Wenn die verletzte Seele nicht heilt DER KINDHEIT · Münchner Merkur Nr. 243 | Montag, 21. Oktober...

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Münchner Merkur Nr. 243 | Montag, 21. Oktober 2013

Redaktion Medizin: (089) 53 06-425wissenschaft@merkur-online.de

Telefax: (089) 53 06-86 61 17Leben

TRAUMA INDER KINDHEIT

Gewalt, Missbrauch,VernachlässigungNicht immer ist die Ursa-che einer posttraumati-schen Störung ein einzel-nes Schockerlebnis. An-ders ist das oft bei Erfah-rungen in der Kindheit.Die traumatisierenden Er-lebnisse wie sexuellerMissbrauch, Gewalt oderauch Vernachlässigungdauerten oft über Jahre anoder wiederholten sich.Sie sind tief in der Seeleverankert und haben Ver-halten und Persönlichkeitder Betroffenen geprägt.Diese leiden oft unter Ge-fühlen von Schuld, Hilflo-sigkeit und Minderwertig-keit, haben Probleme, sichzu schützen und anderenGrenzen zu setzen. Oftkümmern sie sich nicht gutum sich selbst und habenSchwierigkeiten, mit ihrenGefühlen umzugehen.

Erneut OpferDer mangelnde Selbst-schutz ist ein Grund, wa-rum Frauen, die in derKindheit geschlagen odermissbraucht wurden, imspäteren Leben ähnlicheErfahrungen oft wiederho-len. Sie haben gelernt, umeine enge Bindung zu ei-nem Menschen aufrecht-zuerhalten, viel Leid zu er-tragen – und werden daheroft erneut Opfer. Viele ent-wickeln psychische Pro-bleme wie Angststörungenoder Depressionen. „Hin-ter fast jeder psychischenStörung kann ein Traumastecken“, sagt Traumathe-rapeut Prof. Martin Sack.Andererseits lösen er-schütternde Erlebnisse inder Kindheit aber nicht im-mer ein Trauma aus.

Erinnerung verändern

Sind unverarbeitete Erleb-nisse aus der Kindheit dieUrsache psychischer Pro-bleme, kann ebenfalls eineTraumatherapie helfen.„Auch Erwachsene kön-nen ihr Verhalten nochsehr gut verändern“, sagtSack. Doch dauert dieTherapie in der Regel deut-lich länger als bei einemSchockerlebnis im späte-ren Leben. Auch traumati-sche Erfahrungen in derKindheit werden in derTherapie wieder wachge-rufen, um sie zu verarbei-ten. Doch soll der Betroffe-ne sie nicht einfach erneuterleben, als sei er noch dashilflose Kind von damals.Gemeinsam mit dem The-rapeuten entwickelt derPatient etwa gedanklicheTechniken, um sich zuschützen. So kann ihm inder Erinnerung seine er-wachsene Persönlichkeitzur Seite stehen. Sie gibtdem Kind das Gefühl, jetztsicher zu sein. „Die Ver-gangenheit lässt sich so so-gar umschreiben“, sagtSack. In der Therapie kannetwa ein anderer Ausgangeiner als schrecklich erleb-ten Situation erdacht wer-den. Das kann die Vergan-genheit nicht verändern,doch die Gefühle, die dieErinnerung begleiten. Unddamit ihren Einfluss aufdie Gegenwart. sog

In der Kindheit erlebte Ge-walt kann ein Traumaauslösen. WALDHAESL

Als Chefarzt im KlinikumGroßhadern erlebe ich täg-lich, wie wichtig medizini-sche Aufklärung ist. MeineKollegen und ich möchtenden Lesern daher jeden Mon-tag ein Thema vorstellen, dasfür ihre Gesundheit von Be-deutung ist. Im Zentrum derheutigen Seite steht die Post-traumatische Belastungsstö-rung. Der Experte des Bei-trags ist Prof. Martin Sack. Erist Leiter der Sektion Trau-mafolgestörungen der Klinikfür Psychosomatische Medi-zin und Psychotherapie, Kli-nikum rechts der Isar.

Prof. Dr. Christian Stief

zielle Traumatherapie. Dabeiwird gezielt an der belasten-den Erfahrung gearbeitet. Beider Anamnese versucht derTherapeut zunächst sicherzu-stellen, dass es nicht weiteretraumatische Erlebnisse gibt.„So weiß man, was in der The-rapie passieren könnte“, sagtSack. Etwa ob das Risiko be-steht, ein anderes, altes Trau-ma wachzurufen.

