Unsichtbare Siganesen

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Nr. 1887

Unsichtbare Siganesen

Sie kommen von Camelot - CistoloKhans letztes Aufgebot

von Hubert Haensel

Seit die Nonggo -gegen den Willen der Menschheit - das Heliotische Bollwerk imSolsystem installiert haben, hat sich für die Terraner einiges verändert: Es kommtzum ersten offiziellen Kontakt zwischen Gorhoon, der Galaxis der Nonggo, und derMilchstraße.

Der Oktober 1289 Neuer Galaktischer Zeitrechnung, der dem Oktober 4876 alterZeit entspricht, könnte somit eine neue Epoche in der terranischen Geschichte mar-kieren: weg vom Streit zwischen den galaktischen Großmächten, hin zu einer Zu-sammenarbeit verschiedener Galaxien unter dem Dach der Koalition Thoregon. Wiees scheint, gehören die Terraner - verkörpert durch Perry Rhodan - nun zu dieser Ko-alition, die eine wichtige Rolle im Universum spielen möchte.

Doch dann läuft aufgrund eines Attentats alles schief. Das Heliotische Bollwerkspielt verrückt, zuletzt vergeht es in einer gigantischen Explosion. Zwei sogenannteFaktorelemente bleiben auf der Erde zurück - im Umfeld von Kalkutta und von Terra-nia. Das heißt, daß die betroffenen Gebiete, auf denen jetzt Faktorelemente stehen,in einer anderen Region des Universums »gestrandet« sind.

Kalkutta-Nord kam im Teuller-System heraus, der Heimat der Nonggo. Dort wur-den die Terraner mit den Aktivitäten konfrontiert, die der Chaosmacher von Norrow-won im System der Nonggo entfesselte. Im letzten Moment konnte die Lage durchPerry Rhodan bereinigt werden, die Kalkuttani sind in Sicherheit.

Wo der verschwundene Teil Terranias »gelandet« ist, weiß bislang niemand; zumAusgleich verstecken sich im Faktorelement in der terranischen Hauptstadt die bar-barischen Dscherro. Deren Ziel ist, die Erde zu tyrannisieren. Es gelingt den Barba-ren, Terrania zu erobern, für die Menschen in der Megalopolis beginnt eine Zeit derleiden.

Den Menschen auf der Erde bleibt anscheinend nur eine Rettungsmöglichkeit - essind UNSICHTBARE SIGANESEN …

Die Hautpersonen des Romans:Domino Ross - Der siganesische Riese ist ein wahrer Draufgänger.Arno Wosken - Ein kleiner Mensch mit hohem moralischem Anspruch.Rosa Borghan - Sie ist die Technik-Spezialistin der Gruppe.Cistolo Khan - Der LFT-Kommissar zweifelt an den Alternativen gegen die Barbaren.Atlan - Der Arkonide schickt die Camelot-Geheimtruppe Ios.

1.

Übergangslos wich das Abbild des Hyper-raums auf den Schirmen der Sternenprachtdes Orion-Armes. Ein syntronisch einge-blendeter Schriftzug zeigte die verbliebeneEntfernung bis zum Ziel: zweitausendacht-hundert Lichtjahre.

Rosa Borghan schreckte aus leichtemHalbschlaf auf, weil die Geräuschkulissesich geringfügig veränderte. »Was ist ge-schehen?« Sie gähnte verhalten. »Wir habenSol noch nicht erreicht, oder?«

Der Blick ihrer grünen Augen taxierte dieHolowand. Mit einer beinahe ärgerlichenBewegung löste sie die energetischen Gurteund beugte sich in ihrem Kontursessel nachvorne, stützte die Ellenbogen auf die Arm-lehnen und das Kinn auf die Handflächenund fixierte Domino Ross.

Der Kommandant der Space-Jet aktiviertesoeben den Ortungsschutz.

»Was ist los?« wiederholte Rosa. »Gibt esProbleme?«

Domino stemmte sich aus dem Sesselhoch, er verschränkte die Hände im Nackenund streckte sich. Das Spiel der Muskeln un-ter seiner Bordkombi war deutlich. Rosswußte um die Wirkung seiner athletischenFigur auf Frauen.

»Stundenlanges Sitzen ist ungesund«, er-klärte er. »Dagegen sollten wir etwas tun.«

Langsam wurde Rosa ärgerlich: »Ich willwissen, was los ist!«

Domino Ross lächelte. Er war ein Hünemit breiten Schultern, kräftigem Brustkorbund muskulösen Beinen. Sein Gesicht wirktekantig, mitunter sogar hart und verschlossen,aber gerade das machte ihn für viele interes-sant und geheimnisvoll.

»Nichts von Bedeutung«, sagte er leicht-hin. »Nur ein Orientierungsmanöver.« Er or-derte einen Vurguzz an der Versorgungsein-heit. »Willst du auch einen Drink, Rosa?«

Sie überhörte die Frage bewußt. Trotzdem- oder gerade deshalb? - entnahm der Kom-mandant ein zweites Glas.

»Außerdem haben wir etwas Zeit füruns«, stellte er unumwunden fest. »Wir ha-ben uns lange nicht gesehen.«

»Ich sollte dir den Vurguzz ins Gesichtschütten …«

»Das tust du doch nicht.«Verdammt, dachte sie, warum ist der Kerl

nur so von sich überzeugt?Domino Ross war ein Draufgänger, ein

Abenteurer, wie es heutzutage nur noch we-nige gab. Er war keiner von denen, die sichhinter ausgefeilter Technik versteckten undabwarteten, daß Maschinen den Job erledig-ten - er war nur froh, wenn er selbst zu-packen konnte.

Ganz nahe kam er ihr, als er ihr das Glasreichte, der Blick seiner schwarzen Augentastete ihren Körper ab, als hätte er eine un-bekannte Spezies vor sich. Rosa empfandsein Verhalten schlichtweg als aufdringlich,doch zugleich gefiel es ihr, ausgerechnetvon Ross begehrt zu werden. Arno Wosken,der dritte an Bord, gab sich in der Hinsichtso penibel zurückhaltend, daß sie sich mit-unter schon fragte, ob er überhaupt einMann sei.

Domino schien ihre Gedanken lesen zukönnen. »Keine Sorge«, betonte er. »Arnowird uns nicht stören.«

Hastig trank Rosa nun doch von ihremVurguzz, verschluckte sich und maßte hu-sten. »Falls wir beim Einflug ins Solsystemaufgehalten werden …«, brachte sie ächzendhervor.

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Domino nahm ihr das Glas aus der Handund stellte es zur Seite. Er faßte sie um dieSchultern und zog sie an sich. Sein Griff warhart und unnachgiebig, als hielte er einStück Eisen in Händen, aber das war seineArt. Rosa kannte ihn nicht anders. Sie hattensich beinahe vier Monate nicht gesehen,weil sie an verschiedenen Orten in derMilchstraße gegen die Tolkander im Einsatzgewesen waren. Erst Atlans Anforderungvon Einsatzkräften hatte sie wieder zusam-mengeführt.

»In früheren Zeiten wurde jedem zumTod Verurteilten ein letzter Wunsch erfüllt.«Domino küßte Rosa heiß und leidenschaft-lich.

Sie wühlte ihre Hände in sein brustlangesschwarzes Haar, das er zu zwei Zöpfen ge-flochten hatte, und erwiderte den Kuß. Dochunvermittelt hielt sie ihn mit den Ellenbogenauf Distanz.

»Das nicht, mein Freund«, kam esstockend über ihre Lippen. »Ich habe nichtvor … zu sterben. Also vergiß deinen letztenWunsch.«

Domino kippte den Rest seines Vurguzzin einem Zug und warf das Glas zielsicher inden Abfallvernichter. Aus einer Außenta-sche seiner Kombi fischte er eine halbleerePackung Vitaminzigaretten und steckte sicheine an.

Von der linken Stirnseite bis zum Mund-winkel zog sich eine dunkle, hervorquellen-de Narbe über sein Gesicht. Jeder Medikerhätte die Möglichkeit besessen, das wildeFleisch abzulösen und mit Gentechnik dieHaut narbenfrei verheilen zu lassen. DochRoss dachte nicht daran, sich deshalb einerBehandlung zu unterziehen. Die Narbe ge-hörte längst zu ihm, sie erinnerte ihn aneinen Kampf auf Leben und Tod im Hanse-Kontor Fornax Anno 1247 NGZ. Erst zwei-unddreißig Jahre jung war er gewesen, alsdas wilde Tier ihn fast getötet hätte. Nochheute litt er deshalb manchmal unter Alp-träumen.

Rosa nippte nur noch an ihrem Glas. Sieschwieg, fuhr sich mit der Linken über das

stoppelkurz geschnittene Haar. Howalgoni-umfäden waren am Stirnansatz verknüpftund ringelten sich wie künstliche Lockenüber ihre Schläfen.

Seit Jahren waren Domino und sie mitein-ander vertraut; sie haßten oder liebten sich,je nach Bedarf. Mehr würde daraus wohl niewerden, denn sie waren einander zu ähnlich.Immer bestand die Gefahr, daß einer von ih-nen von einem Einsatz nicht zurückkam.

Die Vitaminzigarette zerbröselte zwi-schen Dominos Fingern. Nachdenklich kau-te er auf seiner Unterlippe. Zu erkennen,was er gerade dachte, war so gut wie un-möglich.

»Ich glaube, wir treiben schweren Zeitenentgegen«, begann Rosa Borghan stockend.

»Wir?« Eine steile Falte erschien überRoss' Nasenwurzel.

»Ich rede vom Galaktikum …«»… das de facto ein Scherbenhaufen ist.«Warum maßte er so oft auf Konfrontation

gehen? Domino Ross war nicht nur attraktiv,sondern zugleich überaus begabt und phan-tasievoll. Achtzehn Jahre lang war er alsSpezialagent der Kosmischen Hanse im Be-reich der Lokalen Gruppe im Einsatz gewe-sen und hatte Action erlebt, für die Trivid-Produzenten ein Vermögen bezahlen wür-den. In jener Zeit hatte er sich zum Drauf-gänger entwickelt.

»Etwas mehr Feingefühl wäre ange-bracht«, seufzte Rosa.

»Dann würdest du jetzt mit mir schla-fen?«

»Dann würde ich dir vielleicht sagen, daßich dich ganz nett finde.«

»Das ist mir längst klar.«»Du … du …« Rosa riß beide Arme hoch,

wollte mit den Fäusten gegen DominosBrust trommeln, doch er war schneller, um-klammerte ihre Handgelenke und zog siefest an sich.

»Wir sollten unser Verhältnis klären«, be-stimmte Domino. »Sonst ist es nicht gut,wenn wir gemeinsam in den Einsatz gehen.«

Rosa begann schallend zu lachen undbrach abrupt ab, weil sie erschrocken fest-

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stellte, daß sie ihre eigene Unsicherheit da-mit kaschierte.

»Hoffentlich habe ich nichts versäumt«,erklang vom Zentraleschott her eine mar-kante Stimme. »Warum hatten wir denHyperraum kurzfristig verlassen?«

»Der schöneren Aussicht wegen«, be-merkte Rosa spitz.

Arno Wosken kam grinsend näher. »Ichverstehe«, sagte er. »Störe ich?«

»Nein«, grollte Ross. »Wie kommst dudarauf?«

»Das frage ich mich auch«, seufzte Rosa.

*

Schweiß perlte auf der Stirn des LFT-Kommissars, als er die Nachricht las, dieihm ein Servorobot übergeben hatte. SeineLippen bebten, er knüllte die Folie zusam-men und warf sie in den Abfallvernichter.

Die Nacht hing über Terrania City. Niehatte Cistolo Khan die Metropole andersdenn als gleißendes Lichtermeer erlebt aberdieses trübe Halbdunkel, in dem sogar eini-ge Sterne zu sehen waren, erschreckte.

Fast zum Greifen nahe war das undefi-nierbare Glimmen des Faktorelements. Da-hinter lauerte eine Gefahr, die jeder sträflichunterschätzt hatte. Inzwischen war es längstzu spät, mit allen verfügbaren Mitteln zu-rückzuschlagen. Die Dscherro zu vernichtenhätte gleichzeitig bedeutet, Millionen Men-schen und einige zehntausend andere Galak-tiker dem sicheren Tod preiszugeben und dieStadt, die seit den Tagen der Dritten MachtSymbol für den Aufstieg Terras war, end-gültig in eine Ruinenlandschaft zu verwan-deln.

»Sie sind tot …« Abrupt wandte CistoloKhan sich zu Atlan um, der schweigend vorder großen Panoramawand stand und nichtsanderes tat, als ihn zu beobachten.

Es gefiel ihm nicht, daß der Unsterblichehier war; was auf Terra geschah, ging nie-manden etwas an, das waren innere Angele-genheiten. Aber für Geheimhaltung war eslängst zu spät. Katie Joannes Filmaufnah-

men hatten in der Galaxis neue Betroffenheitausgelöst. Und wohl auch heimliche Genug-tuung. Egal, das Ansehen der Erde stand aufdem Spiel.

Die Terraner schaffen es nicht, ein paarBarbaren aus ihrer Hauptstadt zu vertrei-ben. Khan hörte schon die Spottreden derGataser, Arkoniden, Antis und anderer Völ-ker. Insgeheim hatten viele doch nur daraufgewartet, daß der alte Rivale um Wirtschaftund Handel und die Vormacht in der Milch-straße eine Schlappe erlitt. Nichts war mehrwie früher.

»Wer ist tot?« fragte Atlan leise. Die letz-ten Tage hatte der Arkonide beim Faktorele-ment Kalkutta verbracht, jetzt war er imZentrum der LFT-Macht.

Khan blickte ihn aus tief in den Höhlenliegenden Augen an. Vermißte und Tote, daswar seit der Tolkander-Invasion entsetzli-ches Tagesgeschehen, und irgendwannstumpfte jeder innerlich ab, wollte er nichtden Verstand verlieren. Er ballte die Hände,öffnete sie wieder, verkrampfte die Händeerneut. Schmerzhaft schnitten die Nägel indie Handballen ein. Er stand selbst noch un-ter dem Schock des Erlebten, ertappte sichzeitweise dabei, daß er anders reagierte, alser es von sich erwartet hätte. Die Wunden,die die Tolkander gerissen hatten, würdennur langsam heilen. Obwohl rein statistischdie Zahl der Verluste der Galaktiker ledig-lich im Promillebereich auszudrücken war.

Verdammter Zwang, immer nur in Zahlenzu denken. Statistiken und Schicksale sindGegensätze, wie sie größer nicht sein kön-nen.

»Wer …?« wiederholte der LFT-Kommissar sinnend. Er starrte hinaus in dasHalbdunkel der Nacht; blutrot, als riesigezernarbte Fratze, stieg der Mond über denHorizont herauf. »Wir haben fünf unsererbesten Liga-Agenten verloren. Wie es aus-sieht, haben sie es nicht einmal geschafft,weit in das Faktorelement einzudringen.«

»Davon war mir nichts bekannt, Cistolo.«Um Khans Mundwinkel zuckte es verhal-

ten. Atlans unterschwelliger Vorwurf, der

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sich im Tonfall des Arkoniden ausdrückte,gefiel ihm nicht.

»Fünf Agenten, Freiwillige und ausgestat-tet mit der perfektesten Ausrüstung, die wirihnen bieten konnten. Die Dscherro habensie uns vor zehn Minuten zurückgebracht,vor die Füße geworfen wie Abfall: nackt,aufgeschlitzt …« Die Stimme des LFT-Kommissars versagte. Er schluckte krampf-haft, wischte sich mit dem Handrücken überdie Augenwinkel. »Mein Neffe war einervon ihnen. Der einzige Sohn meiner Schwe-ster. Sie selbst starb im Glauben an Goedda- so ein Wahnsinn. Warum? Ich frage dich,warum das alles?«

»Falls du dein Herz ausschütten willst,Cistolo …«

Cistolo Khan versteifte sich prompt.»Nein, Atlan«, sagte er hart, »das ist alleinmeine Sache. Ich muß damit fertig werdenwie Tausende andere auch. Es gibt keinenWeg, in die Burg der Dscherro einzudrin-gen.«

»Es gibt immer eine Hoffnung.«»Ist das die Weisheit von mehr als zwölf-

tausend Jahren?«Atlan nickte stumm.»Wenn du glaubst, daß deine Leute Wun-

der vollbringen können …« Khan hob dieSchultern und ließ sie langsam wieder sin-ken. »Das dachte ich von unseren Speziali-sten auch.«

Mit der zur Faust geballten Rechten -drosch er gegen seine offene linke Handflä-che.

»Ich will von deinen Leuten nichts sehen,bevor sie vor mir stehen, Atlan!« platzte erheraus. »Sie sollen die Sicherheitssystemedes Raumhafen-Towers überwinden. Nurwenn sie das schaffen, lasse ich sie ins Fak-torelement gehen. Sag ihnen das. Jeder wei-tere Tote ist ein Toter zuviel. Was wir brau-chen, sind unkonventionelle Lösungen. Amliebsten würde ich die Flotte aus allen Para-lysatorgeschützen feuern lassen, leider errei-chen wir damit die Dscherro hinter der Fak-tordampf-Barriere und ihren Schutzschirmennicht und schon gar nicht ihre Roboterar-

mee. Wir degradieren nur die Bevölkerungzu hilflosen Opfern.«

*

Solsystem. Äußerer Verteidigungsgürtel.Domino Ross stand kurz vor einer Explo-

sion, er beherrschte sich nur noch mit Mühe.Übertriebene Bürokratie war ihm stets einDorn im Auge gewesen, und wenn auf deranderen Seite ein lausiger Roboter Sturheitbewies, sah er gleich doppelt rot.

»Ich habe in den letzten Monaten nicht imKloster gelebt«, stieß er wütend hervor.»Daß in der Milchstraße Milliarden Tote zubeklagen sind, weiß ich; das ist entsetzlichgenug und gewiß nichts, worüber Galaktikerschnell wieder zur Tagesordnung übergehenkönnen - aber, verdammt noch mal, welcheGefahr soll von meiner Space-Jet ausge-hen?«

Selten redete er so viel. Nur wenn eineSache emotional in ihm hochkochte. Daß dieTolkander in der Milchstraße tiefe Wundengerissen hatten, wurde erst allmählich allenVölkern richtig bewußt. Viele schienen ih-ren Schock nur langsam zu überwinden.Doch das war kein Grund, ausgerechnet sei-ne Legitimation anzuzweifeln.

»Terra ist als Sondergebiet deklariert«,wiederholte der Roboter, eine dürre, röhren-förmige Gestalt, die an ein von Kinderhandgekritzeltes Strichmännchen erinnerte.»Frachtflüge werden zur Venus und den Ju-pitermonden umgeleitet, ansonsten …«

»Fracht? An Bord meiner Space-Jet?«»Du bist nicht avisiert, Domino Ross. Ich

weise dir eine Warteposition zu …«»Das ist überhaupt nicht tragbar!«»… andernfalls werden restriktive Maß-

nahmen ergriffen.«Ross zwirbelte seine Bartenden. »Wir

schreiben 14.10 Uhr Standardzeit, mein Ein-flug ist für 14.25 Uhr …«

»Achthundert-Meter-Kugelraumer im An-flug!« meldete Rosa Borghan von den Or-tungen. »Achtung: Traktorstrahl vor der Ak-tivierung!«

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»Sind das schon die restriktiven Maßnah-men?« schnaubte Ross. »Dabei haben wirnoch nicht einmal die Warteposition erhal-ten.«

»Wird soeben überspielt!« rief Arno Wos-ken. »Ein bißchen spät vielleicht, aber dudarfst nicht vergessen, was im Solsystem ge-schehen ist. Ich denke, allen geht inzwischender Hintern auf Methaneis.«

»Als die Nonggo erschienen sind, hättendie Terraner besser erst geschossen und da-nach gefragt. Dann hätten sie jetzt denSchlamassel nicht.«

»Funkkontakt wird an den Wachkreuzerübergeben!« meldete Wosken.

Ein Hologramm mit menschlicher Gestaltstabilisierte sich. Die Frau trug LFT-Uniform.

»Eine Space-Jet ANSON ARGYRIS ist inden Flottendateien nicht verzeichnet«, be-gann sie übergangslos und ohne Begrüßung.

»Natürlich nicht.«»Domino Ross, schalte deine Schutzschir-

me und den Antrieb ab. Bei Anzeichenfeindseliger Handlung sehe ich mich ge-zwungen, dich und deine Mannschaft zu pa-ralysieren.«

Ross stand da und ballte die Hände. In derAchthundert-Meter-Stahlkugel fühlten dieTerraner sich sicher, aber offensichtlich nurda. Andernfalls hätten sie keine derart über-flüssige Show abgezogen.

»Ich verlange eine Verbindung zu CistoloKhan!« wiederholte er, was er schon demRoboter gesagt hatte.

»Das wurde versucht. Der Kommissar istderzeit nicht zu erreichen.«

»Soweit mir bekannt ist, sind die Regie-rungsmitglieder nach Luna geflohen. HQHanse in Terrania wurde von Gegnern er-obert.«

»Dazu kann ich keinen Kommentar abge-ben.«

»Natürlich nicht.« Domino Ross grinstebreit. Obwohl ihm alles andere als nachGrinsen zumute war. Längst hatte er Rosaein knappes Handzeichen gegeben, daß sieden Erfassungsbereich der Optik verändern

sollte.Sie zwinkerte, als das Bild eingefroren

wurde. Vier, fünf Sekunden lang würde dieTerranerin damit vielleicht hinzuhalten sein.Das mußte genügen.

Blitzschnell nahm Ross eine Reihe vonSchaltungen vor. Noch war der Traktorstrahldes Kugelraumers nicht auf die Space-Jetgerichtet.

Virtuellbildner in Bereitschaft …Ortungsschutz …Energiereserve auf Metagrav …Die Bildübertragung wurde von Störun-

gen verzerrt und brach zusammen. Ausfalldes Übertragungsfeldes, würden die Terra-ner hoffentlich glauben, und damit verspiel-ten sie ihre Chance, über Funkpeilung diesich verändernden Positionsdaten der Space-Jet festzustellen.

In einer Geste der Ergebenheit hob Domi-no Ross beide Hände und ließ sie langsamwieder sinken. Um seine Mundwinkel grubsich ein leicht amüsiertes Lächeln ein.

Rasend schnell vergrößerte sich die Di-stanz zu dem stählernen Giganten der LFT-Heimatflotte.

»Der Traktorstrahl wurde aktiviert«, mel-dete Rosa Borghan. »Er versucht unser Vir-tuellbild in Richtung eines Äquatorialhan-gars zu zerren.«

Ross' Augen schienen ein verzehrendesFeuer zu sprühen. »Dann bereiten wir denwerten Terranern eben etwas Kopfzerbre-chen. Syntron: Programm Z!«

Z wie Zerstörung.Die Konverter der virtuellen ANSON

ARGYRIS wurden kritisch. Das ließen je-denfalls die jäh hochschnellenden Energie-werte des Abbilds vermuten. Sekunden spä-ter war in der Direktbeobachtung zu sehen,daß die Space-Jet von einer grellen Explosi-on auseinandergerissen wurde. Der Feuer-ball breitete sich aus und verwehte.

Zurück blieb ein expandierendes Trüm-merfeld.

»Die Projektion endet in zehn Sekunden«,erklärte Rosa.

»Ich wette, daß die Terraner vorher kapie-

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ren, daß wir ein verbessertes Virtuellbild be-sitzen.« Arno Wosken wedelte mit denAmen, als müsse er sich eines SchwarmsMücken in der sterilen Bordatmosphäre er-wehren. »Es ist nicht gut, schlafende Löwenzu wecken. Terraner verstehen da wenigSpaß.«

»Hunde«, wandte Rosa ein. »Es heißtHunde. Nicht Löwen.«

»Wo liegt der Unterschied?«Die Frau zuckte mit den Achseln. »Frag

unsere Vorfahren; die müssen es wissen.«Im nächsten Moment zuckte sie zusammen:»Tasterecho! Unsere Freunde haben be-merkt, daß sie ausgeschmiert wurden.«

»War das nötig?« fragte Wosken wie bei-läufig. »Auf die Art schaffen wir uns wenigFreunde. Die Verantwortlichen der LFTwerden uns Mißachtung ihres Hoheitsgebie-tes vorwerfen, und das dürfte noch zu-vorkdmmend ausgedrückt sein.«

Ross hob die Schultern. »Atlan biegt daswieder hin«, behauptete er.

Der Kugelraumer beschleunigte ebenfalls.War es Zufall, daß sein Kursvektor dem derANSON ARGYRIS glich?

»Die haben uns«, seufzte Rosa Borghan.Ross fixierte die Anzeigen, als könne er

die Geschwindigkeit der Space-Jet alleinkraft seines Willens hochtreiben. Noch fünf-zehn Sekunden bis zum Übertritt in denHyperraum.

»Traktorstrahl greift nach uns!«Eine heftige Erschütterung wurde von den

Absorbern aufgefangen. Während das Auf-brüllen der Konverter die Schallisolierungdurchschlug, ließ der Kommandant das Dis-kusschiff seitlich wegkippen.

»Unsere Tarnung wurde neutralisiert!«Zum zweitenmal entging die Space-Jet

dem Traktorstrahl, weil Ross sein Schiff ineine aberwitzige Schraubenbewegungzwang.

Noch fünf Sekunden …Erneut meldete sich die Terranerin über

Hyperfunk. Ihr Gesicht war puterrot, siestand sichtlich unter Druck. Wie ein überla-dener Gravitrafspeicher.

»ANSON ARGYRIS, sofort stoppen,oder wir eröffnen das Wirkungsfeuer!«

»Diese Handlungsweise wäre sinnvollergewesen, als …«

Der Übertritt in den Hyperraum erfolgte.»… die Nonggo hier erschienen.«Tausendfache Lichtgeschwindigkeit. Ein

lächerlich geringer Wert. Dennoch blieb derdreiköpfigen Crew der nach dem wohl be-kanntesten Freihändler benannten Space-Jetkaum genügend Zeit, um durchzuschnaufen.Vierzehn Sekunden sind keine Ewigkeit -nicht einmal genug, um die eigenen aufge-wühlten Gedanken in den Griff zu bekom-men.

Als der Hauptsyntron den Überlichtflugbeendete, war Terra schon deutlich in deroptischen Wiedergabe zu sehen.

»Ortungsschutz?«»Konnte wiederhergestellt werden.«»Was ist mit dem NOVA-Raumer?«Rosa Borghans Achselzucken war Ant-

wort genug.Ross hätte den Anflug auf Terrania dem

Syntron überlassen können, doch das warnicht seine Art. Mit Handsteuerung und im-mer noch wahnsinnig schnell, jagte er denDiskus in die obere Erdatmosphäre, ein fah-les Leuchten ionisierter Moleküle hinter sichherziehend.

»Du machst einen Fehler, Domino«, sagteArno Wosken ruhig.

Keine Antwort. Die Jet glitt über denamerikanischen Kontinent hinweg, RichtungOsten.

