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© Friedrich Verlag | Die GRUNDSCHULZEITSCHRIFT 301 | 2017 47
RUBRIK. Arbeit mit der Lektüre
Susanne von Braunmühl
Alles total geheimIdeen für den Unterricht
Kirsten Boie „Alles total geheim“ ist eine Geschichte, die ein nicht einfaches Thema aufgreift. Dadurch fordert sie zum Gespräch und zur intensiven Auseinandersetzung heraus – allein, in Partnerarbeit mit dem Lesetagebuch oder im Klassenverband.
Darum geht es
„Mein Vater ist Geheimagent“, sagt Gernot. „Er fängt Spione und Verbrecher und Rauschgiftbanden. Genau wie im Fernsehen. Aber das ist alles total geheim.“ Micha darf niemandem davon erzählen. Seine Mama hat neulich gesagt, dass Gernots Vater arbeitslos ist und seine Mutter putzen geht. Aber was wissen die Großen schon? Und was Gernot alles erzählt! Sein Vater kann nur nachts arbeiten, tagsüber läuft er getarnt in Jogginghose und Flaschentüte herum. Seine Mutter verkleidet sich als Putzfrau. Micha ist fasziniert und malt sich die abenteuerlichsten Bilder über diese Familie aus. Welche Verzweiflung steckt in dem Jungen Gernot, dass er eine solche Fantasiewelt aufbauen muss! Das Geld für den Klassenausflug reicht nicht, aber er begründet es damit, dass sich im Zoo immer die Agenten treffen. Diese würden ihn sofort entführen, um seinen Vater zu erpressen. Winterschuhe und Fahrrad hat er nicht, weil das „Babykram“ ist.
Wir erfahren nichts Genaues über Gernots Familie, doch wir können sie uns vorstellen: Der Vater ist arbeitslos, die Mutter verdient etwas Geld durch Putzen, das Geld ist knapp, der Vater läuft tagsüber gebückt zum Getränkemarkt. Das hat Auswirkungen auf die Familie.
Aber das ist auch ein großes Problem für Gernot. Da sind nicht nur die täglichen materiellen Einschränkungen, wenn das Geld für den Schulausflug oder Winterschuhe fehlt. Es fehlt auch die soziale Anerkennung. Gernot steht vor einem großen Problem. Er befürchtet Ablehnung oder sogar Ausschluss und Stigmatisierung. Warum schaut er weg, wenn sein Vater vorbeigeht? Er kann seinem Freund nicht die Wahrheit erzählen, sondern malt eine abenteuerliche Fantasiegeschichte aus: Hier ist sein Vater nicht ein arbeitsloser Alkoho
liker, sondern wird zum bewunderten Geheimagenten. Wem soll er sich anvertrauen? Was tut er nicht alles, um diese Situation zu bewältigen. Er hat ein Gespür dafür entwickelt, welche Familieninterna er gegenüber Außenstehenden erzählen kann und welche er lieber verschweigt: Arbeitslosigkeit
– Armut – Alkohol – …Fantasievolle Träume sind seine Bewältigungsform, die ihm
eine seelische Widerstandsfähigkeit ermöglicht und eine äußere Fassade erhalten.
Aber da ist Micha, sein Freund. Es selber musste mit seinen Eltern vom Land in die Stadt ziehen, weil sie arbeitslos geworden waren und hier eine neue Beschäftigung fanden. Er glaubt unabdingbar an Gernot und lässt sich auch durch die Aufklärungsversuche der Eltern nicht irritieren. Selbst am Ende, als Gernots Familie umziehen muss, weil sie die Miete nicht mehr aufbringen kann, glaubt er die Geschichte von einem Umzug in einen prächtigen Palast im Orient. Oder vielleicht will er Gernots Geschichte auch nur weiterhin glauben. Die Freundschaft zwischen den beiden bleibt so unberührt, wie ein Hoffnungsschimmer.
Das macht die Lektüre besonders
Alles total geheim – ist das eine fiktive Kindergeschichte? Jedes fünfte Kind in der Bundesrepublik lebt unterhalb der Armutsgrenze (mehr als 2.5 Millionen Kinder) und kennt solche Umstände „hautnah“. Die zunehmende Armutsproblematik drängt, das Thema im Unterricht aufzugreifen.
Was verbinden Grundschulkinder einer dritten Klasse mit Arbeitslosigkeit?