In manchen Fällen könnenauch Medikamente helfen,den Patienten vor der Kon-frontation mit dem traumati-sierenden Erlebnissen zu sta-bilisieren. Zum Einsatz kom-men etwa Antidepressiva undBetablocker. „Aber ein Thera-peut kann das besser als jedesMedikament“, sagt Sack.

Im geschützten Umfeld derTherapie erlebte Erik H. denUnfall nochmals. Das bedeu-tet nicht nur, sich an die Ge-schehnisse genau zu erinnern.Wichtig sind vor allem die da-mit verbundenen Gefühle undBewertungen wie Hilflosig-keit, Angst und Schuld. Sielassen sich beim erneutenDurchleben verändern.

Erst wollten sich Erik H.sErinnerungen zu keiner Ge-schichte fügen. Der Stress warfür ihn enorm. Doch der The-rapeut spürt, wann der Patientüberfordert ist und emotiona-le Entlastung braucht.

Anfangs vermied Erik H. imGespräch die schmerzlichstenBilder. Doch bald konnte erdarüber sprechen, etwa überseine Gefühle, als er die vorSchreck geweiteten Augendes Kindes sah. Er sprachüber seine Angst als Vater,dass seinen Kindern Ähnli-ches zustoßen könnte. Auchüber die Traurigkeit seinerKinder, dass ihr Vater einemanderen Kind geschadet hat.Langsam ergänzten sich dieFragmente seiner Erinnerungzu einer Geschichte. Das Ge-fühl von Angst und Hilflosig-keit ließ nach. Mit Hilfe desTherapeuten versuchte er dasGeschehene neu zu bewerten,die Erinnerung in sein Lebenzu integrieren.

Mit Erfolg: Bereits nach ei-nigen Sitzungen schmerztendie Erinnerungen kaum noch.Auch Albträume, der ständigeStress verschwanden. „Bei ei-nem Einzeltrauma kann dassehr rasch gehen“, sagt Sack.Erik H. wird den schreckli-chen Unfall nie vergessen.Doch er ist jetzt Vergangen-heit. Die Erinnerung daranwird ihn nicht mehr krankmachen.

Leserfragen an den Experten:wissenschaft@merkur-online.de

Wenn die verletzte Seele nicht heiltSTIEFS SPRECHSTUNDE ..................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................

zei entlastete ihn. Dennochmachte sich Erik H. Vorwür-fe. Warum war er genau in die-sem Moment an jenem Ort?Hätte er nicht einfach die Um-gehungsstraße nehmen kön-nen? Freunde und Familiekonnten seine Gedankennicht verstehen. „Aber du hastes doch schwarz auf weiß: Dubist nicht schuld!“, sagten sie.Schließlich konnte Erik H.

nicht mehr in den Lieferwa-gen steigen. Wenn sich amStraßenrand etwas bewegte,zuckte er zusammen. Er verlorseine Arbeit. Zu Hause fühlteer sich unnütz, war gereizt,depressiv. Sein Hausarzt stell-te schließlich Bluthochdruckfest. Nach einem Gesprächriet er ihm dazu, einen Thera-peuten aufzusuchen.

Rasch war klar: Hinter denProblemen steckt das trauma-tische Erlebnis des Unfalls.Geholfen hat ihm eine spe-

eine langanhaltende Störung.In alltäglichen Situationen

erwacht die Erinnerung dannplötzlich und ungewollt. DieBetroffenen leiden unter soge-nannten Flashbacks – und dasoft noch nach Jahren. Manchehaben das Gefühl, verrückt zuwerden. Viele versuchendann, den Auslösern aus demWeg zu gehen, meiden be-stimmte Orte oder Situatio-

nen. Das führt zu Problemenim Alltag, erzeugt zudem Dau-erstress, eine innere Alarmbe-reitschaft, die nicht seltenauch körperliche Krankhei-ten nach sich zieht, etwaHerzprobleme oder Diabetes.

