SoSe 08 14.04.2008 D.1 Theorien über Entwicklungs- und Lernprozesse und ihre Beeinträchtigungen...

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SoSe 0814.04.2008

D.1 Theorien über Entwicklungs- und Lernprozesse und ihre

Beeinträchtigungen

Themenblock I: Theorien der klinischen

Entwicklungspsychologie

Entwicklungsmodelle, -aufgabenund -determinanten

Gegenstandsbestimmung

Die klinische Entwicklungspsychologie beschäftigt sich mit den Ursachen und dem Verlauf individueller Muster fehlangepassten Verhaltens,

wie auch immer das Alter beim Auftreten dieser Muster sein mag,

worin auch immer die Ursachen und Veränderungen in der Verhaltensmanifestation begründet sein mögen,

unabhängig davon, wie komplex sich der Verlauf der Entwicklungsmuster darstellt.

Definition nach Sroufe & Rutter (1984)

Gegenstandsbestimmung

Jede Beeinträchtigung kann als Abweichung, Störung, „Verformung“ oder Degeneration normaler Funktionen gesehen werden.

Man muss „normales“ Verhalten verstehen, um das „Auffällige“ oder Besondere abgrenzen zu können.

Wir können mehr über die normale Entwicklung lernen, wenn wir die Besonderheiten studieren.

Ausgangspunkt der Entwicklungspsychopathologie: Integration von Entwicklungspsychologie und Klinischer

Psychologie (Ciccetti, 1994)

Gegenstandsbestimmung

Betonung des Prozesscharakters jeder Beeinträchtigung

Untersuchung des Entwicklungsverlaufs Beachtung von „Vorläufern“ einer Beeinträchtigung, nicht nur

deren Zeitpunkt des Ausbruchs.

Betrachtung der gesamten Lebensspanne

Betrachtung der Zusammenhänge zwischen Gen- und Umweltfaktoren, Individuum und sozialem Kontext bei der Entstehung auffälligen Verhaltens.

biopsychosozialer (interdisziplinärer) Ansatz

Interdisziplinärer Ansatz (nach Achenbach, 1990)

Entwicklungspsychopathologie

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Entwicklungstheorien

Die 3 „Kontroversen“ in der Entwicklungstheorie

Anlage-Umwelt-Debatte Kann die psychische Entwicklung (kognitiv, emotional, sozial) und

biologische Reifung des Menschen eher auf genetische oder auf Umwelteinflüsse zurückgeführt werden?

Kontinuität vs. Diskontinuität Stellt die Entwicklung von der Geburt bis zum Tod eine graduelle,

kumulative Veränderung dar ( Wachstumsmodell)? Handelt es sich um distinkte Entwicklungsstufen, die über die

Lebensspanne durchlaufen werden ( Stufenmodell)?

Stabilität vs. Veränderung Zeigt ein Mensch mit zunehmendem Alter –

erfahrungsunabhängig - grundlegend die gleichen Merkmale? Wird er erfahrungsbedingt zu einem „neuen“ Menschen?

Entwicklungsmodelle – Ein Klassifikationsschema –

Umwelt

passiv aktiv

Subjektpassiv

mechanistische Modelle

(Anlagen, Reifung)

Umweltmodelle(z.B. Behaviorismus)

aktiv Dispositionsmodelle(aktive G-U-Passung)

Interaktionsmodelle/Transaktionsmodelle

Prägende Entwicklungstheorien

Psychoanalyse / tiefenpsychologische Entwicklungstheorie Sigmund Freud (1856-1939):

Normalitäts-Abnormalitätskontinuum Anna Freud (1895-1982)

Begriff der Entwicklungslinien (Kinderpsychopathologie) John Bowlby (1907-1982)

In problematischen Mutter-Kind-Beziehungen liegen die Wurzeln späterer Psychopathologie

Kognitive Entwicklungstheorie Piagets (1896-1980) Intelligenzentwicklung als Prozess der Adaptation Beitrag zur Aufdeckung der kognitiven Prozesse, die zur

Psychopathologie führen.