»Du tappst wie ein Okrill in den Glaskä-fig«, protestierte Wosken lauter. »Wir befin-den uns über Terra, nicht auf irgendeinemHinterwäldlerplaneten. Das mindeste, wasdu anrichtest, ist, daß du Atlan in eine prekä-re Situation bringst. Wie soll er unser Ver-halten erklären?«

Ross schaute kurz auf. »Ihm fällt immerwas ein«, behauptete er.

Europa … Asien … Terrania City aufdem Schirm, eine atemberaubende Metropo-le, vergleichbar nur mit wenigen Städten inder Galaxis. Domino Ross entsann sich

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nicht, daß eine andere Megalopolis ein ähn-liches Flair atmete wie ausgerechnet dieseStadt. Sie war aus der Keimzelle der DrittenMacht hervorgegangen; ihre Ausdehnungbetrug heute im Durchmesser 400 Kilome-ter.

Der Flottenraumhafen … nach ihren In-formationen hatte es da Kämpfe gegeben,die Dscherro hatten ihn angeblich zeitweisesogar erobert, dann aber wieder geräumt. Al-les war ein bißchen undurchsichtig.

Nordöstlich das von den Dscherro erober-te HQ Hanse. Rauch stieg aus vielen Stadt-teilen auf. Die Vergrößerung zeigte ver-brannte Parks, Glutnester in den Straßen undin Trümmern liegende Wolkenkratzer. Aneinigen Orten schien noch gekämpft zu wer-den, die Sensoren der Space-Jet maßen ener-getische Entladungen an. Eigentlich unvor-stellbar, daß solche Zerstörungen im Herzeneines galaktischen Reiches überhaupt mög-lich waren.

»Ich avisiere unsere Landung«, sagteWosken.

»Nein!« wehrte Ross ab. »Wir wissennicht, was die Dscherro können. Je wenigersie auf uns aufmerksam werden, desto bes-ser.«

»Dann solltest du aber die Rechnung mitdem Wirt machen.« Wosken legte die ein-treffende Kennung auf ein Holo in der Zen-tralemitte um. »Die Verteidigung wird mun-ter.«

»Unsere Tarnung ist durchbrochen«, mel-dete Rosa Borghan im selben Augenblick.

»… an unbekannte Space-Jet: Die Höhehalten und identifizieren! Andernfalls wer-den Abwehrmaßnahmen eingeleitet. Ichwiederhole: Terrania City Verteidigung anunbekannte …«

Domino Ross ließ sich ein Sprechfeldschalten.

»Was soll das Funkfeuerwerk?« stieß erunwillig hervor. »Hier ist die ANSON AR-GYRIS. Cistolo Khan erwartet unsere An-kunft.«

Sein Gesprächspartner hielt es nicht fürnötig, sich zu zeigen. »Terrania City Vertei-

digung an ANSON ARGYRIS. Die Positionhalten und weitere Anweisungen abwarten!«

Ross' Blick fraß sich auf der Detailwie-dergabe fest. Terrania lag in der Agonie derMorgendämmerung versunken: kaum indivi-dueller Flugverkehr, die Transportbänderund kühn geschwungenen Straßen wenigfrequentiert. Östlich des Flottenraumhafensein ausgedehntes Areal im Nebel … Nein,Nebel war das nicht, eher ein undefinierba-res Feld aus Energie, das allein vage, mitein-ander verschmelzende Schatten erkennenließ.

»Ausmaß ungefähr dreißig mal zwanzigKilometer, Höhe siebeneinhalb«, sagte ArnoWosken, der jede Regung des Kommandan-ten beobachtete. »Der TLD-Tower und derStadtteil Alashan waren da, wo jetzt diese -äh Nebelwand steht.«

Nach wie vor stand die holographischeKennung im Funkempfang.

»Welche Probleme terranische Dienststel-len mit der Übermittlung wichtiger Informa-tionen haben, ist mir egal«, schimpfte Ross.»Ich werde auf dem Flottenhafen landen,und niemand hindert mich daran. DominoRoss Ende.«

Vorschriften waren in seinen Augen eineErfindung ewiger Zauderer und Unent-schlossener. Sich hinter Paragraphen, An-ordnungen und immer neuen Erlassen zuverschanzen war nichts anderes als der zumMißerfolg verurteilte Versuch, das Leben inungefährliche Bahnen zu lenken. Aber sowar das Leben nicht. Hätte Terra sich sonsteinem Gegner von innen gegenübergesehen?Und alle Dienststellen waren hilflos.

Die ANSON ARGYRIS sank tiefer.Ein hämmerndes Stakkato hallte durch die

Zentrale: die akustisch umgesetzten Peilim-pulse zweier großer Kugelraumer.

»Irgendwer macht ganz bestimmt Ernst.«Ross verzog die Mundwinkel, denn Rosas

Kommentar behagte ihm nicht. Niemandwürde auf die ANSON ARGYRIS schießen-nicht bei einer Höhe von nur noch fünfund-zwanzig Kilometern über Terrania. Nichtauszudenken, was passierte, falls Wrackteile

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im Stadtgebiet einschlugen. Eine wirksameVerteidigung hätte schon außerhalb derMondbahn ansetzen müssen.

Wie hatte Atlan sich ausgedrückt? »DasSelbstverständnis der Menschen ist ange-schlagen. Die Situation in Terrania wird sicheventuell zum Trauma entwickeln, das dieTerraner erst lähmt und danach ihre Hand-lungen unberechenbar macht.«

Urplötzlich brannte der Himmel, einThermoschuß wühlte die Atmosphäre aufund hinterließ einen Kanal ionisierter undnachglühender Luftmoleküle. Das war derEindruck, der sich dem bloßen Auge bot.

»Distanz zwei Kilometer.«Ein Warnschoß, mehr nicht. Selbst ein

Kadett hätte auf die geringe Entfernung dasZiel nicht verfehlt.

Verständnislos schüttelte Wosken denKopf. »Sie sind nervös«, stellte er fest.»Mein Gott, was ist bloß aus den souveränenTerranern geworden?«

Eine Syntronstimme hallte durch die Zen-trale. Funkempfang auf Normalfrequenz.

»Positive Identifikation. Der ANSONARGYRIS wird Landeerlaubnis erteilt auf-grund Ausnahmeorder des LFTKommis-sars.«

2.

Die Space-Jet landete am südlichen Randdes Flottenraumhafens, nahe dem Museums-nachbau der CREST IV, der zu normalenZeiten als Publikumsmagnet ersten Rangesgegolten hatte. Das Ultraschlachtschiff derGALAXISKlasse mit imposanten 2500 Me-tern Äquatorialdurchmesser war ein HauchNostalgie aus der Frühzeit des Solaren Im-periums. Namen wie Merlin Akran, HoleHohle oder Pandar Runete wurden in virtu-ellen Museumsprogrammen wachgehalten.

Domino Ross ertappte sich bei dem ver-lockenden Gedanken daran, wie es wohlsein mochte, mit einer Flotte dieser Riesendas Universum zu durchkreuzen. Eine faszi-nierende Vision, die ihn fast bedauern ließ,daß er nicht schon damals gelebt hatte, im

25. Jahrhundert alter Zeitrechnung. Mit ei-nem unwilligen Kopfschütteln befreite ersich von diesen Überlegungen.

»Alle Systeme auf Null«, meldete Rosa.»SERUNS und volle Kampfausrüstung!«

ordnete Ross an. »Und Deflektorschirme,sobald wir das Schiff verlassen. Dann kriegtKhan uns nicht zu sehen, und die Dscherrobemerken uns ebenfalls nicht.«

»Was wäre wohl schlimmer?« grinsteWosken.

Minuten später flogen die drei im Schutzder Unsichtbarkeit Richtung Raumhafen-Tower. Die Sonne war über Terrania aufge-gangen und zeichnete lange Schatten. Düsterund drohend ragte im Osten das Nebelfeldder Faktordampf-Barriere auf - ein Stück un-begreifliches Nichts, das die Silhouette derMegalopolis messerscharf durchbrach.

Ross blickte interessiert hinüber. Nichtdie militärische Ausrüstung oder ihr brutalesVorgehen machten die Dscherro schier un-besiegbar, sondern allein die Tatsache, daßsie sich im Herzen der dicht besiedelten Me-tropole manifestierten. Damit verhindertensie den Einsatz schwerer Waffen seitens derTerraner.

Rosa Borghan und Arno Wosken folgtendem Kommandanten mit wenigen MeternAbstand. Ross wußte nicht, was sie beimAnblick der Nebelwand empfanden, die dasSonnenlicht in sich aufzusaugen schien.Aber wahrscheinlich spürten sie ebenfallsdie Aura der Bedrohung. Funkkontakt zwi-schen ihnen bestand nicht.

Mit steigender Geschwindigkeit glitten siezwischen den Landestützen der CREST IVhindurch. Hoch über ihnen wölbte sich dasRund des Kugelriesen; dagegen nahmen sichdie aktuellen 800-Meter-Schiffe wie Spiel-zeuge aus.

»Gigantisch«, murmelte Ross im Selbst-gespräch.

Voraus ragten die Verwaltungsgebäudeauf, deren Fassaden im Widerschein derMorgensonne wie flüssiges Gold schimmer-ten. Eingebettet in Parkanlagen, erwecktedieser Teil des Raumhafens den Eindruck, in

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einem Dornröschenschlaf zu liegen.Doch der erste Augenschein täuschte. Das

Head-up-Display des SERUNS zeigte RossHundertschaften von Kampfrobotern: Ob dieTARA-Versionen letztlich in der Lage seinwürden, den nächsten Angriff der Dscherroabzuwehren, bezweifelte er, doch einenZweck erfüllten sie bestimmt: das ange-knackste Selbstvertrauen der Terraner we-nigstens teilweise zu kitten.

Keiner der Roboter ortete die Deflektor-felder der SERUNS. Das war eine Feuerpro-be, die den Wissenschaftlern und Techni-kern von Camelot perfekte Arbeit beschei-nigte.

Der Zugang zum Tower war syntronischabgesichert. Im Helmdisplay erschienen dieÜberlappungsbereiche der Sensoren als gra-fische Darstellung. Es gab einen toten Win-kel, doch für Ross' hünenhafte Gestalt stellteer fast ein Problem dar. Während der Kom-mandant Mühe hatte, sich hindurchzuzwän-gen, ohne einen Alarm auszulösen, über-wanden Rosa und Wosken das Hindernis mitLeichtigkeit.

Ein ringförmiger Korridor; im Zentrumblühende Vegetation und Wasser, das sich inglitzernden Kaskaden aus den oberen Etagenergoß; entlang der Peripherie der Verwal-tungsapparat. Das alles machte durchauskeinen militärischen Eindruck, sondernsuchte in seiner lichtdurchfluteten Offenheitseinesgleichen.

Der Pikosyn wählte den Weg nach obenentlang der stäubenden Wasserflut.

Fünfte Etage. Sicherheitstrakt. Ross ver-harrte inmitten des sprudelnden Wassers,das von hier aus nach unten stürzte, undspürte plötzlich Rosa und Arno neben sich.Sein Jagdfieber war erwacht, der Zwang,sein Können beweisen zu müssen. HatteKhan genau das mit seiner seltsamen Forde-rung beabsichtigt, oder wollte er einfach At-lans Leute vorführen?

Eine energetische Barriere riegelte denSchacht ab. Kein Käfer hätte unbemerktdurchkommen können. Ross verwarf denGedanken, eine Strukturlücke im Schirm zu

schaffen, nach den ersten gemessenen Wer-ten hätte er dafür zuviel Zeit benötigt.

Es gab einen anderen Weg.Domino Ross tauchte wieder ab. Pump-

und Aufbereitungsanlagen sowie die Ener-gieversorgung verliefen in der Zwischen-decke. Drei Minuten benötigte er, um mitHilfe seiner Ausrüstung Hohlräume auszu-messen, die groß genug waren, ein Durch-kommen zu ermöglichen. Daß Rosa ihn fürverrückt erklärte, sah er an ihrer unmißver-ständlichen Geste. Er verzog lediglich dieMundwinkel.

In der Tat war sein Vorgehen Irrsinn. Undso überflüssig, wie Energie in die Sonne zupumpen. Was wollte er damit beweisen?Daß die Technik von Camelot der terrani-schen überlegen war? Unsinn! Eines Tageswürde es ohnehin kein Besser oder Schlech-ter mehr geben, dann mußten alle Galaktikerüber einen gemeinsamen Standard verfügen.Alles andere weckte nur Neid und Mißgunst.

Und Khan? Welche Beweggründe ihnwirklich dazu gebracht hatten, eine so unge-wöhnliche Forderung zu stellen, hatte Atlanin dem zweiten kurzen Funkkontakt - überdie Relaiskette verschwiegen. Es mußte mitder Situation in Terrania zusammenhängen,vielleicht ein Gefühl ohnmächtiger Hilflo-sigkeit.

Er will andere zu Sündenböcken abstem-peln, dachte Ross betreten. Aber dafür mußer eher aufstehen. Wir werden den Terra-nern zeigen, wie falsch ihre Ablehnung derUnsterblichen ist. Und daß sie niemals ver-gessen dürfen, was sie Männern wie Rho-dan, Bull und Atlan verdanken.

Er stellte den Thermostrahler auf feinsteFokussierung. Wosken fiel ihm in den Arm,schüttelte heftig den Kopf. Kurz berührtensich die Helme ihrer SERUNS.

»Wir schleichen uns wie Diebe ein«, ver-stand Ross, vom Rauschen des Wassersüberlagert. »Das ist trotz allem nicht rich-tig.«

»Ich weiß, was ich tue«, brüllte er zurück.In den achtzehn Jahren im Dienst der

Kosmischen Hanse hatte er immer nur nach

12 Hubert Haensel

vorne geschaut, hatte seinen einmal einge-schlagenen Weg stur verfolgt und dabei ver-lernt, daß es auch eine Umkehr gab. Der Er-folg hatte ihn verwöhnt.

Ein Teil der Thermoenergie ging im Was-ser verloren, das unter heftigen Eruptionenverdampfte, aber langsam fraß sich der ge-bündelte Strahl durch den Stahlabschluß derZwischendecke. Minuten vergingen, bisRoss ein ausreichend großes Segment nachinnen stoßen konnte. Der Hohlraum dahinterhatte sich bereits mit Wasser gefüllt.

Mit schwachen Schwimmbewegungendrang Domino als erster ein. Er achtete nichtauf die Aggregate, an denen er sich vorbeiz-wängte, schaltete die Ortungen seines SE-RUNS auf Nahbereich. Zumindest hier gabes keine Schirmfelder, die das weitere Vor-ankommen erschwert hätten. Niemand hattewohl in Erwägung gezogen, daß Unbefugteauf diesem Weg eindringen könnten. Nochdazu in Terrania, der am besten geschütztenMetropole der LFT.

Eine Farce, dachte Ross. Oder eine Ironiedes Schicksals.

Er kam langsamer voran als gedacht, hattemehrmals das ungute Empfinden, steckenzu-bleiben. Außerdem lief ihm die Zeit davon.

Endlich ein Lüftungsrohr, das in die Höheführte. Der Thermostrahl schmolz dasKunststoffmaterial wie Butter und ließ esnachgluten. Als Ross sich über die Schnitt-stellen hinweg in den Schacht zwängte,blieb ihm gerade noch die Bewegungsfrei-heit, sich umzudrehen und die Arme anzu-winkeln. Mit schwacher Antigravunterstüt-zung fiel es ihm dennoch leicht, in die Höhezu klettern.

Der Ausstieg lag in einem kleineren Ma-schinenraum, in dem alle Versorgungs-schächte dieser Etage zusammenliefen. DieStreustrahlung war groß genug, daß Ross eswagen konnte, sein Flugaggregat zu aktivie-ren.

Ein kurzer Richtimpuls ließ das Schottaufgleiten. Mit minimaler Beschleunigungschwebte Ross hindurch, gefolgt von Rosaund Arno Wosken. Zehn Meter weiter mün-

dete der schmale Gang in den Hauptkorri-dor. Holographien aus dem Solsystemver-mittelten den optischen Eindruck unbe-schränkter Weite. Domino achtete kaum dar-auf.

Ein rhythmisches Dröhnen erklang, Wän-de und Boden schienen schwach zu vibrie-ren.

Sekundenbruchteile später brachen sie umdie Ecke: Kampfroboter! Monströse Kolosseaus Terkonitstahl, deren Formation den Kor-ridor in ganzer Breite ausfüllte. Dreißig odervierzig waren es, vielleicht sogar mehr; siemarschierten auf stählernen Beinen, eine al-tertümliche Konstruktion.

Im ersten Erschrecken desaktivierte Rosssein Flugaggregat. Eine Entdeckung im letz-ten Moment wäre gewiß nicht nach seinemGeschmack gewesen.

Hart kam er auf und rollte sich ab, doch erschaffte es nicht, sofort einen sicheren Standzu bekommen, weil der Boden zu schwingenbegann. Vor ihm wuchs ein stählerner Leibauf, und der Schatten, den Ross aus den Au-genwinkeln heraus wahrnahm, bedeutetenichts Gutes.

Der Schatten senkte sich rasend schnellherab.

Mit letzter Anstrengung wälzte Dominosich zur Seite. Wo er eben noch gelegen hat-te, krachte eine breite Ramme auf den Bo-den. Schier ohrenbetäubend war das Dröh-nen, das die Mikrophone ins Helminnereübertrugen.

Ihm blieb keine Zeit für Überlegungen, obder SERUN ihn davor bewahrt hätte, plattgewalzt zu werden. Schon schwebte dernächste Schatten über ihm, kam rasendschnell näher … Und diesmal, das spürte er,konnte er sich nicht schnell genug zurück-ziehen.

»Nein!« erklang ein gellender Aufschreiaus dem Helmempfang. Rosa schrie ihr Er-schrecken hinaus.

Der stählerne Quader, mehrfach so großwie Domino Ross, verharrte abrupt. So dichtüber ihm, daß er nur die Arme auszustreckenbrauchte, um die von Kratern und Furchen

Unsichtbare Siganesen 13

durchsetzte Platte zu berühren.Mit einem kurzen Schub des Gravo-Paks

brachte er sich endlich aus der Gefahrenzo-ne. Gleichzeitig vollendete der Kampfrobo-ter die angehaltene Bewegung, sein Fußdröhnte auf den Boden. Domino spürteeinen eisigen Schauer.

In der nächsten Sekunde fühlte er sich an-gehoben und von einer unsichtbaren Kraftzusammengeschnürt.

»Alle Funktionen auf Minimum«, wisper-te der Pikosyn. »Widerstand wird nicht emp-fohlen.«

Natürlich nicht, dachte Ross bitter. Ich le-ge mich doch nicht mit einer Horde wildge-wordener Roboter an.

Die gigantische Stahlhand umklammerteseinen Leib.

Über Blickschaltung aktivierte Ross denFunk. »Nett, euch zu sehen«, brachte erschwer atmend hervor. »Ich verlange, daßihr meine Begleiter und mich zu CistoloKhan und Atlan bringt.«

*

Pünktlich auf die Minute. Das war dieeinzige Genugtuung, die Domino Ross emp-fand. Alles andere an seiner Situation wareher peinlich und nicht dazu angetan, seinWohlbehagen zu fördern.

Bis zum Brustkorb steckte er in der Greif-hand des Kampfroboters, war nicht in derLage, irgend etwas zu unternehmen. Rosaund Arno Wosken waren ähnlich prekärdran.

»Sind das deine Spezialisten, Atlan?« Derspöttische Unterton in der Stimme behagteRoss überhaupt nicht. Mühsam versuchte er,sich zu drehen, konnte aber den Sprechernicht sehen; der massige Oberkörper des Ro-boters verdeckte die Sicht. »Eines muß manihnen lassen: Pünktlich sind sie. Ob das auchdie Dscherro zu schätzen wissen?«

Der Raum war nicht sonderlich groß:- einStandardbüro mit einer Bildschirmwand, ei-nem halbkreisförmigen Kommandopult undexotischen Pflanzen. Ein Transparenzseg-

ment ermöglichte ungehinderte Sicht überden südöstlichen Bereich des Flottenraum-hafens. Weit im Hintergrund erkannte Rossden Nebelkubus des Faktorelements.

Atlan kam auf ihn zu. Der weißhaarigeArkonide musterte ihn wie ein besonderesInsekt. Jedenfalls hatte Ross genau den Ein-druck - als wolle Atlan ihn auf eine Nadelspießen und in Formalin ertränken.

Wütend auf sich selbst, ballte er die klei-nen Hände. Der Blick der roten Albinoaugensezierte ihn.

Warum gibst du nicht endlich den Befehl,daß der Blechkerl mich absetzen soll?durchzuckte es Ross. Ich hasse es, so zurSchau gestellt zu werden.

Nachdenklich fuhr Atlan sich mit derZunge über die Lippen. »Du hast selbst dieSprache auf Siganesen gebracht, Cistolo«,sagte er im Plauderton. »Wenn ich vorstel-len darf: Domino Ross, Jahrgang 1215. Ath-letische 11,21 Zentimeter groß. Technikstu-dium mit Fachgebiet Mikrotechnik an derehemaligen Siganesischen Universität Terra-nia, jedoch kein Abschluß. Das war ihm zutrocken. Er trat lieber als Spezialagent in denDienst der Kosmischen Hanse und hat sichin einer Vielzahl von Einsätzen glänzend be-währt.«

»Was man momentan nicht von ihm be-haupten kann.« Die Stimme erklang nunhinter Ross: zweifellos Cistolo Khan, docher konnte den Sprecher immer noch nicht se-hen.

»Domino wollte sogar in den Terrani-schen Liga-Dienst überwechseln, weil ersich dort eine abenteuerlichere Zukunft alsbei der Hanse versprach«, fuhr Atlan fort.»Bei einem Besuch auf Siga erfuhr er indesvon dem Vorhaben seiner Artgenossen, zuemigrieren, und schloß sich ihnen an.«

Atlan lächelte. »Siga ist in mancherleiHinsicht eine Legende, man sieht es an derSiganesischen Universität hier in Terrania:Es gibt kaum noch Angehörige dieses Vol-kes; da man hier aber Mikrotechnik lehrt,blieb der uralte Name.« Er seufzte. »Die Si-ganesen von heute haben nicht mehr soviel

14 Hubert Haensel

vom Wesen ihrer Vorfahren aus der Zeit ei-nes Lemy Danger oder Harl Dephin, derenHang zu Ordnung und Höflichkeit selbst mirmanchmal zu weit ging. Was Monos diesemVolk angetan hat, konnte nicht ohne Folgenbleiben.« Der Arkonide hob die Schultern.»Aber Domino ist ein guter Mann. Er hat dieIntuition für komplizierteste Lösungen …«

»Daran zweifle ich nicht«, unterbrachKhan. »Kompliziert war sein Auftritt alle-mal.«

Ross hatte inzwischen wieder so viel Be-wegungsfreiheit, daß er den Helm seinesSERUNS zurückklappen konnte. Mit dün-nem Stimmchen und heftig gestikulierendversuchte er, Atlan zum Themawechsel zubewegen.

»Erst wenn komplizierte Wege nicht dieLösung bringen, bietet er auch einfache Al-ternativen an«, fuhr der Arkonide unbeein-druckt fort. Er wandte sich an Ross und stießihn mit der Kuppe seines kleinen Fingers an.»Ist es nicht so?«

»… die kleinen Leute von Siga.« Khantrat in sein Blickfeld. Er beugte sich so weithinab, daß sein Gesicht auf einer Höhe mitRoss war. Aus halb zusammengekniffenenAugen musterte er den Spezialisten. »Ichmuß zugeben, ich habe nicht daran geglaubt,irgendwann Siganesen zu sehen. Sie sind be-reits so etwas wie eine Legende …« Er un-terbrach sich und verzog das Gesicht zu ei-ner unwilligen Grimasse. »Camelot ist dasAvalon der Unsterblichen, nicht wahr, dieInsel der Seligen, auf der König Artus seineWunden heilte? Ich kenne diese irdischeMythologie, seit ich erstmals von Camelothörte. Weil es wichtig ist, informiert zu sein.Aber Avalon ist vage, nichts Greifbares - sowie die Siganesen heute. Ich glaube, sie sindauf Effekthascherei angewiesen.«

Der LFT-Kommissar hatte sich nicht be-müht, leise zu sprechen. Gequält verzogRoss das Gesicht, weil jedes Wort von ei-nem scharfen Windstoß begleitet wurde, dersein Haar verwirbelte.

»Unterstelle mir keinen Minderwertig-keitskomplex!« protestierte er. »Das habe

ich nicht nötig.«Khan richtete sich wieder auf. »Nein«,

sagte er, an Atlan gewandt »klein haben Si-ganesen sich wohl nie gefühlt.«

Domino Ross taxierte den LFT-Kommissar. Cistolo Khan war ein fülliger,jedoch nicht zur Korpulenz neigender Mannund mit zwei Metern Größe eine ausgespro-chen imposante Erscheinung. Dennoch über-ragten ihn die Kampfroboter um einiges.Enthaarungscreme hatte er lange nicht mehrbenutzt, denn die Bartschatten verliehen ihmein düsteres Aussehen. Unter den Augenwaren dunkle Ringe eingegraben, alles An-zeichen dafür, daß er seit Tagen enorm imStreß stand und kaum Zeit für sich selbstfand.

Einen groben Überblick über das Gesche-hen in Terrania kannten die Siganesen ausden galaktischen Medien. Fast greifbar standdie Anspannung im Raum. Die Aura vonBedrohung, Hilflosigkeit und Resignationergab eine höchst brisante Mischung, wieDomino Ross sie nie zuvor gespürt hatte.

Cistolo Khan befahl den Robotern, die Si-ganesen abzusetzen.

»Dort hinüber, wenn ich bitten darf.« Ar-no Wosken deutete auf ein WAndrégal, aufdem zwischen Datenträgern und allerleiKleinutensilien genügend Platz war. Er hatteals einziger darauf verzichtet, den Helm zuöffnen, entsprechend laut wurde seine Stim-me von den Akustikfeldern übertragen.

Ein knappes, kaum merkliches Nicken desKommissars ließ die Roboter reagieren. DieAufwärtsbewegung war so schnell, daßRoss' Magen rebellierte. Er schwankteleicht, als er auf dem Regalbrett auf die Fü-ße gestellt wurde, aber dann setzte er sichund ließ die Beine über den Rand baumeln.

Rosa stellte sich hinter ihn, stützte sichauf seiner Schulter ab. Und Wosken machtees sich auf einem Memo-Kristall bequem.

»Terra hat uns gerufen - hier sind wir!«sagte Rosa Borghan spitz. »Beginnen wirmit der Einsatzbesprechung.«

*

Unsichtbare Siganesen 15

Cistolo Khan stand da wie ein Monument.Nicht ein Muskel zuckte in seinem Gesicht.Er blickte die Siganesen an, aber er schautezugleich durch sie hindurch; sein Blick ver-lor sich in unbekannter Ferne.

Die Arme hatte er vor der Brust ver-schränkt, als wolle er nichts und niemandenan sich heranlassen. In seiner derben Frei-zeitkleidung, Schreibstifte und Folien in derlinken Brusttasche, wirkte er ganz und garnicht wie ein Mann, der das Schicksal derLFT entscheidend mitbestimmte.

