bzw.
den Wert der Anlage hat.
Viele in der Theorie funktionierende
Wertsicherungskonzepte haben
sich in der Praxis als wertlos erwiesen.
Kluge Diversifikation, ein attraktives
Verhältnis von Qualität und Wert
und eine hinreichende Liquidität
definieren das Immunsystem
eines Portfolios.
22
Kapitalmarktbericht 1. Quartal 2020
ANLAGESTRATEGIE
Wenn man also Aktien oder Anleihen von Unterneh-
men aus weniger resistenten Branchen wie Airlines,
Banken, Touristik, Maschinenbau oder Stahlerzeugung
im Portfolio hält, sollten diese aufgrund ihrer geringen
Widerstandskraft gegen exogene Schocks eine entspre-
chend geringe Dosierung aufweisen. Das gleiche gilt
selbstverständlich auch für Immobilien oder Leasing-
objekte solcher Mieter.
Die Bilanzqualität ist in einer tiefen Rezession von beson-
derer Bedeutung. Selbst Unternehmen mit einem lang-
fristig intakten Geschäftsmodell droht bei zu hoher Schul-
denlast das Aus oder eine Zwangsrekapitalisierung, die
die Altaktionäre weitgehend enteignet. Auch Inhaber von
Anleihen oder Schuldscheinen, die ausschließlich den
Bonitätsnoten der einschlägigen Ratingagenturen ver-
trauen, könnten im Zuge der Corona-Krise noch Über-
raschungen erleben, die mit den Erfahrungen der Finanz-
krise 2008/2009 vergleichbar sind. Diesmal sind es aber
keine verpackten Hypothekenanleihen, sondern verpack-
te Unternehmenskredite, sogenannte CLOs. Wir hatten
die hier schlummernden Risiken bereits im Bericht zum
3. Quartal 2019 beschrieben. Analog zur Finanzkrise
bedarf es zunächst einer Bereinigung des Marktes von
solchen Produkten und bereits vor der Krise schwä-
chelnden Zombieunternehmen, die sich nur dank zins-
loser Kredite über Wasser halten konnten, bis die Erho-
lung einsetzen kann.
In den kommenden Monaten werden die Anleger noch
zahlreiche Wechselbäder der Gefühle erleben, die Hoff-
nungen auf ein baldiges Ende der Krise wecken und Ängste
vor einem weiteren Absturz schüren. Es ist unwahr-
scheinlich, dass sich die Gemengelage schon in einigen
Tagen oder Wochen auflöst und wir zu „Business as
usual“ übergehen werden. Deshalb erscheint es uns sinn-
voll, die im Februar aufgebauten Teilabsicherungen
noch eine Weile beizubehalten. Erneute Kursrückschläge
werden wir nutzen, um Aktien von Unternehmen auf-
zustocken, die aufgrund eines guten Immunsystems nach
der Krise wieder auf ihren Wachstumspfad zurückkehren
können und schließlich besser dastehen als vorher.
Corona-Krise beschleunigt und verstärkt
Finanzrepression
Wir hatten bereits vor der Corona-Krise die beginnenden
zwanziger Jahre als Dekade der Finanzrepression be-
zeichnet. Nun wird diese Entwicklung noch schneller und
ausgeprägter ausfallen als gedacht. Die explodierenden
Staatsschulden müssen dauerhaft von den Notenbanken
finanziert werden. Die Fed und die EZB gehen bereits
„All in“. Schrumpfende Kapazitäten und höhere Beschaf-
fungspreise und Produktionskosten dürften schon bald
zu einem Comeback der Inflation führen. Nullzins minus
ein paar Prozent Inflation ergibt negative Realzinsen,
die Inhaber von Staatsanleihen und Sparguthaben schnel-
ler enteignen werden, als dies zu Beginn des Jahres noch
absehbar war.