Auch Erik H. fand nachdem Unfall wenig Verständ-nis. Das Kind überlebteschwer verletzt. Doch würdees lebenslang behindert blei-ben. Die Eltern gaben ihm dieSchuld. Er sei zu schnell umdie Kurve gebogen. Die Poli-

Überfordert das Erlebte diePsyche, zerbricht die Erinne-rung in Stücke. Das Gehirnkann sie nicht zu einer Ge-schichte verweben. Danndrängen plötzlich einzelneSchreckensbilder, verwirren-de Gefühle hoch, werden wie-der Gegenwart. Oft könnenBetroffene sie nicht in Wortefassen. „Man spricht von einerFragmentierung“, sagt Sack.Im Gedächtnis liegen die Er-innerungen wie auf unter-schiedlichen Sinnesebenenzerstreut. Mal taucht ein Ge-fühl auf oder ein Geräusch,mal ein Bild oder Geruch –ohne Zusammenhang. Exper-ten sprechen auch von Disso-ziation. „Die Verarbeitung derInformation ist quasi steckengeblieben“, sagt Sack.

Ob eine Erfahrung trauma-tisierend wirkt, hängt dabeinicht allein von der Stärke derBelastung ab. Hat der Betrof-fene bereits zuvor traumati-sche Erfahrungen gemacht, istpsychisch bereits labil oderihm fehlt nach dem Erlebnisdie Unterstützung durch dasUmfeld, steigt das Risiko für

Ein Unfall, eine Verge-waltigung, ein Großfeu-er: Selbst wenn der Kör-per danach rasch wiederheilt, bleibt die Seeleoft tief verwundet. Ist dasErlebnis zu erschütternd,droht eine Posttraumati-sche Belastungsstörung.Eine spezielle Psychothe-rapie kannBetroffenen helfen.

VON SONJA GIBIS

Wenn Erik H. in ein Autostieg, waren die Bilder wiederda: Es hatte geregnet, als ermit dem Lieferwagen um dieEcke bog. Plötzlich lief einKind auf die Straße. Das gelbeFahrrad, die weit aufgerisse-nen Augen – Erik H. sah siewieder vor sich, hörte dendumpfen Aufprall. Dabei lagder Unfall bereits Monate zu-rück. Doch für ihn wurde erimmer wieder Gegenwart. Erträumte jede Nacht davon,konnte kaum noch schlafen.Wenn er ins Auto stieg, be-gann sein Herz zu rasen, seineHände wurden schweißnass.

„Normalerweise hat dasGehirn belastende Erlebnissenach einigen Tagen verarbei-tet“, sagt Prof. Martin Sackvon der Klinik für Psychoso-matische Medizin und Psy-chotherapie des Klinikumsrechts der Isar. Der Facharztfür Psychosomatik ist auf dieBehandlung von Patientenmit Traumastörungen spezia-lisiert. Ein Überfall, eine Ver-gewaltigung, ein Unfall oderder Anblick einer Katastrophehat das Leben vieler seiner Pa-tienten mit einem Schlag ver-ändert. Nach dem schreckli-chen Erlebnis hörten bei ih-nen Träume und Ängste auchnach einiger Zeit nicht auf.

„Jeder Mensch muss starkbelastende Erlebnisse erst malverarbeiten“, sagt Sack. Eini-ge Tage lang mag es sich an-fühlen, als ob der Boden unterden Füßen wankt. Das Ge-schehene steht immer wiedervor Augen. Doch nach einersolchen akuten Belastungsre-aktion kehrt das Gefühl desGleichgewichts meist bald zu-rück. Allerdings nicht immer.Sind die Bilder und Träumeauch nach Wochen noch daoder treten erst einige Zeit da-nach auf, ist die Gefahr groß,dass ein chronisches Leidenentsteht. Experten sprechenvon einer PosttraumatischenBelastungsstörung, wenn einMensch ein schreckliches Er-lebnis nicht verarbeiten kann.

Ein schreckliches Erlebnis hinterlässt auch seelische Wunden. Viele Betroffene werden von Ängsten verfolgt. FOTO: VARIO

Im geschützten Umfeld der Therapie muss

Erik H. den Unfall noch einmal durchleben.

den Erinnerungen – auf allenSinnesebenen. Mit Hilfe desäußeren Reizes kann er sichdiesen besser nähern.

Das kann zu starken Reak-tionen führen. Die Patientenweinen, ihnen wird übel. Wielebendig die Erinnerungendurch die EMDR werdenkönnen, hat Sack oft erlebt.So kann es passieren, dasssich ein Patient danach etwaim Spiegel betrachtet – um si-cher zu sein, dass dort, woeinst die traumatisierendeWunde war, nicht wieder Blutfließt. „Das kann heftig sein“,sagt Sack. Doch ist die Kon-frontation hilfreich, um dieseelische Verletzung zu verar-beiten. Ruft später ein äußererReiz Erinnerungen hervor,sind die Betroffenen ihnennicht mehr hilflos ausgelie-fert. SONJA GIBIS