Er schwieg lange, doch in dieser Zeit er-schien eine steile Sorgenfalte auf seinerStirn. Daß die kleinen, grünhäutigen Sigane-sen sich unter seinem Blick wie unter einemSeziermesser fühlen mußten, war ihm durch-aus bewußt.

An der Loyalität von Domino Ross undseinen Begleitern zweifelte er nicht; ihm warauch klar, daß er die Siganesen brauchte. Al-le bisherigen Versuche, das Innere des Fak-torelements zu erkunden, waren fehlgeschla-gen. Selbst Robotsonden hatten kein Ergeb-nis gebracht.

Waren die drei sich bewußt, daß sie aufein Todeskommando gehen wollten?

Welchen Grund haben sie, ihr Leben fürTerra einzusetzen? fragte sich der Kommis-sar. Als die Siganesen verschwanden, habensie damit ihre Zugehörigkeit zur Liga FreierTerraner gekündigt.

Hatten sie das wirklich? Oder waren nurdie Menschen der LFT in eine falsche Denk-weise verfallen, satt und von ihrer Technikverhätschelt?

Khan war dem Arkoniden dankbar, daß erim Hintergrund blieb und schwieg. Er hattegeglaubt, eine einfache Entscheidung zutreffen, doch dem war nicht so. Plötzlichhatte er das Empfinden, die Siganesen denDscherro zum Fraß vorzuwerfen. Was konn-ten sie der offenen Brutalität der Gehörntenentgegensetzen, denen Leben nichts bedeu-tete?

Sie hatten keine Chance.»Die Unsterblichen auf Camelot scheinen

wahre Meister der Geheimhaltung zu sein«,

hörte Khan sich einvermittelt sagen. »Siesollten sich aber vor Augen führen, daßmangelndes Vertrauen schnell in Konfronta-tion umschlagen kann.«

»Ganz meine Meinung, Cistolo«, bekräf-tigte Atlan.

Mit einer irritiert wirkenden Handbewe-gung fuhr der LFT-Kommissar durch seinschulterlanges dunkelbraunes Haar. Erwandte sich dem Arkoniden zu:»Vierunddreißig Jahre ist es her, daß dasVolk der Siganesen spurlos verschwand; imJahr 1255 NGZ. Ich erinnere mich gut an dieAufregung in den Medien. Siga war von ei-nem Tag zum anderen entvölkert, und Ver-mutungen, daß ein Anschlag oder ein Un-glücksfall dahintersteckte, kamen auf. Be-wiesen werden konnte nie etwas. Die LFThat Siga als Protektorat übernommen undunterhält eine kleine Forschungsstation, umden Anspruch auf das Sonnensystem nichtzu verlieren. Du weißt, wo die Siganesenheute leben -die drei sind der Beweis dafür.Also heraus mit der Sprache, Atlan, Vertrau-en gegen Vertrauen.«

»Du verlangst etwas von mir, was ichnicht erfüllen kann, Cistolo.«

Khans Miene verdüsterte sich. »Ich dach-te es mir«, sagte er gedehnt. »Die Unsterbli-chen haben sich von der Menschheit weg-entwickelt; unsere Politik ist schon langenicht mehr die eure, und …«

»Das ist doch Blödsinn!« rief Rosa Borg-han von ihrem Regalbrett herab. »Atlan wä-re nicht hier, wenn er den Terranern nichtbeistehen wollte. Für uns gilt das gleiche.Genügt das als Begründung?«

Dicht trat Cistolo Khan an das Regal her-an und fixierte die drei in ihren SERUNS.Sie faszinierten ihn. Weil sie trotz ihrer ge-ringen Größe Menschen waren, mit allenStärken und Schwächen, die Menschen ebenauszeichneten. Und weil sie bewiesen, wieanpassungsfähig der Homo sapiens war.

*

Die Lippen fest aufeinandergepreßt, nick-

16 Hubert Haensel

te Cistolo Khan. Nachdenklich, wie es schi-en. Er zögerte, vergrub sein Gesicht in denHandflächen und massierte sich in einer hin-haltenden Geste die Zangenknochen.

»Warum habe ich nur das Gefühl, daßman von mir verlangt, den Teufel mit demBeelzebub auszutreiben?« Dumpf klang sei-ne Stimme unter den Händen hervor.

»Weil du dich zum Gefangenen deines ei-genen Mißtrauens machst«, sagte Atlan.»Das muß nicht sein.«

»Dann beantworte mir zwei Fragen: Wiekonntest du den Kontakt mit den Siganesenherstellen, und wo leben sie?«

»Es tut mir leid. Ich kann dir darauf keineAntwort geben.«

Betretene Stille. Der gemeinsame Kampfgegen die Tolkander hatte keine Gegensätzeverwischt. Im Gegenteil. Manchmal erschienes, als hätten sich die Fronten weiter verhär-tet. Ein Beispiel war, daß Cistolo Khan be-gonnen hatte, Myles Kantor zu ignorieren.Die Kosmopsychologin Bré Tsinga hatteerst vor kurzem diese Erfahrung machenmüssen. »Myles Kantor ist nicht tragbar«,hatte Khan sie wissen lassen und ihr zweiandere Wissenschaftler geschickt, dieprompt ihre Fortschritte mit dem NonggoGenhered zunichte gemacht hatten.

Eine dünnes Stimmehen stand plötzlichim Raum. »Was ist jetzt mit uns? Werdenwir gebraucht oder nicht? Tatenlos herum-zusitzen ist nicht das, was ich mir vorgestellthabe.« Domino Ross hatte bereits ein Beinangezogen und war im Begriff, sich zu erhe-ben.

Vielleicht drückte sein Gesicht Ärger aus,zumindest hatte es den Anschein. Doch ge-nau konnte Cistolo Khan das auf die Distanzvon einigen Schritten nicht erkennen. Undschon wieder näher heranzugehen und denSiganesen zu fixieren widerstrebte ihm. Die-se kleinen Menschen waren keine Anschau-ungsobjekte, obwohl ihre Nähe ihn mehr in-teressierte als die exotischste Fremdintelli-genz.

»Keine Sorge, Khan«, erklärte Rosa Bor-ghan. »Körperliche Größe ist relativ. Wir

können kämpfen, und Ausrüstung haben wirmitgebracht.«

»Darum geht es mir nicht.«»… und falls wir in Terrania den Tod fin-

den - wir kennen unser Risiko. Schon dasLeben an sich ist lebensgefährlich.«

»Ich denke, viele Terraner sind es einfachnicht mehr gewohnt, mit uns umzugehenwie mit ihresgleichen«, fügte Arno Woskenhinzu.

»Dein Name …?« wollte Khan wissen.»Wosken, Arno Ullrich Wosken. Trans-

mittertechniker, sechzig Jahre, nicht liiert.Größe exakt 10,9 Zentimeter, Gewicht …«

»Das interessiert den Kommissar nicht«,unterbrach Rosa.

»Bin ich zu leicht oder was?«Rosa schüttelte so heftig den Kopf, daß

die Howalgoniumfäden in ihrem Haar luftigauf ihre Schultern fielen. »Ich bin Rosa Bor-ghan, ehemalige Spezialagentin der Kosmi-schen Hanse, zuletzt …«

»… auf Camelot tätig«, versetzte Khan.»Wer sagt das?«»Gib es ruhig zu. Ich kann immer noch

eins und eins zusammenzählen, ohne eineSyntronik bemühen zu müssen.«

»Eins ist auf jeden Fall klar: Siganesenholen wieder einmal für Terraner die Kasta-nien aus dem Feuer«, fügte Domino Rosshinzu. »So sagt man doch, oder?«

3.

»Jetzt könnte ich einen kräftigen SchluckVurguzz vertragen«, platzte Arno Woskenunvermittelt heraus.

Vor zwanzig Minuten war die Nachrichteingetroffen, daß Dscherro im Bereich desCrest Lake angegriffen und erneut einigehundert Menschen verschleppt hatten. EineSpur der Zerstörung und des Blutes zog sichdurch Happytown, ein Kontingent Kampfro-boter besaß nur noch Schrottwert.

Achtzehn Tote waren zu beklagen. DieSituation war längst unerträglich.

Dabei hatten die Gehörnten vor einer Wo-che noch drei Unterhändler mit einer weißen

Unsichtbare Siganesen 17

Fahne an den Rand des Faktorelements ge-schickt. Alles nur eine Farce, sie waren niebereit gewesen, wirklich zu verhandeln.

Khans Verteidigungsversuche zeugtenvon der Ohnmacht aller maßgeblichen Stel-len. Inzwischen waren die Aggressoren diewahren Herren Terranias, war der Zeitpunktvertan, an dem es vielleicht noch möglichgewesen wäre, sie durch den Einsatz schwe-rer Waffen zu beeindrucken.

Aber solche Waffen in einer Millionen-metropole? Kein Verantwortlicher wäre be-reit gewesen, den Tod Zigtausender Bewoh-ner auch nur billigend in Kauf zu nehmen.Die Dscherro hingegen kannten derartigeSkrupel nicht.

Die nur wenige Minuten dauernde Bild-übertragung einer Robotsonde aus dem Be-reich des Crest Lake hatte den Siganesen dieganze Brutalität des Geschehens vor Augengeführt. Das letzte Bild war ein Dscherro involler Kampfmontur mit einer bizarren Waf-fe gewesen.

Khan stellte ein halb mit einer grünenFlüssigkeit gefülltes Schnapsglas auf dasRegalbrett. Das Glas reichte Wosken bis fastzur Brust, er hatte sichtlich Mühe, sich überden Rand zu beugen, aber dann schöpfte ermit der hohlen Hand. Den Helm seines SE-RUNS hatte er ebenfalls zurückgeklappt.

»Ich hatte nicht vor, in Alkohol zu ba-den.« Das herausfordernde Grinsen miß-glückte ihm, lediglich eine Grimasse umfloßseine Mundwinkel. Daß Rosa ihn mit einerknappen Bemerkung zurechtwies, kamzwangsläufig.

»Für eine wirksame Strategie brauchenwir mehr Informationen«, drängte DominoRoss. »Wir haben genug Zeit vertan, kom-men wir also endlich mal zur Sache.«

Khan gab eine kurze Anweisung an denRaumservo. Während die Helligkeit ge-dimmt wurde, setzte Wosken sich mit über-geschlagenen Beinen auf das Brett, denRücken gegen das Vurguzz-Glas gelehnt.

Domino Ross hatte sich noch immer nichtvon seinem Platz fortbewegt und ließ dieBeine baumeln. Die Frau hingegen hantierte

mit ihrem Miniaturstrahler, der kaum größerals eineinhalb Zentimeter war.

Sekundenlang schloß Cistolo Khan dieAugen und lauschte dem eigenen Puls-schlag. Das ist verrückt, dachte er. Sie sehenaus wie kleine Puppen, lebendig gewordenesSpielzeug, und ihre Waffen sind kaum mehrals das. Damit können sie den Dscherro be-stenfalls Nadelstiche zufügen.

Er wußte, daß dem nicht so war, daß diesewinzigen Waffen ebenso tödlich wirkenkonnten wie ein Strahlengewehr. Auf subti-lere Weise allerdings.

Atlan kannte die neue Heimat der Sigane-sen. Das ließ Khan sich nicht ausreden. Aberer konnte nicht weiter in den Arkonidendringen, vor allem war die Antwort derzeitnicht entscheidend. Er hatte lediglich Pro-bleme damit, elf Zentimeter große Men-schen als kampfkräftig einzustufen. Obwohler selbst Siganesen herbeigesehnt hatte.Aber das war ein Wunsch gewesen, und dieWirklichkeit sah wie immer ganz andersaus.

Die Größe war nicht die einzige Beson-derheit dieses Volkes von Umweltangepaß-ten. Früher, um das 24. Jahrhundert alterZeitrechnung, waren sie noch gut doppelt sogroß gewesen. Und ihre Lebenserwartunghatte sich unglaublichen neunhundert Jahrengenähert. Eigentlich beneidenswert.

Mit den Klonexperimenten während derHerrschaft der Cantaro war die durchschnitt-liche Lebenserwartung der kleinen Leute auf250 Jahre gesunken, zugleich hatte ihre Grö-ße sich auf rund elf Zentimeter eingependelt.

War die Entwicklung wirklich schon zuEnde?

Müßige Überlegungen. Cistolo Khan kon-zentrierte sich auf das Hologramm, das Dop-pelrumpfschiffe der Nonggo zeigte und dasHeliotische Bollwerk, das von ihnen im Sol-system installiert worden war. Eine Syntron-stimme gab Erläuterungen, erklärte ein gi-gantisches Transportsystem, gegen dasselbst die Großtransmitter von Olymp anmu-teten wie steinzeitliche Faustkeile im Ver-gleich zu einer Transformkanone.

18 Hubert Haensel

Am 30. September 1289 NGZ hatte dasHeliotische Bollwerk seine Tätigkeit aufge-nommen. Beliebige Regionen innerhalb desSonnensystems konnten ab sofort gegenFaktorelemente aus Systemen in fernen Ga-laxien ausgetauscht werden, in denen sicheine Gegenstation befand. Ein solches Ele-ment maß einheitlich dreißig mal zwanzigmal siebeneinhalb Kilometer, wobei zusätz-lich ein Teil des jeweiligen Untergrunds mit-befördert wurde.

»Die Terraner haben sich auf einen ver-dammt schlechten Tausch eingelassen«,konnte sich Arno Wosken nicht verkneifen.»Vielleicht waren sie ein wenig zu raffgie-rig.«

»Sabotage bezeichnet die Hintergründetreffender«, wandte Atlan ein.

»Also wurden die Dscherro bewußt nachTerrania versetzt?« fragte Domino Ross.»Von den Nonggo?«

»Nein«, sagte Atlan nur.Mit der Explosion des Heliotischen Boll-

werks, fünfzehn Millionen Kilometer vonTrokan entfernt, endete die erste Wiederga-be.

»Gibt es Fragen?« wollte der LFT-Kommissar wissen.

»Jede Menge!« rief Ross von seinem luf-tigen Sitzplatz aus. »Aber das sind nur De-tails am Rande. Ich denke, die Antworten er-geben sich aus den nächsten Aufzeichnun-gen.«

Ein Abbild der Faktordampf-Barriere er-schien, jenes halbtransparenten, nebelartigschimmernden Energiefeldes, das den sofor-tigen Austausch fremder Atmosphären so-wie eine Angleichung unterschiedlicherDruckverhältnisse verhinderte. Einzelheitenim Inneren ließen sich optisch nur als ex-trem grobe Schemen erkennen. Hyperortun-gen versagten, ebenso erwiesen sich Versu-che, mit Laserstrahlen oder Schall Messun-gen vorzunehmen, als vergeblich.

Zweihunderttausend Terraner in der Satel-litenstadt Alashan und im TLD-Tower - aus-getauscht gegen etwas Unbekanntes. DasVerschwinden einer diplomatischen Abord-

nung unter Coeru Pinguard, einem vonKhans Stellvertretern, bedingte eine erstemilitärische Aktion. Um Mitternacht des 6.Oktober drangen Soldaten und tausendKampfroboter in das fremde Territorium ein,aber nur der Reporterin Clara Mendoza, dieals einzige, wenn auch übel zugerichtet, dasFaktorelement wieder verlassen konnte, wareine erste Beschreibung der Dscherro zuverdanken.

Sowohl davor als auch danach erschienenimmer öfter Gehörnte im Umfeld des Ele-ments, töteten, zerstörten und entführtenharmlose Bewohner. Selbst ein Brautpaarwurde mitten aus der Trauungszeremonieheraus verschleppt, ein Kirchenbesucher ge-tötet, andere verletzt.

Der 10. Oktober. Die Fremden hattennicht nur ihre angebliche Verhandlungsbe-reitschaft ad absurdum geführt, sondern denTerranern einen Gleiter mit den Leichen er-mordeter Geiseln geschickt. Entlang einerFrontlänge von hundert Kilometern stand ei-ne große Streitmacht mit allem, was terrani-sche-Waffentechnik zu bieten hatte. Raum-schiffe der NOVA-Klasse hingen über demFaktorelement, ihre Beiboote waren ausge-schleust und gefechtsbereit, aber der Ein-blick in die Sphäre der Gegner blieb ihnenverwehrt.

Die Offensive der Dscherro brachte dasChaos über Terrania, ein Desaster für dieVerteidiger, ausgelöst durch die völligeFehleinschätzung der Situation und norma-lenergetische sowie fünfdimensionale Stör-felder der Angreifer. Selbst NATHANSEvakuierung der City von Terrania gerietzur Farce, als der Funkverkehr zusammen-brach, Gleiter sich nicht mehr in der Lufthielten und Transmitterverbindungen ausfie-len.

Bildsequenzen wechselten in rascher Fol-ge. Sie zeigten ein Schlachtengemälde, daskaum vielfältiger und unmenschlicher seinkonnte. Menschen in Netzen gefangen, hilf-los ineinander verstrickt, eine leichte Beuteder Gehörnten, die nicht davor zurück-schreckten, Wehrlose zu töten.

Unsichtbare Siganesen 19

Ein Bild, das wie ein Lauffeuer durch dieMilchstraße gegangen und von allen Sen-dern aufgegriffen worden war: ein Dscherromit weit aufgerissenem Maul, ein Baby inseiner Krallenhand und den Kopf des Kindeszwischen den Reißzähnen …

»Aufhören!« Domino Ross reagiertesichtlich aufgeregt. »Das muß nicht hundert-mal wiederholt werden!«

Das Hologramm erlosch.»Ich verstehe es sehr gut, wenn dir dabei

übel wird«, sagte der LFT-Kommissar.»Allerdings …«

»Quatsch nicht!« unterbrach Ross re-spektlos. »Solche Bilder machen es schwer,einen klaren Verstand zu bewahren. Sobaldder Schrei nach Rache erst da ist, läßt er sichkaum noch unterdrücken und verleitet zurUnvorsichtigkeit. Abgesehen davon wissenwir noch immer nicht, was uns hinter derBarriere erwartet.«

»Rote Erde und ein mehr als sechs Kilo-meter hohes Gebilde, das am ehesten alsTermitenbau zu beschreiben ist: die Burgder Dscherro. Wir haben sie mit Raumschif-fen und Tausenden Kampfrobotern angegrif-fen, und wir hätten gesiegt, wären wir nichtauch für das Leben der Geiseln verantwort-lich.« Khan ballte die Hände.

*

Großflächig war der Kartentisch mit Gra-fiken, Tabellen -und fotorealistisch bedruck-ten Folien bedeckt. Domino Ross stand mit-tendrin, hatte die Fäuste in die Hüfte ge-stemmt und versuchte mühsam, den Über-blick zu bewahren.

Die Burg war imposant, ein monströsesGebilde, nur schwer überschaubar in seinerVielfalt. Seitlich angeflanschte Plattformenerweckten den Eindruck von Landeplätzen.Auf einem der Bilder war schemenhaft zusehen, wie gefangene Terraner über denRand einer hochgelegenen Plattform hinwegin den Tod gestoßen wurden.

»So etwas darf sich nicht wiederholen«,sagte Cistolo Khan scharf.

»Stammen alle Aufnahmen vom Luftan-griff auf die Burg?« Langsam drehte Rosssich einmal um die eigene Achse. Die Folienknisterten unter seinem Absatz.

»Alle«, nickte der LFT-Kommissar undschaute der Siganesin zu, die etwa zwanzigZentimeter über der Tischplatte schwebteund die Bilder aus der Höhe begutachtete.»Leider gibt es nur Außenaufnahmen desBauwerks, eine Durchleuchtung war nichtmöglich.«

Atlan hatte vorgeschlagen, daß die dreiSiganesen sich mit Hilfe ihrer Spezialausrü-stung in die Burg Gousharan den Namenwußte man aus dem Funkverkehr derDscherro - einschleichen und einenBrückenkopf errichten sollten. Zum ThemaAusrüstung hatte Cistolo Khan nicht nach-gefragt. Ihm war klar, daß der Kenntnisstanddes Arkoniden nicht, von ungefähr kommenkonnte und daß die Verbindung des Unsterb-lichen zu den Siganesen kaum kurzfristigentstanden war.

Arno Wosken umrundete die maßstabge-treue holographische Wiedergabe der Burg.Die Abbildung war eineinhalb Meter hoch,er mußte den Kopf weit in den Nacken le-gen, um von der Tischplatte aus die oberstenLandeteller zu sehen.

»Unerläßlich ist, daß wir die technischenEinrichtungen und das Verteidigungssystemerkunden und hoffentlich vorhandeneSchwachstellen herausfinden. Jedes Systemhat irgendwo einen schwachen Punkt. Au-ßerdem müssen wir die Gefängnisse dermindestens fünfhunderttausend Geiseln fin-den.«

»Aufgabe zwei ist die Schaffung eines si-cheren Stützpunkts für die Einrichtung einerTransmitterstation«, ergänzte Rosa Borghan.

»Damit Truppen in die Burg einge-schleust werden können, müssen wir zu ge-gebener Zeit einen Sendetransmitter in derBarriere installieren«, schränkte Atlan ein.»Mit der nötigen militärischen Präsenz solltedas machbar sein. Hauptsache, der Trans-mitter kann von innerhalb des Nebelfeldessenden.«

20 Hubert Haensel

Khan nickte knapp. »Ich stelle mir vor,daß die Siganesen an neuralgischen Punktender Burg Sabotagevorbereitungen treffen.Vor allem an den Verteidigungsanlagen. So-bald dort das Feuerwerk losgeht, werden dieDscherro anderes zu tun haben, als sich umeinen Transmitter zu kümmern.«

»Es erscheint sinnvoll, mehrere Gerätebereitzustellen«, warf Ross ein. »Ablenkungkann nicht schaden.«

»Und falls wir scheitern?« fragte Rosa.Vorwurfsvoll schüttelte Domino den

Kopf. »An so etwas solltest du nicht einmalim Traum denken.«

»Andere haben es vor uns versucht undsind nicht zurückgekehrt.«

»Siganesen sieht man nicht«, betonte Do-mino Ross. »Das ist der kleine, aber ent-scheidende Unterschied.«

»Wenn ich mich recht entsinne, ist euerVersuch, hier einzudringen …«, begannKhan.

»Rosa hat die Funkstille gebrochen«, wi-dersprach Ross. »Deshalb haben uns dieKampfroboter bemerkt.«

»Andernfalls hätten sie dich totgetram-pelt«, protestierte die Siganesin.

»Bei den Dscherro darf das nicht passie-ren.«

»Wie du willst, Domino. Wie du willst.«Um Aufmerksamkeit heischend, klopfte

Atlan auf den Tisch. »Macht eure privatenProbleme unter euch aus« sagte er. »Leidermüssen wir wirklich den schlimmsten Fall inErwägung ziehen.«

»Was du nicht sagst«, seufzte DominoRoss. »Also sind wir gefordert, je nach Si-tuation Alternativpläne zu entwerfen, umdennoch möglichst viele Informationen nachaußen zu bringen und den Gehörnten größ-ten Schaden zuzufügen.«

»Unser Gegenschlag kann nur gelingen,solange ihr unentdeckt bleibt und die Infil-tration mit Truppen und Kampfrobotern ingroßem Maßstab möglich wird«, warnte Ci-stolo Khan. »Sollten die Dscherro Verdachtschöpfen, werden sie die Geiseln hinrichten.Haltet euch das stets vor Augen.«

Wosken flog durch die holographischeWiedergabe der Burg hindurch. »Das allesist sehr martialisch angelegt«, schimpfte er.»Wenn ich die Abbildungen richtig deute,nageln die Dscherro sogar Skelette ihrer be-siegten Gegner außen an.« Er schraubte sichim Inneren des Hologramms in die Höheund landete mit Hilfe des Antigravs auf derobersten Plattform. Von hier aus bot sichihm ein guter Überblick über die ausgebrei-teten Folien. »Wie dringen wir ein?«

»Das Stollensystem erscheint interes-sant.« Ross deutete auf mehrere Planvorla-gen. »Vor allem können wir an beliebigenPunkten außerhalb der Barriere einsteigen.«Der Reihe nach blickte er seine Begleiter an.

»Na ja«, meinte Rosa. »Ich weiß nichtrecht …«

»Die Dscherro haben ihre ersten Raubzü-ge durch die Stollen unternommen«, pflich-tete Arno Wosken bei. »Wir drehen denSpieß einfach um. Keine Einwände!«

Spontan streckte Khan seine Hand aus.»Ich wünsche euch Erfolg«, sagte er.

»Ist schon gut.« Beide Arme in die Höhegereckt, griff Domino nach Khans kleinemFinger und schüttelte ihn. »Bedanke dich beiAtlan, daß er uns gebeten hat, den Terranernbeizustehen.«

Vorübergehend blitzte es in Khans Augenauf. Das »Danke«, das der LFT-Kommissarüber die Lippen brachte, war nicht so unge-hemmt, wie es hätte sein können. Dannfischte er das Glas mit dem Vurguzz vomRegal und trank es leer.

»Mein Badewasser!« protestierte Wosken,leider zu spät. In gespieltem Ernst fügte erhinzu: »Diese terranischen Riesen sind wirk-lich unberechenbar.«

4.

»Ich bin unten«, erklang Domino Ross'Stimme aus den Helmlautsprechern seinerBegleiter.

»Wie sieht's aus?« fragte Rosa Borghanungeduldig, als keine weitere Stellungnahmenachkam.

Unsichtbare Siganesen 21

»Unangenehm. Ich stehe bis über dieKnie in der Sch … im Schlamm. Obwohldas Kanalsystem schon lange aufgelassenist.«

»Die Dscherro haben es jedenfalls wie-derentdeckt«, seufzte die Siganesin. »Wasist vor den Gehörnten eigentlich sicher?«

»Wir Siganesen«, sagte Arno Wosken imBrustton der Überzeugung. »Hoffentlich zu-mindest.«

»Schickt die Ausrüstung nach unten unddann die Roboter!«

Die Funkverbindung zwischen ihnen warauf ein Minimum an Energie reduziert,schon dreißig oder vierzig Meter weiter wardie Funkbotschaft nicht mehr zu orten.

Paul und Paula wurden die beiden Spezi-alroboter camelotscher Fertigung, deren De-sign Domino Ross' Planung entsprungenwar, von den Siganesen genannt. Auf Came-lot hatte Ross sein Technikstudium beendetund war in der Folge an einigen Neuerungenund Erfindungen beteiligt gewesen; er hattegleichermaßen Intuition und Phantasie fürkomplizierte Problemlösungen bewiesen.Auf dem syntronischen Reißbrett war erkein Genie, doch in der Praxis der Improvi-sation konnte ihn so schnell niemand über-treffen.