Prägende Ansätze aus der Psychiatrie

Betrachtung der Lebensgeschichte zur Einschätzung der aktuellen Situation Lebensereignisforschung

Betrachtung von Hoch-Risiko-Gruppen, um risikoerhöhende Bedingungen für die Entstehung von Störungen aufzudecken Konzept der Risiko- und Schutzfaktoren

Beitrag behavioristischer und Lerntheorien

Behaviorismus (Watson, 1878-1957) Beachtung des Einflusses der sozialen Umwelt bei der

Erklärung menschlicher Entwicklung. Beispiel:

Angst vor Tieren ist nicht angeboren, sondern wird erlernt (Experiment mit dem „kleinen Albert“).

Operantes Konditionieren (Skinner, 1904-1990) Lernprozesse sind die Basis von Entwicklungsveränderungen. Verhaltensweisen werden nicht durch einen vorangehenden

Stimulus, sondern durch die von ihnen erzeugten Effekte kontrolliert.

Kontextualismus – Ein Metamodell der Entwicklungspsychopathologie

Mensch-Umwelt-Beziehung: Mensch und Umwelt (Kontext) können nicht getrennt voneinander

betrachtet werden. Verhalten ohne Kontext ist nicht verstehbar; Kontext ist nur von

Bedeutung, wenn er auf ein Verhalten bezogen wird.

Mehrebenen-Kontext: auf biologischer, physikalischer, psychologischer und sozio-kultureller

Ebene wird Verhalten organisiert oder koordiniert.

Reziproke Kausalität: Der sich verändernde Organismus steht im Austausch mit der sich

verändernden Umwelt. Dynamik des Systems ineinander greifende, organisierte, sich

ständig beeinflussende Komponenten fortwährende Veränderung

Kontextualismus – Ein Metamodell der Entwicklungspsychopathologie

Entwicklung = Veränderung, die durch eine zunehmende Komplexität und höhere Organisation der Mensch-Umwelt-Beziehung gekennzeichnet ist.

Der Einfluss von Genen ist von der Umgebung abhängig.

Die Wirkung der Umgebung wird von genetischen Dispositionen und der vorausgehenden Entwicklung beeinflusst.

Der Verlauf der Entwicklung wird durch die Struktur der Mensch-Umwelt-Beziehung bestimmt. Eine Störung kann weder ausschließlich in der Person noch in ihrer

Umwelt lokalisiert werden. Entscheidend ist ihre Übereinstimmung oder die „Passung“

zwischen Kind und Umwelt (Goodness-of-fit, Thomas & Chess, 1977)

Transaktion vs. Interaktion

Annahme des transaktionalen Modells: Elterliches Verhalten beeinflusst das Verhalten des Kindes

und wurde/wird von diesem beeinflusst. Unterschied zum interaktionalen Modell:

Betonung der zeitlichen Komponente der Verflechtung. Entwicklung = fortgesetzte qualitative Neuorganisation

verhaltensbezogener und biologischer Systeme, die zu einer kontinuierlichen Anpassung des Individuums an seine Umwelt führen.

Vor- und Nachteil transaktionaler Modelle: Sie bilden den Entwicklungsprozess ziemlich genau ab. Sie sind aufgrund ihrer Komplexität nur schwer empirisch

überprüfbar.

Transaktion vs. Interaktion

Umwelt(physisch, sozial, kulturell)

Verhalten

Neuronale Aktivität

Genetische Aktivität

Individuelle Entwicklung

Interaktions-/Transaktionsmodell...