Kirsten Boie Silke Brix
GEMEINSAM SCHULE MACHEN
DieGRUNDSCHULZEITSCHRIFT
48 © Friedrich Verlag | Die GRUNDSCHULZEITSCHRIFT 301 | 2017
„Wenn der Vater entlassen wird.“ „Wenn er keine Arbeit mehr findet und Harz IV wird.“ „Dann wird die Familie arm und hat nur wenig Geld.“
Auch diese Kinder haben bereits Vorstellungen von den Ursachen und Auswirkungen von Arbeitslosigkeit. Als Ursache wird häufig individuelles Verschulden angegeben. Die gesellschaftliche Dimension erkennen noch nicht alle Kinder. Ihnen sind auch die Vorurteile („sind faul“ „tun nichts“) geläufig. Soziale Unterschiede in der Gesellschaft, bis hin zu ihren extremsten Ausprägungen, sind für Kinder alltäglich wahrnehmbar. Die materielle Notlage von Menschen beobachten sie bei einem Gang durch Innenstädte.
Dennoch wird ihnen dieses gesellschaftliche Problem in keinem Schulbuch für den Sachunterricht erklärt – obwohl der Unterricht die Zielsetzung hat, Kinder über ihre Lebenswelt aufzuklären. Armut wird hier zumeist als Problem von Menschen in sogenannten DritteWeltLändern dargestellt. Ein Leben am Rande der Gesellschaft bei uns scheint für Grundschulkinder (noch) nicht relevant zu sein.
Doch diese Probleme machen nicht vor der Klassentür halt. Viele Kinder stehen vor dem gleichen Problem wie Gernot. „Alles total geheim“ greift das „schwierige Thema“ auf. Mit dieser Geschichte gelingt Kirsten Boie ein eindrucksvoller Einblick in die Not eines betroffenen Kindes. Sie setzt an den Fragen und Ängsten von Kindern an und gibt ihnen somit die Chance, Antworten zu finden. Die Lektüre ermöglicht eine sensible Auseinandersetzung mit dem Thema. Mit Gernot lernen wir die Nöte der betroffenen Kinder verstehen.
So arbeiten Sie mit der Lektüre
Das Thema „Armut“ ist emotional hoch besetzt. Alle Erfahrungen und Gefühle dazu müssen hier eingebracht werden dürfen, um Stigmatisierung zu verhindern. Das verlangt von uns Kenntnis der sozialen Situation der Kinder in der Klasse und die Bereitschaft, mit Widersprüchen, Ängsten und Anfragen umzugehen.
In der Geschichte stecken zwei Perspektiven, die wir als Leser einnehmen können: Wir wissen, was Micha denkt. Wir wissen aber auch, wie es um Gernots Familie in Wirklichkeit steht.
Einsteigen mit Stabfiguren • Micha und Gernot werden als Stabfiguren vorgestellt. So
können sie durch die Kinder miteinander ins Gespräch kommen, sie können befragt werden oder durch mich erzählen.
• Ich lese das Buch vor und zeige dazu die Bilder (über OHP oder Smartboard). Schon die ersten Bilder zeigen, welche idyllische Umgebung Micha durch den Umzug in die Stadt verlassen musste. Der Vater hatte seine Arbeitsstelle verloren und fand nur in der Stadt eine neue Beschäftigung.
• Dann begegnet Micha Gernot. Ein cooler Typ: trägt Turnschuhe im Winter, eine dünne Jacke. Er hat lange Haare,
schmeißt mit Sand, grüßt nicht mal seinen eigenen Vater. Und was der alles erzählt! Die Schülerinnen und Schüler können aus dem Erzählten entschlüsseln, was der eigentliche Grund für Gernots Handeln und seine Geschichten ist. Seine Not kommt immer mehr zum Ausdruck. Immer deutlicher wird die Kluft zwischen Wirklichkeit und Traumwelt. Dies zeigt sich auch in den Illustrationen: Zart gemalte Aquarellbilder zeigen die traurige Wirklichkeit, schwarzweiße, grelle Klischeebilder aus Agentenfilmen und ein bunt leuchtendes, prachtvolles Traumschloss untermalen seine Fantasien.
• Beklemmend die letzte Szene: das traurige Bild eines überladenen kleinen Lasters und das Traumbild eines prächtigen Palastes, in den die Familie jetzt einzieht. Es fällt nicht schwer, sich auszumalen, was das wahre Ziel des Umzugs ist.
Fragen zur Erschließung der Geschichte: • Warum will Gernot nicht Fahrrad fahren? • Warum bewirft er die anderen Kinder mit Sand? • Warum darf er auch im Winter Turnschuhe tragen? • Warum tut er so, als ob er seinen Vater nicht sieht? • Warum ist er beim Zooausflug nicht dabei? • Warum darf er Gernot nicht besuchen? • Warum erzählt er das alles? • Hat er Angst vor der Entdeckung der Mitschüler? • Die Kinder erkennen schnell: Gernot schämt sich, weil sein
Vater arbeitslos ist. Er malt sich eine Traumwelt aus, die ihm hilft, mit der Realität umzugehen. Hilft das wirklich?
