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Scharfe Gewalt und Identifizierung

Anne PortÄrztinUniversitätsmedizin RostockInstitut für RechtsmedizinDirektor: Prof. Dr. med. A. BüttnerRostock, 20.11.2015

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Rechtsmedizin – Wintersemester 2015/2016Art der Prüfung/ Prüfungstermin:MC-Klausur, Frühjahr 2016 (Sommersemester)

Zulassungsvoraussetzungen für die KLAUSUR AM 29.04.2016:

• Teilnahme an der Hauptvorlesung (Wintersemester)

• Teilnahme an den 3 Seminaren im SommersemesteràAm 08.04.2016 und 15.04.2016 und 22.04.2016

• Leichenschaukurs im Krematorium (Sommersemester)

à Veranstaltungen im Sommersemester mittels Laufzettel bestätigen lassen - Ausgabe beim 1. Seminar, bitte nicht vorher ausdrucken!

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Literaturempfehlung

àWolfgang Keil: BASICS RechtsmedizinUrban & Fischer 2009ISBN: 978-3-437-41391-9 (ca. 19,99 €)

à ergänzend Vorlesungsskripte ab 2016 zum Download auf der Homepage des Institutes für Rechtsmedizin(Kein Anspruch auf Vollständigkeit!)

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Wichtiger Hinweis

Es ist nicht gestattet, während der Vorlesung zu fotografieren oder zu filmen!

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Fall der Woche

Anmeldung zur Obduktion durch den zuständigen Staatsanwalt

• 50-jährige Frau von der Tochter tot zu Hause aufgefunden

• massive Schnittverletzungen in verschiedenen Körperregionen

• bekannter Alkohol- und Tilidinabusus, finanzielle Probleme

• Zweck der Obduktion: à Todesursache?àSuizid DD Fremdbeibringungà Toxikologie (Handlungsfähigkeit etc.)

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Fall der Woche

Vor der Obduktion - Originalzustand

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Fall der Woche

Vor der Obduktion - gewaschen

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Fall der Woche

Hals frontal und links

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Fall der Woche

Rechter Arm linker Armà

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Fall der Woche

Beine

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Fall der Woche

Todesursache:

à massiver Blutverlust aus zahlreichen Schnittverletzungen

à Befundmuster typisch für eine Selbstbeibringung

Toxikologie:

• kein Nachweise von Tilidin, keine alkoholische Beeinflussung

• Nachweis von Diazepam und Abbauprodukten in therapeutischen Konzentrationen

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1. Scharfe Gewalt – Gliederung der Vorlesung

1. Wundmorphologie (Stich, Schnitt, Hieb etc.)2. Selbstbeibringung

3. Fremdbeibringung

4. Biomechanik/ Tatwerkzeuge

5. Häufigste Todesursachen

6. Handlungsfähigkeit

7. Fallbeispiele

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1. Wundmorphologie

Arten der Verletzungen bei scharfer Gewalt:

• Schnittwunden

• Stichwunden

• (halb)scharfe Hiebverletzungen

• Sonderformen (Zerstückelung, Pfählung…)

Allgemein:

• geradliniger, glattrandiger Wundrand

• (meist) Fehlen eines Vertrocknungs-, Schürf- oder Quetschungssaumes

• keine Gewebebrücken wegen gleichmäßiger Gewebedurchtrennung

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1. Wundmorphologie: Abgrenzung Stich/Schnitt

• Verhältnis Länge einer Hautwunde zur größten, sondierbaren Tiefe > 1 = Schnitt

• Verhältnis Länge einer Hautwunde zur größten, sondierbaren Tiefe < 1 = Stich

• kombinierte Stich/Schnittverletzung: Längen/Tiefenverhältnis ~ 1

• Schnitt: eher selbst beigebracht

• Stich: eher fremd beigebracht

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1. Wundmorphologie - Schnittwunde

• tangentiale, teils parallele Einwirkung von Schneidwerkzeugen auf die Körperoberfläche

• glatte Wundränder, keine Schürfungen, keine Hämatome

• linien- bzw. spaltförmiger Verlauf

• beidseits spitze Wundwinkel, ritzerartiges Auslaufen in der Epidermis

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Schnittwunde Hals mit Ausläufern

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1. Wundmorphologie - Stichwunde

• senkrechte oder schräge Einwirkung von Stichwerkzeugen auf die Körperoberfläche, Werkzeug muss über Spitze verfügen

• Wundränder glatt, Hautwunde oft länger als die größte Breite der Klinge (schneidende Komponente)

