MONTAG, 5. OKTOBER 2009 Land zwischen Aufbruch und Verfall · Hotels gibt es in fast allen...

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Land zwischen Aufbruch und VerfallALBANIEN

Über Jahrzehnte hinweg war das kommunistische Albanien von der Welt so isoliert

wie Nordkorea. Auch lange nach dem Ende der Diktatur ist der Mittelmeerstaat für

die meisten Urlauber immer noch Terra incognita und gilt als rückständiges und gefährliches

Reiseland. Doch diese Ängste sind inzwischen unbegründet.

«Albanien ist seit einigen Jahren si-cher.» Klajd Kruja zerstreut die Be-denken: «In Tirana kann man seinAuto offen stehen lassen. Diebstäh-le sind selten», sagt der Reiseführer,der seit Jahren Touristen begleitet.GastfreundschaftgehörezudenTu-gendenderAlbaner:«Wirsindherz-lich und freundlich», sagt der jungeMann, der in Heidelberg Pädagogikstudiert hat.

KrujasiehtsichalsNachfahrederindoeuropäischenVolksgruppe derIllyrer, die etwa 700 vor Christus dasheutige Albanien besiedelten: «Wirsind Europas Aborigines mit einerJahrtausende alten Kultur», erzählter voller Stolz.

Bären,Wölfe, Luchse

Neben zahlreichen historischenSchätzen bietet seine Heimat spek-takuläre Natur mit langen Sand-stränden, einsamen Buchten, Seenund dichten Nadelwäldern, durchdie Bären, Wölfe und Luchse strei-fen. Täler mit abgelegenen Dörferndurchschneiden Gebirge mit bis zu2800 Meter hohen Gipfeln.

Gross ist der Kontrast zwischender einsamen Bergregion und derquirligen Hauptstadt Tirana mit ih-ren zahllosen Baustellen und demchaotischen Verkehr. Noch erin-nern marode Plattenbauten an diekommunistische Schreckensherr-schaft. Um Farbe in die Tristesse zubringen, hat der junge Bürgermeis-ter und Künstler Edi Rama einigeder grauen Fassaden poppig anma-len lassen.

ZehntausendevonAlbanernsol-len unter dem 1985 verstorbenenroten Diktator Enver Hoxha umsLeben gekommen sein. «Nur PolPot war schlimmer», glaubt Klajd.Sein Onkel wurde zu 20 Jahren Haftverurteilt, weil er aus seiner Heimatzu fliehen versuchte. «Hoxha hieltsein Volk gefangen.» AndererseitsverwehrtedasRegimeTouristendieEinreise in das «Arbeiter- und Bau-ern-Paradies». Heute sind Auslän-der jedoch gern gesehen.

Tourismus wird immer wichtiger

In Dhermi am Ionischen Meerklatscht eine alte Frau freudig in dieHände,alsTouristenanihremHausvorbeiwandern, und reicht eineneilig gepflückten Blumenstraussüber den Zaun. Das gepflegte Dorfunterhalb des Logara-Passes liegtan einem der schönsten Abschnitteder «albanischen Riviera». Es gibteinige Pensionen und einfache Ho-tels inmitten von Pinienhainen. EinDoppelzimmer ist für etwa 20 EuroamTagzuhaben,auchdasEssenistpreiswert wie überall in Albanien.

Der Tourismus spielt wirtschaft-lich eine immer grössere Rolle, seitsich die politische und wirtschaftli-che Lage in den letzten Jahren sta-bilisiert hat. Die Tendenz ist stei-gend. Entlang der Küste gibt es be-reitseinigeBausünden,wiemansievon Spanien und der Türkei kennt.In den Städten Durres, Vlora undSaranda reihen sich neue Hotelsund Apartmenthäuser aneinander.Auch immer mehr Ausländer kau-fen sich hier inzwischen ein.

Noch weitgehend unverbaut

Noch ist die rund 400 Kilometerlange Küste aber weitgehend un-verbaut. Abgesehen von den Bun-kern aus der Zeit Hoxhas. Rund700000 dieser halbkugelförmigenBetonpilze liess er nach dem Aus-trittAlbaniensausdemWarschauerPakt1961bauen.«Erwarparanoid»,glaubt Klajd.

In der sehr prüden kommunisti-schen Zeit nutzten junge Paare dieUnterstände als Liebesnester. Jetztdienen sie Bauern als Lagerraumfür Tierfutter und Geräte. Die äus-serst stabilen Bauwerke zu beseiti-gen, käme viel zu teuer. «In einigen

Tausend Jahren werden sie Archäo-logen Rätsel aufgeben», scherztKlajd. Neben den Bunkern sind dieantiken Monumente die meistfoto-grafierten Motive in Albanien. Bis-her ist nur ein kleiner Teil der Alter-tümer entdeckt. «Nur 15 bis 20 Pro-zent sind freigelegt; ganze Städteliegen noch unter der Erde begra-ben», sagt Klajd.

Bedeutende Ausgrabungen

Zu den bedeutendsten Ausgra-bungsstätten gehören Apollonia,wo einst Philosophen lehrten undder spätere römische Kaiser Augus-tus studierte, sowie das paradie-sischineinemNationalparkgelege-ne Butrint nahe der Meerenge vonKorfu. Auf einer Halbinsel inmitteneines klaren Sees finden sich Rui-nen aus griechischer, römischer,venezianischer und türkischer Zeit.