Interview mit Gernot, der StabfigurWir führen ein virtuelles Interview mit Gernot, der Stabfigur: • Gernot, warum hast du nicht die Wahrheit erzählt? • Hattest du Angst, keine Freunde zu finden? • Warum hast du nicht gesagt, dass du kein Geld für den
Zoo hast? • Hättest du nicht Micha, deinem Freund, von deinen
Problemen erzählen können? • Warum hast du so getan, als ob du deinen Vater nicht kennst? • Sprichst du mit deinen Eltern über deine Probleme? • Was hättest du gemacht, wenn Micha dir nicht geglaubt
hätte? • Wie hätten wir dir helfen können? …
Interview mit Micha, der Stabfigur • Wie hättest du reagiert, wenn ihr die Wahrheit erfahren
hätten? • Fandest du die Geschichten nicht übertrieben? • Hättest du ihm nicht helfen können?
Wie geht die Geschichte weiter?Wie kann es mit Gernot oder der Freundschaft der beiden Jungen weitergehen? Einige Kinder schreiben Fortsetzungsgeschichten, andere einen Brief an Gernot.
© Friedrich Verlag | Die GRUNDSCHULZEITSCHRIFT 301 | 2017 49
RUBRIK. Arbeit mit der Lektüre
Gestaltende Aufgaben und Projekte
„Wenn Armut Mauern baut“: Dieser Satz steht als Impuls an der Tafel.
Wer ist arm? Was bedeutet arm sein für Kinder? Für viele Kinder ist Armut kein bedrängendes Thema. Anderen ist es eine große Last.
Die Kinder sammeln in Partner oder Gruppenarbeit Begriffe, die sie mit Armut assoziieren und die wir im Plenum besprechen. • Kein Geld • Keine Klamotten • Wenig zu essen und zu trinken • Kein Haus • Keine Freunde • Kein Auto • Kein Sport • Kein Musikinstrument • Wenig Spielzeug • Keine Reisen • Keinen Spaß am Leben
Die Lektüre und das Lesetagebuch
„Alles total geheim“ eignet sich auch besonders als Klassenlektüre. Die Schülerinnen und Schüler können es selbst erlesen und allein oder mit einem Partner diskutieren. Das beilie gende Lesetagebuch begleitet und unterstützt sie in ihrem Erschließungsprozess und bietet viele Impulse für die produktive Auseinandersetzung mit der Lektüre.
Bestellen Sie „Alles total geheim“ zusammen mit dem Lesetagebuch unter: www.friedrich-verlag.de (Bestellnummer: 1821001).
Abb. 1: Armut baut Mauern: Was das bedeutet, wird durch das Beschriften der einzelnen Steine sichtbar
Wann fällt eine Armut in der Schule besonders auf? Wir beschriften Mauersteine (offene Schuhkartons) unter dem Thema „Wenn Armut Mauern baut“ (Abb. 1).
Eine Mauer, die das Leben schwer macht. Wie könnte man helfen? Die Kartons sind auf der anderen Seite offen – offen für Ideen und Möglichkeiten. Mit Eifer werden Ideen gesammelt: Einladungen – Schuluniformen – Klassenkasse zur Finanzierung der Schulausflüge – Briefe, die davon sprechen, dass Geld nicht wichtig ist … Andere Vorschläge wären gute Impulse für Kommunen, soziale Einrichtungen und Politiker: z. B. freier Eintritt in Schwimmbäder und Zoos für Kinder wie Gernot, Mittagessen und Musikinstrumente für alle …
wenig Essen
kein Auto
kein Kino
kein Schwimmbad
keine Bücher
wenig Spielzeug
keine Reisen
kein Sport
kein Geld
keine coolen Klamotten
kein Zoobesuch
kein Garten
© Friedrich Verlag | Die GRUNDSCHULZEITSCHRIFT 301 | 2017
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Gernots Vater: ein GEHEIMAGENT!
Auf dem großen Bild auf S. 12 und S. 13gibt es einiges zu entdecken über die Aufgaben eines Geheimagenten.
Was entdeckt ihr auf dem Bildund was wisst ihr schon?
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Lest weiter und ergänzt eure Liste.
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GEMEINSAM SCHULE MACHEN
DieGRUNDSCHULZEITSCHRIFT
Das Lesetagebuch von:
Dieses Lesetagebuch könnt ihr allein
oder zu zweit bearbeiten.
total geheimAlles
kein Musikinstrument
keine Ausflüge
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