• Wundformen: beidseits spitze Wundwinkel oder – je nach Form der Klinge - stumpfwinklig/rundlich = Messerrücken

• Unterblutung/Hämatom/Schürfung beim Auftreffen des Heftes auf die Körperoberfläche möglich

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Stichwunde - Homizid

Stichwunde

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1. Wundmorphologie - Hiebverletzungen

• entstehen durch (halbscharfe) Einwirkung von Beilen und vergleichbaren, wuchtig geführten, schweren Gegenständen mit relativ scharfer Schneide

• Wundränder meist einseitig geschürft, können auch „ausgefranst“erscheinen

• Wucht des Schlages: tiefreichende (knöcherne) Verletzungen

• bei tangentialem Auftreffen am Schädel: Skalpierungsverletzungen

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1. Wundmorphologie - Hiebverletzungen

stumpf scharf

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Hiebverletzungen (Beil)

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Skalpierungsverletzung

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1. Wundmorphologie - Sonderformen

Pfählungsverletzungen = Eintreiben länglicher, eher stumpfer, auch konischer Gegenstände in den Körper

• Unfälle (Stürze auf …)

• Sexualdelikte

Zerstückelungen = Zerteilung des Körpers durch Hochrasanztrauma (Verkehrsunfall, Zug, Schiffsschraube) oder durch fremde Hand

• Leichenbeseitigung

• Unfälle (können ähnliche Wundmorphologie aufweisen wie scharfe Gewalt)

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Zerstückelung - Leichenbeseitigung

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Zerstückelung - Schiffsschraube

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Hiebverletzung

Hochrasanztrauma - VKU

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Scharfe Gewalt – Gliederung der Vorlesung

1. Wundmorphologie (Stich, Schnitt, Hieb etc.)

2. Selbstbeibringung3. Fremdbeibringung

4. Biomechanik/ Tatwerkzeuge

5. Häufigste Todesursachen

6. Handlungsfähigkeit

7. Fallbeispiele

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2. Kriterien der Selbstbeibringung - Schnitt• Probierschnitte = zaghafte Schnitte, die häufig in die

Hauptschnittführung einmünden (mehrfaches Ansetzen des Werkzeuges)

• Nebenverletzungen = überwiegend parallel zum Hauptschnitt, auch durch Hantieren mit dem Werkzeug

• Pulsaderschnitte = selten tödlich, oft spontane Blutstillung, häufig kombiniert mit anderen Stichen/Schnitten oder Selbsttötungsarten

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2. Kriterien der Selbstbeibringung - Schnitt• Probierschnitte = zaghafte Schnitte, die häufig in die

Hauptschnittführung einmünden (mehrfaches Ansetzen des Werkzeuges)

• Nebenverletzungen = überwiegend parallel zum Hauptschnitt, auch durch Hantieren mit dem Werkzeug

• Pulsaderschnitte = selten tödlich, oft spontane Blutstillung, häufig kombiniert mit anderen Stichen/Schnitten oder Selbsttötungsarten

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2. Kriterien der Selbstbeibringung - Stich

• zugängliche Körperregion (meist Herzgegend)

• Kleidung nicht durchstochen

• bei Frauen Brust nicht durchstochen

• gruppierte Häufung verschieden tiefer Stiche (Probierstiche)

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2. Selbstbeschädigung - Zusammenfassung

Selbstbeschädigung/ Selbsttötung:

• Zugänglichkeit

• Oberflächlichkeit (Probierschnitte)

• Gruppiertheit

• Parallelität

• unbekleidete Körperregionen

• keine Abwehrverletzungen

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2. Selbstbeschädigung

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Scharfe Gewalt – Gliederung der Vorlesung

1. Wundmorphologie (Stich, Schnitt, Hieb etc.)

2. Selbstbeibringung

3. Fremdbeibringung4. Biomechanik/ Tatwerkzeuge

5. Häufigste Todesursachen

6. Handlungsfähigkeit

7. Fallbeispiele

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3. Fremdeinwirkung/ Homizid

• Defekte der Kleidung

• auch an schwer erreichbaren Körperregionen (Rücken!)

• regellose oder gruppierte Anordnung

• mitunter höchste Intensität („Overkill“)

• Abwehrverletzungen (aktiv, passiv)

• Fehlen von Probierschnitten

• bevorzugte Lokalisationen: Herz, Hals

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3. Fremdbeibringung

Bekleidung !

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3. Fremdbeibringung

Rücken !