Folglich glich Paul keinem konventionel-len Roboter; althergebrachte Elemente hatteRoss tunlichst gemieden. Paul - schon derName war eine Irreführung - glich mit sei-nen zehn Zentimetern Körperlänge frappie-rend einer terranischen Gottesanbeterin. Derdünne Leib, die kräftigen Hinterbeine eben-so wie die angewinkelten, mit einer Vielzahlvon Sensoren bestückten Fangarme und derdreieckige Kopf waren mit gezüchtetemChitin überzogen. Darunter verbarg sich je-de Menge siganesischer High-Tech, ange-fangen von dem Miniatur-Desintegrator zwi-schen den Kieferzangen, den Säure versprü-henden Düsen am Hinterleib, über das Kom-munikationssystem bis hin zu Hyperfunk.Ein wirkungsvoller Deflektor und Schirm-felder vervollständigten die Ausstattung.Darüber hinaus war Paul in der Lage, wie

sein Vorbild Beute zu jagen und sogar zuverspeisen. Daß er mit einem eigenen Anti-gravsystem versehen und flugfähig war, ver-stand sich von selbst.

Flugfähig war auch Paula, aber der An-blick eines Schmetterlings hätte ohnehinniemanden daran zweifeln lassen. Die Flü-gelspannweite betrug knapp zehn Zentime-ter, die Körperlänge achtundsechzig Milli-meter. Wegen des geringeren Körpervolu-mens besaß Paula keine eigene Energiever-sorgung, lediglich eine Speicherbank. Diewie feine Schuppen anmutenden, in allenFarben des Regenbogens schimmerndenFlügelzellen verfügten über eine extrem ho-he Umwandlungskapazität. Sogar der Scheineiner in zwei Metern Entfernung brennendenKerze hätte ausgereicht, Paulas volle Ein-satzbereitschaft zu gewährleisten.

Durch beinahe zehn Meter teilisoliertes,mit den unterschiedlichsten Versorgungslei-tungen bestücktes Erdreich war mit Hilfe ei-ner Desintegratorfräse eine Verbindung zudem von den Dscherro benutzten alten Ka-nalschacht geschaffen worden.

Das Loch besaß einen ovalen Querschnittmit einem größten Durchmesser von wenigmehr als dreißig Zentimetern. Die Siganesenhatten darauf bestanden, den Zugang nichtzu erweitern, um die Gefahr einer Ent-deckung gering zu halten.

Nachträglich zeigte sich, daß die Maßegerade ausreichten, den Transport der sieb-zig Zentimeter langen Antigrav-Lastentransportscheibe zu erlauben. Sämtli-che anderen Ausrüstungsgegenstände warenauf der Scheibe verankert.

Fünfhundert Meter entfernt hatte ein nor-maler Zugang existiert, doch der war schonvor Tagen von den Dscherro gesprengt wor-den. Von dort aus gab es kein Durchkom-men mehr.

Neben einer Reihe hochsensibler Ortungs-und Störgeräte hatten die Siganesen sich mitzwei tragbaren Transmittern ausgerüstet. Je-der wog lediglich ein halbes Kilo und be-stand vorwiegend aus dreißig Zentimeterlangen Leichtmetallstäben, die zusammen-

22 Hubert Haensel

gesetzt den Transmitterrahmen bildeten. AlsKraftquelle und 5-DWandler diente jeweilsein Energiepack in Spindelform, gut fünf-zehn Zentimeter lang und in der Mitte fünfZentimeter durchmessend.

Sonderlich leistungsfähig waren dieseTransmitter wegen der begrenzten Energie-aufnahme nicht. Die Kapazität war nachdem Transport von fünf normalgroßen Men-schen vorübergehend erschöpft. Deshalbsollten beide Transmitter zu gegebener Zeitgegen leistungsstärkere Geräte ausgetauschtwerden.

»Transportscheibe kommt!« meldete Rosaüber Funk.

Auch wenn es altertümlich anmutete, dasGefährt wurde abgeseilt. Den Antigrav sojustiert, daß sie mitsamt den verankertenAusrüstungsgegenständen nahezu schwere-los war, hing die Scheibe senkrecht imSchacht. Immer wieder schrammte sie anden Wänden entlang.

Der Roboter Paul hatte sich das am Heckverknüpfte Seil um die Fangarme geschlun-gen und ließ langsam nach.

Sinnend blickte Rosa Borghan in die Run-de. Meterhohe Sträucher schützten die Siga-nesen und den Einstieg in die düstere Kanal-welt vor neugierigen Blicken. Der Park wareine von vielen Grünanlagen in jedem Stadt-teil, zu anderen Zeiten stark frequentiert,doch an diesem Tag ließ sich kein Terranerblicken. Wer nicht geflohen war, zog es vor,in der Wohnung zu bleiben, und nur wenigewaren in den Straßenschluchten unterwegs.Die Dscherro konnten jederzeit und überallwieder zuschlagen und Geiseln einfangen;eine Aura steter Bedrohung lastete deutlichspürbar über der Stadt.

»Weiter nachlassen!« rief Domino Ross.»Ich kann die Plattform bereits erkennen.Und etwas mehr Tempo!«

»Schneller geht's nicht«, brachte Woskenknirschend hervor.

Paula hatte sich am Rand des Schachtesniedergelassen und bewegte leicht die Flü-gel. Ihre Fühlerbüschel, in denen Sensorengebündelt waren, befanden sich unaufhör-

lich in Bewegung.Paul ließ soeben das Tau fallen, unzer-

reißbare Fasern von insgesamt einem Milli-meter Durchmesser; für Terraner mochtensie aussehen wie ein zu dick geratenes Haar.Gleich darauf verschwand der Roboter kopf-über im Schacht. Paula folgte ihm wesent-lich graziler, der Reflex ihres Flügelschlagswar noch zu erkennen, als sie schon gut dieHälfte der Strecke überwunden hatte.

Bis auch Rosa Borghan und Arno WoskenDomino erreichten, hatte er die Antigrav-scheibe schon neu justiert. Paula wartete aufeiner der Transmitter-Energiezellen, wäh-rend Pauls Kieferzangen knirschend mahltenund immer wieder den Abstrahlpol des Des-integrators freigaben.

»Ist da etwas?« wollte Rosa wissen.»Keine aktuelle Ortung«, antwortete Paul.

»Aber die Dscherro waren vor längstenszehn bis zwölf Stunden hier.«

»Du registrierst ihre Infrarot-Ab-strahlung?« fragte Ross. »Bekommst du eineklare Darstellung? Wie viele, in welcheRichtung, wie waren sie ausgerüstet?«

»Ich registriere eine ungewöhnliche Artvon Duftstoffen«, berichtigte Paul.

»Das ist vermutlich noch vornehm ausge-drückt«, platzte Wosken heraus. »Wenn ichehrlich sein soll: Ich möchte meinen SE-RUN nicht öffnen.« Vorsichtshalber die Na-se rümpfend, schaute er an sich hinab. Bisüber die Knöchel steckte er in zähflüssigemSchleim, und ein dünnes Rinnsal bahnte sichzwischen seinen Beinen einen Weg, dieÜberreste der Fäkalien, die irgendwann hierabgeflossen waren.

»Ich kann ebenfalls Duftmoleküle wahr-nehmen, die ich als eine Art Botenstoffe be-zeichnen möchte.« Paula schwenkte ihre bu-schigen Fühlerbündel. »Sie sind intensiver,aber in deutlich geringerer Konzentrationvorhanden als der Fäkalgestank.«

»Ein Botenstoff, den die Dscherro abson-dern?«

»Vergleichbar Pheromonen.«»Und im Infrarot-Bereich?«»Keine Aussage möglich«, behauptete

Unsichtbare Siganesen 23

Paul.»Überprüfe die Sensoren!«»Bereits vollzogen. Keine Fehlermel-

dung.«Ross aktivierte die Infrarotmessung seines

SERUNS. Das auf der Sichtscheibe einge-blendete Display zeigte seine Begleiter, dieRoboter und ihre Ausrüstung in einer leuch-tenden Aura, den Schacht, durch den sie her-abgestiegen waren, als verwischte Wärme-säule. Aber nichts deutete darauf hin, daßdie Gehörnten in der Nähe gewesen waren.

Unvermittelt ein Reflex gleißender Hel-ligkeit. Etwas sehr Warmes und Großes nä-herte sich aus der Richtung des Zoos vonTerrania.

Distanz noch sechsundzwanzig Meter,zeigte das Helmdisplay.

Die Wärmequelle bewegte sich schnell,huschte von einer Seite des Rohres zur ande-ren, verharrte sekundenlang, kam wieder nä-her …

Ross Rechte glitt zur Waffe, seine Fingerschlossen sich um den Griff.

»Domino, was ist …?«»Still!« herrschte er Rosa an.Er hätte es wissen müssen. Aber er hatte

jeden Gedanken daran verdrängt. Weil dieErinnerung lästig sein konnte.

Mit dem bloßen Auge sah er nicht mehrals brackigen Schlamm, von Flechten über-zogen vor sich hin gärend. Aber die Infrarot-wiedergabe wurde deutlicher. Das Biest ver-harrte, hob witternd den Oberkörper, es wargroß und fett, der spitze Schädel ruckte wit-ternd herum.

Auch Arno Wosken zog seine Waffe. Ob-wohl sie sich auf die Schutzwirkung der SE-RUNS verlassen konnten.

»Das Vieh gehört mir!« stieß Ross hervor.Die Mikrophone fingen eine Reihe schril-

ler Laute auf. Damals, in Fornax, hatten die-se Schreie ihn fast erstarren lassen. Diesmalwar es anders.

Die Ratte griff an.Domino Ross feuerte, als sie nicht einmal

mehr zwei Meter entfernt war. Einen Au-genblick lang sah es so aus, als hätte er nicht

getroffen, doch dann überschlug sich dasTier und blieb zuckend auf der Seite liegen.Schon die Nagezähne waren so groß wieRoss' Unterarme, der im Todeskampf peit-schende Schwanz hätte einem Siganesen alleKnochen brechen können.

»Was ist?« herrschte Ross seine Begleiteran. »Habt ihr nie eine terranische Ratte gese-hen? Also vorwärts, Leute! Atlan erwartet,daß wir den Terranern beim Dscherro-Pro-blem helfen. Auch wenn sich dieser Khanmehr für die Geheimnisse von Camelot zuinteressieren scheint.«

»Das ist sein gutes Recht«, meinte Rosa.»Ein LFT-Kommissar sollte in der Lage

sein, zwischen Freund und Feind zu unter-scheiden.« Ross winkte entschieden ab.»Aber wahrscheinlich sind die Terraner zuempfindsam geworden.«

Es hätte so vieles dazuzusagen gegeben.Für und wider. Doch die Siganesin schwieg.Weil sie sich nicht anmaßen wollte, ein Pau-schalurteil zu fällen. Mitunter war es besser,erst hinter die Kulissen zu schauen.

Paul stakte auf seinen mehrgelenkigen In-sektenbeinen vorneweg. Mit einem schwa-chen Zugfeld schleppte er die Antigrav-scheibe mit der Ausrüstung hinter -sich her.Schräg hinter ihm, jeweils einen halben Me-ter voneinander entfernt, folgten die drei Si-ganesen. Sie benutzten die Gravo-Paks ihrerSERUNS, weil es unwahrscheinlich kräfte-zehrend gewesen wäre, durch den zähenSchlamm zu stapfen. Und weil sie noch kilo-meterweit von der Barriere entfernt waren.Die Gefahr, daß die Dscherro im Momentauf sie aufmerksam wurden, erschien gering.

Paula gaukelte als schillernder Schmetter-ling über ihren Köpfen. In einem Anflug vonMelancholie hatte Domino Ross vor nichtallzu langer Zeit behauptet, sie sei derschönste Roboter, den siganesische Technikjemals hervorgebracht hatte.

*

Die Finsternis war vollkommen. Außerden Heimscheinwerfern und der Beleuch-

24 Hubert Haensel

tung der Antigravscheibe gab es zehn Meterunter der Stadt keine Lichtquelle. Die Rest-lichtverstärkung des SERUNS lieferte eineinigermaßen deutliches Abbild des Kanal-rohrs auf die Head-up-Displays. Knappeinen halben Kilometer hatten die Siganesenzurückgelegt, als ihnen Geröll den Weg ver-sperrte. Der Kanal war über die gesamteBreite eingebrochen: Beton, Erdreich undineinander verkeilte Felsbrocken bildetenein schwer zu überwindendes Hindernis. Da-vor staute sich eine ölig schimmernde Brühezu einem kleinen See.

Für Sekundenbruchteile tauchte ein sechs-beiniges schwarzes Monstrum im Lichtkegelvon Rosas Scheinwerfer auf, ein unheilvol-les Schwirren erfüllte die Luft. Ein Schattenglitt auf sie zu.

»Einsatz der Paratronschirme wegen derdamit verbundenen Ortungsgefahr nur imäußersten Notfall«, hatte Ross angeordnet.Rosa ließ sich deshalb instinktiv fallen. IhrVersuch, sich abzufangen, mißglückte, weilsie auf dem feuchten Boden abrutschte. Siespürte die Abwärtsbewegung, zugleichschwappte der Schlamm über ihren Helmund schloß sich schmatzend.

»Rosa, verdammt!« wisperte WoskensStimme hinter ihrem Ohr. »Was ist los mitdir?«

»Alles in Ordnung«, murmelte sie.Wie tief mochte das Schlammloch sein?

Zwanzig Zentimeter - oder mehr? Sie spürte,daß sie immer noch nach unten gezogenwurde.

»Das war ein stinknormaler Käfer, keinDscherro«, grinste Wosken. »Dein Schein-werfer hat ihn aufgeschreckt. Zugegeben, erwar knapp so groß wie du, aber deshalb …«

»Hört auf zu quatschen!« mischte sichRoss ärgerlich ein. »Sieht so aus, als könn-ten wir nur dicht unter der Decke durchkom-men. Andernfalls müssen wir uns einen Weggraben.«

»Ich habe eine Ortung!« meldete Rosa.»Ein metallisches Objekt.«

»Distanz?«»Hier unten, im Schlamm versunken. Der

Setvo zeigt eine Legierung an. Warte, ichbring's nach oben.«

Eine Aufwölbung entstand knapp zwanzigZentimeter vom Rand des brackigen Seesentfernt. Eine triefende, mit dickem Dreckbesudelte Gestalt geriet in den Lichtkreis derScheinwerfer. Langsam begann sich dieHelmscheibe selbsttätig zu reinigen.

Domino Ross schwebte knapp einen Me-ter über die Szene. Er war im Begriff gewe-sen, den Geröllhaufen zu erklimmen, hieltaber wegen Rosa inne.

»Wenn du so stinkst, wie du aussiehst,wittern die Dscherro dich fünf Meilen gegenden Wind«, kommentierte er.

»Ich war von Anfang an skeptisch, wasden Kanal anbelangt.«

»Dann vergiß nicht, daß die Dscherro alleSpionsonden der Terraner abgeschossen ha-ben. Nicht eine ist durchgekommen.«

Neben der Siganesin stieg ein undefinier-bares, verkrustetes Etwas in die Höhe. Einerunde Scheibe, wie sich herausstellte, die ihrfast bis an die Hüfte reichte, und gerade sodick, daß Rosa sie mit einer Hand fassenkonnte.

»Das Ding ist energetisch taub.« Woskenatmete hörbar auf. »Also kein Sender odergar ein …«

»… Sprengsatz? Glaubst du, daß dieDscherro den Stollen vermint haben?«

»Ich weiß nicht.«Ross schwebte langsam heran. »Ihr solltet

euer halbes Gramm Gehirnmasse nutzen.Meine Taster zeigen eine unterschiedlicheOberflächenstruktur und einen geriffeltenRand …«

Rosa Borghan hatte inzwischen Teile derKruste und der darunter befindlichen Patinaabgebrochen. Sie begann verhalten zu la-chen. »Eine Münze, ein uraltes Zehn-So-lar-Stück …«

»Was die Terraner alles wegwerfen.«Ross' warnender Ausruf kam zu spät.

Wosken wurde schon von einem mörderi-schen Aufprall nach vorne gestoßen und lan-dete ebenfalls im Schlamm, nur schaffte eres noch, sich zur Seite zu wälzen. Andern-

Unsichtbare Siganesen 25

falls hätte ihn der mit allen Beinen zappeln-de, flügelschlagende Käfer unter sich begra-ben.

Ein aggressives Brummen hing in derLuft, der Käfer glitt in wildem Zickzackflugweiter, krachte gegen ein halbrundes Bruch-stück aus Plastbeton, stieg von neuem höherund hielt zielstrebig auf die Lücke im Geröllzu, die Domino ebenfalls entdeckt hatte.

Schimpfend kam Wosken auf die Beineund klopfte sich den Schlamm ab. »EineSchnapsidee, auf die Schutzvorrichtungendes SERUNS zu verzichten. Wenn das soweitergeht …«

Keiner seiner Begleiter erfuhr je, was ermeinte. Ein greller Lichtblitz zuckte auf, sointensiv, daß die Filterfunktion der Helm-scheiben die Helligkeit gerade noch auf einerträgliches Maß dämmen konnte.

Mehrere Meter vor den Siganesen stürzteder verkohlte Kadaver der Käfers ab. Er warvon einem Energiestrahl verbrannt worden,der seinen Ausgang eindeutig jenseits desGeröllhaufens gehabt hatte.

»Verdammt!« sagte Domino Ross. Ohneden Zwischenfall mit Rosa wäre er jetzt daoben gewesen, wo gerade mal zwanzig Zen-timeter Durchschlupf existierten.

Eine Falle!Die Dscherro wußten nichts von Sigane-

sen. Und normalgroße Terraner oder gar -Kampfroboter mußten erst den Schutt besei-tigen, um hier durchzukommen. Für sie wardie Falle nicht gedacht, aber vielleicht fürSpionsonden. Das bedeutete, daß es sehrwahrscheinlich weitere Sperren gab.

»Und wir haben geglaubt, zumindest biszur Barriere hätten wir einen leichten Mar-sch vor uns«, schimpfte Arno Wosken.

Paula flatterte in stetem Auf und Ab her-an. Ihre Fühlersensoren waren auf Maxi-mum gespreizt.

»Paul und ich konnten eine Peilung vor-nehmen«, sagte sie. Einen bunten Schmet-terling mit menschlicher Stimme reden zuhören war selbst für die Siganesen nicht all-täglich. »Der Impulsprojektor ist zwei Meterhinter dem Durchschlupf montiert; Sensoren

erfassen jede Bewegung im Bereich der Öff-nung. -Und noch etwas: Der Einbruch desKanalrohrs wurde gewaltsam herbeigeführt.Ich konnte Spuren von Plastiksprengstoffanalysieren.«

»Kommen wir an den Projektor heran?«fragte Rosa. »Unsere Paratronschirme soll-ten dem Beschuß standhalten.«

Ross wehrte entschieden ab. »Falls dieDscherro eine zweite oder weitere Auslö-sungen registrieren, sind sie vielleichtschneller wieder hier, als uns lieb seinkann.«

»Soll das heißen, wir suchen nach einemneuen Weg?«

»Das nicht. Aber wir spielen Maulwurf.«

*

Vierzig Minuten benötigten sie, um sichmit Hilfe von Pauls Desintegrator durch Felsund Erdreich hindurchzubohren. Der Durch-messer des entstehenden Tunnels war mitfünf Zentimetern gerade groß genug.

Mehrfach hielten sie inne und ließen dieOrtungen spielen, doch es gab keine energe-tische Barriere innerhalb des herabgebroche-nen Materials.

Dann war Paul durch. Eineinhalb Meterunterhalb des Impulsprojektors und offen-sichtlich außerhalb des starr justierten Ziel-bereichs.

Ross folgte dem Roboter dichtauf, nachihm kam Wosken. Rosa blieb für alle Fälleauf der anderen Seite zurück.

Aus der Nähe konnte Paul die Vektorie-rung ausmessen, er überspielte seine Datenan die SERUNS. Kurz erwog Domino Ross,den Impulsprojektor unter Beschuß zu neh-men und zu zerstören, entschied sich aberdagegen. Gemeinsam mit Wosken und demRoboter machte er sich vielmehr daran, denProjektor wenigstens so weit zu demontie-ren, daß er keine Gefahr mehr bedeutete.

Es war erstaunlich, zu welch feiner Präzi-sionsarbeit grobe Dscherrokrallen fähig seinkonnten. Ross archivierte die gesamte Arbeitmit den optischen Systemen seines SE-

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RUNS. Möglicherweise handelte es sich beider Waffe um ein Beuteaggregat. So, wiedie Gehörnten auch begonnen hatten, terra-nische Technik zu plündern.

Überraschend stieß Paul auf ein Sende-modul. Die Schaltung war so ausgelegt, daßeine Beschädigung des Projektors ausge-reicht hätte, einen entsprechenden Kurzim-puls auszulösen.

»Verdammt!« entfuhr es Arno Wosken.»Eine Warnung an die Dscherro … Wiesowußtest du davon?«

Domino zuckte mit den Achseln.»Intuition, Erfahrung - nenne es, wie duwillst.«

Weitere zehn Minuten benötigten sie, umdie Öffnung im oberen Bereich für die Anti-gravscheibe und die Ausrüstung zu erwei-tern. Dann flatterte Paula wieder vorneweg.Ihre Sensoren und die Ortungen des Heu-schrecken-Roboters Paul tasteten nun jedenQuadratmeter des Kanals ab.

Der Untergrund wurde morastiger, dieAblagerungen langer Zeit waren aufgewühltund vermischten sich mit Wasser, das ausden Wänden sickerte. In diesem Bereich wargekämpft worden; Thermo- und Desintegra-torschüsse hatten auf eine Länge von etli-chen hundert Metern Plastbeton zerfetzt undErdreich herabbrechen lassen.

»Details!« verlangte Domino Ross, als derPikosyn ihm eine Bewegung signalisierte.Die Distanz zu dem dunklen Fleck am Randeiner Einmündung betrug noch mehr alszweihundert Meter.

Schatten zeichneten sich auf dem Helm-display ab. Viele kleine Schemen, die un-ablässig durcheinanderwimmelten.

Ross kniff die Brauen zusammen. Eine in-stinktive Reaktion, die ihn aber nichts deut-licher erkennen ließ. Der Servo deutete dieGeste richtig und vergrößerte das Bild, syn-tronisch aufbereitet, um einen weiteren Fak-tor.

Ratten. Ein Dutzend waren es mindestens,die sich um Beute stritten.

»Diese verfluchten Biester!« stieß Rosshervor. »Verschwindet!«

Die Nager hörten ihn natürlich nicht, abersie wurden auf ihn aufmerksam, als er näherkam. Angriffslustig sprang eines der Tiere indie Höhe. Es wurde vom Energiestrahl ausDominos Waffe durchbohrt und fiel zuckendzurück.

»Ich hasse diese Viecher! Und wie ich siehasse.«

Domino Ross erkannte, an was die Rattensich vergriffen hatten. Der Reihe nach töteteer alle Tiere und verschwendete nicht einenGedanken daran, daß die Dscherro seinenStrahler vielleicht orten konnten. Trotz derKlimaanlage des SERUNS perlte Schweißauf seiner Stirn. Ratten - das war sein wun-der Punkt, der ihn seine Ausbildung und alleVorsicht vergessen ließ. Und er hatte wahr-lich einen Grund, so zu reagieren. Gleichzei-tig war er wütend auf sich selbst. Längstschon hätte er eine mentale Rückführung be-antragen und sein Problem aus der Weltschaffen können.

»Mein Gott«, stöhnte Rosa Borghan auf,»das war ein Mensch!«

Ross nickte schwer. Teile des im Umkreisverstreuten schimmernden Gewebes ent-puppten sich bei näherem Hinsehen alsUberreste eines SERUNS: Eine unvorstell-bare Gewalt mochte den hochmodernenSchutzanzug zerfetzt haben. Es war nichteinmal mehr zu erkennen, ob ein Mann odereine Frau hier gestorben war; was die Waf-feneinwirkung übriggelassen hatte, war derGier der Ratten zum Opfer gefallen. Blanke,abgenagte Knochen; hie und da noch Fleischund …

»Sag, daß das nicht wahr ist!« stieß dieSiganesin hervor. »Ich kann immer nochnicht glauben, was in Terrania geschieht.«

»Die Reportagen haben keineswegs über-trieben«, seufzte Wosken.

»Hattest du das geglaubt?«Er vollführte eine geringschätzig abweh-

rende Handbewegung, die mehr ausdrückteals viele Worte. Dem oder der Toten konn-ten sie nicht einmal ein ordentliches Begräb-nis geben.

»Wann leben wir?« fragte Rosa bitter. »In

Unsichtbare Siganesen 27

einer Zeit des Umbruchs, in der neue Gefah-ren von außen in die Milchstraße eindrin-gen?«

»Das werden wir hoffentlich herausfin-den«, betonte Ross. »Für die Toten könnenwir nichts mehr tun, aber wir müssen soschnell wie möglich den Lebenden helfen.«

*

Fast drei Kilometer weit kamen sie gutvoran, dann ortete Paula einen schwachenmetallischen Reflex - eine im Schlamm ver-borgene Induktionsschleife, die über Richt-strahl mit einem halben Dutzend handteller-großen Sprengkörpern verbunden war. DerGrößenvergleich bezog sich auf einen aus-gewachsenen Terraner, nicht auf einen Siga-nesen.

Es bedurfte einiger Raffinesse, die Induk-tionsschleife auszuschalten; jenseits lagendeformierte, ausgeglühte Wracks terrani-scher Kampfroboter. Unmöglich zu erken-nen, wie viele Roboter wie von einer Tita-nenfaust zusammengequetscht worden wa-ren.

Dann wieder die Leichen von Soldaten.Ringsum die Kadaver von Ratten, von Mi-krowellen gegrillt. Sie machten die Falle of-fensichtlich.

Hier unten, nur noch zwei oder drei Kilo-meter vor dem Faktorelement, war erbittertgekämpft worden. Irgendwann ging es nichtmehr weiter, war die Decke infolge von Ex-plosionen auf einer beachtlichen Länge her-untergebrochen. Der Kanal endete blind.

»Ich glaub's nicht!« schimpfte Ross. »Wirkönnen nicht den ganzen Weg umsonst ge-macht haben. Vier Stunden, nur um unver-richteter Dinge wieder umzukehren?«

Keine Energieortung, die DeflektoroderTarnfelder verraten hätte. Bis Wosken dienahezu völlig verwischten Rattenspuren ent-deckte, die vor der von Flechten überwu-cherten Seitenwand endeten.

Die Spuren führten zur Wand, aber nichtzurück. Falls die Ratte sich nicht in Luft auf-gelöst oder das Fliegen gelernt hatte, konnte

sie nur durch den Plastbeton verschwundensein.

Wosken schaltete sein Gravo-Pak hoch,hielt genau auf diesen Teil der Wand zu. Erkonnte sich den Kopf nicht einrennen, denndie Absorber würden selbst einen hartenAufprall dämpfen.

Seine Begleiter sahen ihn in die Wandeindringen und darin verschwinden, und alser nach Sekunden nicht wieder auftauchte,folgten sie ihm.

Schwärze hüllte sie ein, begleitet von demEmpfinden, jegliche Orientierung zu verlie-ren. Im nächsten Moment waren sie durch.

Der Stollen, der sie aufnahm, gehörtenicht zum Versorgungssystem von Terrania,das wurde schon auf den ersten Blick klar.Er war mit einem unbekannten, metallischschimmernden Material ausgekleidet, viel-leicht handelte es sich auch nur um denkomprimierten Niederschlag einer Desinte-gratorfräse.