Systemebene Entwicklungsprozess Störung

Kind

Eltern

Umwelt

Früh-geburt

Regulations-störungen

Entwicklungs-rückstand

HyperaktivitätIQ-Minderung

AngstBindungs-

modell

fehlende Unterstützung,Armut, Stress

Über-forderung

Passungs-probleme

Trotz, negat. Selbstbild

Über- / Unter-stimulierung,ungünstiges

Beziehungsklima

KonfrontationAblehnung

Missbilligung,fehlende

Anerkennung

Abbildung modifiziert nach Suess & Zimmermann (2001)

Bedeutung für die Diagnostik

Sind bestimmte Verhaltensäußerungen lediglich Ausdruck vorübergehender, entwicklungsbedingter

Zusammenhänge? erste Anzeichen eines psychopathologischen Befundes?

Eine entwicklungsorientierte Diagnostik sieht mehrfache Messung/Beobachtung über die Zeit vor.

Beeinträchtigungen werden nicht einfach als abweichend von normalen menschlichen Erfahrungen im Leben gesehen, sondern als natürliche Folge bestimmter Entwicklungspfade.

Exkurs: Entwicklungspfade

Waddingtons epigenetische Landschaft

Kugel = Organismus zurückgelegter Weg =

Entwicklungspfad Landschaft = Einflussfaktoren

(Anlage + Umwelt)

Verhalten der Kugel nach dem Prinzip der Selbstorganisation

Einschränkung alternativer Phänotypen durch Kanalisierung

Exkurs: Entwicklungspfade

Entwicklungspfade nach Sroufe (1997) 4 generelle Entwicklungsverläufe Kontinuität

A) kontinuierliche Fehlanpassung Störung

B) kontinuierliche positive Anpassung normale Entwicklung

DiskontinuitätC) zunächst Fehlanpassung, dann

positive VeränderungD) zunächst positive Anpassung,

dann negative Veränderung

Exkurs: EntwicklungspfadeFünf Hauptannahmen

Störungen sind Abweichungen vom normalen Entwicklungsverlauf, die darauf beruhen,

dass normative Entwicklungsaufgaben nicht erfüllt wurden, wiederholte Fehlanpassungen das Individuum von einem

positiven Entwicklungspfad abbrachten.

Veränderung ist an vielen Punkten möglich. Eine Störung ist kein endgültiger Zustand.

Veränderungsmöglichkeiten werden durch vorangegangene Anpassungsprozesse und die Länge des zurückgelegten Entwicklungspfades eingeschränkt.

Exkurs: EntwicklungspfadeFünf Hauptannahmen

Unterschiedliche Pfade können zu einem ähnlichen Entwicklungsausgang führen (Äquifinalität).

Unterschiedliche Entwicklungsausgänge können auf den gleichen anfänglichen Pfad zurückführbar sein (Multifinalität).

Bedeutung für die Diagnostik

Sich auf den ersten Blick ähnelnde Störungen können sich hinsichtlich ihres Erstmanifestationsalters deutlich unterscheiden (Ausdifferenzierung/Diversifikation).

Beispiel: Dissoziales Verhalten Trotz eines identischen Erscheinungsbildes im Jugendalter

lassen sich unterschiedliche Verläufe nachweisen: Früher Störungsbeginn Fortbestehen im Erwachsenenalter Später Störungsbeginn deutlich günstigere Prognose

Mitglieder beider Gruppen befinden sich auf unterschiedlichen Entwicklungspfaden und sollten eine entsprechend individualisierte Behandlung erfahren.

Bedeutung für die Diagnostik

Die großen psychiatrischen Klassifikationssysteme ICD-10 und DSM-IV berücksichtigen Entwicklungsaspekte kaum. keine Angabe von Altersgrenzen oder nur in geringem

Umfang, innerhalb derer bestimmte Verhaltensweisen als normal oder abnorm anzusehen sind.

z.B. treten bestimmte oppositionelle Verhaltensweisen oder Angstsymptome entwicklungsbedingt auf und unterscheiden sich von pathologischen Phänomenen.

Entwicklungsorientierte Diagnostik umfasst altersspezifische Kriterien, den Einsatz unterschiedlicher Klassifikationssysteme.

Bedeutung für die Diagnostik

ICF (Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit)

Bedeutung für die Diagnostik

ICF: Das biopsychosoziale Krankheitsmodell

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit!

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