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3. Fremdbeibringung

Intensität !

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3. Fremdbeibringung

Fehlen von Probierschnitten !

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3. Fremdbeibringung

Aktive Abwehrverletzungen

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Passive Abwehrverletzungen

3. Fremdbeibringung

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Scharfe Gewalt – Gliederung der Vorlesung

1. Wundmorphologie (Stich, Schnitt, Hieb etc.)

2. Selbstbeibringung

3. Fremdbeibringung

4. Biomechanik/ Tatwerkzeuge5. Häufigste Todesursachen

6. Handlungsfähigkeit

7. Fallbeispiele

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4. Biomechanik/Tatwerkzeuge

Wundmorphologie à Tatwerkzeug:

• Schneidigkeit, Klingenbreite

• Wundwinkel (Schneide/ Rücken)

• Stichkanal vs. Klingenlänge

• Wundrand

• Einheitliches Tatwerkzeug ?

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Handlungsablauf/ Rekonstruktion:• Wundmorphologie abhängig von Werkzeug (Breite u. Länge der Schneide;

Schneidigkeit, Heft etc.)

• Kleiner "Schwalbenschwanz" durch Messerrücken

• Bewegungsablauf (Täter und Opfer)

• Großer "Schwalbenschwanz" durch Relativbewegung Messer/Opfer = z. B.Verdrehen des Messers beim Herausziehen

4. Biomechanik/Tatwerkzeuge

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4. Biomechanik

„Großer Schwalbenschwanz“

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Tatwerkzeug einschneidig

4. Biomechanik

= kleiner Schwalbenschwanz

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4. Biomechanik

geschürfter Wundrand beim schrägen Eindringen der Klinge

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4. Biomechanik

kräftig geführter Stich mitKompression der Weichteile

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4. Biomechanik

VerhältnisKlingenlänge/Wundkanal bei Kompression der Weichteile

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4. Biomechanik

„Wandern“des Stichwerkzeugesim Gewebe

à Verletzung oft größer als die größte Klingenbreite

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4. BiomechanikStichkanalrekonstruktion:

à Voraussetzung für Rekonstruktion des Tatablaufes (Stichrichtung, Tiefe etc.)

à Schichtweise Präparation der Gewebsschichten mit vorsichtiger Sondierung

à post-mortem CT mit Rekonstruktion

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4. Tatwerkzeuge

Tatwerkzeug einschneidig

Rücken – Klinge

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4. Tatwerkzeuge

Tatwerkzeug zweischneidig

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4. Tatwerkzeuge

• Messer (!)

• Nadeln

• Schere

• Glasscherben

• Axt/Beil

• Schraubendreher, Gabel, Kugelschreiber

(… muss über eine Spitze verfügen… )

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4. Tatwerkzeuge

aus: „Die richtige Bezeichnung“ (1965)

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Scharfe Gewalt – Gliederung der Vorlesung

1. Wundmorphologie (Stich, Schnitt, Hieb etc.)

2. Selbstbeibringung

3. Fremdbeibringung

4. Biomechanik/ Tatwerkzeuge

5. Häufigste Todesursachen6. Handlungsfähigkeit

7. Fallbeispiele

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5. Häufigste Todesursachen

• Verbluten (inneres/ äußeres)

• Herzbeuteltamponade

• Aspiration (Blut, Fremdkörper)

• Pneumothorax

• Luftembolie

• Organverletzungen

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5. Todesursachen - Verbluten

Diagnoseweisend beim (todesursächlichen) Verbluten:

• Reduzierte Totenflecken

• Blässe innerer Organe

• subendokardiale Blutungen = „Entblutungsblutungen“

• entspeicherte Milz

• Schockzeichnung der Nieren (blasse Rinde, hyperämische Markkegel)

à Diagnose „Verbluten“ beim Vorhandensein eines oder mehrerer Kriterien

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5. Todesursachen - Verbluten

Sonderfall: Verbluten aus kaum sichtbarer Schnittverletzung über Dialyseshunt

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5. Todesursachen - Verbluten

Sonderfall: Verbluten aus kaum sichtbarer Schnittverletzung über Dialyseshunt - Gefäßpräparation

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5. Todesursachen - Blutaspiration

à häufig bei Halsverletzungen mit Durchtrennung der Halsweichteile/ Trachea

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5. Todesursachen - Blutaspiration

à tiefe Blutaspiration: Vitalitätszeichen!