»Wir haben noch vierhundert Meter biszur Barriere«, stellte Rosa Borghan fest.

Domino Ross bedeutete ihr, daß sieschweigen sollte. Langsam öffnete er seinenSERUN-Helm, erstarrte aber mitten in derBewegung. Er hielt den Atem an, und als ernach einer Weile wieder Luft holte, schüttel-te es ihn sichtlich.

»Na los doch!« herrschte er seine Beglei-ter an. »Steht nicht dumm herum und grinst.Funkverkehr können wir uns ab hier nichtmehr leisten.«

Es stank erbärmlich. Vor allem nach Fä-kalien und nach Tod. Rosa Borghans gesun-de grüne Gesichtsfarbe verfärbte sich hin zueinem krankhaften Braunton. Mit beidenHänden wischte sie sich Tränen aus den Au-genwinkeln.

»Das ist abscheulich«, kommentierteWosken.

»Ach …«, machte Rosa überrascht.»Die Dscherro sind bei mir unten durch.«Rosa Borghan hielt sich die Nase zu.

»Was du nicht sagst!« Sie konnte sich diespitze Bemerkung einfach nicht verkneifen.Wosken war ein Gemütssiganese, wie es

28 Hubert Haensel

wohl kaum einen zweiten gab.Auf den letzten drei Kanalkilometern hat-

ten sie vier tote Terraner gefunden, vonfremden Waffen zerfetzte Soldaten ebensowie von Dscherrohörnern aufgespießte Gei-seln, und jeder Tote hatte einen entsetzli-chen Anblick geboten. Aber erst jetzt, da erquasi selbst betroffen war, begann Arno aufdie Dscherro zu schimpfen. Rosa verstanddie Welt nicht mehr.

Ein Desintegratorschirm unmittelbar hin-ter der Abzweigung. Domino hatte einenHandvoll Dreck aufgehoben und nach vornegeworfen. Die einfachste Methode, um sol-che Fallen aufzuspüren. In einem irrlichtern-den silbernen Regen löste sich der Dreckauf.

Paul stoppte die Antigravscheibe. Mitzwei seiner vier vorderen Gliedmaßen deu-tete er auf die Schachtwandung. »Ich konntesechs Projektorfelder anmessen. Sie befin-den sich dicht unter der Legierung.«

»Wie kommen wir ran?«Die Meßdaten seines SERUNS wurden

auf ein Armbanddisplay ausgegeben, dochdie Wiedergabe war längst nicht so intensivund greifbar, wie Domino Ross Sie von derSichtscheibe gewohnt war. Während er denArm angewinkelt in Augenhöhe hielt, redeteer im Flüsterton auf den Pikosyn ein.

Auch Wosken erhielt Meßdaten - undstieß eine herzhafte Verwünschung aus.

»Also kommen wir nicht durch«, folgerteRosa.

»Die metallische Schicht dürfte nur mitschwereren Waffen zu durchbrechen sein alsmit unseren Handstrahlern.«

»Und wennschon …« Rosa machte einigeSchritte nach vorne. Erst als sie aus den Au-genwinkeln heraus sah, daß Domino sich ab-rupt versteifte, blieb sie stehen.

»Geh nicht!«»… weiter?« Sie verzog die Mundwinkel,

schüttelte den Kopf. »So leicht verdorrt si-ganesisches Unkraut nicht, das weißt du.Wie sagen doch Terraner schön bildhaft: denTeufel mit dem Beelzebub austreiben?«

»Etwas Ähnliches ziehe ich tatsächlich in

Erwägung«, pflichtete Wosken bei. »ImSchutz …« Er vergaß prompt, was er hattesagen wollen, als Rosa aus einer der Außen-taschen ihres SERUNS ein kleines, stacheli-ges Ei zum Vorschein brachte, das bequemin ihre hohle Hand paßte. »Du schleppstEFM-Spürer mit?« fragte er verblüfft. »DieDinger haben eine Fehlerquote von dreiund-sechzig Prozent und sind deshalb nie in Seri-enproduktion gegangen.«

»Ich weiß, Arno, schließlich war ich Mit-glied des Testteams.« Mit der Linken fischteRosa ein zweites Stachelei aus der anderenOberschenkeltasche. »Das sind die letztenEnergie-Frequenz-Modulations-Spürer; ichhabe sie für eine besondere Situation aufge-hoben.«

»Frauen«, seufzte Wosken kopfschüt-telnd. »Ich werde euch wohl nie verstehen.«

Domino Ross massierte mit Zeigefingerund Daumen die Knorpelteile seiner Nase.Auffordernd nickte er Rosa zu.

»Wir verlieren nur Zeit«, gab Wosken zubedenken. »Im Schutz der Paratronschirmekönnten wir einfach hindurchmarschieren…«

»… und uns erhöhter Ortungsgefahr aus-setzen. Die Schirme aktivieren wir nur imäußersten Notfall.«

»Du meinst, falls ein Dscherro über unshinwegtrampelt?« fragte Wosken angriffslu-stig. »Die EFM-Spürer bedeuten ebenfallsOrtungsgefahr.«

Er widersprach aus Prinzip. Weil DominoRoss und er häufig unterschiedlicher Mei-nung waren. Arno Wosken war ein guterMann, ein erstrangiger Kämpfer, doch miteinem Hang zu Althergebrachtem und Be-währtem. Neuerungen waren ihm stets su-spekt. Irgendwann hatte sogar Atlan überihn gesagt, er wäre drei Jahrtausende zu spätgeboren worden.

Irgendwann? Domino Ross ließ sich füreinen Augenblick ablenken. Das war vorziemlich genau fünfzehn Jahren gewesen,als Arno Wosken sogar einen Drachen be-siegt hatte. Na ja, eine ligurianische Echsenur, die allen Sicherheitsvorkehrungen zum

Unsichtbare Siganesen 29

Trotz an Bord einer Korvette nach Camelotgelangt war. Arno war unbewaffnet gewe-sen, als das fünfundzwanzig Zentimetergroße zweiköpfige Tier ihn im Hangar ange-griffen hatte.

Die automatische Aufzeichnung hatte sei-ne überstürzte Flucht dokumentiert bis ArnoWosken fast über eine verlorene Stecknadelgestolpert wäre. Mit ihr hatte er sich endlichverteidigen können, hatte die Nadel wie eineLanze immer wieder in die Hälse der Echsegerammt … Der »Siegfried von Camelot«war er von vielen Camelotern danach ge-nannt worden, aber auch das war wieder inVergessenheit geraten - wie so vieles.

Rosas Stachelei schwebte in das sich auf-bauende Desintegratorfeld. Ein orangefarbe-ner Schimmer hüllte den EFMSpürer ein.Oder entsprang dieses Leuchten nur demWunschdenken? Sekundenbruchteile schienes Bestand zu haben, dann löste das Ei sichin silbernem Flirren auf.

»Fehlerhaft!« kommentierte Wosken.»Wie ich schon sagte. Die Modulation kanndie Desintegratorwirkung nicht aufhalten.«

Rosa hantierte mit dem zweiten Ei. »Auchbei den Desintegratoren der Dscherro habenwir es mit einem fünfdimensionalen Feld zutun, das die elektrostatische Kernanziehungder Atome neutralisiert«, sagte sie, ohneWosken einen Blick zu gönnen. »DiesesFünf-D-Feld ist extrem gebündelt, andern-falls würde es im Einsteinraum wirkungslosverpuffen.«

»Mit deiner Perfektion hättest du Progra-nungestalterin für Hypnoschulungen werdensollen«, seufzte Arno Wosken.

»Ach?« Die Siganesin aktivierte überzwei Stacheln den Antigrav des EFM-Spürers.

»Die Bündelung des Desintegrators wirddurch Frequenzmodulation erzeugt«, über-legte Wosken. »Die Wellenlänge kann sichdabei nur in einem äußerst begrenzten Spek-trum bewegen, da andernfalls die Kohäsi-onskräfte nicht oder nur schwach beeinflußtwerden.«

»Genau da setzt die Modulation an«, sag-

te Rosa. »Die hyperfrequenten Wellen wer-den überlagert, ein Wellental überlappteinen Wellenberg und umgekehrt undschafft so eine neutrale Zone.«

»… die leider verdammt instabil wird, so-bald der Desintegrator eine Nachführvor-richtung besitzt.«

»Das ist Theorie.«»Sind die Dscherro auch Theorie?«Die Siganesin verzichtete auf eine Ant-

wort. Mit einer sanften Bewegung dirigiertesie den zweiten EFM-Spürer in die Sperre.

Das Desintegratorfeld entstand. Kein sil-bernes Flirren diesmal. Noch nicht.

Zwei Sekunden waren vergangen.Gebannt beobachtete Rosa den EFM-

Spürer, dessen Umrisse hinter flirrender Luftzu verschwimmen begannen. Die Trübungweitete sich aus, umfaßte bereits eine ausrei-chend große Fläche.

»Hindurch!« kommandierte Ross, der Ro-sas Bemühungen schweigend zugesehen hat-te. Der Gravo-Pak seines SERUNS riß ihnvorwärts.

Alarmmeldung des Pikosyns. Schädliche-fünfdimensionale Strahlung. Doch bis Do-mino Ross die Meldung überhaupt regi-strierte, war er schon auf der anderen Seiteund spürte außer einem unangenehmenBrennen der Gesichtshaut keinen Nebenef-fekt.

Arno Wosken landete neben ihm, Rosa ei-nige Schritte entfernt. Und nahezu gleichzei-tig durchdrangen die Roboter mit der Ausrü-stung die Barriere.

Hinter ihnen begann die Modulation zuschwanken, zeigten sich Schlieren, dann im-plodierte der EFM-Spürer.

»Glück gehabt!« kommentierte Wosken.»Rein statistisch gesehen …«

Niemand hörte ihm zu.

5.

Aus weit aufgerissenen Augen blickte Ro-sa Borghan auf den terranischen Soldaten,den das Licht der Scheinwerfer der Finster-nis entriß. Verkrümmt lag der Mann am Bo-

30 Hubert Haensel

den, sein Schutzanzug war zerfetzt, Blut bil-dete ein eingetrocknetes Rinnsal.

»Er lebt noch«, stellte Ross verblüfft fest.In der Tat. Der Mann hatte soeben die

Finger in den Untergrund gekrallt, aber erwar zu schwach, um sich weiterzuschleppen;er verwischte nur das eigene Blut.

»Wir müssen ihm helfen, irgendwie.Sonst stirbt er«

Offenbar registrierte der Soldat erst jetztdie Scheinwerfer. Unendlich langsam drehteer den Kopf und starrte ins Licht.

Eine klaffende, verkrustete Wunde zogsich quer über seine Wangen. Muskeln undSehnen waren durchtrennt, der Mund standoffen und ließ ein paar klägliche Zahnstum-mel erkennen. Die Haare klebten nur nochals Asche am Schädel.

»Wir kriegen ihn hier nicht raus, Rosa:«»Aber wir können ihm etwas gegen die

Schmerzen geben. Und zu trinken und …«Besänftigend legte Ross der Frau seine

Hand auf den Arm.»Ich verstehe dich, Rosa, sehr gut sogar.

Der Mann liegt vielleicht seit Tagen hier un-ten - aber wieviel Wasser willst du ihm ge-ben? Und wieviel Medikamente? Selbstwenn er unseren ganzen Vorrat bekommt,glaube ich nicht, daß es für ihn ausreicht. Erist und bleibt ein Riese.«

»Aber das ist kein Grund, ihn sterben zulassen. Ich denke nicht daran.« Unwilligschüttelte Rosa Dominos Hand ab, hielt aberdoch inne. »Wieviel Wasser haben wir zu-sammen?« wollte sie wissen.

»Auf jeden Fall nicht genug«, antworteteWosken. »Domino hat recht.«

»Also überlassen wir den Verwundetenseinem Schicksal? Das meint ihr nicht ernst!Vielleicht hat er Frau und Kinder, oder erhat versucht, Kinder vor den Dscherro zuretten, oder …«

Wütend auf sich selbst und auf die Um-stände, drosch Rosa ihre Fäuste gegeneinan-der. Immer hatte sie versucht zu helfen, hat-te auf sich selbst wenig Rücksicht genom-men, wenn es darum gegangen war, Lebenund Gesundheit anderer zu beschützen. Daß

ihr diesmal die Hände gebunden waren, er-füllte sie mit ohnmächtigem Zorn.

Dem Mann schien endlich bewußt zu wer-den, was er sah. Wahrscheinlich hatte er Fie-ber, konnte längst Traum und Wirklichkeitnicht mehr unterscheiden.

Er bewegte die Lippen. Lautlos. Doch Ro-sa glaubte von seinem Mund ablesen zukönnen, was er sagte: »Siganesen!«

»Steht doch nicht herum!« herrschte sieihre Begleiter an. »Irgend etwas müssen wirfür ihn tun.«

Natürlich hätten sie einen gerafften Fun-kimpuls abstrahlen können. Aber Rosa Bor-ghan glaubte selbst nicht daran, daß CistoloKhan jetzt schon Medoroboter geschickthätte. Ebensogut hätte er zu den Dscherrogehen und ihnen brühwarm berichten kön-nen, daß er Agenten durch den Kanalschachtins Faktorelement einschleusen wollte.

Der Verwundete schaute sie an, als sieentschlossen auf ihn zuging und nur vierzigZentimeter vor seinem Kopf stehenblieb.Aus der Nähe wirkte er schrecklich entstellt.Die menschliche Haut glich ohnehin einerKraterlandschaft, doch dieses Gesicht warzudem von Wunden durchpflügt. Ein dickerBlutstropfen hing an den aufgeplatzten Lip-pen, begann langsam zu erstarren.

»Du wirst bald Hilfe erhalten.«Eine fromme Lüge? Rosa wußte es selbst

nicht, sie hoffte nur, daß es die Wahrheitsein würde. Auf jeden Fall gaben ihre Wortedem unbekannten Soldaten neue Hoffnung.Sie bemerkte ein Aufleuchten in seinen mat-ten Augen. Und sie erkannte, daß er seineletzte Kraft zusammenkratzte, um mit ihr zureden.

»Nicht jetzt!« wehrte sie ab. »Eine Zeit-lang mußt du schon noch aushalten. Möchtenur wissen, was deinen Anzug so zerfetzthat. Aber vielleicht ist noch etwas Wasser inden Reservoiren.«

Ein Röcheln drang aus der Kehle des Ver-wundeten. Er rollte mit den Augen.

»Du bekommst Wasser«, versprach Rosa.Langsam hob der Antigrav sie in die Hö-

he. Auch Wosken und Ross nutzten ihre

Unsichtbare Siganesen 31

Gravo-Paks.»Das mit dem Wasser kannst du verges-

sen.« Wosken deutete auf die aufgerisseneHauptleitung. »Längst verdunstet.«

»Aber die Wiederaufbereitung. Ein halberLiter Notvorrat …«

Erst jetzt entdeckte Rosa die verkohlteRückenwunde des Soldaten. Von den Schul-terblättern bis zu den Hüften hatte ein Ther-mostrahl Haut und Fleisch verbrannt und zu-gleich alle Adern verschorft. Nur deshalbwar der Mann nicht längst verblutet.

Die Recycling Unit lag tiefer, und unter-halb des Hüftbereichs war der SERUN kaummehr beschädigt. Mit etwas Geschick undeiner externen Energiequelle ließ sich dasWasser am Oberschenkelanschluß entneh-men.

»Wenn wir etwas für ihn tun wollen, Ro-sa, müssen wir uns beeilen.«

Sie nickte stumm. Das Problem war nurdie externe Energiequelle. In der ersten Eu-phorie hatte sie übersehen, daß die An-schlüsse ihres SERUNS und die des terrani-schen Riesen keineswegs kompatibel waren.

»Halt!« dröhnte Pauls Stimme auf. »DenSERUN und den Terraner nicht berühren!«

Rosa zuckte zusammen. Eine Handbreitwaren ihre Finger noch von dem zerfetztenAnzug des Soldaten entfernt. Aber was soll-te schon geschehen? Sie trug ihren Schutz-anzug, die Handschuhe besaßen Tastsenso-ren, die perfekter reagierten als die Nerven-enden in ihren Fingerspitzen …

»Faßt nichts an!« warnte nun auch Paula.Sanft gaukelte sie über den Körper des Man-nes hinweg, und ihre Fühler zuckten unun-terbrochen.

»Er braucht Hilfe«, drängte Rosa. »JederTote in diesem unseligen Desaster ist einToter zuviel.«

»Schon wieder eine Falle?« fragte Domi-no Ross, an die Roboter gewandt.

Paula senkte sich zu ihm hinab. »Ich habeherausgefunden, weshalb wir keine Infrarot-Spuren der Dscherro anmessen können«, er-öffnete sie. »Die Gehörnten verwenden Indi-umantimonid, und hier, ringsum den Terra-

ner, messe ich eine besonders hohe Konzen-tration an.«

»Indiumantimonid?« Ross glaubte, dieBezeichnung vor längerer Zeit schon einmalgehört zu haben, doch konnte er momentankeine praktische Anwendung damit verbin-den.

»Dieser Stoff verleiht allen Gegenständenoder Körpern, auf die er aufgetragen wird,eine negative Lumineszenz«, erklärte derSchmetterlings-Roboter. »Das bedeutet, daßdie betreffenden Körper auftreffende Strah-len absorbieren und eine Rückmeldung anInfrarot-Sensoren unterbinden. Ebensoblockieren sie die Wärmeabstrahlung aufDauer.«

»Also haben sich in diesem Stollenab-schnitt möglicherweise viele Dscherro auf-gehalten?« Rosas Hand verharrte immernoch über dem zerfetzten Schutzanzug, abernun zog sie sich langsam zurück.

»Ich will einen Detail-Scan!« befahl Ross.»Der Terraner liegt bestimmt nicht zufällighier.«

»Du glaubst, die Dscherro haben den Ver-wundeten präpariert?«, stieß Rosa hervor.»Was für Teufel sind sie eigentlich?«

*

Eine knisternde blaue Entladung umfloßdas engmaschige Drahtgeflecht, das unterdem SERUN zum Vorschein gekommenwar; gleichzeitig begann sich der dünneDraht aufzulösen und brannte sein Gittermu-ster in die blanke Haut des Terraners ein.

Rosa Borghan stieß eine Verwünschungaus. »Willst du ihn endgültig umbringen,Domino? Er hat das Bewußtsein verloren.«

»Wenn ihn jemand umgebracht hätte,dann die Dscherro. Und uns gleich mit.«Ross nickte dem Insektenroboter zu, der ab-wartend neben ihm stand. »Du kannst denSprengsatz herausziehen.«

Eine dünne, metallisch glänzende Foliekam unter dem Gewebe des Schutzanzugszum Vorschein. Sie war knapp doppelt sogroß wie die Hand eines normalgewachse-

32 Hubert Haensel

nen Menschen, für die Siganesen schier einekleine Tanzfläche, aber nicht dicker als vierMillimeter und äußerst biegsam. Sie hattesich so perfekt den Körperumrissen des Ver-letzten angepaßt, daß sie erst nach mehrma-ligem Hinsehen entdeckt worden war.

Der Sprengsatz hätte ausgereicht, denStollen in eine Flammenhölle zu verwan-deln. Selbst starke Schutzschirme hätten da-gegen keine Chance gehabt.

Nachträglich schauderte Rosa bei demGedanken daran, daß die geringste unsach-gemäße Berührung ein Inferno ausgelösthätte. Nur hätte sie nicht einmal mehr Zeitgefunden, ihr Ende zu begreifen.

Domino wischte sich den Schweiß vonder Stirn. Er wirkte müde, erschöpft beina-he, aber er wäre der letzte gewesen, der sichRuhe gönnte. Er hatte Probleme gehabt, dieBombe zu entschärfen.

»Ich begreife nicht, wie die Dscherro mitihren vierfingrigen Pranken derart hochsen-sible Zündsätze handhaben können.« Er hobdie Augenbrauen, als Rosa Borghan in denÜberresten des SERUNS tatsächlich nochWasser fand, nicht viel zwar, aber doch ge-nug, um dem Verwundeten wenigstens vor-übergehend Linderung zu verschaffen.

»Beutetechnik«, bemerkte Arno Wosken.»So, wie sie Terrania plündern, haben dieGehörnten unzählige Planeten vorher abge-räumt.«

»Ich schwöre bei allem, was mir heilig ist:Terra wird der letzte Planet sein, den diese… diese Wilden abräumen!«

»Noch kennen wir ihre Beweggründenicht, Rosa. Ihre Mentalität unterscheidetsich grundlegend von der menschlichen.«

»Ach!« empörte sich die Frau. »Habendie Dscherro in deinen Augen Mitleid ver-dient? Nicht das, Domino, nicht dieser ganzePsychologenquatsch von wegen irregeleitetund andere Mentalität und so … Mord bleibtfür mich immer noch Mord, egal unter wel-chen Umständen er geschieht. Alles andereist dummes Geschwätz. Und jetzt will ich,daß wir Cistolo Khan verständigen. Er sollveranlassen, daß der Mann hier abgeholt

wird, bevor er stirbt, und wenn das nichtmöglich sein soll, kann mich ganz Terrania…«

Zu ihrer Überraschung sperrte Dominosich nicht mehr.

»Paula wird die Position sämtlicher Fallenebenso wie die Lage des Verwundeten über-mitteln. Aber erst, wenn wir die Barrierehinter uns haben.«

Die Siganesin schürzte die Lippen undnickte zufrieden. Das Faktorelement lag fastzum Greifen nahe vor ihnen. In ein paar Mi-nuten würden sie die Barriere durchdringen.

Zum erstenmal fragte Rosa sich, was ausdem Faktorelement Terrania-Süd mit demTLD-Tower und dem Stadtteil Alashan ge-worden war. Ein Austausch hatte stattgefun-den; im Zusammenhang mit dem nicht mehrexistierenden Heliotischen Bollwerk. DieDscherro manifestierten sich im Herzen derLFT - stand im Gegenzug zu erwarten, daßdie verschwundenen Terraner in der Heimatder Gehörnten angelangt waren? Dann wardas Schlimmste zu befürchten. Rosa gabsich keinen Illusionen hin; sie fragte sich nurverzweifelt, wann das Sterben endlich auf-hören würde.

Die Antwort blieb sie sich schuldig.

*

Quer durch den Stollen verlief das halb-transparente, nebelhaft schimmernde Ener-giefeld, das die Nonggo Faktordampf-Barrie-re genannt hatten. Dieses Feld verhinderteden raschen Atmosphärenaustausch ebensowie ein zu schnelles Angleichen vonDruckunterschieden.

Je länger Rosa Borghan in den Nebelstarrte, desto unheimlicher erschien er ihr.Jeden Augenblick konnten Dscherro daraushervorbrechen und …

»Paula wird den Kontakt halten, indemsie regelmäßig von einer Seite der Barrierezur anderen wechselt«, sagte Domino Rossin dem Moment. »Und sollte sie entdecktwerden, hoffe ich nicht, daß die Dscherroauf Schmetterlinge schießen.«

Unsichtbare Siganesen 33

Dessen war Rosa sich gar nicht sicher.Aber sie schwieg. Funkkontakte, Hyperor-tungen, Schall, Thermobeschuß alle Energiewurde beim Durchdringen der Barriere ex-trem gestreut, daß sie ihre eigentliche Be-stimmung nicht mehr erfüllte. Cistolo Khannannte das den »Wischer-Effekt«.

Das Nebelfeld zog sie geradezu magischan. Das Licht der Scheinwerfer wirkte an derBarriere wie abgeschnitten. Die Photonendurchdrangen das Feld zwar, wurden abernicht reflektiert.

So hatte Rosa sich als Kind das Nichtsvorgestellt, das Ende aller Existenz. Wasliegt hinter dem Universum? hatte sie ge-fragt. Was wartet jenseits der Zeit?

Was liegt hinter der Barriere? wollte sienun wissen.

»Falls wir getrennt werden, schlägt jedervon uns sich irgendwie durch«, sagte Domi-no.

»Koste es, was es wolle«, war sie ver-sucht hinzuzufügen, doch sie schwieg.

Ross' Blick blieb an ihr hängen. Rosa laseine ungeheure Anspannung in seinen Au-gen, zugleich glaubte sie, einen Anflug vonFurcht und Bedauern zu erkennen. Nie hättesie geglaubt, daß ein Mann wie er auch sol-che Regungen kannte. Doch vielleicht wares gut so, denn der Furchtlose ließ sichschnell zu Vorgehensweisen verleiten, diesich hinterher als falsch erweisen konnten.

Domino Ross war die absolute Nummereins, wenn es um heikle Einsätze für Sigane-sen ging. Aber er übernahm nicht jeden Auf-trag. Den Flug nach Mystery hatte er abge-lehnt, weil ihm die Herausforderung nichtgroß genug erschienen war. Im Gegensatzzu den Dscherro. Sie zu überlisten, das warnach seinem Geschmack, nicht eine lang-weilige Reise über Millionen Lichtjahre.

Rosa streckte einen Arm aus. Sie spürtenichts, als ihre Hand die Barriere durch-drang, auch der SERUN reagierte in keinerWeise. Nicht einmal ein Schatten der eige-nen Finger war jenseits der seltsamen Nebel-wand zu sehen.

Die Linke fast bis zum Ellenbogen in der

Barriere versenkt, zog die Siganesin ihrenKombistrahler und trat entschlossen vor-wärts.

Nebel umfloß sie, kroch an ihren Beinenempor. Das war eine fremde, eine düstereWelt, und der Scheinwerferkegel brach sichin ungezählten Schlieren in den treibendenSchwaden. Er verbreitete nur noch ein dü-steres Licht.

Rosa glaubte zu wissen, daß der seltsamgrüne Schimmer mit dem Wischer-Effektzusammenhing.

In der Düsternis geisterte eine zweiteLichtquelle. Domino? Oder Arno Wosken?Rosa lief ein paar Schritte, blieb stehen,blickte suchend um sich.

»Domino!« Ihr Ruf wurde vom Nebelverschluckt, klang unnatürlich dumpf, wieaus einem weit entfernten und tiefen Schachtheraus.

Auf dem Absatz machte Rosa kehrt.Zehn Schritte … Nur Nebel ringsum und

das Gefühl, in einem virtuellen Irrgarten ge-landet zu sein.

»Domino! Arno!«Keine Antwort. Auch kein noch so

schwacher Lichtschein mehr, der sich durchden Nebel bewegte.

Warum hatte Khan nicht davon gespro-chen, daß die Barriere so tief war? Oder hat-te er einfach nicht die unterschiedlichen Per-spektiven bedacht? Kein Wunder, er hattenie zuvor einem Siganesen gegenüberge-standen. Und aus seiner hohen Warte sah dieWelt ganz anders aus.

Rosa klappte den Helm nach vorne, akti-vierte über Blickschaltung die Orientie-rungssequenz. Alles im Leben hatte Vor-und Nachteile. Hindernisse, die von normal-großen Menschen nicht einmal als solchewahrgenommen wurden, machten Siganesendas Leben schwer - andererseits hatte manals Winzling bedeutend bessere Möglichkei-ten, unbemerkt zu bleiben.