Bei der Suche nach einem Expertenhilft zum Beispiel die Deutschspra-chige Gesellschaft für Psychotrau-matologie: www.degpt.de. Für Be-troffene von sexueller Gewalt gibtes ein neues Internetportal:www.hilfeportal-missbrauch.de

rungen, sogenannte Tapps,oder Töne können die Erinne-rung intensivieren. Offenbarwirkt der zusätzliche Reiz,den der Patient während derbelastenden Erinnerung er-fährt, entspannend und angst-lösend. Andererseits hilft er,die fragmentierten Erinnerun-gen wieder zu verbinden. Ei-ner Theorie zufolge könnenbei nicht verarbeiteten trau-matischen Erinnerungen Bil-der, die in der rechten Hirn-hälfte erinnert werden, zu-nächst oft nicht mit demSprachzentrum verbundenwerden. Der zusätzliche Reizder sogenannten bilateralenStimulation vermag die Ge-hirnhälften wieder zu syn-chronisieren. Die Patientenkönnen die Erinnerungen inWorte fassen, das Geschehenzu einer Geschichte zusam-menfügen – und verarbeiten.

Der Patient folgt dabei sei-nen inneren Bildern, denEmpfindungen seines Kör-pers. Er achtet darauf, welcheGedanken und Gefühle diesebegleiten. Gezielt konfron-tiert er sich mit den belasten-

zeigt sie gute Erfolge. Dem-nach kann EMDR helfen, un-verarbeitete Schockerlebnisserascher zu bewältigen als diebloße Gesprächstherapie.„Schon nach drei Sitzungenkann ein belastendes Erlebnisgut verarbeitet sein“, sagtSack, der selbst viel mit dieserMethode arbeitet.

Entwickelt wurde EMDRvon der amerikanischen The-rapeutin Francine Shapiro.Bei einem Spaziergang ent-deckte sie, dass sich ihreAngst löste, als sie dabei ihreAugen hin und her bewegte.Shapiro hatte zuvor eineKrebsdiagnose erhalten.

Die Therapeutin beschäf-tigte sich eingehend mit ihrerEntdeckung – und entwickel-te Ende der 1980er-Jahre eineneue Therapiemethode. Auchin Deutschland gibt es inzwi-schen ein EMDR-Institut, dasTherapeuten ausbildet. Diesist wichtig: Denn die Therapiebirgt auch Gefahren. Das Wie-dererleben der traumatischenSituation kann sehr stark wer-den. Gefühle können den Be-handelten überfluten und das

Eine junge Frau versucht dasErlebnis eines Überfalls zuüberwinden: Ein Unbekann-ter hatte ihr ein Messer in denRücken gestochen. In derTraumatherapie werden ihreErinnerungen immer lebendi-ger. Plötzlich stockt ihre Er-zählung. Prof. Martin Sackhält seine Hand vor ihre Au-gen. Er bewegt sie hin und her.Die Patientin folgt den Bewe-gungen mit den Augen. Plötz-lich ist alles wieder da, selbstdas Geräusch, als das Messerihr in den Rücken drang.

Die Methode nennt sich„Augendesensitivierung undNeuverarbeitung traumati-scher Erfahrungen“, auf Eng-lisch „Eye Movement Desen-sitization and Reprocessing“.Man spricht daher auch vonEMDR. Dabei handelt es sichweder um Hypnose noch umHokuspokus. Die therapeuti-sche Technik ist in wissen-schaftlichen Studien gut un-tersucht und wurde auch indie Leitlinien zur Behandlungvon Posttraumatischen Belas-tungsstörungen aufgenom-men. Denn vor allem hier

Bewegungen der Hand helfen bei der Traumatherapie

sich die Patienten zurückzie-hen können, wenn sie sichüberfordert fühlen. Auchnach großer Belastung ist die-ser hilfreich, etwa am Ab-schluss einer Sitzung.

Oft eingesetzt werden beider EMDR Bewegungen derHände oder Finger. Dochauch wechselnde Handberüh-

Trauma sogar verstärken. DiePatienten müssen daher gutvorbereitet werden. Die The-rapie konzentriert sich zu-nächst darauf, die seelischeSituation zu stabilisieren. Ge-meinsam mit dem Therapeu-ten wird dabei etwa die Vor-stellung eines inneren siche-ren Ortes geschaffen, an den

Der äußere Reiz der sich bewegenden Hand hilft der Patien-tin, traumatisierende Erlebnisse zu verarbeiten. A. SCHMIDHUBER