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5. Todesursachen - Organverletzungen

Lunge/Leber

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5. Todesursachen - Organverletzungen

Magen

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Scharfe Gewalt – Gliederung der Vorlesung

1. Wundmorphologie (Stich, Schnitt, Hieb etc.)

2. Selbstbeibringung

3. Fremdbeibringung

4. Biomechanik/ Tatwerkzeuge

5. Häufigste Todesursachen

6. Handlungsfähigkeit7. Fallbeispiele

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6. Handlungsfähigkeit

• 4 Grade nach Staak et al. (1976)

• nach Stich/Schnitt maßgeblich abhängig von Blutverlust

• weit divergierende Spannen (Sekunden bis Stunden)

CAVE: Handlungsfähigkeit ≠ Überlebenszeit !

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6. Handlungsfähigkeit – Literatur Staak et al 1976

Handlungsfähigkeit

Grad 1: Fähigkeit zu schwierigen, zielgerichteten, von Bewusstsein getragenen Handlungen

Grad 2: Instinktive, situationsentsprechende Handlungen

Grad 3: Bei Bewusstlosen ablaufende Reflexe oder Automationen

Grad 4: Unzusammenhängende, schnell erschöpfbare Bewegungsabläufe wie Streckkrämpfe

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6. Handlungsfähigkeit

Annahme sofortiger Handlungsunfähigkeit:

• breite (>3,5 cm lange) Herzkammereröffnung

• Durchtrennung von Aorta, A. pulmonalis

• Nackenstiche mit Halsmarkdurchtrennung

• Bauchstiche mit „Peritonealschock“

(kurzfristig) erhaltene Handlungsfähigkeit:

• Durchtrennung einer Halsschlagader

• kleinere Herzkammereröffnung

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Scharfe Gewalt – Gliederung der Vorlesung

1. Wundmorphologie (Stich, Schnitt, Hieb etc.)

2. Selbstbeibringung

3. Fremdbeibringung

4. Biomechanik/ Tatwerkzeuge

5. Häufigste Todesursachen

6. Handlungsfähigkeit

7. Fallbeispiele

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Falldarstellung 1

• 39 - jähriger Mann, Organisator einer „Festlichkeit“

• sei in den frühen Morgenstunden unvermittelt „umarmt“ worden

• könne sich nicht erinnern, was genau passierte

• ihm sei anschließend (nach der „Umarmung“) von Gästen hochgeholfen worden

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Falldarstellung 1Notarztprotokoll:

• RR 100/60

• Neurologie unauffällig

• regelmäßige Herzaktion

• Therapie: Volumengabe (1000 ml E 153)

Diagnose:

• Offene Thoraxverletzung linke Lunge

• „unter Alkohol“

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Falldarstellung 1

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Falldarstellung 1

…Ja, er hat überlebt!

Rechtsmedizinisch relevant:

• Fremdbeibringung !

• Konkrete Lebensgefahr !

• Verhandlung am Landgericht „versuchter Totschlag“

• Angeklagter (22; 1,95 m Körpergröße): Alkohol, Cannabis, Pilze –habe sich bedroht und provoziert gefühlt, der andere sei „größer gewesen als er“…

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Falldarstellung 2• 49- jähriger Mann, erster Offizier an Bord eines Frachtschiffes (polnische Flagge)

• Vor 3 Jahren Arbeitsunfall mit notwendiger OP à Entfernung eines Hodens

• zur Wachablösung nicht auf Brücke erschienen

• Auffindung in der Kajüte, „überall Blut“…

Cuttermesser in Bad, Blut in Toilette und auf Wäschestücken àSelbstbeibringung?

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Falldarstellung 2

Leichenschau:

• einzige Verletzungà Hodensack, rechte Seite

• mäßig kräftige Totenflecke

?

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Falldarstellung 2

Obduktion:

Genaue Darstellung der Verletzung!

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Falldarstellung 2

• Zahlreiche Probierschnitte!

• Nach Entfernung der Blutkoagelàkein Hoden auffindbar

• Venengeflecht (Plexus pampiniformis) liegt im Verletzungsgebiet, Gefäßstümpfe sichtbar

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Falldarstellung 2

Todesursache:

• Verbluten aus Schnittverletzung des Hodensackes, offenbar mit selbstständiger Entfernung des verbliebenen Hodens

• Todeseintritt begünstigt durch Alkoholisierung ( ~ 2 ‰) und Koronarsklerose

• Toxikologie: keine medikamentöse Beeinflussung!