Wie dick war der Nebel? Vielleicht nurein paar Schritte und damit für einen Mannwie Cistolo Khan nicht der Erwähnung wert.Wahrscheinlich hatte er nicht einmal ver-

34 Hubert Haensel

sucht, sich in die Welt eines Siganesen hin-einzudenken; die Ereignisse in Terrania hat-ten ihm nicht die Zeit dazu gelassen.

Endlich brach gleißende Helligkeit übersie herein. Rosa sah Domino und Arno Wos-ken und die Roboter in einigen Metern Ent-fernung stehen. Keiner schaute in ihre Rich-tung, vielleicht fragten sie sich, was mit ihrgeschehen sein mochte; dann reagierte Paul.

Domino wandte sich um. »Wo warst du?«rief er. »Wir haben dich gesucht.«

»Kleiner Spaziergang im Nebel«, antwor-tete Rosa. »Nichts Aufregendes.«

Sie hatten wirklich eine Barriere über-wunden, die zwei Welten trennte, und vieleswirkte schlagartig verändert. Das begann beider hellen Lichtflut aus riesigen Leuchtplat-ten, betraf die verblüffende Sauberkeit undendete mit einer durchaus angenehmen, wür-zigen Atmosphäre. Von dem Gestank außer-halb des Faktorelements nach Verwesung,Fäulnis und Fäkalien war hier absolut nichtswahrzunehmen.

»Paul wird uns noch ein Stück weit be-gleiten«, bestimmte Domino Ross. »Aber erbleibt letztlich in der Nähe der Barriere. So-bald wir in die Burg der Dscherro einge-drungen sind, werden wir ihm mit Rafferim-puls Aufzeichnungen und Untersuchungser-gebnisse weiterleiten. Seine Aufgabe istdann, Paula die Daten zu übergeben, undPaula wird sie von außerhalb der Barriereabsenden. Auf die Weise bleiben Atlan undCistolo Khan auf dem laufenden, wenn auchzeitversetzt, und wir haben ständig einenPartner innerhalb des Faktorelements zurVerfügung.« Er wandte sich an Rosa. »Paulawird die bisher gesammelten Daten in exakteiner halben Stunde abstrahlen. Bis dahin istdamit zu rechnen, daß wir die Burg fast er-reicht haben.«

*

Von einem Augenblick zum anderen wa-ren sie da: Tausende Dscherro mit ihrenqualmenden, lärmenden Fahrzeugen, und ir-gendwie hatten sie es geschafft, sich der

Überwachung aus dem planetaren Orbit zuentziehen.

Ihr erneutes Ziel: der Flottenraumhafen,Korvetten, die an der südöstlichen Periphe-rie seit Tagen auf ihren Einsatz warteten.

Chresche und Schourchten brachen ur-plötzlich aus den Straßenschluchten unddem Untergrund hervor. Schon ihre ersteSalve legte einen Sperrgürtel von Tokchernan den Rand des Hafengeländes: Die selbst-tätig steuernden Minen detonierten in derNähe elektromagnetischer und hyperfre-quenter Strahlungsquellen und setzten Stör-felder frei, die den Betrieb von Funkgerätenund Transmittern unmöglich machten. AuchSyntroniken fielen aus.

Nur spärliches Abwehrfeuer schlug denAngreifern entgegen. Zwei, drei Chreschewurden getroffen und zerstört, aber das wa-ren Ein-Personen-Fahrzeuge, die von denDscherro stehend geflogen wurden.

Eine Feuerwalze schwappte über die Be-grenzung des Raumhafengeländes hinwegund dehnte sich aus.

»Nicht mehr lange, und die Angreifer sinddie Herren von ganz Terrania City.« CistoloKhan zerbiß die Worte wie einen Fluch. Indem Moment wirkte er hilflos, starrte auf diedreidimensionale Wiedergabe und hätte amliebsten mit bloßen Händen in das Bild hin-eingefaßt und jeden Dscherro einzeln er-würgt.

»Wenn wir nicht bald von den Siganesenhören …«, er schloß die Augen, fuhr sichmit einer Hand durchs Gesicht, »… werdenwir sie wohl abschreiben müssen. DeineLeute, Atlan, sind ebenso gescheitert wieunsere Technik vor ihnen. Ich wollte, ichwäre in der Lage, einen Feuerschlag allerRaumer zu befehlen; dann hätten wir die Si-tuation sehr schnell unter Kontrolle.«

»Warum gibst du den Befehl nicht?«»Weil …« Khan schüttelte den Kopf. »Ich

muß mich nicht vor dir rechtfertigen!« brau-ste er auf. »Halt dich mit solchen Bemerkun-gen zurück, Atlan, oder ich …« WelcheDrohung er auch gegen den Arkoniden aus-stoßen wollte, er brachte nur ein gequältes

Unsichtbare Siganesen 35

Stöhnen über die Lippen.Weil zwei Shifts zu lodernden Glutbällen

wurden. Vergeblich der Versuch, dieDscherro mit Flugpanzern am weiteren Vor-dringen zu hindern.

»Das waren syntrongesteuerte Shifts.« Ir-gendwie fühlte Khan sich veranlaßt, das zusagen. Aber auch Menschen starben dort un-ten, jetzt, in dieser Sekunde, nur ein halbesDutzend Kilometer vom Tower entfernt -Menschen, die auf den Schutz der Technikvertraut hatten; auf Individualschutzschirmeund auch darauf, daß Terrania City der si-cherste Ort in der Milchstraße war. Nichtswürde mehr so sein, wie es einmal war, dasVertrauen der eigenen Bevölkerung in dieMacht und die Schlagkraft der LFT war insWanken geraten.

Auf einem Dutzend Frequenzen gleichzei-tig wurde versucht, Cistolo Khan zu kontak-tieren. »Zu NATHAN umleiten!« befahl erder Syntronik. Und im Selbstgespräch, aberdennoch für Atlans Ohren bestimmt, fügte erhinzu: »Die Dscherro lassen mir keine ande-re Wahl. Ich werde den Einsatz schwererImpulsgeschütze befehlen müssen.«

»… und damit das Leben von mindestenseiner Million Geiseln aufs äußerste gefähr-den«, sagte Atlan. »Wie viele Bewohner hal-ten die Dscherro wirklich in den Straßen undHäuserruinen gefangen?«

Eine zweite Angriffswelle jagte, aus allenRohren feuernd, dem Raumhafen entgegen.Das Gelände zwischen Saturn Hill und demRaumhafen wurde im wahrsten Sinne desWortes umgepflügt.

»Wo sind die Nonggo, die uns das einge-brockt haben?« stieß Khan hervor. »Warummüssen wir auf Terra die verdammte Suppeallein auslöffeln?«

»Wir lassen niemanden in der Not allein«,sagte Atlan.

Der LFT-Kommissar winkte ab.»Camelot ist weit weg vom Schuß.«

»Deine Erregung verstehe ich, Cistolo,aber die Unterstellung entbehrt jeder Grund-lage.«

»Ach … Warte, Atlan, wohin gehst du?

Atlan!«Wortlos hatte der Arkonide sich abge-

wandt. Erst vor dem Schott hielt er inne,drehte sich langsam um.

»Schön, wenn wir uns gegenseitig mitVorwürfen beharken«, sagte er sarkastisch.»Das macht die Sache erst so richtig interes-sant; vor allem nutzt es den Dscherro.«

Der LFT-Kommissar winkte ab. »Ich binauch nur ein Mensch.« Das klang wie eineEntschuldigung, obwohl es gewiß keine seinsollte. »Wir haben wieder wertvolle Zeitverloren. Deine Siganesen sind gescheitert,Atlan, sonst hätten wir längst von ihnen ge-hört.«

Der Arkonide schwieg dazu. Durch diePanoramascheibe erkannte er an der Peri-pherie des Raumhafens zuckende Lichtblitzeund aufsteigenden Rauch. Noch weiter imOsten brannten mehrere Wohnblocks.

Eine Staffel Raumjäger raste über denTower hinweg, auf den Feuerstrahlen derImpulstriebwerke reitend. Augenscheinlichbegann das Flottenkommando, sich die Me-thoden der Dscherro anzueignen und eben-falls archaisch aufzutreten.

Thermostrahlen hämmerten in die Reihender Angreifer. Doch schon nach Sekunden-bruchteilen zogen die Jäger auseinander undverschwanden im wolkenverhangenenDunst. Das Abwehrfeuer der Gehörnten ver-puffte wirkungslos.

»Zwei Schourchten wurden zerstört«,meldete der Syntron. »Die nächste Welle derJäger greift an.«

Aus dem-,Zenit stießen sie herab. Wie einSchwarm angriffslustiger Hornissen. Zielsi-cher schlugen ihre Thermoschüsse zwischenden Korvetten ein, die sich längst in Parat-ronschirme gehüllt hatten.

Die Zeit des Zögerns schien vorbei zusein, denn was gab es inmitten ausgebrann-ter Ruinen noch zu zerstören? Nur das Wis-sen um die Geiseln hinderte Cistolo Khandaran, den Befehl zu geben, Terrania demErdboden gleichzumachen und mit der Stadtauch die Dscherro auszulöschen. Sachwerteließen sich verschmerzen, Menschenleben

36 Hubert Haensel

nicht.Kaum höher als zweihundert Meter don-

nerten die Jäger über das Hafengelände hin-weg, warfen selbstlenkende Bomben ab.Zwei Straßenzüge, in denen die Dscherromassiert anrückten, verwandelten sich in einInferno. Aber schon brachen die Schourch-ten, die bis zu vierzig Meter langen Trup-pentransporter, unversehrt aus dem Chaoshervor. Ihre Schutzschirme verfügten übereine beachtliche Kapazität.

Die Gehörnten zeigten, daß sie über eingewaltiges Potential an Offensivbewaffnungverfügten. Aber nicht gegen den Raumhafensetzten sie ihr Arsenal ein, sondern gegeneinen der in den Wolken verschwindendenWohnsilos.

Khan stöhnte gequält, als eine Feuerwalzeim unteren Drittel der Fassade emporleckteund das Baumaterial wie Wachs zu schmel-zen begann. Ein gigantisches Loch entstandüber mehrere Stockwerke hinweg und weite-te sich mit unglaublicher Geschwindigkeitaus und dann neigte der gewaltige Koloßsich zur Seite.

Wieder rasten Ein-Mann-Raumjäger her-an, schickten den Dscherro ihre tödlicheFracht entgegen und drehten ab, bevor ihnendie Gehörnten gefährlich werden konnten.Dutzende glutende Explosionen zerstörten,was die Dscherro übriggelassen hatten.

»Sie sollen aufhören!« stieß Atlan hervor.»Auf die Art erreichen wir gar nichts …«

Khans Miene versteinerte. »Ich muß denDscherro beikommen, andernfalls kann ichnicht mehr in den Spiegel schauen!«

»Ein paar Stunden mehr oder wenigersind längst unerheblich. Bis die Siganesenihre Mission abgeschlossen haben, solltestdu auf Aktionen verzichten, die doch nurneue Opfer fordern.«

Khans Kopf ruckte hoch. »Die Siganesenwaren so etwas wie der sprichwörtlicheStrohhalm«, stieß er hervor. »Eine wahnwit-zige Hoffnung …«

Er schwieg betreten. Im Osten stieg einegigantische Staubwolke in die Höhe, aufge-wirbelt von dem stürzenden Wohnblock, der

zwei andere Häuser mit sich riß. Khan wur-de bleich.

»Weißt du, wohin menschliche Rück-sichtnahme führt?« rief er. »In eine ver-dammte Abhängigkeit, und sie macht deineeigene Schwäche und die Schwäche des Sy-stems transparent. Erbarmungslos. So istdas; du schmorst im eigenen Saft und fragstdich, warum du nicht schon eher mit allenMitteln zurückgeschlagen hast. Vor ein paarTagen, als die Dscherro erst einige hundertGeiseln hatten, haben wir versucht, das Le-ben dieser Menschen zu schonen.«

Khan hob die Hände. »Und jetzt? Dieseverfluchten Hunde haben tausendmal mehrMenschen und andere Galaktiker in ihrerGewalt. Was haben wir erreicht? Auge umAuge, Zahn um Zahn - so steht es in der Bi-bel. Das hätten wir befolgen sollen, als unsbewußt wurde, was hinter der Nebelbarrierelauert.«

»Solche Zitate sind wie Statistiken«,wehrte Atlan ab. »Sie lassen sich immer ir-gendwie zurechtbiegen.«

»Nicht einmal NATHAN kann die Zahlder Opfer in der Bevölkerung verläßlich an-geben.« Cistolo Khan verschränkte die Ar-me vor der Brust; er fröstelte, schien sogarzu frieren, obwohl der Servo die Raumtem-peratur konstant hielt. Die Kälte, die ihm zuschaffen machte, kam von innen.

Unvermittelt straffte er sich.»Sollen wir auf ein Wunder warten, At-

lan? Wunder gibt es in dieser Zeit nichtmehr, es sei denn, wir machen sie uns selbst.Syntron: Befehl an die Jägerpiloten. Sie sol-len erneut in drei Wellen angreifen. Unddann rücken die Kampfroboter vor. Von miraus liegt das ganze Viertel in Schutt undAsche, es gehört zu den wenigen Bereichen,die vollständig evakuiert werden konnten.«

»Die Dscherro werden Geiseln töten, so-bald sie selbst in Bedrängnis geraten«, warn-te Atlan. »Ein solches Vorgehen ist nicht zuverantworten.«

»Ich muß das Risiko eingehen«, sagte derLFT-Kommissar unmißverständlich. »Nurhinterher fragt natürlich niemand, ob ich das

Unsichtbare Siganesen 37

wirklich gewollt labe oder nicht.«»Für mich wirkt es wie ein Akt der Ver-

zweiflung und der Versuch, das Gesicht zuwahren.«

»Das ist deine Sicht der Dinge. Aber Ter-ra und die Liga sind unabhängig und lassensich nicht von Camelot bevormunden. Wenndas hier vorbei ist, werden wir unser Ver-hältnis ein für allemal regeln müssen …«Das klang beinahe wie eine Drohung. »Terrainteressiert dich doch nur am Rande, Atlan,gib es zu. Die Unsterblichen rekrutieren un-sere Wissenschaftler und kochen ansonstenihr eigenes Süppchen.«

Es tat weh, solche Worte hören zu müs-sen. Ausgerechnet Atlan, der mehr für dieGeschichte der Menschheit getan hatte alsdie meisten Staatsmänner und Würdenträ-ger, wurde auf diese Weise brüskiert. Wäredie Lage in Terrania nicht so ernst gewesenund unabsehbar in ihren Auswirkungen, derArkonide hätte wirklich den Raum verlas-sen.

So aber bedachte er den LFT-Kommissarnur mit einem durchdringenden Blick, denKhan ebenso hart erwiderte. Von KhansCharisma war zumindest im Augenklickherzlich wenig zu spüren; er litt, die Agonieder Hauptstadt und das Leid ihrer Bevölke-rung spiegelten sich in seinen Augen. Des-halb fiel Atlans Reaktion weit wenigerschroff aus, als er es eigentlich beabsichtigthatte. Er hätte Cistolo Khan unrecht getan,das spürte er.

»Du weißt nicht, was du sagst«, stieß derArkonide nur unwillig hervor. »Und du rea-gierst verbohrt und kurzsichtig …«

Der Servo meldete den Eingang einesRafferimpulses aus dem Bereich des Faktor-elements.

»Im Wortlaut überspielen!« befahl Khan.Paula hatte sich gemeldet. Mit hologra-

phischen Sequenzen, die den Weg der Siga-nesen durch das Kanalsystem zeigten undsogar erste Bilder von innerhalb der Barrie-re.

»Sie haben es tatsächlich geschafft«, mur-melte Cistolo Khan.

Die Hände hatte er in den Taschen seinerderben Kleidung vergraben. Niemand, derihn so sah, ohne ihn zu kennen, hätte in ihmeinen der maßgeblichen Köpfe der LFT ver-mutet.

»Ich habe nie daran gezweifelt«, sagte At-lan. »Weil ich weiß, was Siganesen kön-nen.«

»Du kennst sie also doch von Camelot.«Khan hatte noch nicht aufgegeben, hofftewohl auf eine unbedachte Äußerung des Ar-koniden, aber Atlan ging nicht darauf ein.

»Ich veranlasse, daß der verletzte Soldatgeborgen wird«, sagte Khan nach einigenSekunden des Zögerns. »Zwei Medoroboterund eine Handvoll TARA-V UH sollten ge-nügen …«

6.

Die Burg war gigantisch, ein gewaltigesGebirge aus Metall. Sechstausendzweihun-dert Meter hoch war Gousharan, das ließ diePerspektivberechnung des Pikosyns erken-nen, denn auf einen Einsatz der Ortungenverzichtete Ross aus naheliegenden Grün-den. Der Basisdurchmesser betrug immernoch beachtliche zwei Komma eins Kilome-ter, und die Zahl der Auswüchse und Platt-formen war Legion, für die Siganesen schierunüberschaubar.

Aus einer Vielzahl von Schächten undGängen hatten sie einen Weg an die Ober-fläche gewählt. Überall sahen sie Dscherro,die mit Beute zurückkamen oder zum Auf-bruch rüsteten. Eine aufgeheizte, fast blutlü-sterne Stimmung herrschte.

Keiner der Gehörnten bemerkte die Siga-nesen, die im Laufschritt von Deckung zuDeckung eilten.

Rosa Borghan -turnte in halsbrecherischerManier auf einem Chresch herum, den seinBesitzer eben noch mit einer langläufigenWaffe bestückt hatte. Der Dscherro wardann wieder verschwunden, vermutlich umMunition herbeizuschaffen.

»Komm runter, Rosa!« Arno Wosken we-delte mit beiden Armen. »Jederzeit kann der

38 Hubert Haensel

Bursche wieder hier erscheinen, und dann…«

Die Frau achtete nicht auf ihn. Ohne denAntigrav einzusetzen, erreichte sie das Zu-satzgerät, das an einen prähistorischen Aus-puff erinnerte und das zweifellos die dichte,stinkende Rauchfahne erzeugte, die Chre-sche hinter sich her zogen.

»Beeil dich, Rosa!« drängte nun auch Do-mino. »Hier sind wir nicht so lange sicher,wie du das gerne hättest.«

Die ersten Dscherro hatten ihre Fahrzeugebesetzt, glitten mit lautlosem Antrieb weiter.Einige hundert Meter entfernt marschiertenRoboter auf - eine solche Vielfalt vonKampfmaschinen unterschiedlichster Typenhatte noch keiner der Siganesen je auf so en-gem Raum gesehen. Es schien, als hättenDutzende Völker alte und neue Kampfma-schinen gemeinsam in einen Einsatz ge-schickt.

»Wenn das so weitergeht, bleibt in Terra-nia kein Stein auf dem anderen«, bemerkteWosken.

Eine Schourcht schwebte heran, einer dergroßen Truppentransporter, ringsum be-stückt mit schweren Raketenwerfern und an-deren, auf den ersten Blick undefinierbarenWaffensystemen. Nur etwa zwanzig Dscher-ro standen im Inneren des abgeflachten Ke-gelstumpfs. Sie wirkten wie erstarrt regungs-los zumindest im Moment, aber sie würdensich bald in blutrünstige Kampfmaschinenverwandeln.

Die Schourcht hielt genau auf die beidenSiganesen zu. Jeden Augenblick mußten dieGehörnten, wenn sie nicht blind wären, Rossund Wosken entdecken. Und dann …

»In Deckung!« brüllte Ross.Ein kurzer, nur Sekundenbruchteile wäh-

render Schub des Gravo-Paks riß ihn vor-wärts, den Aufprall fing er geschmeidig abund rollte sich noch einmal zur Seite, bis einmetallenes Hindernis ihn stoppte. ArnoWosken, der ebenso schnell reagiert hatte,fiel halb über ihn. Gleichzeitig zog derSchatten der Schourcht über sie hinweg.

Wosken lehnte sich an die walzenförmige

Metallwand, die sie beide um doppelte Kör-perlänge überragte, und wischte sich einimaginäres Stäubchen vom SERUN. »Ichglaube nicht, daß die Dscherro uns bemerkthätten«, sagte er. »Die haben doch mit sichselbst und mit Terrania genug zu tun. Außer-dem sind wir für sie bestenfalls Ungeziefer…«

Mit der Faust klopfte er gegen das gebo-gene Metall, das von parallel verlaufendenVertiefungen durchzogen war, jede so groß,daß er bequem seine Arme hineinlegenkonnte. Forschend musterte er das Gebilde.

»Bevor du dir unnötig den Kopf zer-brichst«, sagte Ross, »ich halte es für einealtertümliche Granate. AusschließlichSprengwirkung oder so …«

Ein aufkommender Sturm drückte ihn inden Hohlraum zwischen der Granathülseund dem Boden. Unmengen roten Sandespeitschten auf und raubten ihm vorüberge-hend die Sicht.

Arno Wosken schimpfte unterdrückt,spuckte aus, schimpfte weiter. Dreck undSand wehten den Hohlraum fast zu, die Si-ganesen hatten Mühe, sich daraus hervorzu-wühlen.

»Der Chresch ist weg«, stieß Wosken her-vor. »Hat ganz schön Dreck aufgewirbelt.«Dabei konnten sie wahrscheinlich noch vonGlück sagen, daß der betreffende Dscherronur den Gravo-Antrieb benutzt hatte.

»Und Rosa?«»Ich bin hier«, erklang eine leise Stimme

hinter den beiden.Domino Ross wirbelte herum. »Was ist

bloß in dich gefahren?« fragte er scharf.»Solche Alleingänge sind unnötig.«

Rosa hob nur die Schultern und ließ sielangsam wieder sinken.

»Was war an dem Chresch so Besonde-res?« drängte Ross weiter.

»Jetzt«, sagte die Siganesin, und ein har-ter Zug umfloß ihre Mundwinkel, »ist wasBesonderes dran. Sobald der Dscherro die-ses Stinkgerät aktiviert bumm!«

»Dafür ist unser Sprengstoff zu schade.Ab sofort …«

Unsichtbare Siganesen 39

»Reg dich wieder ab«, seufzte Rosa. »Ichhabe ein paar Sprengsätze mehr eingesteckt,nur so, für alle Fälle eben.«

»Ich sag's doch immer …« Arno Woskenverdrehte vielsagend die Augen. »Versteheeiner die Frauen!«

Mit einer herrischen Handbewegungschnitt Ross jedes weitere Wort ab. »Schlußmit den Mätzchen! Wir führen keinen Pri-vatkrieg gegen die Dscherro, und davon, daßwir unsere Aufgabe richtig erfüllen, hängtmehr ab als ein zerstörter Chresch.«

*

Rosa Borghan hatte Dominos Vorwürfeunbewegt über sich ergehen lassen. Die Ar-me verschränkt, stand sie breitbeinig amstumpfen Ende der Granate und schüttelteden Kopf. »Kennst du mich wirklich soschlecht, Domino?«

Ross blickte sie überrascht an. »Ist dir dieKanalluft nicht bekommen, oder …?«

»Vor einer halben Stunde hast du dichnoch gefragt, wie wir in die Burg derDscherro hineinkommen, schließlich ist siedurch Schutzschirme gesichert.«

»Kommt Zeit, kommt Rat«, schränkteWosken ein.

»Dann sucht doch weiter!« Zugegeben,sie war gereizt, das gestand Rosa Borghansich selbst ein, aber war das ein Wunder?Angesichts der Brutalität der Dscherro, dienoch dazu in den Medien bis zum letztenBlutstropfen ausgeschlachtet worden war,fiel es ohnehin schwer, überhaupt normal zureagieren. Hinzu kam der Erfolgsdruck, un-ter den sie sich selbst setzte.

Domino hatte irgend etwas zu ihr gesagt,was sie völlig in Gedanken versunken - garnicht registriert hatte. Erst als er wiederschwieg, wandte sie sich ihm zu.

»Du bist geistesabwesend, Rosa«, warf erihr vor. »Wenn ich das geahnt hätte, ich hät-te mich für eine andere Begleiterin entschie…«

»Ach.«Domino Ross packte zu und zog sie zu

sich heran. Er befahl dem Servo ihres SE-RUNS, eine medizinische Diagnose vorzu-nehmen.

»Der Befehl kann nicht ausgeführt wer-den«, sagte Rosa.

»Warum nicht?«»Weil ich den Servo gegen unbefugte Be-

nutzung gesperrt habe. Und weil ich nicht…«

»Du bist krank, Rosa.«»Wenn du mir zuhören würdest, wüßtest

du längst, daß ich mich nicht krank fühle.«»Aber …«»Hör zu, bei allen Hörnern der Dscherro!

Ich habe den Schlüssel zur Burg Gousharan,wir brauchen nur noch hinzugehen und umEinlaß zu bitten.« Diesmal zog sie DominoRoss einfach mit sich, an der Granate vorbeidurch den angehäuften Sand, bis die tief ein-gegrabenen Fußspuren eines einzelnen Ge-hörnten zu sehen waren.

Fast alle Schourchten und Chresche wa-ren inzwischen abgezogen. Einige wenigeDscherro, die sich noch an ihren Fahrzeugenabmühten, um sie in Gang zu bringen, wirk-ten in dem kilometerweiten Areal verloren.Auf sie mußten die Siganesen kaum achten.Nur die Gefahr, daß die SERUN-Funktionenangemessen wurden, hatte sich mit dem Ab-zug der Meute wieder vergrößert. Zuvor, indem energetischen Chaos von Gravo-Antrieben, Waffensystemen und Funksprü-chen, hatten sie sich nahezu sicher fühlendürfen.

Rosa Borghan deutete auf ein unscheinba-res graues Kästchen im Sand. Es war vonannähernd ovaler Form und maß etwa fünfmal fünf Zentimeter, bei einer Dicke vonzweieinhalb. Die breite sensorförmigeStruktur auf der Oberseite fiel auf.

»Was ist das?« Wosken schaute sich nocheinmal nach allen Seiten um, doch die näch-sten Dscherro waren einige hundert Meterentfernt und brachten gerade ihre Chreschein Fahrt. Offensichtlich war auch die Tech-nik der Gehörnten alles andere als fehlerfrei.

»Das ist unser ›Sesam, öffne dich‹!« be-hauptete Rosa. »Ich hoffe, der Aufprall aus

40 Hubert Haensel

einem Meter Höhe hat ihn nicht beschä-digt.«

»Die Brandspuren stammen von deinemStrahler?«

»Irgendwie mußte ich das Ding von derLenksäule lösen. Die Abtastung ist deutlich:Es handelt sich um einen einfachen Impuls-geber.«

»… der den vom Beutezug zurückkehren-den Fahrzeugen Strukturlücken im Schirmöffnet.«

Rosa nickte eifrig.»Wieso wußtest du …?« begann Arno

Wosken, wurde aber sofort von der Frau un-terbrochen.