Finanzrepression bedeutet aber auch höhere Steuern
und wachsender Staatseinfluss. Die Anlageklasse,
die hiervon am stärksten betroffen sein wird, sind Immo-
bilien. Aktien könnten unter höheren Unternehmens-
steuern und staatlicher Regulierung der Unternehmen
leiden. Allerdings werden die Länder Sorge tragen,
dass sie auch zukünftig als Standort attraktiv sind. Bei
der Auswahl von Unternehmen steht die Zukunfts-
fähigkeit der Geschäftsmodelle (die Welt nach der Corona-
Krise), die Solidität der Bilanzen und die Qualität des
Managements im Vordergrund. Wir nutzen die Krise, um
mit den CEOs vieler Portfoliounternehmen zu sprechen
(derzeit überwiegend per Telefon oder Videokonferenz),
um dabei auch etwas über ihre Lehren aus der Krise zu
erfahren.
Auch wenn die Turbulenzen an den Märkten noch nicht
vorbei sein dürften, sind Aktien die wichtigste Anlage-
klasse zur Immunisierung eines Vermögens gegen Finanz-
repression, gefolgt von Gold. Selbst Unternehmens-
anleihen bieten nach den starken Kursverlusten nun
wieder Chancen auf überdurchschnittliche Renditen,
sofern man sie nicht bis zur Endfälligkeit hält.
23
Kapitalmarktbericht 1. Quartal 2020
Die Corona-Krise hat nicht nur gezeigt, wie wichtig ein gutes menschliches
Immunsystem ist, sondern auch die Bedeutung einer hohen Widerstands-
kraft eines Vermögens bzw. einzelner Vermögenswerte gegen unerwartete
exogene Schocks veranschaulicht.
Aktien und Anleihen von Unternehmen, die aufgrund eines stabilen
Geschäftsmodells und einer soliden Bilanz stark genug sind, auch extreme
Beeinträchtigungen des Wirtschaftslebens ohne nachhaltigen Schaden
zu überstehen, mögen zwar temporäre Kursverluste erleiden, kehren nach
der Krise aber wieder auf ihr altes Niveau zurück. Natürlich kann es in
Extremsituationen wie einem Shutdown zu einzelnen negativen Über-
raschungen kommen, die aber durch eine kluge Diversifikation ausgebügelt
werden. Wer dagegen alle Eier in einen Korb legt – wie es z.B. viele Immo-
bilienanleger tun – kann sich nicht darauf berufen, einfach nur Pech gehabt
zu haben. Das gleiche gilt für opake Anlageprodukte, deren Risiken geschickt
kaschiert wurden und sich erst in einer Krise zeigen.
Die Zeit nach der Corona-Krise wird die geringe Widerstandskraft vieler bis-
lang als sicher verstandener Anlagen offenbaren. Staatsanleihen, Konto- und
Sparguthaben werden in der nun vor uns liegenden Ära der Finanzrepression
langsam, aber sicher, ihre Kaufkraft verlieren. Es wäre daher verheerend, wenn
Anleger die derzeitige Krise zum Anlass nähmen, sich endgültig von Substanz-
anlagen wie Aktien zu trennen und sich schutzlos dem Inflationsvirus aus-
zusetzen. Eine Kombination aus kluger Diversifikation und qualitativ hochwer-
tigen Anlagen ist langfristig die erfolgversprechendste Strategie. Das würde
auch Roald Amundsen heute so sehen.
Dr. Bert Flossbach Köln, den 6. April 2020
FAZIT
23
Kapitalmarktbericht 1. Quartal 2020
24
Kapitalmarktbericht 1. Quartal 2020
IMPRESSUM
Herausgeber Flossbach von Storch AG, Ottoplatz 1, 50679 Köln
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Umsatzsteuer-ID DE 200 075 205
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Zuständige Aufsichtsbehörde Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht
Marie-Curie-Straße 24 – 28, 60439 Frankfurt, Deutschland
Graurheindorfer Straße 108, 53117 Bonn, Deutschland
www.bafin.de
Redaktion Dr. Bert Flossbach, Thomas Lehr, Julian Marx,
Christian Panster, Tobias Schafföner, Philipp Vorndran
Redaktionsschluss 6. April 2020
Visuelle Konzeption Heller & C und Markus Taubeneck
Druck Druckerei Gebrüder Kopp
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Die historische Wertentwicklung ist kein verlässlicher Indikator für die künftige
Wertentwicklung.
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