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Scharfe Gewalt - prüfungsrelevant

• Wundmorphologie und Biomechanik Stich/Schnitt

• Kriterien der Selbst-/Fremdbeibringung

• Todesursachen

• Handlungsfähigkeit

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2. Teil - Identifizierung

Wann?

• Bei Brandleichen

• Bei hochgradigen Fäulnisveränderungen

• Bei Zerstückelungen (Bahnleichen)

• Bei primär nicht zuordenbaren Leichen (keine Papiere, keine Vermutung, keine Vermisstenanzeige)

• Bei tot aufgefundenen Säuglingen

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Identifizierung einer Leiche

Warum?

ৠ159 StPO: “unbekannter Toter“:

(1) Sind Anhaltspunkte dafür vorhanden, dass jemand eines nicht natürlichen Todes gestorben ist, oder wird der Leichnam eines Unbekannten gefunden, so sind die Polizei- und Gemeindebehörden zur sofortigen Anzeige an die Staatsanwaltschaft oder an das Amtsgericht verpflichtet.

(2) Zur Bestattung ist die schriftliche Genehmigung der Staatsanwaltschaft erforderlich.

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Identifizierung einer Leiche

Von wem?1. Leichenschauarzt: Zweifel?à Polizei!

2. Polizist nach Ermittlungen (Ausweispapiere, Wohnungsinhaber, Vermisstenanzeigen usw…): Zweifel? à Rechtsmedizin!

Rechtsmediziner stellt durch Leichenschau/Obduktion zur Identifizierung geeignete Merkmale fest

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Identifizierung einer unbekannten Leiche

Was ist „Vergleichsmaterial“?• Oft gibt es bei einem aufgefundenen Toten bereits einen Verdacht

auf die Identität (Wohnungsinhaber, Vermisstenanzeige, usw.)

• Selten treten Fälle auf, bei denen vorerst kein Hinweis auf die Identität vorliegt…

• Noch seltener sind Fälle, in denen auch trotz intensiver Ermittlungsarbeit keine Vermutungen über die Identität angestellt werden können.

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Identifizierung einer Leiche

Geeignet als Vergleichsmaterial – durch den polizeilichen Bearbeiter zu ermitteln

(wenn möglich durch Bildmaterial unterlegt!):

• allgemeine körperliche Merkmale: Größe, Statur, Gewicht, Haarfarbe – und Struktur, Bartwuchs

• Besondere Individualmerkmale: Ohrringe, Piercings, Tätowierungen, Narben, Amputationen, Fehlbildungen

• Krankheitsfolgen: Tumoren, chronische Wunden, Bauchwassersucht, Wassereinlagerungen, Implantate usw.

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Identifizierung einer Leiche

Geeignet als Vergleichsmaterial – durch den polizeilichen Bearbeiter zu ermitteln

(wenn möglich durch Bildmaterial unterlegt!):

• Ärztliche Unterlagen vom Hausarzt und ggf. mitbehandelnden Ärzten, Krankengeschichte

• Unterlagen über eventuell stattgehabte Operationen und Implantate

• ZAHNSTATUS

• Röntgenbilder

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Zahnstatus

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Zahnstatus in der Praxis am IfRM Rostock

Wird bei jeder zunächst unbekannten Leiche erhoben und dokumentiert (auch fotografisch!)

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DNA

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Röntgenbilder

Zur Identifizierung geeignet!

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Zahnstatus über Röntgenbilder

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Röntgen Becken mit Hüftprothese

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Röntgen Schädel

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Identifizierung - Rechtsmedizin

• Erheben des aktuellen Zahnstatus (bei Zerstückelungen evtl. problematisch)

• Inaugenscheinnahme der gesamten Körperoberfläche und Feststellen von Individualmerkmalen (Körpermaße, Narben, Tätowierungen…)

• Präparation und Entnahme von Prothesen (Chargen-Nummer usw.)

• Feststellen von Grunderkrankungen, Fehlbildungen, alter Knochenbrüche usw.

• Beschreibung der Bekleidung und getragenen Schmuckes (Ringgravuren usw.)

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Identifizierung

ABER: Aussagekraft natürlich nur im Abgleich mit dem ermittelten Vergleichsmaterial (…)

Letztendlich entscheidet über die zweifelsfreie Feststellung der Identität die

Staatsanwaltschaft

à In Rücksprache mit den Ermittlern, der Rechtsmedizin und unter Berücksichtigung aller erhobenen Befunde!