»Das spielt doch keine Rolle. Hauptsache,es handelt sich tatsächlich um einen Sendermit begrenzter Reichweite und festem Pro-gramm.«

»Ist verdammt schwer«, bemerkte Wos-ken, der vergeblich versuchte, das Kästchenan einer Seite leicht anzuheben.

»Hundertfünfzig Gramm«, meinte Rosa.»Faß mit an!«

Kein Dscherro bemerkte die drei Sigane-sen, die im Laufschritt über verdorrtes Erd-reich hasteten, der gewaltigen Silhouette derBurg entgegen. Zwischen sich trugen sie denImpulsgeber, dessen Gewicht von einem an-gehefteten Antigravplättchen reduziert wur-de.

Ross hatte das Gerät einer kurzen Über-prüfung unterzogen und festgestellt, daß essich wieder um präzise Mikrotechnik han-delte, die er den Dscherro nie und nimmerzugetraut hätte. Aber man sollte eben nie-manden nur nach seinem Aussehen beurtei-len.

Trotzdem: Domino Ross verstand nicht,wie vierfingrige Dscherro-Pranken so exakteund detaillierte Mikro-Schaltkreise zusam-menbauen konnten.

*

Das Mannschott war für siganesischeVerhältnisse riesig, obwohl es nur einen derkleinen Zugänge darstellte, gerade groß ge-

nug für einen einzelnen Dscherro mit seinemChresch. Aus fünfzig Metern Distanz beob-achteten die Siganesen, wie eine Struktur-lücke im Schirmfeld der Burg entstand.

»Der Schutzschirm ist unnötig«, kom-mentierte Wosken. »Die Dscherro sind dochlängst die uneingeschränkten Herren vonTerrania. Wovor fürchten sie sich?«

»Vor einem neuen Angriff der PAPER-MOON und anderer Raumer der NOVA-Klasse«, sagte Rosa. »Die Barriere hemmtOrtungen in beide Richtungen. Angenom-men, ein Kugelraumer durchdringt das Ne-belfeld und eröffnet sofort das Feuer …«

»Theorie«, stoppte Domino Ross ihrenRedefluß. »Die Gehörnten wissen sehr wohl,daß die Terraner nicht massiv feuern wer-den, solange sie die Geiseln in ihrer Gewalthaben.«

»Völlig sicher sind sie sich dessen abernicht«, wehrte Rosa ab. »Dann würden ih-nen einige tausend Gefangene auch genü-gen. Nein, Domino, ich bin der Meinung,daß die Dscherro sich gegen alle Eventuali-täten absichern.«

Ross zwirbelte nachdenklich seine Bar-tenden. »An alles haben sie bestimmt nichtgedacht.«

Das Schott glitt auf. Wie ein Lamellen-verschluß schoben sich einzelne, vorhernicht erkennbare Segmente übereinander.Dahinter wurde eine hell erleuchtete Halleerkennbar. Dscherro oder Roboter warennicht zu sehen.

Die Antigravscheibe mit ihrer Ausrüstunghatten die Siganesen vorübergehend in ei-nem Erdloch deponiert gehabt, in unmittel-barer Nähe des an die Oberfläche führendenSchachtes. Rings um die Burg war das ge-samte Gelände von einem Netz unterirdi-scher Stollen durchzogen. Welchem Zwecksie dienten, war nicht nachzuvollziehen,doch angesichts der Tatsache, daß mit demFaktorelement auch der gewachsene Bodenbis in eine Tiefe von zweieinhalb Kilome-tern ausgetauscht worden war, stand zu ver-muten, daß die Dscherro diese Stollen undSchächte gegraben hatten, um sich schnell

Unsichtbare Siganesen 41

und unauffällig in unterirdische Anlagenhochstehender Zivilisationen einzuschleu-sen, in U-Bahn-Schächte, Versorgungslei-tungen oder Wohngebäude. In Terrania warihnen das vortrefflich geglückt. Aber bedeu-tete das nicht auch, daß die Dscherro Erfah-rung mit der Art und Weise hatten, wie sieauf Terra erschienen waren? Und zwangs-läufig, daß sie mit den Nonggo zusammen-arbeiteten?

Mit einem unwilligen Kopfschütteln fegteDomino Ross alle diesbezüglichen Überle-gungen beiseite. Sie behinderten ihn nur.Davon abgesehen waren sie falsch; sie muß-ten falsch sein. Was er über die Nonggo ge-hört hatte, ließ sie nicht wie Komplizen dermordlüsternen Gehörnten erscheinen. Eherhatte der Zufall seine Hände im Spiel.

Der untere Rand der Mannschleuse lag le-diglich vier Meter über dem Bodenniveau.Sie hatte sich ganz geöffnet und begann be-reits wieder zuzugleiten. Immer noch hattesich kein Dscherro blicken lassen.

Domino Ross regelte sein Gravo-Pakhoch. Wie zuvor der Roboter Paul, zog erjetzt die Antigravscheibe mit den Transmit-tereinzelteilen hinter sich her. Als die La-mellen nicht einmal mehr einen Meter weitoffenstanden, huschten die Siganesen hin-durch. Hinter ihnen schloß sich das Schott.

Dicht über dem Boden glitt Domino Rossweiter. Ein knapp zwanzig Meter messenderStreifen war ungenutzt, im Anschluß daran,und das war von außen nicht zu erkennengewesen, standen Chresche dicht an dicht.Es sah aus, als würden die Fahrzeuge hiergewartet, denn vollautomatische Transport-vorrichtungen nahmen die Ein-Mann-Scheiben auf und verfrachteten sie inein darüberliegendes Stockwerk. AndereGreifvorrichtungen setzten neue Fahrzeugeab.

Im Hintergrund der mehrere hundert Me-ter messenden Halle ragten Maschinenkom-plexe auf. Gewaltige Drucktanks, durchRohrleitungen miteinander verbunden, indenen Dscherro bequem aufrecht gehenkonnten, bestimmten das Bild. Auch ohne

große Phantasie ließ sich sagen, daß es sichum Teile des Lebenserhaltungssystems vonGousharan handelte. Ein so gewaltiges Ge-bilde bedurfte zwangsläufig der Klimatisie-rung, denn eine natürliche Durchlüftungkonnte in den Innenbereichen nicht mehr ge-geben sein. Dazu kamen Temperaturrege-lung und Feuchtigkeitsregulierung, die Be-kämpfung von Mikroorganismen - alles Pro-bleme, die in großen Wohnsilos ebenso wiean Bord von Raumschiffen anfielen.

Den wahnwitzigen Gedanken, von hieraus ein Narkosemittel zu verbreiten, verwarfDomino Ross sofort wieder. Zum einen wä-re ein solches Vorhaben an den benötigtenMengen gescheitert, hätte aber vielleichtdoch mit Hilfe der Kleintransmitter durchge-führt werden können, zum anderen war dieAnlage zweifellos mit Spürsystemen fürSchadstoffe ausgerüstet. Selbst wenn es ge-lungen wäre, dies alles zu übergehen, hätteder unterschiedliche Wirkungszeitpunkt denPlan zunichte gemacht. Denn in dem Mo-ment wäre Alarm geschlagen worden, indem die ersten Dscherro Wirkung zeigten.Und bis dahin waren bestenfalls erst einigeEtagen in der Burg kontaminiert. Ohnehinwar der Metabolismus der Gehörnten unbe-kannt zeitverzögerte Betäubungsmittel ein-zusetzen wäre folglich in den Auswirkungenebenso unabsehbar gewesen.

Einige Drucktanks waren von Kühl-schlangen umgeben, ebenso von einem Ge-wirr von Röhren, Wartungsgerüsten undVerstrebungen. Manche Zwischenräumehätten Dscherro mit ihrer Leibesfülle nie-mals passieren können, aber das System warvermutlich wenig wartungsintensiv.

Domino Ross lenkte die Antigravscheibeauf den Verbindungsflansch zwischen zweiBehältern. Ein Gerüst bildete hier unter-schiedlich große Fächer, die dem Siganesenwie geschaffen erschienen, die Ausrüstungeine Zeitlang zu verbergen. Aus Überdruck-ventilen entweichender Dampf machte esschwer, Details zu erkennen, und die Tem-peraturen in diesem Bereich stiegen sprung-haft an. Domino war gezwungen, den Helm

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zu schließen.Energieechos ringsum, schwach zwar,

aber allgegenwärtig, vereitelten eine zufälli-ge Ortung. Nach einer Weile landete Rosswieder neben Rosa und Arno und schlug denHelm zurück.

»Kein Funkverkehr«, schärfte er ihnennochmals ein. »Es reicht, wenn wir Gefahrlaufen, beim Kontakt mit Paul und Paulaaufzufallen. Sollten wir getrennt werden,versucht jeder, sich hierher durchzuschla-gen.«

*

Mittelalter und High-Tech prallten in derBurg der Dscherro auf absonderliche Weisezusammen; die Gehörnten waren wohlschon immer ein Volk von Kriegern gewe-sen und hatten ihre Sitten und Gebräuche indas Zeitalter der Technik herübergerettet.

Nicht nur in der Außenansicht, auch imInnern der Burg trat ein offensichtlicherAnachronismus zutage: In den Etagen unter-halb der Lebenserhaltungssysteme stießendie Siganesen auf Konverter und Speicher-bänke, die den auf Camelot gebräuchlichenAggregaten kaum nachstanden. Kein Wun-der, daß die Schutzschirme der Burg demAngriff der 800-Meter-Raumer widerstan-den hatten. Vielleicht hätte ein Einsatz vonTransformgeschützen Gousharans Schutzdurchbrochen, doch hätten selbst schwächsteKaliber entsetzliche Folgen für den eurasi-schen Kontinent gezeigt, nach dem altterra-nischen Motto »Operation gelungen, Patienttot«.

Neben all diesen Zeugnissen hochstehen-der Technik hatten die Dscherro ihre Tro-phäen angebracht. Da hingen schwere Rü-stungen ebenso wie die Chitinpanzer mehr-fach mannsgroßer Insekten, daneben bizarre,unbrauchbar gewordene Waffen. Skelettebesiegter Feinde, die erkennen ließen, mitwelcher Wucht sie getötet worden waren, imAnschluß ausgeglühte, zerfetzte Wrackteileirgendwelcher Fahrzeuge. Mumifizierte Lei-chen in Schaukästen ließen die Frage offen,

ob es sich um Tiere oder Intelligenzen ge-handelt hatte; auf jeden Fall waren sie es denDscherro wert gewesen, sie zur Schau zustellen.

»Diese Burg ist ein Schreckenskabinett«,stöhnte Rosa. »Wenn ich mir vorstelle, daßeines Tages auch unsere Köpfe da …«

»Der Schädel eines Haluters vielleicht«,unterbrach Arno Wosken sarkastisch. »AberWas wollen die Gehörnten mit uns anfan-gen?«

»Möglich, daß sie uns hinter vorgeschal-tetem Vergrößerungsfeld ausstellen wür-den«, konterte die Siganesin.

Sie schwebten nur wenige Zentimeterüber dem Boden durch einen schier unüber-schaubaren Irrgarten aus Versorgungsaggre-gaten. Hoch über ihnen polterten Dscherroüber wuchtige Laufgitter, aber keiner derGehörnten verschwendete einen Blick in dieTiefe. Abgeseheri davon hätten sie die dreiSiganesen unter den gegebenen Bedingun-gen ohnehin kaum entdecken können.

Inmitten all der Tahks und Maschinen-blöcke kam ein Antigravschacht, breit ge-nug, um den Transport sperriger Aggregatezu ermöglichen. Ein ausgespartes Oval inder Decke fiel den Siganesen zuerst auf,gleich darauf entdeckten sie eine entspre-chende Öffnung im Boden, die sich nach un-ten über unzählige Decks fortsetzte. Es gabkeine Verkleidung, nichts, was auf Anhiebdie Funktion verraten hätte. Außerdem wardas Zugfeld desaktiviert, wurde wohl nur beierforderlichen-Transportvorgängen in Be-trieb genommen.

Am Schachtrand stehend, blickte Rosa indie Tiefe. Ihr Armband-Display lieferte einegrafische Darstellung. Etwa zweihundert-fünfzig Meter unter ihr endete der Schacht,das bedeutete also auch, daß die Burg eben-so tief im Faktorelement verankert war.Aber dort unten gab es nur Maschinenanla-gen.

Fünfzig Meter von den Dscherro entfernt,die allem Anschein nach Wartungsarbeitenverrichteten, schwebten die Siganesen amRand des Deckendurchbruchs nach oben.

Unsichtbare Siganesen 43

Erst nach knapp der dreifachen Distanz en-deten die Maschinendecks und der großeSchacht. Der weitere Weg führte entwederüber Treppenanlagen oder über kleinere An-tigravschächte in die Höhe.

»Um die Maschinenhallen können wir unsspäter kümmern«, sagte Domino Ross. »Ichzweifle an, daß von hier aus die Verteidi-gungsfunktionen der Burg lahmzulegensind. Außerdem will ich erst wissen, wo dieGeiseln festgehalten werden.«

Auch im Inneren erinnerte Gousharan aneinen unregelmäßig zusammengefügten Ter-mitenhügel. In den Maschinenräumen warder labyrinthartige Aufbau noch nicht sodeutlich geworden, doch die darüberliegen-den Etagen zeigten eine Vielfalt von ver-schlungenen Gängen, die großräumige Ge-wölbe abteilten; viele Räume erinnerten anHöhlen, die mit einfachen Mitteln in metal-lisch glänzenden Fels gegraben worden wa-ren. Auf gerade Wände stießen die Sigane-sen höchst selten, alles schien irgendwie inBewegung, in stetem Fluß zu sein, und eshätte keinen der drei verwundert, hätten sichurplötzlich vor ihren Augen Trennwändeverschoben oder neu gebildet.

In riesigen Lagerhallen war das Beutegutder Dscherro gestapelt.

»Was wollen sie bloß mit all dem Zeug?«entfuhr es Rosa angesichts der schier endloslangen Regalreihen. Formenergie wurde hierteilweise eingesetzt, um dem unterschiedli-chen Platzbedarf gerecht zu werden, und diefast schon pedantische Ordnung stach insAuge. Nach allem, was sie bisher von denDscherro gesehen hatten, hätten die Sigane-sen ihnen niemals einen solchen Ordnungs-sinn zugetraut.

Bizarres technisches Gerät lagerte in denersten Gewölben, Gegenstände, deren Funk-tionsweise unerfindlich blieb. Wer immerdiese Dinge gehandhabt hatte, mußte übermindestens sechs Arme und vielleicht nochmehr Beine verfügt haben. Und zweifellosüber den biegsamen Körper einer Schlange.Kopfschüttelnd betrachtete Wosken ein kor-kenzieherartig gewundenes Gerät, das seit-

lich und über die ganze Länge verteilt mehrals ein halbes Dutzend plumper Schalter undHebel aufwies.

Ein paar Regalreihen weiter lagerten Waf-fen, die sofort als solche zu erkennen waren.Breite Schwerter mit zwei unterschiedlichlangen Klingen; Lanzen; geschwungene, mitZacken versehene I-Ixte; eine Vorrichtung,die einer Harpune verblüffend ähnlich sah -aber das alles eindeutig nicht von Terrastammend, nicht einmal von den bekanntenMilchstraßenvölkern.

»Ich möchte nicht wissen, wie viele harm-lose Welten die Dscherro schon überfallenund geplündert haben«, stieß Arno Woskenzähneknirschend hervor. »Und Terra stehtwohl nur vorläufig am Ende der Liste.«

»Terra ist nichtharmlos«, platzte Rosaheraus.

»Für die Dscherro schon.« Wosken ver-zog die Mundwinkel zu einem geringschät-zigen Grinsen.

»Ich nehme an, all die Waffen und das an-dere sind funktionsfähig«, sagte Dominound schwebte zu einem der Formenergiere-gale hinauf. »Vielleicht finden wir sogar fürunsere Zwecke brauchbares Material.« Vor-sichtig stieg er über die Harpune hinweg.»Dachte ich mir's doch!« rief er nach unten.»Der Scan zeigt eine hochenergetische La-dung an. Mit dem Ding knacken wir soziemlich jeden Schutzschirm, sofern er nichtgerade kompakter fünfdimensionaler Struk-tur ist.«

»Also unbrauchbar«, kommentierte Wos-ken. Er hatte noch mehr sagen wollen, dochein dumpfes Schnauben ließ ihn innehalten.Auf dem Absatz wirbelte er herum; er er-starrte und löste sich im selben Sekunden-bruchteil scheinbar in Luft auf.

Der Dscherro, der in das Arsenal stürmte,blieb abrupt stehen. Er öffnete den breitenMund mit dem vorspringenden kräftigenUnterkiefer und entblößte vier kräftige Reiß-zähne. Das dumpfe Grollen aus seinem Ra-chen erinnerte an ein aufziehendes Gewitter.

Obwohl der Schädel fast halslos auf denSchultern saß, zeigte er eine erstaunliche

44 Hubert Haensel

Beweglichkeit. Die stark hervortretendenAugen suchten innerhalb Sekundenfrist denBoden rings um die Regelreihe ab. Gleich-zeitig, den Schädel mit dem Horn angriffslu-stig gesenkt, stürmte er nach vorne, und sei-ne rechte Pranke wischte über den Boden.

Das Knirschen, als die krallenartigen Fin-gernägel über den Plastbelag schrammten,vermischte sich mit einem hellen Aufschrei.

Dumpfe Laute ausstoßend, richtete derDscherro sich zu seiner vollen Größe vonwenig mehr als eineinhalb Metern auf. Dasgedrehte Horn auf seiner Stirn war mit roterLeuchtfarbe bemalt, die jeder Bewegungeinen eigentümlichen Nachführeffekt ver-lieh. Er war ein Koloß, fast so breit wiehoch, und der tonnenförmig vorgewölbteWanst wurde von zwei breiten Gürteln inForm gehalten. Über den Schultern hing einhalb zerrissenes, braunfleckiges Ketten-hemd, nur handelte es sich bei diesenFlecken nicht um Rost, sondern um getrock-netes Blut. Die Säulenbeine steckten in knie-hohen Stiefeln, die in einer Metallspitze en-deten - zweifellos eine ebenso tödliche Waf-fe wie das Stirnhorn.

Ruckartig hob der Dscherro die zur Faustgeballte Rechte, drehte und wendete sie undstarrte ungläubig auf das winzige zappelndeEtwas, das sich verzweifelt gegen seinenGriff stemmte. Schließlich hielt er die Faustso, daß seine Beute kopfüber hing und zuzappeln aufhörte. Winzige Silberfäden wir-belten durcheinander.

Noch einmal blickte der Dscherro su-chend um sich und stieß dabei plärrende,gutturale Laute aus. Ein wuchtiger Schrittvorwärts, ein zweiter, scheinbar irritiertwischte er mit der linken Hand durch dieLuft, als müsse er ein lästiges Insekt vertrei-ben, aber schon überlegte er es sich wiederanders und griff mit spitzen Fingern nachden Silberfäden, die von seiner Beute herab-hingen.

Den hellen Aufschrei quittierte er mit ei-nem Grunzen.

»Du tust mir weh, du Monstrum. Laßmich los!«

Tief aus dem fetten Wanst kam das Grun-zen, und abermals huschte sein Blick wiesel-flink über die Regalreihen.

Das winzige Ding zwischen seinen Fin-gern bewegte sich nicht mehr, es schien sichtotzustellen oder war vielleicht schon nichtmehr am Leben. In einem Moment sah es soaus, als wolle er das Etwas einfach zerquet-schen, doch dann hob er es langsam zumRachen und schnupperte erst einmal daran,bevor er das Maul öffnete.

»Ich bin giftig!« kreischte ein schrillesStimmchen. »Wenn du mich fressen willst,verknote ich dir die Därme.«

»Woch.« Ungefähr so klang der Laut, dender Dscherro hervorstieß, begleitet von einerWolke übelster Gerüche.

*

Zu spät hatte Rosa Borghan registriert,was hinter ihrem Rücken auf sie zukam; siehatte nicht einanal reagiert, als Arno imSchutz des Deflektorfeldes verschwundenwar.

Ein überaus schmerzhafter Aufprall hatteihr die Luft aus den Lungen getrieben undihr fast die Besinnung geraubt. Das Gefühl,herumgewirbelt und auf den Kopf gestellt zuwerden, war auch nicht gerade angenehm.

Ohne den schützenden SERUN hätte ihrder brutale Griff alle Knochen gebrochen.Verzweifelt stemmte sie sich dagegen, ver-suchte, wenigstens einen Arm freizubekom-men.

Der Dscherro starrte sie gierig an.Er wird mich fressen, durchzuckte es die

Siganesin. Die Trividbilder des Gehörnten,der das Kind ins Maul schob, waren plötz-lich wieder da und ließen sich nicht vertrei-ben.

Sie schrie, als zwei riesige Klauen an denmit ihrem Haar verknüpften Howalgonium-fäden zerrten; ein winziger Ruck noch, undder Dscherro skalpierte sie oder riß ihrgleich den Kopf ab.

Sein Blick huschte über die Regalreihen.Kein Zweifel, er hatte auch Arno oder Do-

Unsichtbare Siganesen 45

mino gesehen, schien sich aber nicht ganzschlüssig zu sein. Und noch hatte er seineEntdeckung nicht weitergemeldet.

Regungslos verharrte Rosa und schafftees gleich darauf, wenigstens den rechtenArm aus der Umklammerung zu bekommen.Mühsam stemmte sie sich gegen den Dau-men des Dscherro.

Diese Wesen hatten Nasen wie Schwei-nerüssel. Der Kerl roch an ihr, ziemlich ge-räuschvoll, wie sie fand, und dann …

»Ich bin giftig!« Etwas Dümmeres fiel ihrnicht ein.

Der Dscherro stutzte und stieß wohl einenLaut der Überraschung aus, jedenfalls wurdeRosa plötzlich von einer Wolke aus Fäulnis-gasen eingehüllt, die ihr schier die Sinneraubten. Die krampfhaft vor den Mund ge-preßte freie Hand brachte kaum Linderung.

Benommen starrte sie in die fette, von denvier aufragenden Reißzähnen dominierteFratze. Wenn sie sich nicht täuschte, war dererbarmungslose Griff um ihren Leib einklein wenig lockerer geworden. Mit äußer-ster Anstrengung zerrte sie nun auch ihrenlinken Arm nach oben und stützte sich aufden krallenbewehrten Daumen. Vergeblichsuchte sie mit den Füßen nach Halt, damitsie sich weiter emporstemmen und denStrahler ziehen konnte … Die Pranke desDscherro verströmte eine unangenehme Hit-ze, und die Klimaanlage des SERUNS arbei-tete nur bei geschlossenem System effektiv.

»Wer bist du?« stieß der Dscherro bellendhervor. Seine rauh klingenden Laute wurdenvom Translator problemlos übertragen. Ci-stolo Khan hatte die Einspeisung des Wort-schatzes noch kurz vor dem Aufbruch derSiganesen veranlaßt.

Endlich fanden Rosas Füße festen Halt.Sie spannte sich, stieß sich ab und schnelltein die Höhe. Wohin sie fliehen sollte, warihr noch nicht klar, und auf jeden Fall würdeder Gehörnte Alarm schlagen. Erschießenkonnte sie ihn jedenfalls nicht, dann würdendie anderen aufgrund der Spuren an der Lei-che zwangsläufig folgern, daß ungebeteneGäste in die Burg eingedrungen waren. Eher

durfte sie hoffen, daß niemand diesem einenDscherro Glauben schenken würde, wenn erbehauptete, er habe einen zehn Zentimeterkleinen Menschen gesehen.

Sie kam frei, flutschte nach oben aus derPranke des Gehörnten …

… und reagierte doch zu spät. Unwillkür-lich duckte sie sich, als der Schatten auf siezuschoß; dann klatschte die Linke desDscherro von oben herab und stauchte sie indie Faust zurück. Der Schlag verpaßte ihr ei-ne halbe Gehirnerschütterung, jedenfallsfühlte sie sich vorübergehend schrecklichbenommen.

Der Dscherro hielt sie in seinen Händenwie ein Mensch ein seltenes Insekt. Viel-leicht würde er sie auch in Formalin legen.Ein abscheulicher Gedanke.

Wo um alles in der Welt steckten ihre Be-gleiter? Auf was warteten die beiden eigent-lich?

Ein schmaler Streifen Licht fiel in ihrstickiges Verlies. Der Dscherro hatte seineHand leicht angehoben und fixierte sie miteinem Auge. Sein Verhalten zeugte vonNeugierde, aber auch von Unschlüssigkeit,und es wirkte so typisch menschlich, wie siees eigentlich nicht erwartet hatte.

»Laß mich hier raus, Dicker!« schnaubteRosa. Über die Außenlautsprecher ihres An-zugs wurde die Übersetzung laut wiederge-geben.

Der Dscherro hob die Hand über ihr einklein wenig höher.

»Du bist kein Foote«, keuchte er sie an.»Du bist kleiner, und dein Gesicht erinnertmich an das der Menschen.«

»Alles Maske!« behauptete Rosa, einerinneren Eingebung folgend. »Wir habenzwar viel geschafft, aber ihre letzte Zentralemüssen wir noch einnehmen.«

Die Hand entfernte sich ein weiteresStück.

»Laß mich augenblicklich los!« befahl dieSiganesin. »Wir Footen haben einen unauf-schiebbaren Auftrag zu erfüllen.«

Das war ein Schuß ins Blaue, zumal sieihre Situation kaum verschlechtern konnte.

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Wen oder was die Dscherro als Footen be-zeichneten; interessierte sie dabei herzlichwenig. Überhaupt schien der Gehörnte, dersie eingefangen hatte, nicht das intelligente-ste Exemplar seiner Spezies zu sein. Und soetwas galt es auszunutzen.

Im Krieg und in der Liebe sind alle Mittelerlaubt, hatte Domino erst vor fünf odersechs Monaten zu ihr gesagt eine Redensart,die sie zunächst als abstoßend empfundenhatte, die sie jedoch mittlerweile aus einemveränderten Blickwinkel sah.

Der Dscherro zögerte.»Ein kleiner Mensch«, schnaufte er.

»Aber wir haben bei den Verhören nichtsvon kleinen Menschen erfahren.« SeinePranke senkte sich wieder herab. »Ich werdemit dem Serofen reden, er wird die Entschei-dung treffen.«

War da nicht ein Geräusch? Von irgend-wo hinter ihr? Eine Art metallisches Scha-ben.

Der Dscherro stieß einen zornigen Auf-schrei aus, seine Pranke schloß sich wiederfester und machte Rosa erneut das Atmenzur Qual. Gleich darauf wurde sie heftig her-umgewirbelt.

*

Eine kurze Unachtsamkeit hatte genügt.Domino Ross hätte sich selbst dafür ohrfei-gen können, daß er die einfachsten Grundre-geln außer acht gelassen hatte. Ihm warnicht einmal mehr die Zeit geblieben, Rosaund Arno eine Warnung zuzurufen.

Arno hatte gerade noch Gelegenheit ge-funden, den Deflektor zu aktivieren. Nunschwebte er zwei Meter über dem Dscherround war unschlüssig, ob er angreifen odernoch abwarten sollte. Dominos heftigesWinken schien er nicht zu bemerken. Über-haupt konnte auch Domino ihn nur im Head-up-Display des geschlossenen Helms sehen,weil der Pikosyn die Deflektorfrequenz au-tomatisch neutralisierte.