Butrint wurde von der UnescozumWeltkulturerbe erklärt, ebensodievonBergenumgebeneStadtGji-rokaster nahe der griechischenGrenze.Viele der mächtigen, mehr-stöckigen Häuser aus osmanischerZeit sind in einem erbärmlichenZustand; doch inzwischen wird ei-niges getan, um die wunderschö-nen Gebäude mit ihren Erkern undHolzverzierungen zu restaurieren.Perfekterhaltenistdagegendashis-torischeZentrumvonBeratmitsei-nenkopfsteingepflastertenGassen,malerischen Häusern und über-hängenden Balkonen. Berat gilt alsschönste Stadt Albaniens.

Dörfer verwaisen

Bis zur Wende nähten in BeratTausende von Arbeiterinnen Un-terwäsche.Anfangder1990er-Jahremusste das Kombinat schliessen,wie viele andere auch. Auf der Su-che nach Arbeit sollen seither rundeine Million Albaner ihre Heimatverlassen haben. In den Bergregio-nen verwaisen immer mehr Ort-schaften. «Ganze Dörfer kann manfür 15000 Euro kaufen», berichtetKlajd. In verlassenen Häusern nis-ten sich manchmal Wölfe ein. ImWinter kommen sie sogar hinab inStädte wie Gjirokaster, angezogenvom Müll, der wild entsorgt wird.

Im Bergdorf Shtpcke lebten frü-her 200 Familien. Jetzt sind es nochvier, darunter Bauer Mika, seineFrau Schen und Tochter Marinela.Siefreuensich,wennWandererRastindemDorfeinlegen.Dannserviertdie Familie mit Brennnesseln ge-füllte Blätterteigtaschen, dazu gibtes selbst gebrannten Rakischnaps.

Sorgen macht sich Mika über diesteigende Zahl der Bären. «Es gibtzu viele. Sie fressen alles weg», klagter. Früher wurden die Tiere von Jä-gern der Kolchose abgeschossen.Dochjetztvermehrensiesichunge-hindert und fallen über Mais, Ge-treide, Obst und Honig her. «Neu-lich lief ein Bär am helllichten Tagdurchs Dorf an unserem Hund vor-bei», berichtet Mika. Auch auf denWanderwegen rings um das DorfhinterlassenherumziehendeBärendicke Kothaufen.

Und wieder fällt der Strom aus

Im einige Kilometer entferntenHotel Akademia schlagen amAbend die Wachhunde an. Viel-leicht haben sie einen Bären gewit-tert, der um das einsam in einemWald gelegene Anwesen schleicht.Wieder einmal ist in dem auf 1200Meter gelegenen Hotel der Stromausgefallen.

Das kommt selbst in der Haupt-stadtTirana noch vor. Auch die Hei-zung funktioniert an diesem kaltenSpätsommerabend nicht. Die Tou-risten nehmen es gelassen. Dickeingemummelt versammeln siesichumdenknisterndenKamindesRestaurants. Auch ReiseführerKlajd kann der Situation etwas Po-sitives abgewinnen: «Das stärkt dasZusammengehörigkeitsgefühl.»

U L R I C H W I L L E N B E R G

Viele Buchten lassen sich nur zu Fuss erreichen: Wanderweg an der albanischen Riviera.

Dhermi gehört zu den schönsten Dörfern.

Allgemeine Informationenwww.albaniantourism.comwww.albaniatourism.com

An- und EinreiseFlüge ab Zürich nach Tirana: Luft-hansaviaMünchen,AustrianAirlinesvia Wien, Adria Airways via Ljub-liana.Gültiger Reisepass für einen Auf-enthalt von bis zu einem Monat.Einreisegebühr zehn Euro.

SpracheMeist sprechen nur die jüngerenAlbaner Englisch oder Deutsch. Vorallem ausserhalb Tiranas ist eineVerständigung deshalb schwierig.

UnterbringungHotels gibt es in fast allen Landes-teilen. Die nordalbanischen Alpensind touristisch wenig erschlossen.Die Hotelzimmer sind zumeist ein-fach und sauber. Ein Doppelzimmerkostet ab 20 Euro, Privatunterkünftebei Familien weniger als 10 Euro.In Tirana liegen die Hotelpreise weithöher. Am schönsten ist das HotelRogner Europark im Stadtzentrum.(Doppelzimmer ab 250 Euro.)

Klima und ReisezeitIn den Küstenregionen mediterra-nes Klima mit milden, feuchten Win-tern. Die Sommer sind heiss undtrocken. Im Gebirge im Winter hef-tige Niederschläge, teils Schnee.Ideale Reisezeit: Frühjahr bis Herbst.Im Juli und August die grösserenKüstenorte meiden.

VerkehrDas Strassennetz wird stetig aus-gebaut, aber es gibt immer nochviele sehr schlechte Strecken. ZudempflegenAlbanereineriskantenFahr-stil, und auf den Landstrassen sindEselkarren und Pferdefuhrwerkeunterwegs. Busse verkehren im gan-zen Land und sind sehr billig.

LiteraturRenate Ndarurinze: «Albanien ent-decken», Trescher-Verlag.Lonely Planet: «Western Balkans».

ALBANIEN

Ein malerisches Bergdorf oberhalb der albanischen Riviera.

26 REISEN MONTAG, 5. OKTOBER 2009

BILDER: ULRICH WILLENBERG

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