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Identifizierung - Praxis

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Fallbeispiel 1

• Männliche Bahnleiche – vermutlich in suizidaler Absicht von Regionalexpress erfasst

• Leichenteile werden in einem Leichensack vom Bestatter ins Institut gebracht – Leichenschau und Feststellung von „für die Identifizierung geeigneten Merkmalen“ angeordnet

• Angaben der Ermittler: KEINE Zähne vorhanden, KEINE Ausweispapiere vorhanden!

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Zahnstatus?

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Zahnstatus: So geht es schon besser…

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Fallbeispiel 1

Identifizierung abgeschlossen:Nach Rücksprache mit der zuständigen Staatsanwaltschaft und den

Ermittlungsbehörden unter Einbeziehung sämtlicher erhobener Befunde!

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Fallbeispiel 2

• Menschlicher Torso am Strand von Börgerende angeschwemmt

• Fortgeschrittene Leichenveränderungen, Fettwachsbildung, Fehlen von Kopf und Gliedmaßen

• Fragen: Geschlecht? Alter? Zur Identifizierung geeignete Merkmale? Anhaltspunkte für eventuelle Todesursache? Äußere Gewalteinwirkung?

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Torso: Übersicht

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Torso: Übersicht von hinten

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Geschlecht?Das sieht doch aus wie …???

Erhobene Beckenmaße entsprechen aber eher einem männlichen Individuum!

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Geschlecht?

Auch nach genauester Inspektion der Weichteile bleiben Fragen offen…

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Das Becken nach Mazeration (Abkochen und Weichteilentfernung)

Entnahme von Knochen für die molekulargenetische Untersuchung (DNA)

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Fallbeispiel 2

Identifizierung abgeschlossen:Das Ergebnis der DNA-Untersuchung an unserem Hause lautet:

„vollständiges männliches Profil“àWeitergabe an das Landeskriminalamt zum Abgleich mit den

Datenbanken…

TREFFER und Information am 15.12.2010: Es handelt sich um einen seit dem 01.01.2008 vermissten Holländer, der in Lübeck gewohnt

haben soll.

Eine eindeutige Todesursache war aufgrund der fortgeschrittenen Leichenveränderungen nicht mehr feststellbar.

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Fallbeispiel 3

• Weibliche Leiche im Sommer 2010 in der Uferböschung der Warnow aufgefunden

• Fortgeschrittene Leichenveränderungen, Fäulnis, massiver Madenbefall, vollständiges Fehlen der Gesichtsweichteile

• Fragen: Zur Identifizierung geeignete Merkmale? Todesursache? Fremdeinwirken?

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Erster Eindruck: teilweise Skelettierung des Gesichtsschädels –Identifizierung über Lichtbild nicht möglich!

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Video in der Obduktion…

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Erheben des Zahnstatus

Vergleichsmaterial (Ausweis und Zahnstatus) durch den zuständigen Ermittler in der Obduktion zur Verfügung gestellt…So soll es sein!

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Fallbeispiel 3

Identifizierung noch während der Obduktion abgeschlossen:

Nach Rücksprache mit der zuständigen Staatsanwaltschaft und den Ermittlungsbehörden unter Einbeziehung sämtlicher erhobener

Befunde, insbesondere des Zahnstatus!

(Todesursache war eine Intoxikation mit Clozapin, einem Psychopharmakon…)

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Fallbeispiel 4

• Weibliche Leiche 2008 am Strand von Markgrafenheide bekleidet und in Bauchlage aufgefunden worden.

• Tierfraßdefekte an Gesicht und Kopfhaut, Tierspuren im umliegenden Sand erkennbar, teilweises Fehlen der Gesichtsweichteile

• Fragen: Zur Identifizierung geeignete Merkmale? Todesursache? Fremdeinwirken?

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Übersicht Kopf: Fehlen der Augäpfel, der Lippen und der behaarten Kopfhaut

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Tierfraßdefekte an der linken Hand

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In diesem Fall: Abgleich über ein Röntgenbild der Zähne…

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Fazit für die Praxis I

• Es ist Aufgabe des Ermittlers, Vergleichsmaterial – wenn vorhanden – den Obduzenten/Leichenschauärzten zur Verfügung zu stellen.

• Im gemeinsamen Diskurs kann eine „Wahrscheinlichkeit“ festgelegt werden, nach der es sich um den Verstorbenen handelt – oder eben nicht

• Die endgültige Entscheidung obliegt der Staatsanwaltschaft – denn diese muss die Leiche zur Bestattung freigeben!

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Vielen Dank für ihre Aufmerksamkeit!

Keep Smiling!

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