Der Gehörnte hatte Rosa erwischt. Denersten Impuls, einfach die Waffe zu ziehen

und auf den Koloß anzulegen, verwarf Rosssofort wieder. Die Spuren, die ein solcherStrahlschuß hinterließ, würden die Dscherrozweifellos richtig interpretieren - dann wardas Unternehmen zu Ende, bevor es richtigbegonnen hatte. Andererseits konnte er denGegner schlecht mit bloßen Händen nieder-schlagen.

Rosa opfern, um der Sache willen? Nie-mals! Außerdem war er überzeugt, daß dieDscherro dann auch sehr schnell Arno undihn aufspüren würden.

Kräftig stemmte er sich gegen den Harpu-nenlauf. Die Waffe war schwer, vielleichtsogar für einen Terraner zu schwer, dennochschaffte er es, sie millimeterweise zu bewe-gen. Gleich darauf landete Wosken nebenihm und zerrte und stieß ebenfalls an demklobigen Ding. Am leichtesten bewegte sichdie Harpune, wenn Domino mit aller Kraftdrückte und Arno auf der anderen Seite desLaufes mit beiden Händen an einer Füh-rungsleine zog, bis er nur noch graugrün imGesicht war.

Schabend rutschte die Waffe herum.Wahrscheinlich war es das Geräusch ge-

wesen, oder der Dscherro hatte aus den Au-genwinkeln heraus die Bewegung bemerkt -jedenfalls riß er den Kopfhoch und starrte inihre Richtung.

Er kann uns nicht sehen, dachte Domino.»Da sind noch mehr wie du«, hörte er den

Dscherro sagen. »Ihr seid kleine Men-schen?«

Drohend riß der Dscherro die Faust hoch,in der Rosa zappelte. Vergeblich drosch siemit den Fäusten auf seine Finger ein, wahr-scheinlich spürte er ihre verzweifeltenSchläge nicht einmal.

»Zeigt euch, oder ich zerquetsche denKleinen!«

Der Dscherro würde nicht zögern, dieDrohung wahr zu machen. Dessen war sichauch Arno Wosken bewußt. Er schaltete sei-nen Deflektor ab.

»Was willst du von mir, Dscherro?« riefer, über die Lautsprecher verstärkt, als ereinen halben Meter von Ross entfernt sicht-

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bar wurde. »Gib die Frau frei, ansonsten ge-schieht Schreckliches!«

Der Gehörnte stieß grollende Laute aus,die wohl ein spöttisches Gelächter darstellensollten.

»Komm her, du Großmaul!« dröhnte er.»Oder sie stirbt vor deinen Augen.« Demon-strativ hob er die Hand, in der Rosa wild zuzappeln begonnen hatte. »Ich reiße ihr denKopf ab …«

»Er steht falsch!« rief Domino Ross überFunk. Die Gefahr, angepeilt zu werden, er-schien ihm zumindest im Moment als neben-sächlich. »Einen einzigen Meter weiter vor-ne könnte ich ihn erwischen.«

»Das krieg' ich hin«, antwortete Wosken.Über Lautsprecher sagte er: »Dscherro, alsKrieger bist du feige genug, dich an Frauenzu vergreifen. Warum versuchst du es nichtmit mir, hat dich der Mut verlassen?« Erstieß sich vom Regal ab, schwebte in Au-genhöhe dem Gehörnten entgegen, dochknapp einen halben Meter vor ihm stoppteer. »Vielleicht sollten wir dich als Geiselnehmen«, spottete er. »Wie gefällt dir das?«

Mit der Linken holte der Dscherro aus.Doch er erwischte Wosken nicht, der ebensoschnell seine Position änderte.

Ein zweiter Hieb, wieder daneben. DerLuftzug brachte Wosken ins Taumeln undzwang ihn, zurückzuweichen.

»Nicht übel, Dscherro, aber nicht gut ge-nug.«

Der Gehörnte ließ Rosa fallen. Gleichzei-tig warf er sich nach vorne, schlug mit bei-den Händen zu; doch er streifte Wosken nur,schleuderte ihn zur Seite und mußte nachfas-sen. In dem Moment erklang aus dem Regalein helles Zischen, ein winziger dünnerLichtblitz zuckte auf, traf sein Kettenhemdund weitete sich in Gedankenschnelle zu ei-nem irrlichternden Netz.

Ein feines Knistern hing in der Luft, einwildes Spiel von Licht und Schatten umflu-tete den Dscherro. Er riß den Rachen auf zueinem urwüchsigen Schrei voll Schmerz undQual, doch der Schrei brach abrupt ab.

Sekunden später erloschen die irrlichtern-

den Entladungen. Da war der Dscherroschon tot. Sein Horn splitterte, als er steifauf dem Boden aufschlug.

»Raus hier!« befahl Domino Ross seinenBegleitern. »Möglichst schnell und mög-lichst weit weg.«

Vielleicht würde der Tote als Opfer einesUnfalls gelten. Die energetische Harpunehatte sich eben selbst ausgelöst.

Solange kein Dscherro wußte, daß es Si-ganesen gab, bestand durchaus eine reelleChance, weiterhin unentdeckt zu bleiben.

7.

Rosa Borghan steckte der Schreck in allenGliedern. Domino merkte es deutlich, ob-wohl sie sich Mühe gab, ihre Schwäche zuüberspielen. Hinzu kam, daß die drei Siga-nesen seit Tagesfrist unter enormer Anspan-nung standen und die Erschöpfung sich zu-nehmend deutlicher bemerkbar machte. Si-cher, mit Medikamenten hätten sie sicheinen weiteren Tag fit und wach halten kön-nen, aber danach folgte unweigerlich derTiefpunkt. Domino Ross zweifelte an, daßsie ihre Aufgabe innerhalb von vierund-zwanzig Stunden erfüllen konnten.

Auf ihrer Flucht in die nächsthöheren Eta-gen hatten sie Lagerhallen gefunden, die mitBeutegut aus Terrania vollgestopft waren.Transmitter, Waffen, Bodengleiter, aberauch beim Ausbau halb zerstörte Syntroni-ken ebenso wie banale Haushaltsgeräte sta-pelten sich in undurchschaubarer Reihenfol-ge. Nichts war von der Ordnung in den unte-ren Räumen zu erkennen, doch vermutlichwürden die Dscherro irgendwann die Spreuvom Weizen trennen und ihre Eroberungenbesser aufbewahren. Dann würden solchenutzlosen Gegenstände wie die Aufsätze vonGetränkeautomaten oder Eierkocher denWeg in die Abfallverwertung nehmen.

Der Transmitter war ohne Energieversor-gung. Domino hatte die wahnwitzige Hoff-nung gehegt, ihn justieren und auf diesemWeg Cistolo Khans Einsatztruppen in dieBurg holen zu können, doch das erwies sich

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als unmöglich. Andererseits konnten auchdie Dscherro nichts mit dem Gerät anfangen.

Domino Ross hätte sich lieber unter demnächsten Schirmfeldgenerator aufs Ohr ge-legt als in dieser Umgebung. Zu groß erschi-en ihm das Risiko, daß Dscherro erschienen,um weiteres Beutegut übereinanderzutür-men. Oder um aufzuräumen. Deshalb warenihm die nächsten Etagen weitaus sympathi-scher, in denen exotische Technik lagerte.

Lüftungsschächte mit nur noch dreißigZentimetern Durchmesser bildeten ein Netzvon Kanälen, das teils sichtbar verlief, teilsin Wänden oder Zwischendecken verborgen.Die Auslaßöffnungen waren lediglich mitaufgesteckten Gittern versehen.

»Unser Nachtquartier«, sagte Domino miteiner einladenden Geste, als er ein Gitterwenigstens so weit gelöst hatte, daß sie be-quem hindurchschlüpfen konnten. ».Es istnicht so komfortabel wie das Siga-Plaza,fließend Wasser gibt es auch nicht, aber füruns reicht's.«

»Ein bißchen hellhörig, findest du nicht?«stichelte Rosa, als sie sich an ihm vorbeiz-wängte.

Ross bedachte sie mit einem schiefenGrinsen. »Im Einsatz sind sexuelle Bezie-hungen untersagt«, zitierte er.»Theoretisch.«

»Auch praktisch«, erwiderte Rosa. »Ichwollte nur sichergehen, daß du das nicht ver-gessen hast.«

Domino zog das Gitter von innen zu. Vor-übergehend lauschte er, weil er geglaubt hat-te, ein schabendes Geräusch zu hören, dasinnerhalb des Schachtes übertragen wordenwar, aber dann ließ er sich in die Hocke nie-der und schloß die Augen.

»Wir müssen Atlan verständigen. UndKhan«, erinnerte Rosa. »Wenn sie nichtsvon uns hören, denken sie womöglich noch…«

»Schon versucht«, murmelte Ross. »Ichkann Paul nicht erreichen. Vermutlich wirktder Schutzschirm um die Burg wie ein Stör-feld.«

»Wann hast du …?«

Domino deutete nach unten. »Inmitten derterranischen Beute. Falls ich angemessenworden wäre, hätten die Dscherro immernoch glauben können, daß eine ihrer neuenErrungenschaften sich selbständig gemachthat.«

»Das heißt, wir müssen eine Strukturlückeschaffen, um überhaupt senden zu können?«wandte Wosken ein.

»So ungefähr.« Domino nickte knapp. Er-neut schloß er die Augen.

Aus der Ferne war wieder ein leises Scha-ben zu vernehmen. Metall rieb an Metall.

»Wir sollten eine Wache aufstellen«, mur-melte Rosa. »Wenn jeder zwei Stunden …«

»Glaubst du, daß Dscherro durch denLuftschacht kriechen?«

»Nein, das nicht.«»Also wozu die Aufregung?«In Embryonalhaltung rollte Ross sich zu-

sammen. Wenig später verrieten seinegleichmäßigen Atemzüge, daß er einge-schlafen war. Zumindest glaubten das Rosaund Wosken.

Domino lag indes noch fast drei Stundenlang wach und lauschte der Geräuschkulisseaus der Tiefe der Burg.

*

Ein intensives Grün färbte den Himmel,nur wenige Haufenwolken trübten den hel-len Sonnenschein. Purpurfarben fielen dieLichtfinger beider Sonnen ins Meer, weitdraußen, wo die Gischt von den heranrol-lenden Wogen verwehte.

Eine sanfte Brise wehte auflandig. Sietrug den Geruch im Wasser gelöster Metalleheran - aber auch das unverwechselbareAroma von Algen und Tang. Und sie brachteeine anheimelnde Wärme.

Ringsum brach der Sand auf, reckten sichdie Sprößlinge der Seejungfer der Sonneentgegen. Zarte Tentakel, kegelförmig abge-spreizt, steckten ihr Revier ab.

Der Wind frischte auf und wurde wär-mer. Staubsand wirbelte über den Strand,bog die noch geschmeidigen Seejungfern zu

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Boden. Ihr Wimmern hatte etwas Verlocken-des.

Übergangslos brach der Sturm herein …Rosa Borghan schreckte hoch, als jemand

sie heftig an den Schultern rüttelte. Im erstenAugenblick hatte sie keine Ahnung, wo siesich befand und was geschehen war, spürtenur, daß der Sturm heftiger an ihr zerrte.

Daß sie geträumt hatte, wurde ihr klar, alsDomino sie in die Höhe zog.

»Beeil dich!« Der beginnende Sturm rißihm die Worte von den Lippen. »Ich weißnicht, mit welchem Druck sie die Leitungendurchblasen.«

Nur mit Mühe konnte Rosa sich noch auf-recht halten; ohne die Magnetverankerungdes SERUNS wäre sie wie ein welkes Blattim Herbststurm davongewirbelt worden. Fo-lienfetzen und irgendwelches kleinere Unge-ziefer peitschten vorbei, viel zu schnell, alsdaß die Siganesin mehr erkennen konnte.Sie bekam kaum Luft und hatte Mühe, demDruck zu trotzen.

Domino Ross schloß ihren Helm, undschlagartig verstummte für sie das dröhnen-de Brausen. Mit Handzeichen gab er ihr zuverstehen, daß sie ihm bis zum Lüftungsgit-ter folgen sollte, an dem Wosken sich schonzu schaffen machte.

Minuten später hatten sie den Lüftungs-schacht verlassen und befanden sich auf demweiteren Aufstieg in die oberen Etagen.

Überraschend stießen sie auf die Verliese,in denen die Dscherro ihre Geiseln zusam-mengepfercht hatten. Trotz der steten Luf-tumwälzung hing ein beißender Gestank vonSchweiß und Exkrementen in der Luft. Eswar stickig und heiß, das Stöhnen und Wim-mern Verwundeter und hin und wieder fasthysterische Schreie bildeten eine deprimie-rende Kulisse. Wie Vieh waren die Men-schen zusammengepfercht, einige hundertjeweils in energetischen Zellen, die den Ge-fangenen gerade die nötigste Bewegungs-freiheit ließen.

Mit Neuropeitschen schlugen die Dscher-ro auf die Wehrlosen ein. Wahllos, wie esschien, und hin und wieder zerrten sie Män-

ner und Frauen aus der Menge hervor undstießen sie vor sich her - vielleicht zum Ver-hör, vielleicht aber auch …

Das Bild des Dscherro mit dem Kleinkindspukte unauslöschlich in Rosas Gedanken.Wer wußte denn wirklich, daß die Dscherroihre Gefangenen nicht auffraßen? Für siemochte das die natürlichste Sache überhauptsein; auch auf der Erde hatten Eingebore-nenstämme ihre Gefangenen verspeist.

Eine Frau mit zwei kleinen Kindern be-gann zu schreien, als die Gehörnten ihr dieKinder entrissen. Mit dem Mut der Ver-zweiflung stürzte sie sich auf einen derDscherro, schlug ihm ihre Hände ins Gesicht… und wurde in hohem Bogen zurückge-schleudert. Zwei Männer, die sich schützendvor sie stellen wollten, brachen unter denSchlägen einer Neuropeitsche zuckend zu-sammen und versteiften sich. Rosa konntenicht erkennen, ob sie tot waren oder nur dieBesinnung verloren hatten.

Vorübergehend sah es so aus, als wollteder Dscherro die ihm am nächsten stehendenGefangenen mit seinem Horn aufspießen,aber dann rief er nur einige unverständlicheBefehle, wandte sich um und stieß die Kin-der vor sich her.

»Sie sind wie wilde Bestien«, brachte Ro-sa zähneknirschend hervor. »Sie kennen kei-ne Gnade.«

Im Schutz ihrer Deflektorschirme bliebendie Siganesen unentdeckt. Dabei durften siesich einigermaßen sicher vor Ortung fühlen,denn die Streustrahlung der Energiezellenebenso wie die Entladungen der Neuropeit-schen überlagerten die Emissionen ihrer SE-RUNS.

Für die Dscherro waren die Gefangenenkaum mehr als Tauschware, Glasperlen, dieman achtlos wegwarf, wenn sie nicht den er-hofften Erfolg einbrachten. Wer sich nichtmehr auf den Beinen halten konnte, weil erkrank oder zu schwach war oder einfach denMut verloren hatte, wurde weggebracht.

»Sie sind Bestien«, wiederholte Rosa.Als Domino beschwichtigend auf sie ein-

redete, wehrte sie schroff ab.

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»Ich weiß, daß Haß gefährlich ist«, gabsie wütend zurück. »Aber ich kann michnicht vor dem verschließen, was ich sehe.Wenn es einen Gott und eine Gerechtigkeitgibt, Domino, dann müssen diese Dscherrofür alles büßen, was sie ihren Gefangenenantun. Für jeden Toten werden sie bezahlenund für jeden, den sie foltern …«

Ein Aufheulen ging durch die Menge.Ausgemergelte, von Hoffnungslosigkeit zeu-gende Gesichter reckten sich in die Höhe,Münder wurden gierig aufgerissen, und em-porgestreckte Hände fingen das spärlicheWasser auf, das von der Decke herabrieselte.Innerhalb weniger Augenblicke waren dieGefangenen durchnäßt, bildeten sich Pfützenauf dem Boden.

Vergeblich versuchten einige Besonnene,das abzusehende Chaos zu verhindern. Ihremahnenden Rufe verhallten im aufbranden-den Geschrei.

Wasser schien zum kostbaren Gut gewor-den zu sein und brauchbare Nahrung viel-leicht noch wertvoller.

Rosa hatte genug gesehen. Die Not derGequälten vor Augen zu haben und nichthelfen zu können, war schlimmer als allesandere. Sie achtete nicht auf die Zeichen, dieDomino und Arno ihr machten, sondernstürmte einfach vorwärts, fort von den ener-getischen Pferchen, in denen Menschen undeinige andere Galaktiker wie Vieh gehaltenwurden. Das klägliche Trompeten eines Uni-thers klang in ihren Ohren wie eine Fanfaredes Schreckens.

*

Ohne daß sie es beabsichtigt hatte, er-reichte Rosa eine der vielen Plattformen ander Außenhülle der Burg. Vierhundert Metertiefer rüsteten schon wieder Dscherro zu ei-nem neuen Angriff.

Aber das registrierte sie nur am Rande.Weitaus erschreckender war, was sie unmit-telbar vor sich sah. Dscherro drängten eineVielzahl von Menschen auf der Plattformzusammen, dirigierten sie nahe an den Rand

des Abgrunds. Wer sich sträubte, wurde mitNeuropeitschen gefügsam gemacht.

Es waren einige hundert Männer, Frauenund Kinder, denen das Entsetzen ins Gesichtgeschrieben stand. Sie ahnten, daß sie ster-ben würden, von den Dscherro gnadenlos indie Tiefe gestürzt. Die einen hatten sich dieHände vor die Augen geschlagen und ließensich willenlos treiben, andere versuchtenvergeblich, der Menge zu entrinnen.

Das Schreien und Wimmern wurde lauter.Eine Stimme begann zu beten, andere fielenzögernd ein. Sekunden später mochten esbereits einige Dutzend Menschen sein, dieeinen christlichen Text zitierten.

Die Dscherro stießen sie an den Rand derPlattform, und fliegende Kameras filmtendie Szene. Niemand bemerkte die Sigane-sen, die im Schutz der Unsichtbarkeit an derAußenwand von Gousharan verharrten.

»Sie werden Khan erpressen«, stieß RosaBorghan zähneknirschend hervor. »Sie wer-den ihm Zugeständnisse abringen, die ersonst nie zu geben bereit wäre.«

»Und wer sagt, daß sie die Gefangenennicht anschließend doch in die Tiefe stür-zen?« fragte Arno Wosken.

Da geschah es. Mehrere Männer griffeneinen Dscherro an, der sich besonders brutalhervorgetan hatte. Der Angriff überraschteden Gehörnten, er verlor den sicheren Stand,taumelte nach hinten und hing plötzlich überder Abbruchkante. Vergeblich mit den Ar-men rudernd, versuchte er, sich wieder nachvorne zu werfen, doch er bekam nur einender Männer zu fassen und riß ihn mit sich indie Tiefe.

Sekundenlang schien alles den Atem an-zuhalten, dann brüllten die Dscherro wilddurcheinander. Zwanzig Menschen wurdenabgesondert und gezwungen, sich am Randder Plattform aufzustellen. Sie mußten sprin-gen. Einige taten es freiwillig, sahen darinvielleicht die Erlösung; ein paar SekundenTodesfurcht, danach der Aufprall sie zogenden Tod der weiteren Qual der Gefangen-schaft vor. Jene, die vergeblich versuchten,gegen das Schicksal anzukämpfen, wurden

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von den Dscherro in die Tiefe gestoßen.Rosa hatte sich umgewandt. Schwer at-

mend versuchte sie, das drängende Würgenzu unterdrücken, das aus ihrem Magen em-porstieg.

»Wir werden ihnen helfen«, versprachDomino. »Sobald wir unsere Pflicht erfüllthaben, werden wir den Gefangenen beiste-hen.«

*

Schräg unterhalb der Plattform befandsich eines der Schirmfeldaggregate. VomStandort der Siganesen aus war es deutlichzu erkennen.

Arno Wosken deutete nach unten, undRoss nickte knapp. Es wurde ohnehin Zeitfür sie, sich zurückzuziehen, denn Roboterunterschiedlichster Bauart erschienen, offen-sichtlich um die zusammengepferchten Ge-fangenen zu bewachen. Damit wuchs für dieSiganesen die Gefahr einer Entdeckung, ob-wohl das nahe Schirmfeld ebenso wie dieNeuropeitschen eine starke Streustrahlungemittierten.

Selbst unterhalb der Plattform befandendie Siganesen sich nicht im toten Winkel.Von anderen Vorsprüngen, Galerien oderLandetellern konnte das Aggregat eingese-hen werden. Nur kam wohl kein Dscherroauf die wahnwitzige Idee, ausgerechnet dortnach eingedrungenen elf Zentimeter großenGegnern zu suchen.

Während Arno Wosken an einem Vor-sprung nahe dem Schirmfeld den ersten Mi-niatursender montierte, der als Relaisstationfür die Datenübermittlung an Paul oder Pau-la dienen sollte, machten Domino und Rosasich an dem Schutzschirmaggregat zu schaf-fen.

Trotz der hervorragenden Meßtechnikenihrer SERUNS vergingen Stunden, bis sieendlich einen siganesenfaustgroßen Impuls-geber so programmiert hatten, daß er dasAggregat unbemerkt manipulieren konnte.In Nanosekunden-Intervallen würde er win-zige Strukturlücken öffnen, angeregt durch

das Funkrelais, und damit Rafferimpulse andie Roboter ungehindert passieren lassen.Der Impulsgeber wurde in unmittelbarer Nä-he des Relais plaziert, um nicht nur die zeit-liche, sondern auch die räumliche Koopera-tion zu ermöglichen.

Aus sicherer Distanz gab Domino Rossdie Datenzusammenfassung für Khan undAtlan weiter. Er erhielt keine Bestätigung,aber das war auch nicht geplant. Von nun anwürde er in regelmäßigen Abständen Berichterstatten. Allerdings galt es, noch weitereRelais und Impulsgeber zu montieren, umdem Gegner die Einpeilung nicht zu leichtzu machen.

Damit konnte der erste Teil des Unterneh-mens als abgeschlossen gelten. Sie hattendie Gefangenen gefunden, und die Verbin-dung aus der Burg Gousharan nach TerraniaCity war möglich. Atlan und der LFT-Kommissar würden von nun an über alleweiteren Schritte und Sabotageakte unter-richtet sein.

»Gehen wir über zu Punkt zwei«, be-stimmte Domino Ross. »Weitere Erkundungder Burg und Errichtung eines Brückenkop-fes. Benötigt wird ein sicherer Standort fürunsere Transmitter.«

8.

Bousseor hatte sich auf einem ausge-brannten terranischen Fahrzeugwrack nie-dergelassen. Der Stahl war geschmolzen undzu einem bizarren Mahnmal erstarrt; Bous-seor glaubte, darin so etwas wie die Form ei-nes Dscherrohorns zu erkennen. Aber viel-leicht waren es nur die besonderen Lichtver-hältnisse innerhalb der Nebelbarriere, dieihn das glauben ließen.

Eine gelbe Sonne stand über Terra. Bous-seor sah ihren Schein als verwaschenes fahl-gelbes Leuchten. Dazu die Silhouetten ent-fernter Gebäude.

Dort draußen, in dem für ihn verbotenenGelände, lebten die Ungehörnten. Ihre Tech-nik war faszinierend - das hatte er schon anden Beutestücken gesehen, die von den

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Dscherro in die Burg gebracht worden wa-ren. Doch Taka Fellokk und die Serofen ga-ben sich damit längst nicht zufrieden - siewollten mehr, und sie würden mehr bekom-men.

Die Terraner, wie die Ungehörnten sichnannten, waren seltsam schizophren. Bous-seor verstand nicht, wie derartige Wesenüberhaupt eine hochstehende Zivilisationhatten entwickeln können. Einerseits kämpf-ten sie so mutig wie Dscherro, andererseitsstarben sie, nur um Gefangene zu befreien.

Bousseor hatte die Geiseln beobachtet,aber keine Antworten auf seine vielen Fra-gen gefunden. Warum wirkten die einen soruhig und gefaßt, und wieso schlugen anderewie besessen um sich und stießen dabeischrecklich schrille Laute aus? Und weshalbklammerten sich manche an die Toten undsonderten eine wäßrige Körperflüssigkeitab? Waren die Terraner aus Meeresbewoh-nern hervorgegangen?

Vielleicht hätten sich solche Fragen au-ßerhalb der Nebelwand leichter klären las-sen, in dem Bereich, in dem die Terranerheimisch waren. Ihre Reaktionen in Gefan-genschaft mochten völlig verändert sein,Bousseor hatte das schon bei verschiedenenVölkern festgestellt, die von Gousharanheimgesucht worden waren.

Aber der Weg nach draußen war von denDscherro verboten worden.

Bousseor lauschte den Funkimpulsen, dieschwach und verzerrt die Barriere durch-drangen und schon in vergleichsweise gerin-

ger Distanz nicht mehr zu empfangen waren.Manchmal glaubte er, Stimmen der Terranerzu hören, und zeichnete sie auf. In der Burggab es inzwischen mehrere Geräte, die eineÜbersetzung ins Dschett ermöglichten.

Bousseor stutzte, als er einen kurzen Im-puls empfing, der deutlicher war als alles an-dere. Eigentlich war es Zufall, daß er geradediesen Frequenzabschnitt justiert hatte.

Eines ließ ihn aufmerken.Der Impuls kam nicht von außerhalb der

Barriere, sondern er kam von der Burg undwurde nach draußen weitergeleitet. Zu kurzwar die Zeitspanne gewesen, um eine Ein-peilung des Senders zu ermöglichen.

In der ersten Überraschung dachte Bous-seor daran, daß möglicherweise einer derGefangenen eine Nachricht abgesandt hatte.Doch das war ausgeschlossen, die Dscherrohätten niemals ein Funkgerät übersehen.

Die Konsequenz daraus versetzte Bousse-or in Erregung und weckte sein Jagdfieber:Irgendwo im Bereich von Gousharan befan-den sich Terraner oder terranische Roboter,die es geschafft hatten, unbemerkt einzu-dringen.

Bousseors Sehnsucht nach dem Land au-ßerhalb der Barriere hatte plötzlich Konkur-renz bekommen.

Ich finde euch! dachte er aufgeregt. Unddann werdet ihr mir alles erzählen, was ichwissen will. Eure Technik ist faszinierend.

E N D E

Das kleine siganesische Kommando hat es geschafft und konnte in die Burg der Dscherroeindringen. Damit beginnen die Schwierigkeiten für die kleinen grünhäutigen Menschen je-doch erst: Sie sollen letztlich eine Möglichkeit finden, wie man der Dscherro Herr werdenkann.

Die weiteren Ereignisse in der Burg schildert Hubert Haensel im nächsten PERRY RHO-DAN-Roman - der Roman trägt den Titel DREI GEGEN GOUSHARAN

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